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Johannes Tauler Predigt 55  Diese Predigt vom Feste der Geburt Unserer Lieben Frau zeigt die Gottesmutter als Vorbild und Antrieb unseres Strebens nach der Geburt Gottes in uns. MAN BEGEHT HEUT E den schönen Tag, da die göttliche Jungfrau, Unsere Liebe Frau, lauter (von der Sünde); unbefleckt und heilig aus dem Schoß ihrer Mutter, in dem sie geheiligt ward, hervorging. In ihr wurde zurückgebracht, was im Paradies  verlorenging, das edle Bild, das der Vater nach seinem Ebenbild geschaffen hatte und das dort zugrunde gerichtet worden war. Sie sollte zusammen mit dem Vater die  Wiedergebärerin all der Glieder (seines mystischen Leibes) durch derer Zurückführung in ihren Ursprung werden. Gott wollte aus unergründlicher Barmherzigkeit durch sie uns wieder aus dem ewigen Abgrund heraushelfen, in den  wir, soweit das an uns gelegen hatte, gefallen waren. Dies (nun) wird über diese  Jungfrau gesagt, und die Weisheit sprach es: "Kommet alle zu mir, die ihr meiner  begehrt, und sättigt, euch an meinen Früchten." Dieses' Wort meint eigentlich den himmlischen Vater und leitet und zieht uns zu der (in ihm vollzogenen) Geburt (seines Sohnes). Die gleichen Worte bezog die Weisheit aber ebenso ' eigentlich auf diese Jungfrau, denn diese Geburt, die der himmlische  Vater vollzogen hat, ist auch die ihrige, diese Geburt hat auch sie geboren, und sie leitet uns an, uns zu erheben, um von den Früchten dieser lieblichen Geburt gesättigt zu werden. Die Weisheit sprach: "Euch allen, die mich ersehnen, die in Wahrheit und  voll Zufriedenheit diese Geburt ersehnen, wird zuweilen ein kleiner Strahl dieser Geburt zuteil werden." Damit wird deren Begehren angeregt und angetrieben, noch mehr zu begehren. Sprechen wir also mit dem heiligen Augustinus: "Herr, für dich hast du uns geschaffen, und davon ist unser Herz unruhig, bis es ruhet in dir." Diese Unruhe, die man ständig und ohne Unterlaß haben sollte, wird aufgehalten und behindert durch fremdartige Geburten, die in dem Menschen geschehen: zeitliche, vergängliche, sinnliche Dinge, Befriedigung und Freude an den Geschöpfen, seien sie tot oder lebendig, Freundschaften und Gesellschaften, Kleider, Speise, kurz alles, woran der Mensch Freude hat, diese Dinge werden in dem Menschen geboren; und sie sind die Erzeuger solcher Geburten in dir, daß Gott, solange solche Geburten mit deinem Wissen und  Willen in dir vollzogen werden, solange du von der Freude an solchen Dingen  besessen bist, nie in dir geboren werden wird, wie unbedeutend und klein jene Dinge auch sein mögen. Diese Kleinigkeiten nehmen dir und berauben dich deines großen Gottes und der liebevollen Geburt, durch die Gott in dir erzeugt werden wollte und sollte; sie benehmen dir das Begehren nach jener Gottesgeburt in dir, die freudige Zuversicht, die du zu Gott und jener Geburt haben solltest; darin hemmt dich solche Lust.

Tauler Predigt 55

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J oh an n e s T au l e r P r e di g t 5 5

 Diese Predigt vom Feste der Geburt Unserer Lieben Frau zeigt die Gottesmutter als Vorbildund Antrieb unseres Strebens nach der Geburt Gottes in uns.

MAN BEGEHT HEUT E den schönen Tag, da die göttliche Jungfrau, Unsere LiebeFrau, lauter (von der Sünde); unbefleckt und heilig aus dem Schoß ihrer Mutter, indem sie geheiligt ward, hervorging. In ihr wurde zurückgebracht, was im Paradies verlorenging, das edle Bild, das der Vater nach seinem Ebenbild geschaffen hatte unddas dort zugrunde gerichtet worden war. Sie sollte zusammen mit dem Vater die  Wiedergebärerin all der Glieder (seines mystischen Leibes) durch dererZurückführung in ihren Ursprung werden. Gott wollte aus unergründlicher

Barmherzigkeit durch sie uns wieder aus dem ewigen Abgrund heraushelfen, in den  wir, soweit das an uns gelegen hatte, gefallen waren. Dies (nun) wird über diese  Jungfrau gesagt, und die Weisheit sprach es: "Kommet alle zu mir, die ihr meiner begehrt, und sättigt, euch an meinen Früchten."

Dieses' Wort meint eigentlich den himmlischen Vater und leitet und zieht uns zu der(in ihm vollzogenen) Geburt (seines Sohnes). Die gleichen Worte bezog die Weisheitaber ebenso ' eigentlich auf diese Jungfrau, denn diese Geburt, die der himmlische  Vater vollzogen hat, ist auch die ihrige, diese Geburt hat auch sie geboren, und sie

leitet uns an, uns zu erheben, um von den Früchten dieser lieblichen Geburt gesättigtzu werden. Die Weisheit sprach: "Euch allen, die mich ersehnen, die in Wahrheit und  voll Zufriedenheit diese Geburt ersehnen, wird zuweilen ein kleiner Strahl dieserGeburt zuteil werden." Damit wird deren Begehren angeregt und angetrieben, nochmehr zu begehren.

Sprechen wir also mit dem heiligen Augustinus: "Herr, für dich hast du uns geschaffen,und davon ist unser Herz unruhig, bis es ruhet in dir." Diese Unruhe, die man ständigund ohne Unterlaß haben sollte, wird aufgehalten und behindert durch fremdartige

Geburten, die in dem Menschen geschehen: zeitliche, vergängliche, sinnliche Dinge,Befriedigung und Freude an den Geschöpfen, seien sie tot oder lebendig,Freundschaften und Gesellschaften, Kleider, Speise, kurz alles, woran der MenschFreude hat, diese Dinge werden in dem Menschen geboren; und sie sind die Erzeugersolcher Geburten in dir, daß Gott, solange solche Geburten mit deinem Wissen und  Willen in dir vollzogen werden, solange du von der Freude an solchen Dingen besessen bist, nie in dir geboren werden wird, wie unbedeutend und klein jene Dingeauch sein mögen. Diese Kleinigkeiten nehmen dir und berauben dich deines großenGottes und der liebevollen Geburt, durch die Gott in dir erzeugt werden wollte und

sollte; sie benehmen dir das Begehren nach jener Gottesgeburt in dir, die freudigeZuversicht, die du zu Gott und jener Geburt haben solltest; darin hemmt dich solcheLust.

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Und wenn die Leute dann klagen: "Ach, mir fehlt die Liebe (zu Gott), das Begehren(nach ihm)", so liegt es allein daran: du beharrst (in deiner Freude an den irdischenDingen), das hält Liebe und Begehren in dir auf. Betrachte dein Hindernis selbst;niemand kennt es so gut wie du. Nicht mich frage, sondern dich, warum du wederLiebe noch Begehren besitzest. Ihr wollt Gott und die Geschöpfe zugleich besitzen,und das geht nicht. Freude an Gott zusammen mit der Freude an den Geschöpfen, dasist unmöglich, und wenn du blutige Tränen weintest.

Damit sind nicht die Dinge gemeint, die man (zum Leben) braucht oder die mandurch Gott oder in Gott besitzt, oder solche, deren Beseitigung die menschliche Naturnicht erlaubt, wie etwa die Lust, die der Hungrige am Essen, der Durstige am Trinkenhat, der Müde am Rasten, der Gefangene am Schlaf. Wenn man freilich. dies alles aus

Lust aufsucht, nicht aus Bedürfnis oder natürlichem Nutzen, vielmehr aus Lust oderBegierde, so hindert dies alles die Geburt (Gottes im Menschen), aber doch ingeringerem Maß als die Begierde nach anderen Dingen: denn dergleichen hängt mitder natürlichen Notdurft zusammen, und die Begierde nach. diesen Dingen kann,soweit die Natur dabei mitwirkt, von der Befriedigung (des natürlichen Dranges) nichtgeschieden werden. Der Mensch aber, der der ewigen Geburt kein Hindernis bereitenund im Begehren nach ihr voranschreiten will, der achte auf die Hindernisse, die durchdie Lust der Sinne oder der (menschlichen) Natur oder der Geschöpfe bereitet  werden. Je geringer diese Hindernisse, um so größer jenes Begehren (nach derGottesgeburt); je mehr Kälte entweicht, um so mehr Wärme dringt ein. Auch soll derMensch nicht in Trägheit beharren, in Unachtsamkeit, (der Neigung zu)Bequemlichkeit, blinder Schwäche. Und (doch) gehen manche Menschen wie dieBlinden ihres Weges; und was sie tun, das tun sie so unvorsichtig und unvernünftig, ineiner Art Unüberlegtheit. Wisse: über alle diese Gebrechen, die sich von deiner Anhänglichkeit (an die Geschöpfe) und von deiner Gleichgültigkeit herschreiben, hatdein Beichtvater keine Gewalt, solange du mit Willen in ihnen verharren willst. Dukönntest des Tages zehnmal beichten, das hülfe dir nichts, du wollest denn von jenenGebrechen ablassen.

Und wisse ferner: wirst du (in der Stunde deines Todes) aus/ eigenem freiem Willenmit der Liebe zu den Geschöpfen behaftet erfunden, so kommst du nimmer vor Gottes Antlitz. Das sagt die ganze Heilige Schrift, und im Evangelium steht es überall; das istdas Gebot des Alten und des Neuen Bundes, daß man Gott (von ganzem Herzen, ausganzer Seele) lieben solle.

  An einer anderen Stelle liest man: "Wer nicht alles verläßt, was er besitzt, ist meinernicht wert." Und anderwärts: "Nicht alle, die da sprechen: Herr, Herr! werden in das

Himmelreich gelangen, sondern die den Willen meines Vaters tun, die werden in dasHimmelreich eingehen." Glaubt ihr, daß Gott sein Reich elenden Geschöpfen geben wolle und er darum sein kostbares Blut vergossen und sein teures Leben hingegeben

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habe? Seht euch vor! Denkt nicht, Gott werde es so hingehen lassen. Wüßtet ihr, wieschwer Gott all dies bestrafen wird, ihr würdet vor Angst vergehen. Gott hat (uns) alleDinge gegeben, damit sie ein Weg zu ihm seien; und er allein will Ziel dieses Wegessein, anders nicht, weder so noch so. Glaubt ihr, das sei Scherz? Nein, wahrlich: die

Zugehörigkeit zum Orden (allein) macht euch nicht heilig; weder meine Kapuze nochmeine Tonsur, weder mein Kloster noch meine heilige Umgebung, all das (allein)macht (mich) nicht heilig. Ich muß einen heiligen, ledigen, lauteren, freien Grund besitzen, soll ich heilig werden.

Nicht daß ich oft sage: "Herr, Herr!", viel bete und lese, gut zu reden wisse, gut auffasseund (nach außen) einen guten Eindruck mache, das alles hilft mir nicht (zum Eintrittins Himmelreich), dazugehört anderes.' Betrügst du dich, so hast du den Schaden,nicht ich. All diese Dinge (von denen ich sprach) nimmt man bei euren weltlichen

Herzen, eurem (weltlichen) Grunde, eurem nichtigen Wesen in geistlichem Gewande,in gleicher Weise wahr, wie (es der Fall ist,) wenn (ein Gärtner) einen Zweig auf einenStamm pfropft: die Früchte, die davon kommen, arten nach dem Pfropfreis und nichtnach dem Stamm. So geraten all eure Früchte, besessen, wie ihr seid, mit fremden,äußerlichen Geburten, nach den Pfropfreisern1. Eure guten Werke, die göttlich seinsollten, bleiben menschlich und nutzlos, denn das, was sie hervorbringt, sind eureinneren und äußeren Kräfte. .

Davon sagt Job: "Im Grauen eines nächtlichen Gerichtes ergriff mich Schrecken undBeben; all mein Gebein wurde entblößt, und als der Geist vorüberging in meinerGegenwart, sträubten sich alle Haare meines Leibes." Dieses Grauen des nächtlichenGerichtes, das ist die dunkle und blinde Besitznahme (des Herzens durch dieGeschöpfe). Es folgt ein unbegreiflicher Schrecken und ängstliches Beben, das allesGebein erzittern läßt. Der Vorübergang des Geistes in seiner Gegenwärtigkeit ist der Vorübergang Gottes.

Nun spricht auch hier das Evangelium von einem Vorübergang. Zweimal»Transite" bedeutet einen zweifachen Vorübergang, der eine ist der des Geistes, das heißt: Gotteszu uns, der andere ist unser Hingang zu Gott. Dieser Gang muß, wie ihr gehört habt,

einen Weggang haben. Denn wie die Lehrmeister sprechen, können nicht zweiFormen zugleich im gleichen Stoff sein. Soll Feuer entstehen, so muß das Holz  verbrennen, soll der Baum wachsen, so muß der Kern zugrunde gehen; soll Gottseinen Weg in unser Inneres nehmen und seine Geburt in uns vollziehen, so muß dasGeschöpf in uns zunichte werden.

1  Vetter, 225,5 "nach den zwigen" . Um im Bild zu bleiben, empfiehlt es sich, das Wort "zwic" = "zwi" im Sinn von

"Pfropfreis" zu gebrauchen. 

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Zu der Stelle: "die Haare meines Leibes sträubten sich beim Durchgang des Geistes", verweist Sankt Gregorius auf die Leviten, denen man die Haare abscheren mußte. Dies  bedeutet: wie die Haare im Fleisch wachsen, so wächst in den 'Oberen wie denniederen Kräften die Anhänglichkeit der alten Gewohnheit; die soll man mit dem

scharfen Schermesser eines heiligen Fleißes abscheren; das soll man schärfen und wetzen an dem gewaltigen, erschreckenden, verborgenen Urteil Gottes und an seinerraschen Gerechtigkeit, die (auch) einen Gedanken nicht unbeurteilt läßt. Dasgeringste Bild, das mit freiem Willen festgehalten wird, muß mit unleidlichemFegefeuer abgebüßt werden, ehe man vor Gottes Angesicht gelangt.

  Wenn nun diese bösen, unreinen Haare mit dem scharfen Schermesser abgeschorensind, so wachsen sie wieder nach; so muß man mit neuem Fleiß darangehen. Es gibtMenschen, die (darin) so eifrig. sind, daß, kaum daß sie eines Gedankens gewahr

 werden, sie ihn mit eisernem Willen wegscheren. Zuerst ist das hart, sich selbst stets soin acht zu haben. Hat sich aber der Mensch daran gewöhnt, so fällt es ihm gar leicht.Und was zuerst einen eisernen Willen erforderte, dazu genügt ein Hauch.

  Auch soll der Mensch eine tätige und allgemeine Liebe besitzen, nicht nur für einen bestimmten Kreis, sondern für alle Menschen, nicht nur für die Guten, sondern für di,e  Allgemeinheit der Armen, ohne Unterschied. So handelten die gottgeliebtenMenschen, Vater und Mutter Unserer Lieben Frau. Die teilten all ihre Habe in dreiTeile: ein Teil war für den Dienst Gottes und für den Tempel bestimmt; ein zweiterTeil der Allgemeinheit der Armen. Von dem dritten Teil lebten sie selber. Wisset: wodie Neigung zu Schlemmerei besteht oder aber der Geiz herrscht, da ist ein gewaltiger,unsauberer Abgrund, durch und durch böse. Der Mensch sollte im Gebrauch der  wertlosen vergänglichen Dinge freigebig sein. Wer gibt, dem wird gegeben, dem der vergibt, wird wieder verziehen. Wie du missest, so wird auch dir zugemessen werden.

Nun haften etliche auch an inneren Dingen, so daß davon gleichfalls böse Haare  wachsen, von denen sie nichts wissen. Die könnten so sein, daß diese Menschenniemals damit vor Gottes Angesicht träten. Diese Leute könnten wohl gar lauter vorGott gelebt und große Übungen der Frömmigkeit gezeigt haben; das aber, woran sie

hängen und haften, liegt im Grunde verborgen, und sie wissen selbst nichts davon.Darum wäre es gar gut, daß die Menschen, die gerne der Wahrheit leben möchten,einen Gottesfreund besäßen, dem sie sich unterwürfen und der sie nach Gottes Geistleitete. Denn jenes nimmt man nicht sogleich wahr, ohne etlichen Umgang mit Leutengehabt zu haben, die an solch innerer Anhänglichkeit leiden. Diese Leute sollten auf hundert Meilen in der Runde einen erfahrenen Gottesfreund suchen, der den rechten Weg kennte und sie Zu leiten vermöchte. Und ist ein solcher nicht zu finden, so täte esein gewöhnlicher Beichtiger auch; wie schlicht diese auch sein mögen, so spricht dochoft der Heilige Geist durch sie von ihres Amtes wegen, ohne daß sie es selbst wissen

und verstehen. Solchen soll man sich unterwerfen, ihnen Gehorsam erzeigen und nichtnach eigenem Kopfe leben (wollen).

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In der Heiligen Jungfrau besitzen wir in dieser Hinsicht ein vollkommenes Vorbild. Alssie noch Kind war, gehorchte sie ihren Eltern, Vater und Mutter. Dann kam sie unterdie Obhut des Tempelpriesters, darauf unter die Josephs, sodann unter die unseresHerrn Jesus Christus, schließlich unter die des heiligen Johannes, dem sie unser Herr

an seiner Statt anbefahl.Und darum wollen wir sie mit aller Andacht bitten, daß (auch) sie uns in ihre Obhutnehme und sie uns, am Tag ihrer Geburt, wiederum in unseren Ursprung gebäre. Daßdies uns allen zuteil werde, dazu helfe uns Gott. AM E N.