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PHi – 3/2006 117 Die ISO/TS 16949:2002 ist ein grundlegendes rechtlich relevantes Qualitätsmanagement-Dokument für das Funktionieren der globalen Automobilindustrie mit hohem rechtlichen Stellenwert für die Sachmangel- und Produkthaftung. Viel zitiert, aber wenig wirklich umgesetzt, ist sie eigentlich dazu angelegt, technische und recht- liche Konflikte zwischen den Auto- mobilherstellern (OEM) und ihren Zulieferern, vor allem Qualitäts- probleme, zu vermeiden. Diese Technische Spezifikation (TS) ergänzt die allgemein gültige Norm „Qualitätsmanagement- systeme-Anforderungen“ EN ISO 9001:2000 um „Besondere Anfor- derungen bei Anwendung von ISO 9001:2000 für die Serien- und Ersatzteil-Produktion in der Auto- mobilindustrie“. Die ISO (Inter- nationale Organisation für Nor- mung) ist eine weltweite Vereini- gung nationaler Normungsinstitu- te. Sie wurde von der International Automotive Task Force (IATF) und der Japan Automobile Manufac- turers Association Inc. (JAMA) unterstützt und von Vertretern des ISO/TC 176 (Technical Committee) „Quality management and quality assurance“ erarbeitet. 1 Die ISO/TS 16949:2002 ist eines der wichtigsten Dokumente der internationalen Automobilindus- trie. Sie schafft die systemstabilen Voraussetzungen für eine global arbeitsteilige Produktion von Auto- mobilen und die Kooperation zwi- schen Fahrzeugherstellern und ihren Zulieferern. 2 Sie liefert auf beiden Seiten das „Design der Wertschöpfungsketten“ als strate- gische Unternehmensführung. 3 Ihren Stellenwert entfaltet sie auch und gerade in der Kooperation zwischen verschiedenen Auto- mobilherstellern, die von densel- ben Zulieferern versorgt werden. 4 Ihr Ziel ist „die Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems (QM-Systems), das ständige Ver- besserung vorsieht, unter Beto- nung von Fehlervermeidung und Verringerung von Streuung und Verschwendung in der Lieferkette. Diese Technische Spezifikation legt, verbunden mit zutreffenden kundenspezifischen Anforderun- gen, die grundlegenden Anfor- derungen an ein QM-System für diejenigen fest, die danach arbeiten.“ 5 Ihre grundlegende Funktion im Anwendungsbereich wird mit den Hinweisen beschrieben: „Diese Technische Spezifikation spe- zifiziert im Zusammenhang mit ISO 9001:2000 die QM-System-Anforde- rungen für Entwicklung, Produktion und, wenn zutreffend, Montage und Wartung von Produkten für die Automobilindustrie.“ und „Diese Technische Spezifikation kann in der gesamten Lieferkette der Auto- mobilindustrie angewendet werden.“ 6 Als branchenspezifische Plattform bietet sie ein QM-System, über dessen Wirksamkeit und Effizienz mit seiner Etablierung in einem Unternehmen noch keine Aussage gemacht ist. Wirksamkeit und Effi- zienz leben von der Umsetzung durch „diejenigen, die danach arbeiten“. 7 Grundbegriffe der EN ISO 9001:2001 Es gibt aus der der Technischen Spezifikation zugrunde liegenden EN ISO 9001:2001 für das Ver- ständnis und die Anwendung der Technischen Spezifikation drei besonders wichtige Begriffe: Dr. Ekkehard Helmig, Wiesbaden Der Autor ist Rechtsanwalt und Notar mit dem besonderen Schwer- punkt im Recht der Automobil- zulieferindustrie. [email protected] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe der EN ISO 9001:2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf die Sachmängelhaftung Technische Spezifikation überlagert juristische Zurechnung in der Kfz- Zuliefererindustrie – ISO/TS 16949:2002

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PHi – 3/2006 117

Die ISO/TS 16949:2002 ist eingrundlegendes rechtlich relevantesQualitätsmanagement-Dokumentfür das Funktionieren der globalenAutomobilindustrie mit hohemrechtlichen Stellenwert für dieSachmangel- und Produkthaftung.Viel zitiert, aber wenig wirklichumgesetzt, ist sie eigentlich dazuangelegt, technische und recht-liche Konflikte zwischen den Auto-mobilherstellern (OEM) und ihrenZulieferern, vor allem Qualitäts-probleme, zu vermeiden.

Diese Technische Spezifikation (TS) ergänzt die allgemein gültigeNorm „Qualitätsmanagement-systeme-Anforderungen“ EN ISO9001:2000 um „Besondere Anfor-derungen bei Anwendung von ISO9001:2000 für die Serien- undErsatzteil-Produktion in der Auto-mobilindustrie“. Die ISO (Inter-nationale Organisation für Nor-mung) ist eine weltweite Vereini-gung nationaler Normungsinstitu-te. Sie wurde von der InternationalAutomotive Task Force (IATF) undder Japan Automobile Manufac-turers Association Inc. (JAMA)unterstützt und von Vertretern desISO/TC 176 (Technical Committee)„Quality management and qualityassurance“ erarbeitet.1

Die ISO/TS 16949:2002 ist einesder wichtigsten Dokumente derinternationalen Automobilindus-trie. Sie schafft die systemstabilenVoraussetzungen für eine globalarbeitsteilige Produktion von Auto-mobilen und die Kooperation zwi-schen Fahrzeugherstellern undihren Zulieferern.2 Sie liefert aufbeiden Seiten das „Design derWertschöpfungsketten“ als strate-gische Unternehmensführung.3

Ihren Stellenwert entfaltet sie auchund gerade in der Kooperationzwischen verschiedenen Auto-mobilherstellern, die von densel-ben Zulieferern versorgt werden.4

Ihr Ziel ist „die Entwicklung einesQualitätsmanagementsystems(QM-Systems), das ständige Ver-besserung vorsieht, unter Beto-nung von Fehlervermeidung undVerringerung von Streuung undVerschwendung in der Lieferkette.Diese Technische Spezifikationlegt, verbunden mit zutreffendenkundenspezifischen Anforderun-gen, die grundlegenden Anfor-derungen an ein QM-System fürdiejenigen fest, die danacharbeiten.“5

Ihre grundlegende Funktion imAnwendungsbereich wird mit denHinweisen beschrieben:

„Diese Technische Spezifikation spe-zifiziert im Zusammenhang mit ISO9001:2000 die QM-System-Anforde-rungen für Entwicklung, Produktionund, wenn zutreffend, Montage undWartung von Produkten für dieAutomobilindustrie.“

und

„Diese Technische Spezifikation kannin der gesamten Lieferkette der Auto-mobilindustrie angewendet werden.“6

Als branchenspezifische Plattformbietet sie ein QM-System, überdessen Wirksamkeit und Effizienzmit seiner Etablierung in einemUnternehmen noch keine Aussagegemacht ist. Wirksamkeit und Effi-zienz leben von der Umsetzungdurch „diejenigen, die danacharbeiten“.7

Grundbegriffe der EN ISO9001:2001

Es gibt aus der der TechnischenSpezifikation zugrunde liegendenEN ISO 9001:2001 für das Ver-ständnis und die Anwendung derTechnischen Spezifikation dreibesonders wichtige Begriffe:

Dr. Ekkehard Helmig, Wiesbaden

Der Autor ist Rechtsanwalt undNotar mit dem besonderen Schwer-punkt im Recht der [email protected]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Grundbegriffe der EN ISO9001:2001

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rechtliche Bedeutung

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Auswirkungen auf dieSachmängelhaftung

Technische Spezifikation überlagertjuristische Zurechnung in der Kfz-Zuliefererindustrie – ISO/TS 16949:2002

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„Prozessorientierter Ansatz“:

„Damit eine Organisation wirksamfunktionieren kann, muss sie zahl-reiche miteinander verknüpfteTätigkeiten kennen, leiten und len-ken. Eine Tätigkeit, die Ressourcenverwendet und die ausgeführtwird, um die Umwandlung vonEingaben in Ergebnisse zu ermög-lichen, kann als Prozess angesehenwerden. Oft bildet das Ergebnisdes einen Prozesses die direkteEingabe für den nächsten. DieAnwendung eines Systems vonProzessen in einer Organisation,gepaart mit dem Erkennen undden Wechselwirkungen dieser Pro-zesse sowie deren Management,kann als „prozessorientierterAnsatz“ bezeichnet werden.“8

„Kundenzufriedenheit“9

bedeutet die Erfüllung der Kun-denanforderung durch eine Orga-nisation, die danach „strebt, dieKundenzufriedenheit durch wirk-same Anwendung des Systems zuerhöhen, einschließlich der Prozes-se zur ständigen Verbesserung desSystems und der Zusicherung derEinhaltung der Anforderungen derKunden und zutreffenden behörd-lichen Anforderungen“.10

„Kundenbezogene Prozesse“

„Die Organisation muss Folgendesermitteln:

a) die vom Kunden festgelegtenAnforderungen einschließlich derAnforderungen hinsichtlich Liefe-rung und Tätigkeit nach der Liefe-rung,

b) vom Kunden nicht angegebeneAnforderungen, die jedoch für denfestgelegten oder den beabsichtig-ten Gebrauch, soweit bekannt,notwendig sind. …“11

Während der „prozessorientierteAnsatz“ das Organisationsablauf-modell widerspiegelt und dieSchnittstellen der Prozesse zuein-ander beschreibt, leiten sich aus„Kundenzufriedenheit“ und „Kun-denbezogene Prozesse“ Hand-lungs- und Erfüllungsmuster fürdie Prozesse und in den Prozessenab. Diese drei zentralen Begriffe

geben den Einstieg in die Fragenach der Rechtsbedeutung derISO/TS 16949:2002.

Rechtliche Bedeutung

In der Praxis wird oft übersehen,dass die ISO/TS 16949:2002rechtsrelevanter Vertragsinhalt ist.Nach den Vertragsbedingungenfast aller namhaften internationa-len Automobilhersteller ist dieISO/TS 16949:2002 Bestand ihrerAllgemeinen Vertragsbedingun-gen. Sie ist also vertraglich bin-dend. So heißt es – beispielhaft –in einer Veröffentlichung vonDaimlerChrysler (DC AG, der Verf.)vom September 2004: „Forderungder DC AG als Kunde an die Liefe-ranten in der Produktrealisierungfür den Produktionsbereich Pkwund Nfz (Nutzfahrzeuge, der Verf.)der Marken Mercedes-Benz undMaybach … Die DC AG MB+Merwartet von ihren Lieferanten dieUmsetzung eines Qualitätsmana-gementsystems auf Basis der ISOTS 16949:2002. Dementsprechendumfasst die Produktrealisierung dieProdukt- und Prozessentwicklungsowie die Serienproduktion. Zuberücksichtigen sind die Mercedes-Benz Special Terms (MBST), insbe-sondere die zum Thema Qualität:MBST 13, MBST 14, MBST 16 undMBST 27.“12

Die Allgemeinen Vertragsbedin-gungen der Automobilherstellersind außerordentlich komplex. Siebasieren – jedenfalls bei den deut-schen Herstellern – in der Regelauf den Konditionenempfehlun-gen des Verbands der DeutschenAutomobilindustrie (VDA). Die ansich ausgewogenen VDA-Empfeh-lungen treten in ihrer Bedeutungdurch eine Öffnungsklausel zu-rück: Sie gelten nur, soweit nichtanders lautende Vereinbarungenzwischen dem Automobilherstellerund dem Zulieferer getroffen wer-den. Durch diese Öffnungsklauselfinden die eigenen Vertragsbedin-gungen der jeweiligen Automobil-hersteller beherrschenden Eingangin die gesamte Vertragsbeziehungu.a. über Qualitätssicherung,Werkzeuge, Ersatzteilversorgung,Erstmusterzulassung, Kostenver-teilung in der Entwicklungsphasebis zur Erstmusterfreigabe etc.

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1 Die IATF ist eine „Ad-hoc-Gruppe“ voninternationalen Automobilherstellern undihren Verbänden, gegründet mit demZiel, Fahrzeugbenutzern weltweit verbes-serte Qualitätsprodukte zu liefern. DerIATF gehören an: BMW, DaimlerChrysler,Fiat, Ford Motor Company, GeneralMotors (einschließlich Opel undVauxhall), PSA Peugeot-Citroën, Renault,Volkswagen sowie als Verbände AIAG(USA), ANFIA (Italien), FIEV (Frankreich),SMMT (Großbritannien) und VDA(Deutschland).

2 Nach einer Erhebung des ExcellenceBarometer (Exba), das jährlich von derforum!Marktforschung GmbH und derDeutschen Gesellschaft für Qualität e.V.(DGQ) erhoben wird, sind in Deutsch-land ca. 30.000 Unternehmen nach ISO9001 zertifiziert und etwa 1.000 nachder auf die Automobilindustrie zuge-schnittenen ISO/TS 16949. Das ist nurein geringer Teil der Gesamtzahl derAutomobilzulieferer, obwohl – soweitersichtlich – nahezu alle Automobil-hersteller von den Zulieferern verlangthaben, bis spätestens Ende 2004 nachder ISO/TS 16949:2002 zertifiziert zusein. Sehr instruktiv: Grohmann/Hofer/Zangl: „Automotive Survey 2005 – Supplier Driven Innovation“, www.ids-scheer.com .

3 Wildemann, Produktion hat goldenenBoden, FAZ v. 24.1.2005, 20.

4 Strategische Allianzen zwischen denAutomobilherstellern sind an der Tages-ordnung: BMW ist der Kooperationzwischen DaimlerChrysler und GeneralMotors zur Entwicklung von Hybrid-antrieben beigetreten (FAZ v. 8.9.2005);der Aktienerwerb von Porsche bei VWuntermauert die gemeinsame Entwick-lungsarbeit; BMW hat den Motor für denKleinwagen entwickelt, den Toyota undPeugeot gemeinsam fertigen; Peugeotbaut den von BMW entwickelten Motorfür das Erfolgsmodel „Mini“ (Automobil-woche Nr. 14 v. 4.7.2005, 4). Die Listelässt sich beliebig fortsetzen.

5 0.5 Ziele dieser Spezifikation.6 1.1 Ergänzender Text zur grundlegenden

ISO 9001:20007 Eine Effizienzmessung für ein Qualitäts-

managementsystem gibt es nicht. Esspricht aber viel dafür, dass trotz deshohen genehmigten Kostenaufwands fürein Qualitätsmanagementsystem dieEffizienzbedeutung bei Topmanagern,die diese Kosten bewilligen, und der Nut-zung für eine kostenmindernde Quali-tätsarbeit noch nicht angekommen ist.Das ExBa (s. Fn. 2) führt zur Schluss-folgerung: „Eine nennenswerte Korre-lation zwischen Erfolg und Zertifizie-rungsgrad besteht offensichtlich nicht.“Sommerhoff/Kaerkes, Den Spiegel vor-halten, QT Qualität und Zuverlässigkeit,Organ der DGQ, 2/2006, 17.

8 ISO 9001:2000 Ziffer 0.2.9 Derzeit wird an einem Normenwerk 10 001

„Qualitätsmanagement – Kundenzufrie-denheit – Leitfaden für Verhaltenskodizes“und 10 003 „Qualitätsmanagement –Kundenzufriedenheit – Leitfaden für externeSysteme und Mediation“ gearbeitet:Graebig, ISO 9001 und 9004:2008 in denStartblöcken in QZ Qualitäts und Zuver-lässigkeit, Organ der DGQ, 2/2006, 26.

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Kennzeichen dieser Vertragsbedin-gungen ist die Unübersichtlichkeitund mangelnde rechtliche Konsis-tenz, die durch eine Unzahl mitgel-tender Normen, technischer undkommerzieller Liefervorschriften,Werksnormen etc. erhöht wird.13

Diese Vertragsbedingungen unter-liegen ohne Einschränkung denVorschriften über die Gestaltungrechtsgeschäftlicher Schuldverhält-nisse durch Allgemeine Geschäfts-bedingungen (AGB) nach §§ 305BGB ff. Das gilt auch für Normenoder Technische Spezifikationen,die wie die ISO/TS 16949:2002zum Vertragsbestandteil erhobenwerden. Im Einzelnen und in derSumme halten viele der Bestim-mungen einer Wirksamkeitskon-trolle nicht Stand. Schon aus derKomplexität des Vertragsumfangsscheitern viele Bestimmungen amTransparenzgebot. NennenswerteRechtsprechung spezifisch zu denVertragsverhältnissen in der Auto-mobilindustrie gibt es nicht, weil – noch – wenige Zulieferer es sichleisten können, gegen die Ver-tragsbedingungen zu klagen.Dafür sind die Abhängigkeiten zustark. Allerdings ist erkennbar, dassin der Zulieferkette die Bereitschaftwächst, vor Gericht zu ziehen.

Es würde den Umfang dieses Bei-trags sprengen, auf Einzelheitender AGB-Kontrolle einzugehen. Ichgreife ein Beispiel als Exkurs her-aus. Die jüngste Rechtsprechungdes BGH macht deutlich, dass we-sentliche in der Automobilindustrieverwendete Vertragsbestimmun-gen AGB-rechtlich unwirksam sind.Das gilt insbesondere für den Rü-geverzicht aus § 377 HGB, einKernstück der Lieferbeziehung inder Automobilindustrie. Seit den80er-Jahren bahnte sich eine Ent-wicklung an, in der die eigene Fer-tigungstiefe bei den Automobil-herstellern zu sinken begann undimmer mehr Aufgaben auf dieZulieferer verlagert wurden. Heuteliegt die durchschnittliche Ferti-gungstiefe noch bei etwa 30 %,d.h. dass die Zulieferer 70 % derFertigung liefern.14 Damit ging dieEntwicklung neuer technischerund logistischer Konzepte wie derJust-in-Time-Belieferung einher, dienur funktionieren können, wenn

insbesondere die technischen Pro-zesse zwischen den Automobil-herstellern und ihren Zulieferernbeherrscht wurden und die Ver-lässlichkeit an den Schnittstellengewährleistet ist.

Deshalb war die Entwicklung über-greifender internationaler Quali-tätsmanagementsysteme als Platt-form nach der Normenreihe ISO9000 ff. etwa zeitgleich zwangs-läufig.15 In der aufsteigenden Wert-schöpfungskette der Zulieferer zuden Automobilherstellern war vonden ineinander greifenden Abläu-fen technisch, zeitlich und kosten-mäßig kein Raum mehr für die aufeinem nur bilateral beruhendenVerständnis der Wareneingangs-prüfung nach den Vorstellung destraditionellen Gesetzgebers des § 377 HGB.16 Die Konzepte derZusammenarbeit überholten wieso oft die Rechtslage. Die verzahn-te arbeitsteilige Zusammenarbeitfür ein Gesamtprodukt Automobilführte zu einem Verdrängen derWareneingangsprüfung als Stör-faktor. Sie bewirkte die Verlage-rung der darin formulierten Eigen-verantwortlichkeit oder Obliegen-heit des Käufers in die Verantwort-lichkeit des Lieferanten, der nachder Philosophie der Qualitäts-managementsysteme Qualität, alsoFehlerfreiheit, zu produzieren undnicht nachträglich herauszuprüfenhat, zur Warenausgangsprüfungals Instrument der Vermeidungvon Restrisiken seines nicht perfektfunktionierenden Qualitätsmana-gementsystems.

Der Ausschluss der Warenein-gangsprüfung bei den Automobil-herstellern und in der Zulieferketteist mit unendlichen Variationenheute Standard. Rechtlich haltbarist er nicht. Es besteht Einigkeitdarüber, dass rechtlich ein völligerAusschluss der Wareneingangs-prüfung durch AGB unwirksam ist.Auch der Versuch, die äußersteGrenze für die Zulässigkeit aus-zuloten, die angenommen wird,wenn der Zulieferer über ein zerti-fiziertes Qualitätsmanagement-system verfügt und eine Restprü-fung beim Automobilhersteller ver-bleibt,17 wird keinen Erfolg haben.Denn der Verzicht auf die Waren-eingangsprüfung führt zu weiteren

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10 ISO 9001:2000 Ziffer 1.1 b). In derErläuterung des prozessorientiertenAnsatzes wird das ständige Monitoringder Kundenzufriedenheit verlangt: „DieÜberwachung der Kundenzufriedenheiterfordert die Beurteilung von Informatio-nen darüber, welche Wahrnehmung beiden Kunden über die Erfüllung der Kun-denforderungen durch die Organisationherrschen.“ Kundenzufriedenheit istheute eher ein Schlagwort, denn Pro-gramm. Die Kundenzufriedenheit wirdnach dem System der ISO/TS16949:2002 durch das Management inder direkten Kundenbeziehung und ihrerWahrnehmung realisiert. Solange aberdas Management in einer erkennbarenDistanz zu Qualitätsmanagement steht(s. Fn. 1), kann man einen deutlichenSystembruch unter dem Regime derISO/TS 16949:2002 erkennen: Wenn dieQualitätsmanager beim Topmanage-ment kein Gehör finden, fehlt die von derISO/TS 1694:2002 geforderte Kommuni-kation. Dann scheidet das Qualitäts-management als Instrument der durchdas Topmanagement zu verfolgendenKundenzufriedenheit aus. Dies kann manheute als Realitätsparameter feststellen.Sommerhoff/Kaerkes (s. Fn. 7) stellenfest: „Es (das Qualitätsmanagement, d.Verf.) wird von Führungskräften und vonQualitätsmanagern gleichermaßen alskonstruktiv und nützlich angesehen.Dennoch halten es Führungskräfte instärkerem Maß als ihre Fachmanager fürbürokratisch statt pragmatisch, Ressour-cen fressend statt leistungstreibend undüberwachend statt unterstützend.“ ImErgebnis: Die Zertifizierung nach ISO/TS16949:2002 sagt über den Erfüllungs-grad der und die Effizienz für die Kun-denzufriedenheit nichts aus.

11 ISO 9001:2000 Ziff. 7.2.1. Die ISO/TS16949:2002 fügt eine ergänzende Ziff.7.2.1.1 ein: „Vom Kunden festgelegtebesondere Merkmale: Die Organisationmuss die Erfüllung der Kundenanfor-derungen hinsichtlich der Festlegung,Dokumentation und Lenkung besondererMerkmale darlegen.“ „Besondere Merk-male“ werden unter Ziff. 3.1.12 spezi-fisch für die Automobilindustrie definiert:„Produktmerkmale oder Produktionspro-zessparameter, die Auswirkungen auf dieSicherheit oder Einhaltung behördlicherBestimmungen, die Passform, die Funk-tion, die Leistung oder die weitere Ver-arbeitung des Produktes haben können.“

12 MBST 13, MBST 14, MBST 16 und MBST27 bedeuten.

13 Ford, VW, BMW …14 Kritisch dazu: Wildemann (a.a.O.,

Fn. 3). Wildemann weist zutreffenddarauf hin, dass mit der nur kosten-orientierten Herabsetzung der eigenenFertigungstiefe das Risiko des Verlusts an„Kernkompetenz“ dramatisch steigt.Komplementär dazu tritt der Verlust desAutomobilherstellers zu seinem Kunden:„Der eigentliche Hersteller verliert dasWissen und die Entwicklung der Kunden-wünsche.“

15 Die erste Version der DIN EN ISO 9001 –9003 datiert aus 1987 mit mehrerenRevisionen in den Folgejahren.

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Problemen der Beweislastumkehrfür später festgestellte Mängel undweicht deshalb wesentlich vomgesetzlichen Leitbild des § 377HGB ab.

Der BGH hat in jüngster Rechtspre-chung klar gemacht, dass er andiesem gesetzlichen Leitbild fest-hält. Er hat eine Klausel verworfen,nach der vermutet wird, „dass einMangel bereits zum Zeitpunkt desGefahrenübergangs vorhandenwar, wenn seit dem Gefahrenüber-gang nicht mehr als 12 Monatevergangen sind“. Diese Klausel – auch in der AutomobilindustrieStandard – impliziert den Verzichtauf die Wareneingangsprüfung,verlängert die Rügepflicht auf 12Monate und kehrt die Beweislastzu Lasten des Lieferanten um. DerBGH stellt auch für den kaufmänni-schen Verkehr klar, dass „Klauseln,die dem Gegner des Verwendersdie Beweislast für Umstände aufer-legen, die dem Verantwortungsbe-reich des Verwenders zuzurechnensind“, den Gegner des Klauselver-wenders unangemessen benach-teiligen und deshalb unwirksamsind. Zur Begründung dieser zu-treffenden Ansicht verweist derBGH ergänzend ausdrücklich aufdie Geltung des § 377 HGB.18

Auswirkungen auf dieSachmängelhaftung

Die Autoren technischer Normenoder Spezifikationen stehen eigent-lich nicht in Verdacht, zur Rechtset-zung beitragen zu wollen.19 Siereflektieren technische und wirt-schaftliche Entwicklungen, derenUmsetzung in Standards unver-meidlich die Pflicht zur Befolgungdurch „diejenigen, die danacharbeiten“,20 beinhaltet, insbeson-dere dann, wenn die Normen undTechnischen Spezifikationen aus-drücklich zum Vertragsinhalt erho-ben werden und im übertragenenSinn von § 348 HGB eine Art„Handelsbrauch“ oder Industrie-standard geworden sind, weil esauch nicht anders geht.21

Damit sind wir wieder beim „pro-zessorientierten Ansatz“, nunmehrals rechtsverbindliches Verhaltens-muster in der gesamten Zuliefer-kette bis zu den Automobilherstel-

lern. Bei genauerem Hinsehen wirddeutlich, dass die Autoren derISO/TS 16949:2002 mit dieserTechnischen Spezifikation auchRechtsstandards setzen wollten.Das ist nahe liegend: Die Mitglie-der der Normengremien sitzennicht im Elfenbeinturm, sondernsind auch interessengebundeneVertreter von Unternehmen, des-halb kann auch das Ergebnis ihrerArbeit bei aller versuchten Neu-tralität auf dem größtmöglichengemeinsamen Nenner der betrof-fenen Unternehmen – nachvoll-ziehbar – nur interessengebundensein. Das gilt insbesondere für dieIATF als Initiator und Promotor derISO/TS 16949:2002.22 EinigeBeispiele:

Die EN ISO 9001:2000 und dieISO/TS 16949:2002 reflektierenvollständig die Voraussetzungender Sachmangelhaftung nach § 434 BGB. Die „vereinbarte Be-schaffenheit“ (§ 434 Abs. 1 Satz 1BGB) findet sich in der Definitionfür den Begriff „Anforderungen“23

des Kunden und in der Pflicht zur„Ermittlung der Anforderungen inBezug auf das Produkt“ wieder.24

Die Eignung „für den vorausge-setzten Gebrauch“ (§ 434 Abs. 1Nr. 1 BGB) ist vom Lieferanten zuermitteln. Er hat eine Holschuld füralle Informationen, die für die Her-stellung des Produkts erforderlichsind.25 Deshalb definiert die EN ISO90001:2000 unter 7.2.2: „DieOrganisation muss die Anforde-rungen in Bezug auf das Produktbewerten. Diese Bewertung mußvor dem Eingehen einer Lieferver-pflichtung … vorgenommen wer-den …“.26 Die ISO/TS 16949:2002ergänzt unter 7.2.2.2: „Die Orga-nisation muß die Herstellbarkeitder vorgesehenen Produkte imRahmen der Vertragsprüfunguntersuchen, bestätigen unddokumentieren, einschließlich Risi-koanalyse“.27 Die Beschaffenheit fürdie „gewöhnliche Verwendung“ (§ 434 Abs. 1 Nr. 2 BGB) ist in derErmittlung der Kundenforderun-gen enthalten.

Die Haftung des Zulieferers für sei-ne Erfüllungsgehilfen nach § 278BGB ist im Kapitel 7.4 der EN ISO9001:2000 („Beschaffung“) voll-ständig abgebildet.28 Die ISO/TS

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16 § 377 HGB ist seit dem In-Kraft-Tretendes HGB durch Gesetz v. 10.5.1897(RGBl. S. 437) unverändert.

17 Kessel/Passauer, Einkaufsbedingungen in der Automobilindustrie. Eine verglei-chende Analyse, BB 2004, 1974 m.w.N.

18 BGH Urteil v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05= ZIP 2006, 235. In dieser Entscheidunggeht es um eine ganze Reihe von unwirk-samen Klauseln im Verhältnis von Bau-märkten zu ihren Zulieferern.

19 S. Fn. 8: Wenn in einer 10 003 auch dieMediation angesprochen wird, liegt dieVermutung nahe, dass die Normengeberdie Tendenz haben, diese Regelwerkeeinem eigenständigen Regelungs- undKonfliktregulierungssystem zu unterwer-fen. Das ist nachvollziehbar, entferntaber die kodifizierte Rechtswelt nochweiter von der Wirklichkeit der Wirtschaft.

20 S. Fn. 2.21 Die europäischen Normenorganisationen

haben einen wesentlichen Einfluss auf dieEntwicklung des Gemeinschaftsrechts. Aufder Grundlage der Richtlinie 98/34/EGgehen die von CEN = Europäisches Komi-tee für Normung; CENELEC = Europäi-sches Komitee für elektrotechnischeNormung und ETSI = Europäisches Ins-titut für Telekommunikationsnormen indie Richtlinienrechtsetzung der Europäi-schen Kommission ein. Ausführlich dazu:„Leitfaden für die Umsetzung der nachdem neuen Konzept („New Approach“)und dem Gesamtkonzept verfasstenRichtlinie“, abrufbar unterwww.europa.eu.int/comm/enterprise/newapproach/newapproach.htm.

22 Die Tendenz, in Normen und Richtlinienauch Rechtsvorstellungen unterzubrin-gen, ist verbreitet. Z.B. setzt die VDI-Richtlinie 4080 „Automobilverwertung –Qualität von Kfz-Gebrauchtteilen“ Maß-stäbe für die Beschaffenheitsmerkmalesolcher Teile. Die DIN EN 62309 (VDE0050) „Zuverlässigkeit von Produktenmit wieder verwendeten Teilen – Anfor-derungen an Funktionalität und Prüfun-gen“ setzt rechtlich erhebliche Mindest-standards für Beschaffenheitsmerkmaleund Nutzungserwartungen an solcheTeile.

23 Definition in der EN ISO 9000:2005 unter3.1.2: „Erfordernis oder Erwartung, dasoder die festlegt, oder verpflichtend ist.“

24 ISO/TS 16949:2002 unter 7.2.125 Das weicht vom gesetzlichen Leitbild ab.

Nach dem Gesetz sagt der Kunde exakt,was er will. In der Automobilindustriehat sich seit Oktober 1993 ein Paradig-menwechsel durchgesetzt: Damals, kurznach dem In-Kraft-Treten des Produkt-haftungsgesetzes zum 1.1.1990 mit derEinführung der verschuldensunabhän-gigen Haftung, hat Mercedes-Benz denZulieferern als Fachunternehmern dieVerantwortung auferlegt, abzufragen,welche Informationen sie benötigen, umrichtig liefern zu können.

26 Das Kostenrisiko liegt in diesem Zeit-punkt beim Zulieferer. Er weiß weder, ober einen Auftrag bekommt, noch ob derAuftrag oder der Teilepreis seine Vorlauf-kosten decken wird.

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16949:2002 ergänzt rechtlichrelevant § 278 BGB unter 7.4.1.3:„Die Inanspruchnahme der vomKunden frei gegebenen Bezugs-quellen, einschließlich Werkzeug-und Messgerätelieferanten, ent-bindet die Organisation nicht vonder Verantwortung, die Qualitätder beschafften Produkte sicher-zustellen.“

Obwohl der Schutz des Eigentumsdes Kunden (zu dem auch geisti-ges Eigentum und gewerblicheSchutzrechte gehören) weder ineiner Norm noch in einer Techni-schen Spezifikation etwas zusuchen hat, heißt es unter 7.5.4der EN ISO 9001:2000 „Die Orga-nisation muss sorgfältig mit demEigentum des Kunden umgehen,solange es sich im Lenkungsbe-reich der Organisation befindetoder von ihr gebraucht wird. …Fälle von verloren gegangenem,beschädigtem oder anderweitig fürunbrauchbar befundenem Eigen-tum des Kunden müssen demKunden mitgeteilt und Aufzeich-nungen darüber geführt werden(siehe 4.2.4).“ Die ISO/TS16949:2002 erstreckt dies auch aufkundeneigene Umlaufverpackun-gen und formuliert unter 7.5.4.1:“Kundeneigene Werkzeuge, Pro-duktions- und Prüfmittel müssendauerhaft gekennzeichnet sein, sodass die Eigentumsverhältnisse er-kennbar sind und ermittelt werdenkönnen.“

Die Normenreihe EN ISO 9000 ff.und die Technische SpezifikationISO/TS 16949:2002 sind, wie derInhalt des Begriffs der „Kundenbe-zogenen Prozesse“ zeigt, auf dasFunktionieren einer Wertschöp-fungskette gerichtet, an derenEnde das Endprodukt Automobilsteht, das weltweit einen grund-legenden Stellenwert wie kaumein anderes Produkt hat. DieAnwendung und Verbindlichkeitder Normen und der sie inkorpo-rierenden Vertragswerke der Auto-mobilhersteller wird in der Praxisüberwiegend als Einbahnstrasse zuLasten der Zulieferer vollzogen.Die Gesamtheit der Zulieferer istdas Füllhorn, aus dem die Auto-mobilhersteller schöpfen müssen,weil sie ohne die Zulieferer keineFahrzeuge herstellen können und

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27 Bereits in dieser Entwicklungsphase vorAuftragserteilung trägt der Zulieferernach MBST 37/02 ein Kostenrisiko fürMaterialmehrkosten.

28 7.4.1: Beschaffungsprozess „Die Orga-nisation muss sicherstellen, daß diebeschafften Produkte die festgelegtenBeschaffenheitsanforderungen erfüllen.Art und Umfang der auf den Lieferantenund das beschaffte Produkt angewand-ten Überwachung müssen vom Einflußdes beschafften Produkts auf die nach-folgende Produktrealisierung oder aufdas Endprodukt abhängen. Die Organi-sation muß Lieferanten aufgrund ihrerFähigkeit beurteilen und auswählen, Pro-dukte entsprechend den Anforderungender Organisation zu liefern. Es müssenKriterien für die Auswahl, Beurteilungund Neubeurteilung aufgestellt werden.Aufzeichnungen über die Ergebnisse vonBeurteilungen und über notwendigeMaßnahmen müssen geführt werden (s. 4.2.4).“

29 Die seit der Wirksamkeit des Lopez-Effekts ab 1993 drastisch steigende Zahlder Rückrufe von Fahrzeugen macht dasdeutlich. Im Jahr 2004 gab es nach demJahresbericht des Kraftfahrtbundesamts137 überwachte Rückrufe. Die Gesamt-zahl der von diesen Rückrufen betrof-fenen Fahrzeuge ist nur ein geringer Teil der tatsächlich in die Werkstättengeholter Fahrzeuge. Das bestätigt eineStudie der Boston Consulting Group,Handelsblatt, Schmerzvoller Spagat, v. 27.12.2005, 18.

30 Automobilwoche v. 30.1.2006, 3.31 Die Erkenntnis beginnt zu reifen. Der

Vorstand von Bosch wird zitiert: „Voraus-setzung für die Beherrschung der Kom-plexität heutiger Fahrzeuge sind starkeQualitätspartnerschaften zwischen Her-stellern und Zulieferern, die auf Ver-trauen und Transparenz basieren.“,Handelsblatt v. 27.12.2005, 18,Schmerzvoller Spagat.

niemand ein Zulieferteil braucht,wenn der Automobilhersteller keinAuto daraus herstellt, also eine un-auflösbare Schicksalsgemeinschaft.

Trotzdem werden rechtlicheGrundprinzipien, insbesondere dieAusgeglichenheit von Rechten undPflichten sowie der Fairness, nichtaußer Kraft gesetzt. Es ist m.E. nureine Frage der Zeit, bis die Gerich-te korrigierend eingreifen werden.Der Anlass dazu wird aus demimmer größer werdenden wirt-schaftlichen Druck aus der Zuliefer-kette selber kommen. Der Versuch,bessere Qualität durch immerhärtere Kostenreduzierungspro-gramme zu erzwingen, wird schei-tern.29 Insbesondere für die Haft-pflichtversicherer wird im Rahmender Produkthaftpflicht- und Rück-rufkostendeckung der unbe-schränkte, von rechtlicher Verant-wortung weitgehend unabhängi-ge, oft pauschalierte Kostentrans-fer aus Qualitätsproblemen derAutomobilhersteller einseitig aufdie Zulieferer nicht tragbar sein.

Qualitätsprobleme in der Auto-mobilindustrie sind überwiegendSchnittstellenprobleme dort, wodie einzelnen Prozesse ineinandergreifen müssten, aber versagen.Wenn Volkswagen die Marktein-führung des „EOS“ um Monateverschieben muss, weil das auf-wändige Blech-Klappdach nichtfunktioniert und ähnliche Proble-me an dem neuen Geländewagenauf Golf-Basis auftreten,30 (ähnlicheFälle gibt es bei anderen Auto-mobilherstellern) dann indizierendiese Vorkommnisse, dass die aufder Grundlage der ISO/TS16949:2002 angelegten Prozessenicht funktionieren. Das ist auchmeine Erfahrung aus der täglichenPraxis in dieser Industrie. Nichtfunktionierende Prozesse sindimmer ein sicheres Zeichen nichtfunktionierender Kommunikationmit der zwangsläufigen Folge fol-genreicher Informationsdefizite aufallen Seiten, gepaart mit der ins-besondere aus Ressourcenmangelfolgenden Unfähigkeit, das Kom-petenzgefälle zwischen den Auto-mobilherstellern und ihren Zuliefe-rern in moderierender Kooperationin Entwicklung und Produktionumzusetzen.31

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Technische Spezifikation über-lagert juristische Zurechnung inder Kfz-Zuliefererindustrie – ISO/TS 16949:2002

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32 ISO/TS 16949:20004 unter 7.5.3.133 Automobile, Ersatzteile und Zubehör sind

Verbraucherprodukte. Für sie bestehenöffentlich-rechtlich die Bestimmungenüber die Rückverfolgbarkeit nach § 5Geräte- und Produktsicherheitsgesetz(GPSG); Helmig, Marktbeobachtungs-pflicht für Hersteller und Händler unterdem GPSG – Bedeutung und Folgen fürdie Praxis, PHi 2005, 140;

34 S. Fn. 4. Obwohl das Postulat derZertifizierungspflicht besteht, dulden dieAutomobilhersteller gegen ihren eigenenAnspruch immer noch eine große Zahlnicht zertifizierter Zulieferer und haltensich selber nicht an die selbst vorgege-bene Technische Spezifikation. Dieskönnte ein Indiz dafür sein, dass dieAutomobilindustrie vom Umfang ihrereigenen Regel- und Normenwerke über-fordert ist; Helmig, Zulieferer in Zange,QZ Qualität und Zuverlässigkeit Nr. 10/2004, 22.

Dabei postuliert die ISO9000:2000 unter 5.5.3 InterneKommunikation: „Die oberste Lei-tung muss sicherstellen, dassgeeignete Prozesse der Kommuni-kation innerhalb der Organisationeingeführt werden und dass eineKommunikation über die Wirksam-keit des Qualitätsmanagement-systems stattfindet.“ Dieser zulie-ferinterne Kommunikationsprozesskann nur effizient sein, wenn auchder Automobilhersteller in glei-chem Umfang und mit dem glei-chen Pflichtenkreis kommunika-tionsfähig ist.

Die Strukturen, die nach derISO/TS 16949:2002 bei den Zulie-ferern vorausgesetzt werden, umdem „prozessorientierten Ansatz“gerecht zu werden, müssen auchbei den Automobilherstellern akti-viert sein, wenn daraus für siegünstige Rechtsfolgen gezogenund Kostenfolgen ausgelöst wer-den sollen, die einer AGB-KontrolleStand halten.

Das Beispiel der „Rückverfolgung“macht deutlich, dass die Praxisdavon weit entfernt ist:

Die „Rückverfolgbarkeit“ von Pro-dukten, die nach der ISO/TS16949:2002 im Gegensatz zur ENISO 9001:2000 für die Automobil-industrie zwingend ist,32 soll sicher-stellen, dass fehlerhafte Produkterechtzeitig und umfassend iden-tifiziert werden können und ihrVerbau unterbleibt oder dassFahrzeuge, in die solche fehlerhaf-ten Produkte eingebaut wurden,zurückgerufen werden können.

In der Vertragsbedeutung derISO/TS 16949:2002 ist die Sicher-stellung der Rückverfolgbarkeitbindend ein Instrument der Scha-densbegrenzung und der Scha-densminderung, also eine Rechts-pflicht zwischen allen an derFehlerursache oder Fehlerverbrei-tung im Innenverhältnis Beteilig-ten. Sie ist zugleich eine Pflicht ausder deliktischen Verkehrssiche-rungspflicht.33

Die ISO/TS 16949:2002 macht vonder Rechtspflicht zur Rückverfol-gung keine Ausnahme, erfasst alsoalle Produkte. Sie unterscheidet

nicht zwischen wichtigen oderunwichtigen Produkten undbeschränkt sich auch nicht auf„Sicherheitsteile“ oder „Teile mitbesonderem Dokumentations-bedarf“.

Die Praxis folgt dem nicht.34 DieIndustrie geht bewusst das Risikoein, als banal angesehene Massen-produkte wie Schrauben, Unterleg-scheiben, Kunststoffteile etc. zumTeil nicht einmal mit einer Teile-nummer zu versehen oder denZulieferer nicht zur Sicherstellungder Rückverfolgbarkeit zu ver-pflichten. Ob ein Teil wirklichbanal ist, sein Ausfall weder zueiner Gefahr oder zu einem nachAuffassung des Endverbrauchersbeanstandenswerten Qualitäts-mangel führt, zeigt sich immererst, wenn das Teil ausfällt. Meistfolgt daraus ein kostspieliger „stil-ler Rückruf“ oder eine Reparaturinnerhalb der Serviceintervalle inden Werkstätten. Wer trägt dieKosten?

Die Automobilhersteller pflegendiese Kosten ihren Zulieferern auf-zuerlegen und durchzusetzen, diedann erwarten, dass ihre Haft-pflichtversicherer die über die rei-nen Gewährleistungskosten hin-ausgehenden Kosten übernehmen,obwohl Deckung und Haftungdafür problematisch sind.

Meines Erachtens geben weder dieISO/TS 16949:2002 noch die mit-geltenden Vertragsbestimmungenetwas dafür her, dass der Zuliefererden vollen Umfang der Kosten zutragen hat. Der Zulieferer hat dasRecht der „zweiten Andienung“,nach § 437 BGB. Er trägt die nach§ 439 Abs. 2 BGB bestimmten Auf-wendungen des Automobilherstel-lers, deren über den gesetzlichenRahmen hinausgehende Umfangvom Automobilhersteller nicht ein-seitig bestimmt, sondern mit demZulieferer vereinbart werden muss.Er haftet aber nicht für die Kosten,die daraus entstehen, dass derAutomobilhersteller oder der Zulie-ferer in der nächst höheren Stufeder Zulieferkette die geliefertenTeile chaotisch gelagert und ent-gegen ISO/TS 16949:2002 unter7.5.3.1 nicht gekennzeichnet ver-baut hat. Verlassen beide die Platt-

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form dieser Technischen Spezifika-tion, verliert sie ihre Verbindlich-keitsfunktion als Besonderheiteiner arbeitsteiligen Industrie. Aufdie „im Handelsverkehr geltendenGewohnheiten und Gebräuche“nach § 310 BGB Abs. 1, letzterHalbsatz, kann rechtlich keineRücksicht mehr genommenwerden.

Denn durch diesen Verzicht desAutomobilherstellers auf die Rück-verfolgbarkeit des Teils fehlt ihmjede Information, die Fahrzeugemit den mangelhaften Teilen zuidentifizieren. Er muss also willkür-lich einen Produktionszeitraumbestimmen, in dem nach dem Zeit-punkt der Lieferung der mangel-haften Teile diese verbaut wordensein könnten und an allen diesenFahrzeugen eine Reparatur vorneh-men. Abgesehen davon, dassdamit nur ein statistischer Grad derWahrscheinlichkeit gefunden wird,alle wirklich betroffenen Fahrzeugezu erreichen, entsteht dadurcheine ernorme Diskrepanz zwischender Zahl der überprüften und dertatsächlich defekten Fahrzeuge.

Die Kosten für die überschießendüberprüften Fahrzeuge wären ver-meidbar gewesen, wenn der Auto-mobilhersteller aus eigener Sorg-falt (§ 277 BGB) nach den Regelnder ISO/TS 16949:2002 die Rück-verfolgbarkeit sichergestellt hätte.Für die Folgen des Mangels aneigener Sorgfalt des Automobilher-stellers aber haftet der Zulieferernicht.35 Er kann erwarten, dass sichder Automobilhersteller an diePrinzipien der ISO/TS 16949:2002hält. Denn er hat das vertragsge-mäß geschuldete Produkt geliefert,wenn auch mangelbehaftet. Aufdie fehlende Rückverfolgbarkeit beiihm selber kommt es in diesem Fallnicht an, weil die Ursache derUnkontrollierbarkeit beim Auto-mobilhersteller liegt.

Fasst man im Ergebnis zusammen,lässt sich feststellen: Die ISO/TS16949:2002 hat als TechnischeSpezifikation durch ihre Einbezie-hung in das Vertragsverhältniszwischen Automobilhersteller undZulieferer unmittelbar gegensei-tige, AGB-relevante Rechte undPflichten gestaltende Wirkung. Sie

ist im Rahmen einer AGB-Kontrolledes gesamten Vertragswerkswegen ihrer einseitigen Kunden-orientierung und Bevorzugung derAutomobilhersteller nur dannnicht zu beanstanden, wenn dieAusgewogenheit des „prozess-orientierten Ansatzes“ als Koopera-tionsplattform gegenseitig respek-tiert, dass die Prozessbeteiligten,die jeweiligen Prozesseigner, ihrejeweiligen Leistungen rechtlich ineinem synallagmatischen undausgewogenen Verhältnis stehen,unterstellt, dem Transparenzgebotwäre insgesamt Genüge getan.Eine einseitige (Aus-)Nutzung derISO/TS 16949:2002 macht sieAGB-rechtlich extrem angreifbarund entwertet die Bedeutung derTechnischen Spezifikation.

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35 Im Haftungsfall nach § 823 BGB odernach § 1 Abs. 3 Produkthaftungsgesetzgreift der Einwand des Mitverschuldensnach § 254 BGB.