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Teil 2, ej: Das Wachsen von zd mit und aus der Entwicklung von wichtigen GFK-Modellen Überleitung vom 1. zum 2. Teil 2 Zur Entstehungsgeschichte des zd 3 Die GFK-Charakterstrukturen, eine erste Heranführung, mein Weg dahin 6 Die zwei Grundideen: 7 Wachsen des Modells an Sprachproblemen 12 Die oberen Strukturen: 14 Die unteren Strukturen: 16 Die mittleren Strukturen: 18 Was sich aus den Unschärfen mit den Begriffen depressiv und süchtig ergab 20 Neue Worte: Verengung, Dipol, Einbruch 22 Klärung zwischen „zirkulär“ und „zyklisch“ im Zusammenhang mit den Sensibilitäten 26 Verstehen verstehen 28 Die energetische Brille, eine zweite Heranführung 34 In der Reich´schenKörperarbeit 34 Die dialogische Körperarbeit 40 Die Körperarbeit, insbesondere die dialogische Körperarbeit, in einer Gesprächstherapieausbildung? 43 Zum Verständnis der „Wellenwelt“ 48 Die zweite Metapher: Die Wellenwelt der Musikinstrumente 51 Resonanz, Resonanzgeschehen, Resonanzkörper 56 Zusammenfassend, zwei Metaphern: 58 Die Wellenwelt in der Psychotherapie 62 e zd 2. Teil, korrigiert von ej am 5.10.1013 1

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Teil 2, ej: Das Wachsen von zd mit und aus der Entwicklung von wichtigen GFK-Modellen

Überleitung vom 1. zum 2. Teil 2Zur Entstehungsgeschichte des zd 3Die GFK-Charakterstrukturen, eine erste Heranführung, mein Weg dahin 6Die zwei Grundideen: 7Wachsen des Modells an Sprachproblemen 12Die oberen Strukturen: 14Die unteren Strukturen: 16Die mittleren Strukturen: 18Was sich aus den Unschärfen mit den Begriffen depressiv und süchtig ergab 20Neue Worte: Verengung, Dipol, Einbruch 22Klärung zwischen „zirkulär“ und „zyklisch“ im Zusammenhang mit den Sensibilitäten 26Verstehen verstehen 28Die energetische Brille, eine zweite Heranführung 34In der Reich´schenKörperarbeit 34Die dialogische Körperarbeit 40Die Körperarbeit, insbesondere die dialogische Körperarbeit, in einer Gesprächstherapieausbildung? 43Zum Verständnis der „Wellenwelt“ 48Die zweite Metapher: Die Wellenwelt der Musikinstrumente 51Resonanz, Resonanzgeschehen, Resonanzkörper 56Zusammenfassend, zwei Metaphern: 58Die Wellenwelt in der Psychotherapie 62

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Überleitung vom 1. zum 2. Teil

Seit dem Beenden des ersten Teils ist einige Zeit vergangen, fast ein Monat. Es ist nicht

leicht für mich, im Schreibfluss zu bleiben oder ihn wieder zu finden, wenn ich voll in

der körperpsychotherapeutischen Praxis bin. Ich erlebe dann zwar ständig Beispiele, die

ich gerne irgendwie in den Text aufnehmen würde, aber ich schaff es nicht, neben der

Klienten- und Ausbildungsarbeit noch zu schreiben. Wenn ich mich darüber gegrämt

habe, merke ich aber auch, dass die Pause auch einen Sinn macht, klärt und vor allem,

dass es sehr wichtig ist, dass es für diese Art zu denken auch eine Praxis braucht und

einen Austausch mit Menschen, die im selben Denkkollektiv sind.

Ich bemerke bei den StudentInnen des GFK, dass ihnen der sprachliche Ausdruck, die

Geläufigkeit in unserem Ansatz lange Mühe macht. Sie sind durch die Uni oder ihre

jeweilige Arbeits-Institution sprachlich sehr geprägt. Bevor sie sich redend und

schreibend GFK-sicher fühlen, sind sie schon lange „handwerklich“ am Arbeiten, da

erleben sie sich schneller kompetent. Sie erzählen auch, dass sie schon glauben, zd-

ähnlich zu denken, aber es bleibt längere Zeit vage, unscharf. Sie können schlecht

unterscheiden, was denn zd-typisch, dort gar treffend und exakt ausgedrückt ist oder was

eher Anzeichen von Nicht-Verstanden-Haben ist. Sobald sie in einen Austausch mit

anders Geschulten kommen, werden sie unsicher, vermuten, schlechter ausgebildet zu

sein als all die, die viel bestimmter reden können, die halt näher beim Unistil oder beim

medizinischen Stil sind.

Ich möchte den LeserInnen Mut machen: Es geht allen so. So ein neuer, ungewohnter

Denkstil ist nicht nur über Text zu verstehen. Es braucht den Austausch mit

Erfahreneren, und es braucht ein Anwendungsgebiet. Etwas Sinnvolles im Mikroskop zu

sehen, muss schliesslich auch gelernt sein. Und dann gar das zu sehen, was grad für die

aktuelle Fragestellung wichtig ist, das braucht meistens noch mal Lernschritte.

Das bisher Geschriebene enthält sozusagen die Kernkompetenzen fürs zd. Ich habe eine

Zusammenfassung vorgelegt mit den grad oben ausgeführten acht Punkten. Die

Beispiele, in denen ich meist denke, die ich auch anführe, stammen aus dem Gebiet der

Beratung, des Unterrichtens und der Psychotherapie, aber auch aus unserer eigenen

Biologie. Ich bin aber überzeugt, dass der Denkstil nicht an diese Fachgebiete gebunden

bleiben muss. Ja, ich hab es auch schon erlebt (z.B. letzthin in einem Fleck-Symposium

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an der ETH Zürich1), dass dieser Denkstil offenbar auch unabhängig von uns ganz

ähnlich entstanden ist. Und wie auch andernorts darum gerungen werden muss, nicht

nur im Gebiet der Psychotherapie, welche Art nachzudenken von andern akzeptiert

werden kann.

Die folgenden Ausführungen werden also etwas spezieller. Ich möchte mich klarer an

Menschen wenden, die an psychosozialen- und Heil-Berufen interessiert sind. In erster

Linie sogar „GFK-lerInnen“ und Focusing-Geschulte. Wobei ich mich sehr über andere

Interessierte freue.

Zur Entstehungsgeschichte des zd

Diese Geschichte ist eine persönliche Geschichte. Sie enthält Erinnerungen und

Herleitungen, die mir aus der Sicht von Heute einfallen - aber wie weit das den

„Fakten“, Daten, Reihenfolgen, den Erinnerungen anderer entspricht? Das wären andere

Geschichten oder gar Berichte.

Ich lasse die Geschichte bei meinem Versuch, Neurosenlehre und Psychopathologie zu

lernen, beginnen. Wie viele andere LeidensgenossInnen, die das lernen müssen oder

wollen, ging auch ich durch ein Wechselbad von „das hab ich ja auch alles“, zu „was für

ein unsinniges System“, zu „das müsste doch anders gehen“, und „wie wärs denn mal

mit selber denken, wenn das zu Lernende nicht einleuchtet?“, „vielleicht bin ich ja nicht

zu dumm und unerfahren (ein Lieblingsvorwurf meiner damaligen

Psychotherapielehrer, wenn sie keine Erklärung auf meine Fragen fanden), sondern die

Systeme sind zu blöd“. „Hah, was sollen denn diese Psychologen einem Mathematiker

über Systematik beibringen? Die haben ja keine Ahnung, diese Banausen.“ So tönte es

in mir, überheblich, selbstbewusst, trotz der Bedenken, vielleicht doch sehr gestört zu

sein.

Mein persönlicher Lernweg zum Psychotherapeuten ging über das Studium von

Wilhelm Reich, über Kämpfen mit Psychopathologiesystemen, über die Not des „Immer-

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1 Das ist ja auch nicht so verwunderlich, dass es grad ein Fleck-Symposium war: Schliesslich bin ich über das Bemerken der Verschiedenheit von SchülerInnen und KlientInnen in ihrem jeweiligen Denken bei Fleck gelandet. Und Fleck ist über die Beobachtung des Denkens auch bei der Verschiedenheit der Menschen gelandet.

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noch-mehr-Wissen-Müssens“, über meine KlientInnen und PatientInnen - über ihre

Psyche, ihren Körper, ihr soziales und sogar kulturelles Umfeld. Bis ich dann ein Stück

weit erlöst wurde durch den Klientenzentrierten Ansatz von Rogers. Und ähnlich

profitierte ich auch für die Vertiefung meiner Anfängerhypothesen über

Veränderungsprozesse durch Focusing und Gendlin. Und nicht zuletzt von der Ein-

Personen-Psychologie (die Pathologie und das Talent ist in dieser einen Person drin) zu

einem Verständnis von der Wichtigkeit der Beziehung, dem relationalen Charakter von

scheinbar persönlichen Merkmalen - dank meiner Frau Christiane Geiser - zum

systemischeren Denken über Situationen. Und dann auch über das Studium von

Biologie, Evolution, Komplexität zu einem neuen Verständnis von

Entstehungsprozessen, ja auch zu einer neuen Auffassung von Leben, Lebewesen.

Und in diesem Lern- und Reifungsprozess entwickelte sich notwendigerweise auch mein

Denken. Vom immer Muster-interessierten Buben über das Lehrer- und danach

Mathematikstudium zur Faszination über das Phänomen des scheinbar Klug -oder

Dumm-Seins meiner Mathematik-Schüler, dem Unterschied von der Mathematik-Stunde

zum Rest des Lebens. Vom logischen Denken des Mathematikers zum Erfahren des

beschränkten Gültigkeitsbereichs dieses Denkens. Vom Schliessen in logischen Ketten

zur Not des „es braucht noch was Anderes“. Nur Ahnungen und Intuitionen und Poesie

als Ergänzung, das reicht doch noch nicht. Was könnte denn Exaktheit auch noch

heissen? Was könnte denn „sauber“ Denken auch noch sein, über Beweisen hinaus oder

ergänzend zu ihm, alternativ zu ihm? Von einem engen, abstrakten Zeitbegriff, seiner

Verbindung zu deterministischem Denken zu ... Ja wohin denn? Anderer Zeitbegriff?

Nicht deterministisch und trotzdem folgerichtig?

Eine erste wichtige Ahnung, die zur Maxime reifte, war: Nicht nur auf eine Art sehen,

nicht nur auf eine Art denken, nicht nur auf eine Art ordnen. Ein Gefühl zur selben

Sache bleibt nicht konstant. Jede Einschätzung bleibt abhängig von den gewählten

Betrachtungsaspekten, Argumentationsarten. Es ist uns nicht möglich, alles in Betracht

zu ziehen. Die Welt, insbesondere das Lebendige, ist zu komplex, man muss

Gesichtspunkte auswählen. Und das machen nicht alle Leute gleich und noch nicht mal

ich selber zu verschiedenen Zeiten.

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Die berühmt-berüchtigten Randbedingungen der Physik2, die mir das Physikstudium so

schwer machten. Diese All- und Überhaupt-Aussagen, von denen die

Naturwissenschaften scheinbar voll sind, die aber immer nur unter bestimmten

Voraussetzungen gelten. Und diese Voraussetzungen gehen ständig vergessen in den

populären Versionen des „Wissens“. Es ist dies etwas Ekelhaftes in den

Naturwissenschaften im Gegensatz zur „reinen“ Mathematik. Sie hat das „Überhaupt“ für

sich gepachtet, meinte ich damals, und das machte mir das Studium so leicht. Aber grad

dies, diese ständigen und dazu noch wechselnden Bedingtheiten, das schien überall zu

sein.

Was zuerst schwierig war: Etwas, was gilt, soll doch bitte gelten. Und zwar überhaupt,

nicht nur manchmal - und leider ist es nicht so. Dieses für mich Schwierige wandelte

sich mit der Zeit zur Ausruhmöglichkeit: In der vergnüglichen Beliebigkeit der

Psychologie kann ich so gut ausruhen von der Strenge der Mathematik. Und in der

Festigkeit und Logik der Mathematik kann ich so gut ausruhen vom ewigen Geschwafel

der Psychologen. Aha, beides, das bringts! Theologische Spekulationen - wunderbar.

Religiöser Wahrheitsanspruch - eine Folter fürs Gehirn.

Was ich jetzt so locker hinschreibe, brauchte aber einen schweren, mühsamen Prozess.

Ich meinte lange Zeit, die religiöse Wahrheit, die gäbe es. Das richtige Verständnis eines

Menschen, das müsse man halt suchen, aber es sei in dem Menschen gegeben. Die

Wahrheit der Naturgesetze, das richtige Resultat einer Rechnung, die richtige Art zu

Philosophieren, jede vernünftige Frage muss auch eine Antwort haben. Dann diese

grosse Irritation, als der theoretische Physiker, berühmtes Haus, damals, im Studium

behauptete, ein Elektron habe keine Farbe. Dieser Aufschrei durch den Hörsaal damals.

Die Ahnung, der hat recht, aber ich habs nicht verstanden, schämte mich. Dann die

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2 Ich habe in Wikipedia den Begriff „Randbedingungen“ eingegeben. Es gibt bisher keinen spezifischen Artikel dazu, aber jede Menge Artikel, Unmengen, zu speziellen Randbedingungen zu weiss der Kuckuck was allem, zu speziellen Gleichungen, speziellen Theoriestücken, speziellen Versuchsanordnungen. Ich glaub, es erscheint den NaturwissenschaftlerInnen, insbesondere den Mathematikern und den Physikern so selbstverständlich, dass immer Randbedingungen zu beachten sind, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, man könnte das vergessen. Und vergessen es dann selber in ihren Verallgemeinerungen - natürlich nur zu Themen, die nicht genau im eigenen Spezialgebiet drin sind. Also versuch ichs selber mit einer Erklärung, was denn in der Physik damit gemeint ist. Experimente, selbst zu vertrautesten Naturgesetzen wie dem Fallgesetz, führen nie (wirklich höchstens ab und zu, zufällig) zu den Ergebnissen, die das Naturgesetz „verlangt“. Sie ergeben immer eine grosse Streuung, und es ist ein Irrtum zu meinen, man könne einfach den Durchschnittswert nehmen und erhalte dann den gesuchten Wert. Damit das Experiment zu „vernünftigen“ Ergebnissen führt, muss die Versuchsanordnung hochspezifisch gemacht werden. „Störeinflüsse“, d.h. die Realität in ihrer zu grossen Vielfalt, müssen möglichst ausgeschlossen werden. So muss etwa die Temperatur, der Luftdruck, die Luftfeuchtigkeit, die Reibung gewählt werden. Es muss oft ausgeschlossen werden, dass elektromagnetische Wirkungen vorhanden sind usw. All diese künstlichen Umstände, eben die Randbedingungen, „zwingen“ das Experiment zum gewünschten Resultat.

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Steigerung, die er uns als Hilfe anbot: nicht jede Frage ist sinnvoll, auch wenn sie

vernünftig tönt.

Die GFK-Charakterstrukturen, eine erste Heranführung, mein Weg dahin

Zum ersten Mal in der Psychotherapieausbildung habe ich mich da wirklich selber

durchgekämpft, als mir die Psychopathologie-Systeme nicht eingeleuchtet haben. Ich

rede von der Zeit um 1970. Ein Mensch hat, wenn er psychisch krank ist, eine bestimmte

Pathologie, eine Krankheit in sich drin. So dachte man damals - viele denken das auch

heute noch. Manche haben das biologisch-chemisch verstanden (zu viel, zu wenig

Serotonin, schlechter Stoffwechsel irgendwo im System), manche physikalisch

(Gehirnstrukturen defekt), manche „tiefenpsychologisch“ (ein ungelöster Konflikt wirkt).

Die psychisch „Kranken“ hatten so was. Und die „Gesunden“? Die haben sowas nicht,

oder vielleicht nur eine ganz schwache, kleine Variante. Und dann kam für mich das

Erlebnis beim ersten Besuch einer psychiatrischen Klinik mit einer Psychologieklasse

des Lehrerseminars, in der ich Mathematik unterrichtete: Der führende Arzt erschien

mir deutlich gestörter als jeder seiner Patienten. Und ähnlich dann das Erlebnis, wie ich

den Militärdienst verweigert hatte und über eine psychiatrische Ausmusterung freikam.

Das enthielt aber einen Aufenthalt von einer Woche, selber als Patient, in einer

Psychiatrischen Klinik, mitten in einer Abteilung von schwer kranken Menschen, wie es

halt damals üblich war. Die Offiziere, die ich grad noch erlitten hatte, die erschienen mir

viel kränker als die schwierigsten Patienten. Alle Patienten, die ich in der Abteilung

damals erlebte, wussten, dass sie krank waren. Alle Offiziere in der Militärschule taten

so, als ob sie den Betrieb für normal gehalten hätten, ja sogar als sinnvoll gaben sie ihn

aus. Das erschien mir als psychisch höchst pathologisch. Und dieses Militärsystem,

eigenartig, hochgestört, sehr interessant - was war denn das für ein ethisches System, das

diesen Betrieb rechtfertigte oder zumindest ermöglichte? Ich hab mich durchgefragt vom

Unteroffizier zum höchsten erreichbaren Offizier, auch vom Kollegen zum Feldprediger.

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Keiner konnte eine auch nur ihn selber befriedigende Antwort geben - aber alle machten

mit. Ein hochkrankes System, dazu offensichtlich sehr gefährlich, wie ja die europäische

Geschichte reichlich aufzeigt.

Also, ein Zuschreibungs-Pathologie-System, das diese Zuschreibungen willkürlich

auswählt, z.B. nach Lebensstilvorstellungen, das erschien mir denkerisch

unbefriedigend.

Der zweite Gesichtspunkt, der mich damals schon veranlasste, ein eigenes System

auszudenken, war die Vorstellung, ein psychisch kranker Mensch hätte eine Störung,

manche vielleicht eine verdeckte (zB. lavierte Depression ) manche waren vielleicht sogar

mehrfach-gestört (komorbid). Er war masochistisch, sie war hysterisch, er anal-sadistisch

oder schizophren und was der hübschen Dinge mehr waren. In der Reich-Nachfolge,

zum Teil schon von ihm selber entworfen, gab es eine Aufzählung von sogenannten

Charakterstrukturen. Ein wichtiges Ziel für die Psychotherapie war dann die Auflösung

dieser Strukturen oder doch zumindest ihre Milderung. Nun, dieses „man hat

eine“ (wenn man gestört ist), das ging mir nicht runter. Warum nur eine? Warum nicht

drei oder fünf? Kam dazu, dass diese Vorstellungen stark entwicklungspsychologische

Komponenten enthielten. So gab es Charakterstrukturen, sprich Störungen,

Pathologien, die waren „früh“, oft sagte man auch in Anlehnung an Freud, vorödipal. Die

Entstehungsvorstellung war, dass der zentrale Konflikt, der die Störung unterhaltende

Konflikt, in einer bestimmten Phase, einem bestimmten Alter entstanden war. Man blieb

sozusagen dort hängen, das gehörte zur jeweiligen Pathologie. Warum kann man nicht in

verschiedenen Altern hängen bleiben, warum könnte man also nicht aus den wichtigen

Phasen je einen Konflikt oder je eine Schwäche und warum nicht auch je eine

besondere Stärke haben?

Die zwei Grundideen:

Mit diesen zwei Grundideen begann ich neu, selber, zu denken.

Ich will weiter unten dann beschreiben, wie wir das GFK-Charakterstrukturmodell heute

konzeptualisieren. Da hat sich in den vierzig Jahren mit vielen Mitdenkern,

MitbeobachterInnen natürlich viel getan. Aber mit den zwei Punkten begann ich neu zu

denken.

Das führte zu immer noch gültigen Gesichtspunkten, wir könnten sogar sagen, zu immer

noch gültigen Pfeilern dieses Vorstellungssystems:

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(1) Jeder und jede hat solche Strukturen. Das hat vorerst mal gar nichts mit Pathologie

zu tun.

(2) Jeder und jede hat Strukturanteile aus verschiedenen Schichten.

Bemerkungen

Zu (1)

. Hier ist „jeder hat“ sicher nicht so zu verstehen wie in „jeder hat eine Nase“. Aber jeder

hat eine Nasenform, nicht nur diejenigen, die eine so hässliche Nase haben, dass sie

verschönert werden muss. Ob es aber sinnvoll ist, die Nasenformen in Gruppen

zusammenzufassen, das ist eine berechtigte Frage. Für PsychotherapeutInnen und

DachdeckerInnen wird das kaum notwendig sein, wahrscheinlich aber für

SchönheitschirurgInnen. Und diese Nasenformen sind auch nichts Festes. Je nach

Situation, etwa ob es sehr kalt oder heiss ist, ob der Träger der betreffenden Nase grad

zufrieden oder griesgrämig ist - die Form wird sich ganz anders darstellen, ja sie wird

nicht mal gleich sein, sicher nicht gleich wirken. Ähnlich ist die Einteilung in Gruppen

von psychologischen Eigenheiten von Menschen abhängig von Situationen und von den

Bedürfnissen derjenigen, die so ein Einteilungssystem schaffen. Für den Dachdecker

wären wahrscheinlich Kriterien wie schwindelfrei und wetterfest wichtiger als manch

psychologische Unterschiede.

. Ob dieses System von Strukturgruppen nur für diejenigen Menschen gemacht wird, die

in eine Therapie kommen, ist auch eine Wahl. Ich entschied mich damals für die in (1)

erwähnte Variante. Zusätzlich zum schon Erzählten führte mich auch die Erfahrung als

Lehrer dazu. Sowohl die Erfahrungen mit SchülerInnen wie auch mit

LehrerkollegInnen zeigten jeden Tag, dass die Menschen sehr verschieden sind. Und es

ist sehr sinnvoll, ihnen auch verschieden zu begegnen und unterschiedlich über sie

nachzudenken. Und sobald man sich gelöst hat von der Vorstellung, dass so eine

Eigenheitengruppierung (Charakterstruktureinteilung) ein Pathologiesystem sei,

bemerkt man, dass die Menschen natürlich auch in ihren angenehmen, positiven

Eigenheiten sehr verschieden sind und es auch dafür sinnvoll ist, ihnen entsprechend zu

begegnen. Ich muss gestehen, dass meine historisch ersten Versuche doch noch sehr

pathologielastig waren. Ich machte eine Art Verallgemeinerung auf alle mit der saloppen

Idee „wir spinnen doch alle ein wenig, und das muss ja nicht gleich krank sein“. Erst die

suchenden Gespräche und Auseinandersetzungen mit KlientInnen, SchülerInnen,

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KollegInnen ermutigten uns, das entstehende System pathologieunabhängig zu

gestalten. Es ist eine grosse intellektuelle Herausforderung, aus der Gewohnheit von

Pathologievorstellungen auszusteigen, sich zum einen unterschiedliche

Charakterstrukturen zu denken wie unterschiedliche Tischformen: runde und eckige,

lange und kurze, höhere und niedrigere. Und zum andern noch mitzubedenken, dass

diese Strukturen ja nicht in derselben Art fest sind wie bei den Tischen. Menschen

haben ja die Möglichkeit sich zu ändern und sich je nach Situation eher so oder anders

zu konstituieren. Es bleibt eine grosse Frage bis heute, inwiefern sich solche

aufgefundenen Strukturen im Verlauf des Lebens ändern oder eben doch im

Wesentlichen gleich bleiben, vielleicht eher ihr Ausmass und ihr unabänderliches oder

situationsangepasstes Erscheinen verändern, aber nicht das Wesentliche ihrer Gestalt.

Ich werde darauf später zurückkommen. Wir brauchen dazu mehr von der Konstruktion

des Modells, um sinnvoll darüber nachdenken zu können.

Zu (2)

. Zu dieser Idee kam ich durch die damals in der Psychoanalyse übliche Unterteilung in

vorödipale und andere Pathologien. Ebenfalls aus der damaligen Psychoanalyse kam die

Idee, die Struktur sei aus einem pathologischen Verhaften in einer ungelösten

Konfliktsituation in der entsprechenden Entwicklungsphase entstanden (das

Konfliktmodell). Ich begann also mit der Suche nach drei Gruppen von Strukturen und

nannte sie die „Frühen“ und die „Späten“ und die „Mittleren“. Die Entstehung der

Mittleren wäre dann entsprechend in der Übergangszeit entstanden.

Zwischenbemerkung:

Wenn ich im Folgenden einige Gedanken zur Entwicklung und Beschreibung des GFK-Modells der Charakterstrukturen ausführe, dann geht es mir in erster Linie um das Aufzeigen der Denkprozesse. Die Denkprozesse führten zum Modell, und das sich entwickelnde Modell half auch, den sich bildenden Denkstil zu entwickeln. Es geht mir hier nicht, oder noch nicht, um eine ausführliche Darstellung der Charakterstrukturen, sondern um die Hauptlinien des Modells respektive die sich entwickelnden Gedankengänge. Ich hoffe, dass wesentliche Elemente des zd sich verdeutlichen können oder dass sie an diesem Beispiel verstanden werden können3. Eine der

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3 Für das Verständnis und die praktische Fähigkeit im Umgang mit den Charakterstrukturen verweise ich auf die Bücher von Sabine Unger, Der Beziehungscode und Othmar Loser, Kommunikationskompetenz und den Artikel von Christiane Geiser, Die Entstehungsgeschichte des Charakterstrukturmodells. Die Entstehungsgeschichte des Charakterstrukturmodells. Wir haben darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dass ein praktisches Arbeitsfeld und dazu gehörige Supervision unerlässlich sind, um Sicherheit zu gewinnen.

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immer wieder auftretenden Denkfiguren habe ich grad wieder verwendet: Das Eine führt zum Andern und das Andere zum Einen, und es braucht den schaukelnden Prozess zwischen diesen beiden, und das „Schaukeln“, das immer ein denkerisches, aber auch empfindendes ist (schon wieder dasselbe) erzeugt zusätzliche Qualität. Wenn diese zusätzliche Qualität entsteht, so ist das ein Anzeichen dafür, dass die entstehenden „Hin und Her“ nicht einfach sich wiederholende Schlaufen des immer „Selben“ sind. Das wäre in unserem Verständnis das Merkmal eines zirkulären Denkens, im Gegensatz zum zyklischen Denken. Grad dieser Unterschied ist uns sehr wichtig, und grad den haben wir mit Hilfe des Entwickelns der Charakterstrukturen erst richtig verstehen gelernt. Ich hoffe, das weiter unten verständlicher machen zu können, wenn ich von den mittleren Strukturen erzähle.

Diese beiden oben erwähnten Gesichtspunkte verwendete ich, kreuzte sie mit mich

überzeugenden vorhandenen Teilen der mir als Ganzes nie richtig einleuchtenden

Psychopathologie und entwickelte so ein erstes rudimentäres System, zu dem ich selber

stehen konnte, das ich als Anfang einer zu entwickelnden Theorie akzeptieren konnte.

Ich arbeitete damals in einem Ausbildungsinstitut mit, das unter anderem die Theorie

und Praxis von Wilhelm Reich lehrte. Zu meinen Aufgaben gehörte ausgerechnet die

Vermittlung von Charakterstrukturen, und so konnte ich meine Ideen, insbesondere

diese zwei beschriebenen zentralen, zur Diskussion stellen. Sehr schnell fanden sich

interessierte KollegInnen, die sich davon angesprochen fühlten, die mitsuchen,

mitentwickeln wollten.

Viel Berufserfahrung kam so zusammen, Wissen über PatientInnen aus der ambulanten

Psychotherapie, Erfahrungen aus psychiatrischen Kliniken, Lehrer-Schüler-Erfahrungen

und nicht zuletzt ganz viel Eigenerfahrung der Mitsuchenden. Es gelang uns über viel

persönliches, inneres Erleben zu sprechen. Vor allem das persönlich Erfahrene erwies

sich als fruchtbar. Bald redeten wir von den „Echten“ und meinten damit diejenigen

KollegInnen oder SchülerInnen oder PatientInnen, die die postulierte Struktur in sich

selber erlebten.

Wahrscheinlich ist es der Punkt, dass es mir und uns gelang, eine Atmosphäre von

gegenseitigem Vertrauen zu schaffen und von der Gewissheit, sich gegenseitig nicht

runtermachen zu wollen, die hauptsächlich dazu beigetragen hat, dass wir uns getraut

haben zu erzählen, was denn innerlich wirklich abläuft. Ich vermute inzwischen, dass

grad meine persönliche Unsicherheit, mein nicht so recht Verstehe-Können dieser

vermaledeiten Psychopathologie, das aber mit wirklichem Interesse für das innere

Funktionieren der Menschen gekoppelt war, - dass diese Kombination auch den andern

ermöglicht hat, sich zu öffnen. Bei Klientenzentrierten KollegInnen war es damals

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verpönt, über die KlientInnen in Pathologien zu reden. Trotzdem wussten natürlich alle,

dass es sowas schon „gibt“. Aber wie konnten wir mit diesen Zuschreibungen umgehen,

ohne die Wertschätzung zu verlieren, ohne sich über die Eigenerfahrung der

KlientInnen selber zu stellen? Und dann die Erkenntnis, dass wir das untereinander

lernen müssen, um eine Chance zu bekommen, es auch für die KlientInnen zu lernen.

Wenn wir untereinander so nachdenken können (dürfen), wenn wir lernen, voneinander

zu lernen und uns gegenseitig zu belehren, dann sollte das doch auch mit PatientInnen

möglich werden. So ergab sich ein doppeltes Projekt: über Strukturen lernen und

darüber reden lernen.

Das erste Kernmodell (die zwei Pfeiler angereichert mit provisorisch übernommenen

Begriffen wie „narzisstisch“, schizoid“, „hysterisch“, „anal“...) erwies sich als hilfreich, es

richtete die Aufmerksamkeit, es ergab Fragen, wir schulten so unsere Wahrnehmung,

lernten genauer zu sehen, zu hören, zu unterscheiden, ob etwas aus der Theorie kam

oder aus dem Erleben eines Menschen. Öfter mussten wir Theorie anpassen und sie

ausweiten, öfter auch verdeutlichte sich die Wahrnehmung des Erlebens, wenn wir die

theoretischen Vermutungen nicht vorschnell aufgaben.

Ich kann und will nun nicht den ganzen Prozess der folgenden Entwicklung schildern.

Als einzelner Mensch, auch wenn ich mit dem Modell begonnen habe, kann ich auch

nicht allein diesen Gruppenprozess schildern4. Es war noch nicht mal immer dieselbe

Gruppe, da kamen Neue dazu, andere haben sich zeitweise oder ganz entfernt, einige

waren immer dabei, haben alles mitbedacht, andere haben nur die eine oder andere Idee

vorgeschlagen, die dann erprobt werden musste.

Im Rückblick erscheint mir interessant, dass die beiden Gesichtspunkte, „jeder hat“ und

„jeder aus verschiedenen Schichten“ sich sehr bestätigt haben. Vieles andere ist

weggefallen. So erwies sich das Konfliktmodell aus der Psychoanalyse als nicht

notwendig. Wir können uns die Entstehung einer Struktur auch anders vorstellen, ja wir

können auch sagen, oft ist es nicht mehr relevant oder nicht nachvollziehbar, warum und

wie ein Strukturanteil entstanden ist. Natürlich wird ein „strenggläubiger“

Psychoanalytiker immer einen ursächlichen Konflikt „finden“, wir meinen eher:

„erfinden“ können.

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4 siehe auch: Christiane Geiser, Die Entstehungsgeschichte des Charakterstrukturmodells

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Wir meinen heute, dass es genau so gut strukturbildend sein kann, wenn eine besondere

Begabung eines Kindes, vielleicht eine besonders günstige Familiensituation vorhanden

war. Und die vielleicht allgemeinste Idee dazu ist, dass eine lang anhaltende

Fragestellung in einer Person drin auch ein besonderes Wachstum begünstigen kann5. Es

kommt mir so vor, als ob diese beiden öfter genannten Gesichtspunkte auch in unserem

Beispiel der Herausbildung des GFK-Charakterstrukturmodells damals schon bald zu so

etwas wie Kristallisationspunkten geworden wären. Um sie herum lagerte sich immer

wieder zusätzliche Erfahrung ab, es fiel die eine oder andere Idee weg, anderes bestätigte

sich gegenseitig, bestätigte sich auch durch die Erfahrung von mehr Personen. Kurz, um

diese Grundideen herum und um die Kerngruppe der Leute, die sich damit

beschäftigten, entstand ein selbstorganisierender, formbildender Prozess: Es entstand

eine spezielle Wahrnehmung, es entstand dadurch eine spezielle Organisation und

Speicherung von Erfahrung. Dadurch entsteht gemeinsames Wissen, das verlangt nach

gemeinsamer Sprache.

Wachsen des Modells an Sprachproblemen

Die entstehende gemeinsame Sprache verbessert den Austausch von Erfahrung und

Erleben. Es ist nicht genau feststellbar, es ist auch nicht wichtig, wie jeweils die zeitliche

Reihenfolge war. Vielleicht geht manchmal die Sprache, einfach weil etwas sagbar

geworden ist, dem tatsächlichen Erleben voraus. Oft ging sicher das irgendwie geteilte

Erleben voraus, Sprache fehlte noch. Es gibt dieses typische vage „Insider-Reden“, das

den Zugehörigen zu einer Gruppe vertraut wird, das aber für Aussenstehende ganz

schräg wirken kann. Das ist überhaupt kein spezielles Merkmal von Psychogruppen. Ich

kenne den genau gleichen Vorgang bei Gruppen von Naturwissenschaftlern, ja auch bei

Mathematikern.

Ich möchte nun noch an ein paar Beispielen exemplarisch aufzeigen, wie dieses Modell

gewachsen ist und eben, typischerweise für den zd, wie unser Denken sich daran

entwickelt hat.

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5 Uli Schlünder macht mich darauf aufmerksam, dass diese Idee, dass nämlich auch eine Fragestellung strukturbildend sein kann, eine der Grundideen bei der Entstehung des Humanistischen Therapieansatzes war. Dass da eine Idee wichtig wurde, die von andern Therapieansätzen häufig vernachlässigt wurde und oft noch wird.

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Längere Zeit beklagten wir gegenseitig die Schwierigkeit, dass die entliehenen Begriffe

aus Psychopathologiesystemen unser neues Verständnis sehr erschwerten. Wenn jemand

vom GFK nach aussen etwa von „masochistisch“ redete, dann kam das Gegenüber

automatisch in eine Vorstellung von Störung. Da konnten wir dann lange reden von

wertfreiem Verständnis, der Automatismus war stärker. Ja, wir mussten bemerken, dass

dieser übernommene Sprachgebrauch auch uns selber immer wieder zurückwarf. Wenn

wir ein Charakterstruktursystem verwenden wollten, das einfach Eigenheiten, nicht

Krankheiten oder Störungen, beschreiben sollte, dann mussten wir neue Begriffe

kreieren. Das leuchtete uns zwar ein, war aber schwierig zu schaffen und dann fast noch

schwieriger, die neue Sprache, insbesondere die neuen Namen für Strukturgruppen,

durchzusetzen. Immer wieder redeten wir auch intern von „narzisstisch“ anstatt

„wertsensibel“, von einem „analen Charakter“ anstatt einem „Segmentierten“ usw. Diese

gegenseitige Korrigiererei war peinlich, unangenehm, wirkte oft rechthaberisch bis

sektiererisch. Ich erinnere mich an Supervisionstreffen, in denen ich mir selber frei gab

von dieser unangenehmen Aufgabe, ich musste mich mal wieder einigermassen stressfrei

austauschen können. Dann redete ich halt in der neuen Sprache, die TeilnehmerInnen

des Treffens in der alten. Im nächsten Treffen kam ich dann doch wieder auf das

Sprachproblem zurück - fast alle sehen es ein, aber fast alle finden es mühsam. Und

natürlich ständig die Not, sich nach aussen lächerlich und unverständlich zu machen.

Wenn wir das ganze Denk- und Wahrnehmungsmodell nicht in der Praxis als so hilfreich

empfunden hätten, wir hätten es aufgegeben. Wer wirkt unter Fachkollegen schon gern

als kurios bis sektiererisch! Immer mehr kamen aber InteressentInnen in unserer

Ausbildungen, grad weil sie von „unseren“ Charakterstrukturen gehört hatten und

speziell das lernen wollten. Das bestärkte uns, und mit den Neuen war es viel einfacher,

grad von Beginn weg mit den neuen Begriffen zu arbeiten.

Das konkrete Finden oder Erfinden von Namen erwies sich als umfangreiche, schwierige

Baustelle. Stunden und Stunden und Tage sind wir in wechselnden Gruppen über Jahre

verteilt zusammengesessen, haben gesucht, geblödelt, verworfen und sind auf

Vielversprechendes zurückgekommen. Sollten wir willkürlich Namen suchen oder

sollten wir gemeinsame Prinzipien für sie haben? Und einmal mehr erwies sich ein

Pendelprozess, hier zwischen den beiden Konstruktionsmöglichkeiten6, als hilfreich.

Einzelne Namen wiesen auf mögliche Prinzipien hin und versuchsweise angelegte

e zd 2. Teil, korrigiert von ej am 5.10.1013! 13

6 Im Wort „Konstruktionsmöglichkeiten“ erscheint auch eine Nähe zur wissenschaftstheoretischen Möglichkeit des Konstruktivismus. Diese Nähe haben wir selber erst mit der Zeit bemerkt, waren doch die meisten von uns philosophische Laien. Zum Glück nicht alle.

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Prinzipien lieferten leichter Einzelnamen. Und Prinzipien sowie Fragen führten zu

neuen Ideen, die unser Modell stabilisierten oder veränderten oder uns selber mit

unseren bisherigen Auffassungen und Haltungen beeinflusste.

Wie ich weiter oben schon erwähnt habe, sind wir auf drei Strukturebenen gekommen:

Untere, mittlere, obere Struktur sagten wir dazu. Das kam aus der psychoanalytischen

entwicklungspsychologischen Vorstellung einer vor- und nachödipalen (präödipalen)

Phase. Das ergab dann die untere (= früh entstandene) und die obere (= später in der

Entwicklung entstandene) Strukturebene. Die mittlere Ebene ist dann die, die sozusagen

während der Zwischenzeit entsteht.

Gerade über diese Namensuche ergab sich ein Stück Ablösung von der Psychoanalyse7.

Wir fanden nämlich andere Prinzipien für die jeweiligen Ebenen, und die ermöglichten

uns, neue Strukturierungen, neue Erfahrungen zu machen, weil neue Gesichtspunkte

und also neue Wahrnehmung zustande kamen. Ich skizziere im Folgenden die neu

entstandenen Prinzipien.

Die oberen Strukturen:

Die Art und Weise, wie sich eine Person körperlich und leistungsmässig hält, wie ihre

Haltung zustande kommt, wie das ausschaut. Wie formiert sich das muskuläre Halte-

System, das muskuläre Handlungs- und Bewegungssystem? Auf welche Art und Weise (in

welcher inneren Haltung) bringt sich jemand dazu, etwas zu leisten, anzufangen, zu

beenden? Auf welche Art und Weise ordnet, organisiert jemand? Wir fanden drei

Hauptformen, die, für uns selber überraschend, mit Stabilisierungsformen beim Bauen

korrespondieren.

Die erste Gruppe formiert sich, übertrieben gesagt, nach dem Legoprinzip, Stein auf

Stein, Schicht auf Schicht, Thema nach Thema. Jedes für sich tendiert zu einer Einheit,

tendiert dazu, sich selber zu verdichten, die Verbindung zu andern Stellen, andern

Themen zu verlieren. Das ergab die beiden möglichen Namen, die wir beide heute

e zd 2. Teil, korrigiert von ej am 5.10.1013! 14

7 Für die meisten KollegInnen war die Beeinflussung durch psychoanalytisches Denken sowieso kleiner als bei mir, weil sie ja nicht durch eine entsprechende Therapieausbildung gegangen waren.

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verwenden: segmentiert8 oder verdichtet9. Wir sagen also umgangssprachlich etwa, „das

ist ein Segmentierter“ und meinen damit, dass diese Person sich vermutlich in der

oberen Strukturebene so strukturiert.

Die zweite Gruppe formiert sich wie eine romanische Bogen-Konstruktion. So ein Bogen

hält nicht, weil die Steine senkrecht aufeinander stehen würden, sondern weil sie sich

gegenseitig Druck machen. Von oben drückt das Gewicht der Steine nach unten, und

von dort drücken sie gegeneinander. So können die Steine nicht nach unten und nicht

nach oben, sie halten sich gegenseitig an Ort. Aber die Anordnung braucht Druck,

Gewicht. Mit zu leichten „Steinen“ ginge das Prinzip nicht. Es wäre zu gefährdet, jeder

Windstoss könnte alles auseinander blasen. Wir nennen diese Gruppe von Menschen

daher Drucktypen. Wir haben uns von ihnen erzählen lassen, dass sie auch innerlich oft

so funktionieren, sie kommen erst zur Handlung, wenn genügend Druck aufgebaut ist.

So warten sie oft bis zum letzten Moment mit einer Aufgabe, bis sie starten, bis es eben

unbedingt sein muss. Das erbringt ihnen dann den notwendigen Druck, der auch Drive

verleiht. Passend dazu ist das Experiment, das man immer wieder machen kann: Beim

Druck auf die Schultern oder gegen den Brustkorb eines Drucktyps fühlt er sich freier,

leichter, nicht etwa gedrückt, wie andere erwarten würden. Das ist gut zu verstehen,

wenn wir bedenken, dass, wie oben geschildert, der Halt durch einen gegenläufigen

Doppeldruck zustande kommt. Wenn nun der eine Druck, der von aussen, von jemand

anderem teilweise übernommen wird, dann muss der betreffende Druckmensch weniger

selber machen.

Die dritte Gruppe behält ihre Festigkeit so, wie wir es bei röhrenartigen Gegenständen

finden. Ein röhrenartig aufgebauter Mensch holt die Stabilität vor allem über die

Peripherie seines Körpers. Die muss alles an einem Stück halten. Innen braucht es keine

Stabilitäts-Abgrenzungen wie etwa bei den Segmentierten, keinen Druck einer Schicht

gegen den Gegendruck der benachbarten Schicht wie bei den Drucktypen. Röhren,

sagen wir zu den sich so haltenden, so leistenden Menschen. Und so handeln sie auch:

am Stück, in einem Schwung, im grossen Ganzen. Nicht klein-klein, nicht Eins nach

dem Andern. Es zeigte sich, dass es von den „Röhren“ zwei Haupt-Varianten gibt, die

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8 Entstanden in Anlehnung an W.Reich, der so Körperaufbau studierte. Segmente sind bei ihm nicht im üblichen Sinne Körperteile, sondern ringartig aufeinander gelegte Schichten, eben die Segmente. Er hatte dabei eine evolutionsgeschichtliche Vorstellung, dass wir nämlich die Entwicklung des Wurms immer noch in uns tragen. Er beobachtete auch Würmer, die ja durchaus schon so etwas wie Erschrecken oder Angst usw haben. Bereits Würmer zeigen ja spezifische Bewegungsmuster dieses ringartigen Aufbaus. Eine in der Entwicklung der Körperpsychotherapie hilfreiche Wahrnehmungsidee.

9 In Anlehnung an Stanley Kelemann, der dazu viel gearbeitet und veröffentlich hat.

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weichen und die harten. Die Weichen neigen zu Schwung und Tanz, die Harten zum Fest

sein, zur Stabilität über rigid -Sein.

Ein Prinzip, drei Varianten haben wir also gefunden. Oder anders gesagt, wir haben die

unendliche Verschiedenheit der möglichen Arten, wie sich Menschen aufrecht und stabil

halten können, in drei Gruppen aufgeteilt. Die Segmentierten, die Drucktypen und die

Röhren. Jeder und jede passt in eine Gruppe deutlich am Besten hinein und findet so

Strukturverwandte, von denen er oder sie lernen kann, und strukturfremde, über die

sich Wundern oder Ärgern nahe liegt, für die aber auch Verständnis entwickelt werden

kann.

Dass wir damals auf diese Statik-Metaphern kamen, hatte vermutlich damit zu tun, dass

wir ja in erster Linie damit beschäftigt waren, eine klientenzentrierte

Körperpsychotherapie aufzubauen. Wir waren an Körperlesen bei unsern KlientInnen

und an körperlich Wahrnehmen bei uns selber sehr gewohnt. Die Entwicklung der

Charakterstrukturen waren darin nur ein Teilgebiet, zeitweise allerdings unser

Lieblingskind. Später hat ein Kollege, der für ein anderes Klientel arbeitete, nämlich als

Organisationsberater in der Wirtschaft, eine andere Metaphorik verwendet. Er hat sich

die Art, wie eine Arbeitsleistung erbracht wird (was wir immer schon in unseren

Strukturbeschreibungen drin hatten) als namengebendes Prinzip genommen und ist so

auf die drei sicher auch zutreffenden Bezeichnungen gekommen:

am Stück -, unter Druck -, in Teilen - Arbeitender10.

Die unteren Strukturen:

Wir fanden drei Fragen, die sich als strukturbildend erwiesen. Wir meinen, dass diese

Fragen fundamental sind. Sie bilden sozusagen ein existenzielles Dreieck, und es gibt

nicht einfach eine zusätzliche Frage, die dieselbe Tiefe und Bedeutung hat. Das gab mir

auch eine Antwort auf das mich lange Zeit beunruhigende Problem, warum es denn grad

drei untere Strukturen geben soll. Warum nicht zwei oder fünf? Es scheint so zu sein,

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10 Othmar Loser; Kommunikationskompetenz, Mitarbeiter erkennen und wirksam führen.

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dass jeder Mensch11 ein Schwergewicht an der einen Ecke dieses Dreiecks hat und dass

dieses Schwergewicht psychisch strukturierend wirkt12.

Die drei Fragestellungen lauten also:

Kann und darf ich so wie ich bin überhaupt existieren? Mögen mich die Andern so?

Wie komme ich in einen befriedigenden Austausch mit andern? Gebe ich genug, kriege

ich genug und kriege ich auch das für mich Richtige?

Wer und was und wie bin ich eigentlich? Kann ich meins (Klarheit, Wünsche, ...) an

andern durch Reagieren entstehen lassen?

Kurz zusammengefasst lautet das Fragedreieck: Ist die Existenz möglich, bin ich im

Austausch und wie bin ich eigentlich?

Die Fragen sind von gleicher Art und sozusagen an demselben „tiefen“ Punkt und doch

sind sie ganz verschieden. Selbstverständlich braucht jede Frage auch die andern zwei,

sonst wäre sie nicht möglich, drum ja die Idee, dass sie ein Ganzes, ein Dreieck bilden.

Aber es scheint so zu sein, als hätten wir (vielleicht bildeten wir das so, weil wir in

unserer Kultur Fragen brauchen?) ein Schwergewicht „gewählt“. Und das begleitet uns,

das problematisieren wir immer wieder, das ahnen die andern, das wird ein uns

bildender Faktor. Es ist uns klar, dass das alles etwas metaphysisch tönt. Aber es ist ein

Versuch, kein besserer ist uns bisher eingefallen, etwas, was wir vorgefunden haben in

den Selbstbeschreibungen der Menschen, einzuordnen und in ein beobachtbares

System zu bringen. In ein System, das uns dann auch hilft, schneller und sicherer

Empathie für einen uns fremd vorkommenden Klienten aufzubauen.

Die wenigsten haben natürlich so eine Frage als fertig ausgebildeten Satz in sich. Das

sind eher Lebensgefühle, latente Dauerstimmungen. Sie zeigen sich etwa ,wenn man in

eine neue Gruppe von Menschen kommt oder wenn sich Teams bilden oder wenn man

länger allein ist. Und zwar zeigt es sich sowohl für den Betroffenen wie für das

Gegenüber. Wenn dieser Strukturanteil zum Tragen kommt, ergibt sich eine meist

deutlich wahrnehmbare Stimmung. Schulung brauchts allerdings schon, um ein

Sensorium dafür zu entwickeln.

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11 In unserem Kulturkreis - wir sind gar nicht sicher, ob das überall so ist - und es fehlt uns die Übersicht, um da eine Meinung zu formulieren. Ich kann mir vorstellen, dass in Kulturen, in denen das Individuum die kleinere Bedeutung hat, der Clan viel bedeutungsvoller ist, andere Fragen persönlichkeitsbildend sind.

12 Ich stell mir das analog vor zum Wachstum von Knochen: sie wachsen in die Richtung, werden dorthin kräftig, von der aus sie gefordert werden.

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Passend zu den drei Grundfragen wählten wir die Namen ExistenzsucherIn,

AustauschsucherIn und FormsucherIn.

Wir fanden diese drei Gruppen, lange bevor wir diese Fragen und dann die zugehörigen

Namen hatten. Die erste Gruppierung, die ExistenzsucherInnen, ergaben sich aus der

schon vorliegenden Vorstellung der „Schizoiden“. Die zweite, die

AustauschsucherInnen, aus der Vorstellung der „Oralen“. Die dritte Gruppe, die

FormsucherInnen, diegabs nicht. Was es aber durchaus gab, waren Beschreibungen,

Vorstellungen unter dem Titel Narzissmus, Narzissten, narzisstische

Persönlichkeitsstörung. Beim genaueren Studium, insbesondere beim Reden über

eigene Klientinnen und PatientInnen und durch den Austausch von KollegInnen, die

sich selber irgendwie zugehörig fühlten, bemerkten wir, dass in dieser Begriffsbildung

zwei unserer Ebenen vermischt waren. Teile des inneren Funktionierens mussten wir der

unteren Strukturebene zuordneten und andere Beschreibungsstücke gehörten in die

nächste, die mittlere Ebene. Es war psychodynamisch zu viel in einem Begriff, so ergab

sich für uns keine einheitliche Strukturvorstellung. Weiter unten beschreibe ich einen

anderen Teil der Problematik, der für uns auch bei andern vorhandenen

Begriffsbildungen entstand. (depressiv, süchtig, narzisstisch)

Die mittleren Strukturen:

Unser inneres Empfinden, Fühlen, Nachdenken, Entscheiden, Bewerten usw. hat eine

grosse Komplexität. Die ist inhaltlich wie auch in der Vielfalt von Person zu Person

verschieden. Allen Menschen gemeinsam ist aber, dass die Vielfalt zunehmen und

abnehmen kann. Alle kennen wir aus unserer Erfahrung, dass z.B. ein Gefühl wie Trauer

fast das ganze innere Erleben dominieren kann. Es gibt also in unserer

Funktionsstruktur so etwas, wie es das auch in der biologischen Organisation gibt: wir

(vielleicht eher „es macht mit uns“) können uns reduzieren auf wenige grad notwendige

Funktionen. Bekannte solche Phänomen sind der Totstellreflex, die Ohnmacht oder das

Koma. Die drei genannten sind Beispiele von Reduktion, es sind aber auch Phänomene

bekannt, die wir eher als Überfunktion erleben, etwa Denken, das sich nicht mehr

stoppen lässt.

In unseren mittleren Strukturen fassen wir einige uns wichtig erscheinende Varianten

von Reduktionen der Vielfalt des inneren Erlebens und Funktionierens zusammen.

Diese Reduktionen beschrieben und erlebten wir zuerst als Not, ja manchmal als Leid

oder gar Krankheit. Was war denn das gemeinsame Prinzip, das uns zu Namen führen

e zd 2. Teil, korrigiert von ej am 5.10.1013! 18

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könnte für diese Gruppe von Strukturanteilen? Waren das alles Varianten von

Zusammenbrüchen oder Vereinfachungen im Funktionieren? Das widersprach aber

unserem Bedürfnis, ein Modell zu schaffen, dass nicht allein auf Pathologien und

Störungen bezogen war. Warum (und wie zu verstehen) waren denn wohl eine

„Angstneurose“, eine „Depression“, eine „narzisstische Störung“ (alles alte Begriffe, aber

sinnvoll beschriebene Phänomene), wenn nicht als Pathologie? Die ja schon

vorhandenen Versuche mit „Sinn der Krankheit“ überzeugten uns zu wenig, das war

nicht das, was wir suchten, das blieb ja in der Pathologie. Auch wenn sie nicht nur

„gemein“ war.

Als Beispiel, wie wir zu einem besseren Verständnis kamen, können wir dem Phänomen

des Schmerzes nachgehen. Der ist ja nicht automatisch und in jedem Fall das Anzeichen

einer Krankheit oder gar die Krankheit selber, der kann doch auch was anderes sein.

Was denn? Aha: Manche Schmerzen haben doch in erster Linie Signalfunktion, sie

zeigen auf, dass da etwas gefährlich ist oder sogar erst wird. Da ist von etwas zu viel, etwa

zu viel Druck, zu heiss. Oder da ist etwas Unstimmiges, ohne dass schon klar wäre, was es

denn sein könnte. Da gibts doch die Situation von Bauch- oder Kopfweh während einer

Sitzung: Beginnt eine Krankheit, oder ist es Ausdruck einer Unstimmigkeit, die ich noch

nicht anders erfassen kann? Und das Interessante: diese Unstimmigkeit zeigt sich nicht

bei allen Teilnehmern der Sitzung in der Form von Bauchweh. Andern wird es

langweilig, sie werden wütend, jemandem wird es schlecht, einer will nach Hause

gehen, ...

Könnte die Art, wie sich solche Unstimmigkeiten äussern, mit dem gesuchten Prinzip zu

tun haben? Das würde dann heissen, dass wir je auf spezifische Arten sensibel sind für

Prozesse, die wir noch nicht ganz erfasst haben (das ist ja sicher so) und dass die je

spezifische Art auch zu den gesuchten Strukturen passen würden, ja, dass sie Ausdruck

derselben sein könnten. Und siehe da, das erwies sich als sehr produktive Hypothese:

Sie lieferte uns Namen, und sie lieferte uns das Prinzip, unter dem wir diese Strukturen

zusammenfassen, ja irgendwie auch verstehen konnten13: Wir suchen spezifische

„Sensibilitäten“. Und wir suchen dann Namen für diese spezifischen Sensibilitäten. Der

Suchprozess nach Namen, Gruppen von Strukturphänomenen und zwar in wechselnder

Reihenfolge, beschäftigte uns nun lange und intensiv. Aufbruchstimmung,

Meinungsverschiedenheiten, dann wieder kreative Schübe oder die Not eines

e zd 2. Teil, korrigiert von ej am 5.10.1013! 19

13 Da wäre natürlich auch mal ein kleiner Exkurs fällig, was denn im zyklischen Denken „verstehen“ sein kann. Wer weiss, vielleicht folgt der weiter unten, dann würde ich dann hier die Seitenzahl hinschreiben.

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Mitsuchenden, der sich aber auch gar nicht gefunden fühlte in einer Formulierung einer

Strukturgruppe, das alles trieb uns voran bei der Formulierung dieser mittleren

Strukturen. Die Namen setzen sich nun immer zusammen aus einem bezeichnenden

Merkmal aus dem sich reduzierenden, auffällig werdenden Gesamtfunktionieren und

dem Wort „sensibel“. Es zeigte sich, dass diese Aufzählung von „Sensibilitäten“, wie wir

dann bald die gefundenen mittleren Strukturgruppen nannten, nicht erschöpfend zu

finden war. Während die Anzahl von je drei Gruppen der unteren und oberen

Strukturen fest blieben, erweiterte sich die Zahl für die mittleren Strukturen. Und sie

könnte sich weiter erweitern. Wir verstehen das heute eher als exemplarische Aufzählung

mit überhaupt keinem Vollständigkeitsanspruch14.

Was sich aus den Unschärfen mit den Begriffen depressiv und süchtig ergab

Diese beiden Begriffe ersetzten wir durch problemsensibel und intensitätssensibel. Bald

mussten wir aber bemerken, dass der eine Begriff nicht einfach den andern ersetzen

konnte. Das ergab grosse Unstimmigkeiten. Aber wir hatten das selber zu Beginn noch

zu wenig verstanden. „Depressiv“ erschien weiter zu sein als „problemsensibel“, dh. es

gab Personen mit klar depressiver Charakteristik, die aber eindeutig nicht

problemsensibel waren. Und analog gab es Personen die an einer Sucht litten, die aber

nicht intensitätssensibel waren. Auch „Sucht“ erschien umfassender als

„intensitätssensibel“. Und für das Umgekehrte fanden wir bald auch Beispiele: Bei

manchen Intensitätssensiblen war die Bezeichnung „süchtig“ überhaupt nicht

angebracht. Bei manchen Problemsensiblen war die Bezeichnung „depressiv“ überhaupt

nicht angebracht. Wir bemerkten so, dass die Vorstellung, wir könnten oder müssten alte

Begriffe aus Psychopathologiesystemen „ersetzen“, ganz problematisch, ja eigentlich gar

nicht passend war. Diese scheinbare Schwierigkeit ergab drei Klärungen.

Erstens:

Die Zuschreibungen süchtig oder depressiv entstehen aus Symptomkatalogen. Wenn so

und so viele Kennzeichen vorhanden sind, dann sprechen wir von süchtig. Unsere

Bezeichnung entstand aber aus einer Beschreibung des inneren Erlebens, des inneren

Funktionierens. Es ist also eine Beschreibung von Mustern innerer Dynamik, die sich in

einer Beziehungs-Situation mit andern (und auch mit sich selber) ergibt, und nicht eine

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14 Grad zur Zeit, 2010-2011, sind wir an Überlegungen zu einer oder zwei „neuen“ Sensibilitäten. Sie sollen die Themen Schuldgefühle und Schamgefühle betreffen.

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Beschreibung äusserer Symptomatik. Für das Verständnis eines Menschen und seiner

Not und seiner speziellen Stärke erschien uns eine Vorstellung seines inneren Handelns,

Erlebens wichtiger als eine Zusammenfassung von äusseren Merkmalen in einem Begriff.

Das Ziel des Systems Charakterstrukturen ist ja, Empathie zu finden, zu schulen. Und

Empathie meint das als-ob-Nacherleben eines inneren Geschehens. Es ist also eine

versuchte Annäherung an einen Prozess. Es sollte nicht verwechselt werden mit einem

„Verstehen“ im Sinne von Herleiten von momentanen Zuständen. Das entspräche nicht

dem klientenzentrierten Verständnis von „Empathie“.

Zweitens:

Die Zuschreibung „depressiv“ geht von einer momentanen Gegebenheit aus. Jetzt ist

diese Person so, jetzt treffen genügend Merkmale auf sie zu. Die Hoffnung ist, dass dieser

Zustand bald wieder ändert, dass die „Krankheit“ aufhört, sie sich zumindest so

mindert, dass der betreffende Mensch sich wieder besser fühlt, z.B. wieder arbeiten

gehen kann. Die Zuschreibung „problemsensibel“ ist eine überhaupt-Zuschreibung. So

ist diese Person strukturiert! Wir wollen damit keine Aussage über krank-gesund

machen. Die Hoffnung ist, dass der betreffende Mensch, falls er im Einbruch ist (dann

sieht es depressiv aus), da herauskommt, also nicht mehr nur die Not dieser

Strukturierung leben muss, sondern auch wieder Stärken von ihr zum Zug kommen.

Eine Stärke der Problemsensiblen ist etwa die Fähigkeit, mögliche entstehende

Probleme voraus zu sehen. Oder zumindest zu bemerken, dass da eine mögliche

Schwierigkeit entstehen kann und entsprechende Massnahmen zu treffen sind oder sie

einzufordern sind.

Die Zuschreibung „Suchterkrankung“ ist auch eine, die gebildet wird aus einer Art

Bilanz aus der Situation, wie sie sich jetzt darstellt - mit entsprechender Hoffnung. In

diesem Beispiel wird aber deutlich, dass die Angelegenheit meist komplexer ist. So

müssen ja etwa Alkoholiker und ihre TherapeutInnen leidvoll erfahren, dass der

„Alkoholismus“, das „Alkoholproblem“ nicht einfach erledigt ist, wenn man eine

Zeitlang abstinent war. Es gibt eine riesige Rückfallgefahr. Sie ist ja so gross, dass viele

Fachleute meinen, es gäbe nur die lebenslängliche Abstinenz als Chance, alles andere sei

sowieso zum Scheitern verurteilt. Und nun kann man aus der aktuellen Krankheit,

wegen der Rückfallgefahr, eine „unheilbare“ Krankheit machen (herdenken). Es muss

dann lebenslänglich dieser Krankheit begegnet werden, so ähnlich wie lebenslänglich

Rollstuhl bei einem Paraplegiker oder lebenslänglich mit Chemie seinen Insulin-

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Haushalt korrigieren bei manchen Zuckerkranken. Die Zuschreibung

„intensitätssensibel“ ist zwar eine „Überhaupt“-Zuschreibung, aber eben nicht der eine

Einbruchszustand, der die Suchterkrankung, sein kann, sondern die Strukturierung als

Ganzes. So kann die Intensitätssensible durchaus wieder zu Stärken ihrer Struktur

zurückkehren, sich etwa an starken Erlebnissen zu freuen oder sich neue

Herausforderungen zu suchen, wenn die aktuelle Tätigkeit fahl geworden ist.

Drittens:

Wenn die Depression aus einem problemsensiblen Einbruch besteht, durch ihn

entstanden ist, so haben wir es mit einer ganz anderen Dynamik zu tun, als wenn die

Depression aus einem wertsensiblen Einbruch resultiert. Beim ersten finden wir

wahrscheinlich in der Entstehung eine Überforderung, beim zweiten eine wertsensible

Kränkung. Damit habe ich jetzt gleich mehreres aufs Mal geschrieben - wir meinen, dass

sich ähnlich darstellende Zustände auf verschiedene Arten, aus verschiedenen

Strukturierungen entstehen können. Verschiedene Einbrüche führen zu ähnlichen

klinischen Bildern, vielleicht sogar zu fast identischen von dem äusseren Anschein her.

Das hat natürlich grosse Konsequenzen für prophylaktische Überlegungen, und es hat

ebenso grosse Konsequenzen für Heilungsvisionen.

Und aus dem allem ergibt sich

Viertens:

Die Übersetzung zwischen einem klinischen Psychopathologiesystem wie etwa dem

ICD-10 oder DSM in das GFK-Charakterstrukturmodell klappt nicht, ist auch nicht

sinnvoll. Und aus dieser Schwierigkeit mussten wir feststellen: Sie gehören in

verschiedene Denkstile und entsprechend in verschiedene Denkkollektive. Natürlich

sind Therapeuten, Lehrer usw. oft Angehörige mehrerer Denkkollektive. Sie müssen also

lernen, sich in dem Psychopathologiesystem, das ihre Institution oder auch die

Krankenkasse verwendet, zu bewegen.

Neue Worte: Verengung, Dipol, Einbruch

Durch die genauere, wiederholte Wahrnehmung eigener Prozesse oder solcher von

PatientInnen, die mit den mittleren Strukturen zu tun haben und bei denen es sogar

angebracht ist zu sagen, sie seien durch sie gesteuert, bemerkten wir eine Dynamik, die

für alle Sensibilitäten im Prinzip gleich oder zumindest ähnlich verläuft. Dadurch, dass

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wir das beschreiben wollten, dass wir uns darüber austauschen wollten, waren wir auch

an dieser Stelle wieder gezwungen, Sprache zu kreieren. Es reichte nicht, eigene

Strukturnamen zu kreieren, wir mussten auch eine Prozessbeschreibungssprache

erfinden. Die Frage dabei war jeweils, ob ein Vorschlag, wie wir denn das und das

benennen könnten, hilfreich war. Kann ich selber sagen: „Ja genau, so läuft das bei mir

ab.“? Fühlt sich ein Klient verstanden, wenn ich ihm diese Beschreibung anbiete? Hilft

die Beschreibung einem Therapeuten, wenn sein Klient in einer üblen Phase steckt?

Gibt sie ihm ein Wissen oder zumindest eine Ahnung, wie die Weiterentwicklung gehen

wird, und kann er seine so entstandene Sicherheit auch dem Klienten weitergeben? Hilft

die Beschreibung ArbeitskollegInnen oder Paaren, miteinander auszukommen, sich eher

zu verstehen? Wir haben allerlei gefunden, das die erwähnte Überprüfung bestanden

hat. Und wie immer in unserem Denkkollektiv hat das Sprache-Suchen geholfen zu

klären und es hat dann die Wahrnehmung gestärkt, was dann wiederum zu Sprache

verhilft - ein zyklisches Geschehen, das zyklisches Denken braucht.

Ich will die Beschreibung, die sich bewährt hat, hier kurz vorstellen: Für alle Menschen

gibt es physische und psychische Belastungsgrenzen. Ab einer gewissen Kraft eines

Schlages gegen einen Knochen15 wird er brechen. Vorher schon, bei weniger Kraft, wird

eine Beule entstehen. Wenn's ganz übel geht und der Knochen ungeschützt ist, wird er

sogar zermalmt oder zersplittert. Genau so kann es bei psychischen Überlastungen

gehen. Unsere psychische Funktionsfähigkeit, die sich aus Denken, Fühlen,

Wahrnehmen und anderem zusammensetzt, wird beeinträchtigt16. Das hat vorerst, wie

beim Beinbruch, gar nichts mit schon vorhandener Krankheit zu tun, sondern mit dem

Überschreiten einer Belastbarkeitsgrenze. Und klar, nicht alle haben gleich starke

Knochen, nicht alle haben die verschiedenen psychischen Funktionen gleich stabil und

ebenso klar, alle haben gewisse Stärken, die sie auszeichnen. Wenn nun die Belastung

mittelstrukturspezifisch kritisch wird, dann werden die psychischen Funktionen so

eingeschränkt, dass sie simpler funktionieren. Die Gesamtkomplexität wird nicht

aufrecht erhalten. Wir haben beobachtet, dass Zweiwertigkeiten, wie bei kleinen

Kindern, vermehrt auftreten. Ja manchmal reduzieren sich ganz viele Funktionen auf

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15 Ich will damit nicht nahelegen, psychische Strukturierung sei so fest und „dinglich“ wie eine Knochenstruktur. Der Vergleich soll nur helfen, die Denkschritte anschaulich zu machen. Und wenn wir es schon genauer nehmen wollen: auch Knochen sind ja sich verändernde Strukturen, sie werden stärker oder schwächer, wachsen usw. Man kann auch sie ganz prozesshaft verstehen, das Tempo ist halt je für jede Struktur unterschiedlich.

16 Und hier die entsprechende umgekehrte (Fussnote 13) Klärung: auch psychische Strukturen haben eine Art Festigkeit, die in ihrer Wiederholungscharakteristik, ihrer Beständigkeit, ihrer Formkonstanz besteht. Und entsprechend ist diese Formkonstanz auch veränderbar, also auch gefährdet.

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eine zweiwertige Variante: richtig-falsch, gut-böse, gesund-krank, lieb-gemein, immer-

nie, gefährlich-wunderbar, kontrolliert-hilflos, ... Es entstehen Gegensatzpaare, und

zwischen denen findet die entsprechende Funktion statt. Wir sagen, es ist eine

Verengung entstanden. Eine Situation oder eine Person wird nicht mehr in ihrer Vielfalt

gesehen und erfahren, sondern nur in dieser einen Dimension „lügt sie oder sagt sie die

Wahrheit“, „es ist gefährlich, nein, alles ist in Ordnung“, ... Die harmloseste, mildeste

Variante von diesem Geschehen ist, dass die entsprechende Dimension ein Übergewicht

in der Wahrnehmung, im Bewerten und Handeln bekommt. So können etwa

Begegnungen mit andern vor allem im Vergleichen von irgendwelchen Eigenschaften

beginnen: wer ist schlanker, klüger, temperamentvoller, jünger, ... (Wertsensible) Die

Verengung kann dann so gross werden, dass die Möglichkeiten auf zwei

zusammenfallen, eben „alle sind klüger, ich bin mal wieder der Dumme“ und in einer

folgenden Situation: „die sind ja alle noch so jung, ausser mir hat da ja keiner

Erfahrung“. Wir sagen dazu, es ist ein Dipol entstanden. Es gibt nur noch die zwei

Werte, die Graustufen, die Zwischenstufen sind weggefallen. Wird die Belastung

eindeutig zu gross, die Beinbruchvariante, so entsteht ein Einbruch. Die

Gesamtkomplexität reduziert sich auf nur mehr eine Möglichkeit: „Es geht nicht“, „ich

bin hilflos“, „alle sind gegen mich“, „ich werde sterben“, ... So klingen verschiedene

Beispiele von eingebrochenen Personen. Zusammengefasst stellt sich die Dynamik also

folgendermassen dar: Verengung, Dipol, Einbruch (Komplexitätsreduktion,

Zweiwertigkeit der psychischen Funktionen, „Überhaupt-Alles-Immer“ = voll drin sein).

Ist der Einbruch bei einer Person voll da, ist sie „voll drin“, wird das übliche Begleiten

wie spiegeln, erklären, trösten, nachfragen, ... überflüssig. Es führt nicht weiter, im

Gegenteil, es verstärkt eher den Einbruch. Wir sagen dazu, es nährt ihn. Das ist leicht zu

verstehen. Die Funktionen reduzieren sich ja auf den einen Pol, also wird auch alle

Wahrnehmung, was der Klient hört und sieht und denkt und fühlt (durchaus auch was

wir zu uns selber sagen, wenn wir selber drin sind), alles wird zum selben Punkt, zum

selben Pol leiten - es nährt einfach diese Funktionsart.

Wie kann‘s denn aufhören?

Diese Funktionsart verbraucht sehr viel Energie, sie macht müde, kann in die

Erschöpfung führen. Zum Glück, es ist eine der wenigen Varianten, wie die Verengung

aufhören kann. Mal darüber schlafen, wenn denn die Erschöpfung gross genug ist, ist

also in dem Fall gar nicht das Dümmste. Einfach dabeibleiben heisst also die Devise für

die Begleitperson. Wobei dieses „Dabeibleiben“ durchaus bei der einen Sensibilität

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heissen kann, auch örtlich dabei zu bleiben, bei der andern aber ist vielleicht eher in der

Nähe bleiben gut oder gar in einen andern Raum gehen. Unbedingt aber die Beziehung

bewahren, so, dass der oder die Betroffene das realisiert. Die zweite Variante, wie sich ein

Einbruch auflösen kann, ist das Wechseln in die obere Struktur. Wir kennen das sicher

alle: Ich muss zur Arbeit - und siehe da, dort geht es wieder. Es ruft jemand an - und

siehe da, mit der Person am Telefon funktioniere ich wieder „normal“. Leider geht das

nicht immer, aber ab und zu. Die dritte Variante ist die, dass sich die Betroffene in die

untere Struktur sinken lassen kann. Sie wird sozusagen deutlich jünger, verzichtet auf

das „ich-ich-ich“, das den Einbruch kennzeichnet, geht zurück auf eine Funktionsweise,

in der sie versorgt wird, in der sie nicht bestehen muss, in der sie sich auf Elementares

wie Atmen und die andere Person nur Spüren reduziert, sich aber so auch wieder findet.

Wie das bei der betroffenen Person geht, das muss man mit andern Personen

zusammen, vielleicht mit einer Therapeutin, einer Mutter, herausfinden. Diese ganzen

Mittelstrukturprozesse brauchen darum „Detektivarbeit“: Wie, wann kommst du in eine

Verengung, was fördert die, was hilft dagegen. Wie bist du, wenn du dich ganz in der

unteren Struktur fühlst? Wie bringst du dich dazu, was brauchst du von andern, dass du

wieder leistungsfähig wirst? Was für einen Kontakt brauchst du, wenn du krank bist?

Zwischen Therapeutin und Klientin kann so ein Gefühl für das Begleiten entstehen, das

weniger die momentane Situation als vielmehr die ganzen Prozesse meint. Wenn diese

Sicherheit, sozusagen eine Prozesssicherheit, bei Einbrüchen oder einbruchsnahen

Situationen aufgebaut wurde, dann ist es durchaus möglich, den Klienten zu fragen:

„Bist du noch drin?“, „Gehts schon wieder, kann ich schon wieder was sagen?“ Wenn

diese Beziehung schon möglich ist, dann kann auch Humor entstehen. Im schlimmsten

Einbruch drin kann man manchmal über sich selber lachen.

Damit diese gemeinsame Detektivarbeit erfolgreich werden kann, brauchen wir mehr als

gemeinsames Nachdenken. Zyklisches Denken ist ja, wie ich schon mehrmals ausgeführt

habe, auch ein körperliches Geschehen, auch gefühlsmässiges Geschehen. Wenn wir also

„denken“ sagen, heisst das, dass der Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit in dieser

Funktion liegt, andere Funktionen eher am Rand sind. Das kann aber immer wechseln

und immer sind andere Funktionen mitbestimmend. Wir versuchen dem gerecht zu

werden, indem wir beim Zusammensein, beim zusammen Denken oder Handeln, die

andern Funktionen möglichst mitlaufen lassen, sie sollen möglichst frei „mitschwingen“

können. Wir sagen dazu, es entsteht ein Resonanzgeschehen (mein Körper schwingt

mit, meine Gefühle schwingen mit, ...) oder kürzer, salopper, „meine Resonanz“. Das ist

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anfangs nicht leicht, aber bald kann man bemerken, dass da ein äusserst hilfreiches

Geschehen stattfindet. Wenn nun nämlich eine Klientin verengt wird, vielleicht gar

einbruchsnah wird, dann bemerkt unser Denken das oft noch nicht, aber in der

Resonanz entsteht etwas, das ich als selber verengt wahrnehmen kann. (Sofern ich mich

mit den eigenen Strukturen auskenne.) Ich merke, dass ich selber einbruchsnah werde

oder schon bin. Das sagt mir nicht automatisch, was denn genau beim Gegenüber

stattfindet, aber - wir sind ja in einem gemeinsamen Prozess - beim Gegenüber ist

vermutlich auch ein Einbruch in der Nähe, vielleicht hat der Einbruch bereits

stattgefunden. Einbruch zieht, wie schon erwähnt, an Einbruch, und dieses Hilfsmittel

müssen wir unbedingt bei der Detektivarbeit auch einsetzen. Wir denken und fühlen

also miteinander und, notwendigerweise im zyklischen Denken, lassen wir Resonanzen

zu, entwickeln also ein Prozessgefühl füreinander - jetzt gehts frei, jetzt wirds eng,

Kreativität kommt, Überladung ist da, es kommt frische Luft, da stirbt etwas ab, ... - alles

entstehende Vermutungen aus einer Resonanz, die natürlich zusammen geklärt werden

müssen. Wenn's mir eng wird, heisst das ja noch nicht, dass es dem Gegenüber auch eng

geworden ist. Irgendetwas Bemerkenswertes wird aber bei ihm schon passiert sein:

Detektivarbeit!

Klärung zwischen „zirkulär“ und „zyklisch“ im Zusammenhang mit den Sensibilitäten

Jede Sensibilität kann dazu verhelfen eine schwierige oder unklare Situation schneller

und genauer zu erfassen. Alle kennen wir, dass wir unklare Reaktionen auf unklare

Situationen bekommen. Wir fühlen uns gelähmt, wir kriegen Bauchweh, einer wird

ärgerlich, der andere gekränkt.... als Beispiele für eher unangenehme Reaktionen. Es

gibt aber auch besonders angenehm empfundene Varianten: Wir werden überraschend

ganz kreativ, es ist besonders lustig, ich weiss auf der Stelle, was zu tun ist, ich empfinde

die Atmosphäre als ganz besonders schön und friedlich, es geht plötzlich ganz von

selbst, ... Soweit ist alles ganz gewöhnlich. In unserer Sensibilität reagieren wir in

heiklen ?????? besonders empfindlich oder eben, wie der Name sagt, besonders

sensibel. Aber nun wirds spannend, nun entscheidet es sich, ob ich in die Verengung

„gehe“, „mich drängen lasse“ oder ob ich meinen momentanen Prozess als

Resonanzinterpretation verstehen kann. Ein Symptomsensibler neigt dazu, als

Resonanzinterpretation Schmerzen zu produzieren (zu bekommen, scheinbar macht er ja

nichts absichtlich, es ist eine häufige Reaktion und drum schnell, wie automatisch

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kommend); ein Angstsensibler neigt dazu, eine wie auch immer geartete Erregung als

Angst zu erleben oder aber, für ihn angenehmer, als besonders schön; ein Machtsensibler

neigt dazu, wenn etwas unklar ist, sofort einen Plan zur Verfügung zu haben; usw. Das

sind alles verengungsnahe Reaktionen. Unkritisch können wir das nun für bare Münze

nehmen, „ich habe Schmerzen“, „es ist lustig“, „es geht doch so leicht“, „hier muss man

doch zielorientiert dahinter gehen“, ... Oder aber kritischer mit sich selber zu sein:

Könnte meine Reaktion auch mit einer Sensibilität zu tun haben? Zeigt sie vielleicht an,

dass da etwas unklar bis ungut läuft? Könnte ich meine Reaktion dem Gegenüber, der

Arbeitsgruppe oder Diskussionsgruppe zur Verfügung stellen?

Ich möchte das an einem Beispiel etwas erläutern:

Silvia U. hatte am Nachmittag eine Besprechung mit ihrem Chef Kurt N. Am Abend zu

Hause kriegt sie Nackenschmerzen. Sie versucht, etwas dagegen zu unternehmen,

massiert sich den Nacken, nimmt ein Medikament, es hilft alles nicht so recht. Sie denkt,

es war mal wieder zu viel heute, ich müsste mich irgendwie schonen. Bei der nächsten

Besprechung mit Kurt befürchtet sie schon, dass sie am Abend wieder Schmerzen haben

wird, sie versucht, besonders entspannt zu sein, ist dadurch aber noch mehr auf ihren

Nacken konzentriert, die Schmerzen sind am Abend wieder da. Sie kann schlecht

schlafen, muss bald während der Arbeitszeit einen Arztbesuch machen, dem Chef gefällt

das nicht so, er fragt Silvia beim nächsten Gespräch, ob sie da ein grösseres Problem

hätte, was sie zusätzlich „nötigt“,, vorsichtig zu sein bezüglich des Nackens. Sie macht

sicherheitshalber noch eine Reihe Physiotherapiebehandlungen, was dann halt an ihrer

eh knappen Freizeit abgeht. Die Situation neigt dazu, zirkulär zu werden: Mehr

Schmerz, mehr Beschäftigung damit, weniger Reserven für die nicht leichten Gespräche

in der Firma, mehr Schmerzen, noch weniger Kräfte für ihre Arbeit, ... Die Chancen, die

durch die Sensibilität, im Fall von Silvia U. die Symptomsensibilität, möglich sind, sind

vergeben worden, sowohl von ihr wie von Kurt N.

Die andere Variante, die die Sensibilität nutzt und nicht unter ihr leidet, könnte

folgendermassen aussehen. Gespräch und die Nackenschmerzen am Abend sind genau

gleich. Silvia denkt sich: „Oha, Schmerzen, ich neig doch dazu, mit Schmerzen zu

reagieren, wenn etwas diffus und nicht optimal verläuft. Was war denn heute? Unter

anderem kommt ihr das Gespräch mit Kurt N. in den Sinn. Tatsächlich, in der

Erinnerung ist das nicht optimal verlaufen. Sie kann nicht genau sagen, was es denn

war, die eine oder andere Ahnung kommt ihr, „Er hat mich schon etwas

überfahren.“ „Hab ich zuviel ausgehalten?“ Hat er wohl mal wieder zuviel versprochen?“

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Sie ist sich nicht sicher, wohl aber, dass da irgendetwas war, und sie beschliesst, mit Kurt

N. nochmal darüber zu reden. Im optimalen Fall ist er froh und sagt, es sei für ihn auch

nicht alles aufgegangen. Im schlechten Fall wird die Situation noch schlimmer, sie merkt

aber klar, woran es liegt und kann hoffentlich etwas unternehmen. Auf jeden Fall ist

entscheidend, dass sie nicht mit der Verengung weiter dreht, sondern dass sie etwas

ausserhalb ihrer „angeworfenen“ Sensibilität unternimmt. Sie nutzt die

Nackenschmerzen für den Entscheid zu weiteren Schritten. Sicher wird ihr Nacken

weiter signalisieren, wie es ihr damit geht. Der Prozess, ihr Nachdenken darüber, verläuft

zyklisch. Die Schmerzen kommen und gehen, aber sie nimmt sie als Erweiterung ihrer

Wahrnehmung, der Prozess schliesst sich nicht zirkelhaft zu immer mehr vom Selben,

sondern öffnet sich für neue Zusammenhänge und neue Handlungsmöglichkeiten.

Verstehen verstehen

Gut zweieinhalb Monate ist es her seit dem letzten Schreibtreffen. Ich bin beim mich

wieder Einstimmen, beim Durchlesen der letzten Seiten, auf die Frage gestossen, was

denn „Verstehen“ im zd meinen könnte. Ich möchte gern das Thema etwas ausfalten,

und hoffe, mit Hilfe des kleinen Exkurses nochmals eine Vertiefung der

Charakterstrukturen vornehmen zu können.

Im zd gehen wir bei Begriffen, deren Bedeutungen wichtig, aber nicht selbstverständlich

sind und deren Bedeutungen auch nicht selbstverständlich geteilt werden, nicht zu

einem Definitionsversuch über, sondern eher zu einer Auslegung oder Ausbreitung des

Wortfeldes. Diese Auslegung hat oft einen grossen persönlichen Anteil. Umso

spannender ist es dann, wenn das mehrere Personen tun. Da ich ja weiss, dass Uli, mein

Schreibprojektkollege, grad am Thema „Wissenschaft im zd“ ist, wird er sich ja wohl

früher oder später auch zu diesem Begriff äussern. Mal schauen, wie es dann mit ihm

zusammen weitergeht.

Für mich selber, wenn ich „Verstehen“ ausfalte, kommt zuerst der Wortteil „stehen“ in

den Vordergrund, ich kann da etwas „stehen“ oder nicht. Eigentlich passt gehen noch

mehr. Ich muss da mit etwas gehen können. Ich muss da in meinem Denken drin mit

dem zu Verstehenden zu anderem hingehen können, schauen, ob es dort passt, ob hier

oder dort etwas angepasst werden muss. Es fallen mir Bewegungen, Tätigkeiten ein:

Kann ich schon Vorhandenes verknüpfen, vergleichen, vertiefen mit dem Fraglichen?

Und auch: kann ich das Neue mit Worten aus dem soeben Hinzugekommenen

umschreiben, kann ich es von dort her aufbauen? Wenn das alles geht, dann hab ich

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zumindest einen Zipfel von Verstehen. Was könnte denn das zu „Verstehende“ sein? Ein

Aspekt einer Person, ein Stück Theorie, eine Begebenheit, die an einer überraschenden

Stelle auftaucht, ein Prozessverlauf. Die können ja alle sein, aber was macht den

Unterschied, ob ich sie verstanden hab oder nicht oder halb oder missverstanden? Nun,

da bemerke ich, dass es nicht nur ein persönlicher Vorgang ist, das Verstehen, sondern

auch ein umgebungsabhängiger, d.h. innerhalb von welchem Theoriegebäude steh und

geh ich denn mit dieser Frage? Es wird also leider so sein, dass ich denselben

Sachverhalt, dasselbe Prozesssstück und denselben Aspekt einer Person sowohl verstehe

wie auch nicht verstehe. Immer abhängig von der Betrachtungsweise. Einen

medizinischen Therapievorschlag, etwa eine mögliche Operation, könnte ich so

medizinisch, chirurgisch gesehen, durchaus verstehen, nur macht sie mir psychologisch

keinen Sinn. (Wir können z. B. an eine Schönheitsoperation denken.) Einen Bauplan

eines Architekten kann ich geometrisch durchaus verstehen, aber ästhetisch nicht. Ich

kann einen Text inhaltlich verstehen, aber der mir immer auftauchende störende Subtext

darin, vielleicht ein ständiger Angriff gegen irgendwen, den versteh ich nicht. Worum

geht es denn da auch noch? Es kann auch grad umgekehrt sein: vor lauter mir ganz

klarem Subtext versteh ich gar nicht mehr, was denn die Geschichte in diesem Text

inhaltlich ist.

Soweit gekommen, bemerke ich auch, dass „Verstehen“ also nicht einfach da ist oder

eben nicht - Glück oder Pech gehabt. Nein, es scheint da einen Weg hin zu geben, den

ich eben „gehender“ Weise suchen kann. Ich bin überzeugt, es gibt immer schon mal

eine Möglichkeit eines Teilverständnisses. Vielleicht ist das noch überhaupt nicht

wesentlich, aber ich begebe mich damit, wenn ich mich im Zustand des partiellen

Verstehens befinde, sozusagen in die Bewegungs-Richtung von noch mehr verstehen. Ich

bin in dieser Haltung, in dieser Prozessform drin. Wenn ich in die andere

Prozessrichtung gehe, „da bin ich eh zu dumm dafür“, „keine Ahnung von der Sache“

und was der ähnlichen Aussagen mehr sind, dann geh ich auch in eine andere

Bewegung, in eine andere Prozessform. Sie wird mir eher das Unverständnis

ermöglichen. Und was mach ich denn hier anderes? Ich versuche, verstehen zu

verstehen. Und indem ich das versuche, versteh ich das sukzessive auch besser. Wieder

mal eine zyklische Bewegung. Wie sollt es denn anders gehen? Ich könnte schon in

einem Psychologie- oder Didaktik- oder Philosophie-Lehrbuch nachlesen, was die denn

meinen. Aber ob ichs verstehen würde? Ob ichs auch so erleben und tun würde?

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Da dieser Weg, diese Bewegung in Richtung „Verstehen“ sicher wieder persönlich ist,

wäre es hilfreich, ähnlich wie bei den Charakterstrukturen, wenn ich von mir und von

meinem Schüler wüsste, wie denn günstige und ungünstige Wege sind. Und da kann ich

zurückkehren zu der Theorie der Charakterstrukturen. Wie machen das die

verschiedenen Leute, wenn sie die Charakterstrukturen verstehen wollen? Wie hab ichs

selber gemacht? Nur schon dass ich schreibe „Theorie der ...“ zeigt etwas. Ich will das

ganze Stück, ich will die Übersicht, ich will die Ordnung, das System drin. Was für eine

Art Theorie ist denn das? Wie ist sie aufgebaut, wie funktioniert sie? Was sind verwandte

Theorien, formal verwandte, nicht inhaltlich. Viele andere sagen jeweils, die

Segmentierten hab ich noch nicht verstanden oder die Formsucher. Und wann haben sie

das Gefühl, sie hätte die verstanden? Nicht etwa, wenn sie deren Platz und Bedeutung im

Gesamtsystem eingesehen haben, sondern wenn sie wissen, was die für Sätze sagen, was

die für einen Augenausdruck haben, wenn ihnen eine Person, die so ist, präsent wird.

Die Frage des Systems ist für viele gar nicht relevant, das stört eher, nützt ihnen ja nichts

beim „Verständnis“ der einen Person.

Da habe ich schon mal zwei verschiedene Wege skizziert: sich den Gesamtüberblick

verschaffen wollen, daraus Details herleiten können oder eben, viele Details wissen und

daraus das Gefühl, die Überzeugung bekommen, verstanden zu haben.

Und da fällt mir beim selber Schreiben grad auf, dass es sowohl das Gefühl als auch die

Überzeugung braucht. Die Überzeugung als eher argumentative Variante verstanden

reicht aber sicher nicht. Ich erinnere mich mit Schrecken, wie ich in meiner

Mathematiker-Zeit einen Beweis durchaus auswendig wusste, ihn aber trotzdem nicht

verstanden hatte. Ich konnte ihn aufschreiben, Argument für Argument, Linie für Linie

in der Beweisführung. Am Schluss einer solchen Abhandlung ist es bei Mathematikern

üblich, „q.e.d.“ zu schreiben, quod errat demonstrandum, was zu beweisen war, und ich

konnte diese drei Buchstaben nicht hinschreiben, weil ichs eben nicht verstanden hatte,

nicht das Gefühl dazu hatte, kein Lichtgefühl im Kopf, keine Erleichterung im Bauch, es

hatte sich kein Ordnungsgefühl eingestellt.

Was ist denn das, Lichtgefühl im Kopf, Erleichterung im Bauch? Verstehen muss auch

ein Körpergeschehen sein. Auch das Nichtverstehen muss ich ja bemerken, und wie

bemerk ichs denn ohne den Körper? Es geht nicht. Irgendein Körperaspekt oder ein

Körpergesamtgefühl muss ich erkennen als „Nichtverstehen“ und in der Folge davon

eine Art Ziehen, ein Wunsch, ein Bedürfnis, ins „Verstehen“, in diesen Verstehens-

Zustand zu kommen. Und wenn das passiert, dann gibt es eben erlösende, gute

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Körpergefühle. Zumindest geht das bei mir so. Bin ja gespannt, wie andere den

Übergang von Nichtverstehen zu Verstehen beschreiben, wenn sie es nicht körperlich

spüren. Vielleicht in einer anderen Erlebensmodalität? Sehen sie solche und andere

Bilder? Geht die Sprache, die Formulierungen auf oder nicht? Aber wie entscheiden sie

das? Nicht auch körperlich?

Ich habe jetzt allerlei über „Verstehen“ ausgefaltet. Keinesfalls erschöpfend. Sicher nicht

für alle gleich befriedigend. Muss ich, wenn ich zyklisch denken will, weiterfahren bis

der Prozess des „Verstehens verstehen“ fertig ist? Das geht eben in der Methode nicht.

Weil mit jedem neuen Gedanken auch neue Fragen auftauchen, mit jeder Antwort taucht

auch ein Gefühl der Subjektivität dieser Antwort auf, also müsste sofort mehr

beschrieben werden, wenn wir die Idee hätten, es müsste für alle gelten, wenn wir eine

Universalität anstrebten. Aber das tun wir eben nicht im zd. Ich will mit meinem

Verstehen nur so weit gehen, dass es mir erlaubt, ermöglicht, Ideen zu haben, wie es in

Verstehens-Prozessen weitergehen könnte, wenn sie stagnieren. Also etwa Ideen

produzieren können für einen Klienten, der in seinem Versuch zu verstehen

steckengeblieben ist. Und vor allem natürlich auch für mich selber, falls ich

steckenbleibe. Und schön und befriedigend ist das Gefühl, dass ich noch mehr über das

Thema entwickeln könnte. Es hat noch Leben und Zug drin.

Was wir hier auch sehen können, als Schwäche oder zumindest Eigenheit dieses

Denkstils: Er eignet sich nicht dafür, universell gültige, inhaltliche Aussagen zu kreieren.

Das Allgemeine an diesem Denkstil ist die Stärke, Verfahren zu entwickeln. Also an

diesem Beispiel: Wie kann ich mich dem Thema, was den Verstehen sein kann,

annähern, wie kann ich mich da drauf zu bewegen.

Ich versuche nun, das soeben Gefundene über Verstehen auf die Charakterstrukturen

anzuwenden: Was heisst für mich, die Charakterstrukturen verstanden zu haben?

Ich kann mit den Charakterstrukturen, mit diesem Theoriestück in eine Situation

hineinstehen oder vor sie hin. Also etwa vor einen Menschen hin, zu der Erzählung eines

Supervisanden von seinem Klienten, oder ich stelle mich in einer Arbeitssitzung mit den

Charakterstrukturen einem mich nervenden Kollegen gegenüber. usw. All das mach ich

in mir drin, nehme das interessierende Verhalten, das mir erzählt wird oder das ich grad

erleben kann, und mein Charakterstruktur-Wissen und lasse eine Begegnung entstehen,

gehe hin und her zwischen den beiden, lass beim einen eine Frage entstehen (er redet

immer so laut, warum denn nur?), die ich dann im andern Gebiet stelle (wo im

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Charakterstrukturmodell könnte das denn hinpassen?), gehe mit der provisorischen

Antwort zurück, lass dadurch eine neue Frage entstehen, mit der ich dann wieder gleich

umgehe, lass das hin und her eine Zeit lang geschehen. Wenn ich Glück habe, dann

entstehen in mir drin schnell Verständnisvorschläge für das Verhalten der Person. (Das

Verständnis der Charakterstruktur erweist sich hier dadurch, dass es hilfreich ist für das

Verständnis der Person.) Oft gibt es leider längere Zeit, mehrere „Hin und Hers“ später,

immer noch keine befriedigende Hilfe fürs Verständnis. Jetzt muss ich meine

Kenntnisse, mein Verständnis der Charakterstrukturen etwas ausfalten. So kann ich mich

erinnern, dass es die drei Ebenen, untere, obere, mittleere, gibt. Und so frag ich mich im

nächsten Schritt, womit das fragliche Verhalten denn am ehesten zu tun haben könnte.

Ist das eine Oberstrukturthematik oder nicht? Ist es überhaupt eine Frage, die Potenz für

die Charakterstrukturen haben kann? Wäre sie in einem andern Erklärungsmodell

sinnvoller? Und, wieder innerhalb der Charakterstrukturen, kommt mir eine Person mit

bekannter Struktur in den Sinn, die zur Frage passt? An dieser Stelle kann man auch

schon bemerken, dass dieses „Verständnis“, dieser Umgang mit dem Modell, kaum allein

über Theorie lesen oder hören lernbar ist. Es geht eigentlich nur durch Tun unter

Anleitung eines erfahrenen Kollegen, es braucht am ehesten Supervision.

Noch mal eine andere Art von Verstehen muss ich entwickeln, wenn ich das System als

System verwenden will, wenn ich also z.B. mit einem Kollegen rede, der ein

Psychopathologiemodell verwendet, wenn er sich unsicher im Kontakt mit einer Person

fühlt. Wenn wir den gleichen Patienten besprechen oder den gleichen Kollegen, er in

sein Pathologiemodell geht, ich in die Charakterstrukturen, dann können wir uns ganz

unproduktiv in die Haare geraten. Wir sind in verschiedenen Modellen, vielleicht sogar

in verschiedenen Denkstilen. Da führt es auf Abwege, wenn wir nun beide, aus unserem

einander nicht Verstehen, uns gegenseitig in unsere Modelle einordnen. Ich ihn in die

Charakterstrukturen, er mich in sein Pathologiemodell. Wir müssen diese Diskussion

aufgeben oder dann aber eine Diskussion über unsere verschiedenen Modelle führen.

Und nun muss ich in mir drin und mit ihm zusammen andere Bewegungen machen,

andere Themen im Denken und Reden miteinander in Kontakt bringen, also eine andere

Art von Verständnis mobilisieren.

Es wird wichtig zu beachten, das muss ich verstanden haben, dass die

Charakterstrukturen kein Pathologie-, sondern ein Eigenschaftsmodell sind. Und dass

sie nicht von beobachtbaren Symptomen ausgehen, sondern von der Vorstellung einer

vermuteten und immer wieder zu erfragenden inneren Dynamik. Und wenn wir dann

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vertiefen wollen, muss mein Gegenüber ausserdem ein Verständnis bekommen von den

drei Ebenen. Und dass das Ganze im besten Fall vorerst nur eine Empathiehilfe ergeben

kann. Mehr Empathie für die Stimmung und Atmosphäre im Fall, dass da die untere

Struktur zum Tragen gekommen ist. Mehr Empathie für die Art des Leistens, des

Ordnungmachens und des Erledigens einer Aufgabe im Fall, dass da die obere Struktur

zum Tragen gekommen ist und mehr Empathie, wenn ich bemerke, dass ich selber oder

das Gegenüber verengt, einbruchsnah werde - in diesem Fall Empathie für mich und

den andern. Ich muss also die Funktion und das Ziel der Beschäftigung mit den

Charakterstrukturen erklären können.

Ich merke, dass ich unzufrieden bin mit dem Text über das Verstehen des Modells als

Modell. Es gibt in mir so ein „ja schon, aber ich habs noch nicht ganz“. Was braucht es

denn noch? Sicher ein Gefühl und ein Wissen über die Grenzen des Modells. Wo

anwenden und wo nicht und was kanns bringen und was nicht! Dann ein sicheres

Gefühl und Wissen darüber, dass es nicht einfach ein Zuschreibungsmodell ist.

Zuschreibungen können hier nur Vermutungen liefern. Ah ja, ganz wichtig, es ist nur

anwendbar bei längerer Selbsterfahrung mit dem Modell, kontrolliert durch

KollegInnen, besprochen mit KollegInnen. Es braucht ja diese Fähigkeit, eigene

Resonanzen zu etwas zu entwickeln und es braucht die Erfahrung, diese Resonanzen

nicht vorschnell sich selber zu deuten und damit dann den andern vorschnell

einzuordnen. So ist es also auch notwendig, wenn ich mit einem Vertreter eines

Einordnungssystems von psychischen Eigenheiten zusammen rede und wenn ich sein

System mit unserem vergleichen will, ihn auf mögliche Resonanzen hin anzufragen. Und

es kann gut möglich sein, dass ich ihm diesen Begriff praktisch und auch theoretisch

näher bringen muss, wenn er unser Modell näher verstehen will. Also, an dieser Stelle

geht es ja darum, was denn für mich Verstehen heisst in dem Fall, in dem es um die

Charakterstrukturen als Modell geht. Und eine Folgerung ist, es geht nicht ohne ein

Verständnis des Resonanzgeschehens.

Wenn ich mich mit einem Kollegen übers Modell austausche, dann muss ich ihn fragen,

ob in seinem Modell auch so etwas ähnliches wie Resonanz vorkommt oder was er in so

einer Situation machen würde, in der ich auf Resonanzen achte? Was für eine Art

Zuschreibungen macht er jeweils, gibt es auch so etwas wie unsere Ebenen, wie geht er

denn mit Eigenheiten, die nicht pathologisch sind, um, ...? Ich sollte mit ihm über solche

Fragen reden können, die Unterschiede zu meinem feststellen können und die dann

erklären, dann, glaub ich, hab ich das Modell als Modell verstanden.

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Ich habe nun eine Geschichte erzählt, die zur Entwicklung des zd geführt hat.

Als zweite Geschichte nehme ich die der Entwicklung unserer Vorstellungen, unseres

Denkens und der Techniken, die zur „Energetischen Brille“gehören.

Die energetische Brille, eine zweite Heranführung

Von der Reich´schen Körperarbeit mit Hilfe von Rogers und Gendlin zur

klientenzentrierten Körperpsychotherapie und zu einer andern Auffassung von

„Energie“ in der Psychotherapie

In der Reich´schenKörperarbeitEine ganz andere Spur, die mein Denken geschult hat, war mein Denk-Weg in der

Körperpsychotherapie. Es war eigentlich dieses Gebiet, das mich vor allem in die

Psychotherapie gezogen hat, das hat mich gereizt. Ich hab schon in der Gymnasialzeit

und dann während dem Mathematikstudium an der Uni Zürich allerlei über Psychologie

und Psychotherapie gelesen, gehört, gelernt. Ich fand das immer ganz anregend, aber

auch alles irgendwie schräg und unbefriedigend und keineswegs geeignet, für mich

einen Beruf herzugeben. Bis dann eines Tages ein befreundeter Mathematikstudent kam

und mir ein Buch entgegenstreckte: „Das musst du lesen, das ist spannend.“ Es war eins

von Wilhelm Reich. Ich weiss nicht mal mehr welches. Auf jeden Fall las ich. Und

tatsächlich, ich fand es auch spannend. Ich verstand zwar vieles nicht oder nur so

ungefähr, aber das animierte mich nur, noch mehr von ihm zu lesen. Es war die 68er-

Zeit, wir lasen dann mit der Zeit fast alle Wilhelm Reich, allerdings eher aus politischem

und nicht so sehr aus psychotherapeutischem Interesse. Immerhin führte das zu vielen

an- und aufregenden Gesprächen, insbesondere natürlich über seine Vorstellungen von

Sexualität. Wir waren in unseren privaten Leben alle weit von den Idealvorstellungen

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von Reich entfernt, ja wir bemerkten kaum, dass er da ideale Vorstellungen vertrat. Wir

meinten, wie er ja lange Zeit auch, er rede von Gesundheit und Krankheit. Wenn jemand

die Sexualität so erlebt und so lebt, wie sich Reich das idealerweise vorstellte, dann wäre

der und die gesund, andernfalls eben krank, zumindest psychisch krank. Spannend war

dabei für mich aber sogleich, dass mit seinem Konzept der Sexualität als eigentlichem

Merkmal des psychischen Zustands eine deutliche Verbindung postuliert wurde

zwischen Körper und Psyche, ein Fortschritt also zu der unseligen Trennung der Person

in zwei Wesenheiten.

Ich war damals, wie auch schon als Kind und auch heute noch, sehr stark ein

Bewegungsmensch. Ich war kaum je ohne Bewegung und merkte schon in der

Gymnasialzeit, dass mir zu lange Denken ohne Bewegung dazwischen, ohne

Rumfuchteln mit Armen und Beinen, ohne bewusst wahrgenommene Empfindungen

mit dem Körper, nicht gut tat. Ich neigte dann zu Sturheit, zu Rechthaberei und

Unbeweglichkeit eben auch im Intellektuellen. Oft bekam ich auch Schmerzen davon. Es

war mir also diffus klar, dass ich nie eine Psychoanalyse machen möchte. Ich hatte den

Verdacht, das würde mir nicht gut tun, zu viel Gewicht auf der Sprache, zu viel ruhig

sein. Immer auf der Couch- das wärs nicht für mich. Obwohl, interessiert hätte es mich,

und immer mehr hatte ich den Verdacht, dass ich es eigentlich auch nötig gehabt hätte -

oder eben etwas Ähnliches, aber nur was? Und da kam doch, nach etwa drei Jahren lesen

und diskutieren der Reichtümer, ein Zeitungsartikel, es gäbe nun ein Institut für

Ausbildung und Therapie nach Wilhelm Reich. Das wars für mich, dachte ich gleich. Nix

wie hin, es war netterweise ja auch grad in Zürich, wo ich wohnte.

Das erste, was mir da passiert ist: Ich bin in eine ausführliche Testbatterie hineingeraten,

hineinberaten worden. Worauf natürlich herauskam, dass ich dringendst einer Therapie

bedürfe. Was mir auch eingeleuchtet hat.

Es tat sich eine äusserst interessante Welt auf für mich: Vegethotherapie (ähnlich unseren

heutigen autonomen Prozessen) und vor und nach jeder Vegethotherapie eine

ausführliche physiologische Untersuchung. Dafür aber keine Erklärungen, kaum

Gespräche, was denn das bedeuten soll. Durchaus Reden über Gefühle, die waren

jederzeit willkommen, aber keine theoretischen Fragen. „Warte damit, lass das. Das

kannst du sowieso noch nicht verstehen. Du musst zuerst mehr erfahren und erleben.“

Und mitgeschwungen, nicht ausgesprochen: „Du bist noch zu neurotisch.“ Dieses

Verhindern von theoretischen Fragen war nicht hilfreich. Es ist auch geblieben über

Jahre, in die Zeit hinein, wo ich dann schon Mitarbeiter am Institut war. Ich weiss heute,

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dass sie halt die meisten Fragen nicht beantworten konnten und das auch nicht zugeben

konnten. Leider.

Ich wurde also im Denken eher verwirrter, zurückgebunden, gar nicht gefördert. Aber,

oder besser als eigentlicher Gewinn, kam ganz viel Selbsterfahrung. Da steckten ja

Möglichkeiten in meinem Körper, die ich nie geahnt hätte. Da kamen Gefühlsstärken

auf, Gefühlsfarben, frühe Erinnerungen. Und, ganz merkwürdig für mich, das trat

sozusagen Körpergebietsweise auf. Ich weiss noch, dass das erste Gebiet, das „aufging“,

der Brustkorb, die Herzregion war. Ich erlebte „diese Region“ in einer bisher nicht

gekannten Art. Gefühle, Bewegungsimpulse in die Arme, in die Atmung, in den Nacken,

Öffnungsbedürfnisse. Der Wunsch nach Nähe zu andern Menschen, riesige

Glücksgefühle, Pulsationen in der Region. Ein häufiger eigener Kommentar in mir drin

war: „Hundertsechzig Franken (eine Therapiestunde kostete mich damals 80.-) für dieses

wunderbare, reiche Erleben. Das hätte ich in zwei Wochen Ferien nicht annähernd

haben können. So günstig. So billig.“ Und es ging ja dann häufig weiter in der

Zwischenzeit bis zur andern Stunde. Allerdings kamen leider nicht nur angenehme

Gefühle, sondern sehr viele unangenehme, und die eben auch viel stärker als gewohnt.

Ängste, Mordlust, Unsicherheiten, ... Heute kann ich das Meiste in ein theoretisches

System einordnen (dieses „gebietsweise Auftreten“ meiner Themen, Gefühle,

Körperimpulse etwa ist ein Merkmal meiner segmentierten Oberstruktur). Damals war

das ein riesiges Schwimmfest, ein sich irgendwelchen Prozessen überlassen müssen. Bei

der Stange gehalten hat mich glaub insbesondere, dass ich ein immer stärkeres

Vertrauen bekam in ein Etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Aber ich wurde

eindeutig stärker, psychisch, mental. Ich hatte Erlebnisse von Koordinationsfähigkeit im

Körper, die fantastisch waren. Ich erinnere mich an das Ende einer

Vegetotherapiesitzung. Ich stieg vom Massagetisch hinunter, auf dem wir in dieser

Therapieart lagen: Mit geschlossenen Augen, auf einem Bein, stand ich die längste Zeit,

drehte und bog mich, ging mit den Händen auf einer Seite zum Boden, dann auf der

andern, schaukelte und wiegte mich, immer nur auf einem Bein. Jegliche

Gleichgewichtsunsicherheit war weg. Ich konnte jede Bewegung ganz sicher machen, wie

wenn ich gehalten wäre, wie wenn die Luft andere Eigenschaften als üblich gehabt

hätte. Es hat mich gehalten. Ich wusste noch nicht mal, ob von innen oder von aussen.

Ich probierte immer verrücktere Bewegungen, um es rauszukriegen. Es ging einfach

alles, einfach so. Ein anderes Mal habe ich plötzlich „verstanden“, was ein Quadrat ist. Im

ganzen Körper habe ich das gewusst, gespürt, mich mit ihm als konkrete Form, die ich an

der Decke sah, aber auch mit ihm als abstrakte Form, verbunden. Ein riesiges

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Glücksgefühl. Ich weiss heute aus der Literatur, dass das ähnliche Zustände sind, wie sie

mit Drogen manchmal erreicht werden können.

Es geht mir hier nicht um einen Erlebensbericht, sondern um mehr Verständnis fürs zd.

Was hat meine Geschichte der energetischen Betrachtungsart, der energetischen Brille,

zum zd beigetragen?

Eindeutig gab es da Kräfte, psychische und physische in mir, die neu waren, die ich

vorher nicht für möglich gehalten habe. Aber war da auch eine neue Art Energie am

Werk, wie es Wilhelm Reich postulierte? Ich war zu Beginn meiner Therapie noch an der

Uni Zürich als Student, hatte viel Kontakt mit Physikern, hatte auch Zugang zu Mess-

Instrumenten. Nach den ersten zwei Therapie-Jahren kriegte ich einen Ausbildungsplatz

im Reich-Institut. Dazu gehörte bald auch der Zugang zu internen Protokollen, zu

Datenblättern von den Hautwiderstandsmessungen, die dort jeweils vor und nach den

Vegetotherapiesitzungen gemacht wurden. Reich nannte seine neu postulierte

Energieform Orgon. Orgon sollte im Körper fliessen, sollte auch in Pflanzen und in der

Atmosphäre sein.

Eine seiner Aussagen war, dass man die Orgonkonzentration in der Luft mit einem

Elektroskop messen könne. Die Entladungsgeschwindigkeit sei eine Angabe über die

Konzentration. Je langsamer die Entladung, desto mehr Orgon. Ein Elektroskop ist ein

Messgerät. Mit ihm misst man statische Elektrizität. Man kann es aufladen, wenn man

etwa mit einen Kunststoffstab durch frisch gewaschene Haare fährt. Der Kunststoffstab

lädt sich auf, die Ladung kann man dann am Elektroskop abstreichen. Und nun kann

man die Dauer messen, die es braucht, bis das Messgerät wieder entladen ist. Statische

Elektrizität entlädt sich sicher in die Luft, die Frage ist nur, wie viel Zeit es braucht.

Schnell wurde mir deutlich, dass dies bei schönem Wetter langsamer geht als bei Regen.

Genau wie es Reich gesagt hatte. Ich erinnere mich, dass ich mal stundenlang gemessen

hab. Papier um Papier habe ich vollgeschrieben. Es war ein riesiger Datensalat: hoher

Wert, tiefer Wert, mittlerer Wert, sauhoher Wert usw. ein Durcheinander und dabei war

tadellos blauer Himmel draussen. Ich schrieb entnervt quer übers Blatt: „Chaos,

Schmarren, Unsinn“. Und was ist passiert? Einige Stunden später ist ein Riesengewitter

losgebrochen mit Böen, Windstille, Blitz und Donner, Regen und wieder trocken. Und

ich hab mich erinnert, dass Reich geschrieben hat, die Messwerte zeigten immer die

Orgonsituation in einigen Stunden. Aber wie sollte denn diese Energieform Orgon mit

der statischen Elektrizität zusammenhängen?

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Andere Erinnerungen handeln von Erlebnissen mit Orgon-Akkumulatoren und DOR-

Bustern. Das sind zwei Geräte, die nach Reich in der Lage sein sollen, diese

Orgonkonzentration zu verändern und damit auch Einfluss zu nehmen auf

Heilungsprozesse, auf die energetische Situation eines Menschen. Die hab ich gebaut,

mit denen hab ich experimentiert. Es sind erstaunliche Sachen passiert, ich war

fasziniert, auch etwas erschrocken, was denn da alles war und auch nicht war. Ich habs

nicht verstanden, dachte, ich muss mehr lernen, mehr verstehen von den

Körperprozessen, die wir in den Therapien erlebt haben. Und ich hab mich

entschlossen, diese Experimente vorläufig aufzugeben. Ich fand das mit meinem

Kenntnisstand und meinen Ressourcen nicht sinnvoll. Es war geradezu

verantwortungslos, da einfach drauflos zu experimentieren. Na ja, mit Pflanzen hab ich

schon noch probiert. Und wie von Reich vorhergesagt: Die mit seinem Akkumulator

behandelten sind viel besser gewachsen. Übrigens, er wurde eingesperrt, weil er die

Finger nicht von seinen Geräten lassen konnte, weil er Menschen damit behandelt hatte.

Seine Versuche passten nicht in die herrschenden Auffassungen, er sollte widerrufen. Er

konnte das nicht. Er ist im Gefängnis gestorben - in Amerika, nicht in Russland.

Was lehrten mich denn diese und andere Versuche und Gedanken, diese Erlebnisse in

der eigenen Therapie? Ich weiss es nicht recht. Ich bin mit vielen offenen Fragen

zurückgeblieben. Es gab also vorerst mal vor allem viel Verunsicherung in mein

gewohntes Denken. Rückblickend muss ich sagen: „Mein damaliger Denkstil scheiterte

in vielem, was mich so neu interessierte.“ Braucht es tatsächlich eine neue Energieform,

um solche therapeutischen Prozesse verstehen zu können? Was heisst denn Verstehen in

diesem Zusammenhang? Wie kann ich denn mit psychotherapeutischen Kollegen

darüber reden, wie mit Physikern, mit Ärzten, Biologen? Und ich war ja schon bald auch

in der Ausbildung tätig: Wie kann man das den Schülern vermitteln? Einfach mit

Übungen, mit Selbsterfahrung - dazu sagen, wir verstünden das halt alles noch nicht so

recht, besser gesagt gar nicht? Eifrig habe ich andere Körperpsychotherapeuten gelesen,

mich umgehört in andern Ausbildungen, Lowen, Pierrakos, Braun, Boyesen, ... Da war

auch kaum Befriedigendes zu finden für meine Denknot. Ich war nach wie vor, auch

Jahre nach meinem Beginn der eigenen Therapie, der ersten Selbsterfahrung, auch

nachdem ich schon ein paar Jahre selber als Therapeut gearbeitet habe, unzufrieden. Die

Unzufriedenheit nahm eher zu, weil es eine so reiche Praxis gab und eine so miese

Theorie dazu. Ich vermute, dass ich diese Not mit manchen MedizinerInnen teile. Da

gibts welche, die sich klar auf eine rein naturwissenschaftliche Seite schlagen, andere

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„driften“ in die Esoterik ab, und einige leiden an den gegenseitig unverständlichen

Positionen.

Der Austausch mit den GFK-KollegInnen war häufig auch unbefriedigend, frustrierend.

Sie interessierten sich nicht für meine, wie sie meinten, physikalischen Fragen, sondern

waren interessiert, darüber zu reden, wie etwas denn therapeutisch gehen könnte,

suchten eher in Beziehungsbedingungen mehr Klarheit als in der Theorie über den

Energiebegriff. Sie störten sich an anderem, was von den Reichschen Therapieschulen

her kam: z.B. an der „Ein-Personen-Auffassung“, die eigentlich gepflegt wurde in der

Nachfolge von Reich und überhaupt in der Körperpsychotherapie. „Ein-Personen-

Auffassung“, meint kurz gesagt, dass die Phänomene in eine Person hinein gedacht

wurden. Die Störung ist in einer Person drin. Das Körpergeschehen findet in der Person

des Klienten statt. „Diese Person hat eine Blockade, sie hat eine Panzerung. ...“ Die

Zweiheit Klient -Therapeut war unwichtig. War nur wichtig in Bezug auf das Optimieren

des Rahmens, in dem dann Therapie stattfinden konnte. Es wurde also kein

energetisches Geschehen zwischen den beiden betrachtet, es war schon gar keine

Vorstellung da, dass diese Zwei eine neue Einheit bilden könnte, die wiederum ein

eigenes Leben hätte. Und es stimmt, das fand ich ja auch, das war eine zum Rest der

GFK-Theorien unpassende Auffassung. Ich fand den Teil der Klärung auch sehr wichtig.

Die Körpertherapie ist ja auch zuerst auf einem psychoanalytischen Hintergrund

gewachsen und wir versuchten, mussten versuchen, sie mit der personzentrierten

Haltung und Technik kompatibel zu machen.

Zum zweiten Mal musste ich für mich wichtige Themen sistieren. Das erste war ja der

Verzicht auf die Weiterführung der Experimente und jetzt zum zweiten der Verzicht auf

die ständigen Klärungsversuche, wie denn dieses Reichsche Energiekonzept für mich,

für das GFK, verstehbar werden könnte. Oder dann, wenn das nicht geht, wie denn ein

eigenes Verständnis aussehen könnte.

Der Entschluss, diese Fragen zumindest zeitweise aufs Eis zu legen, schaffte aber auch

intellektuellen Raum für die anderen, oben angedeuteten Themen.

- Was kann eine klientenzentrierte (=personzentrierte) Körperarbeit sein?

- Wie bauen wir das in die Ausbildung ein?

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Die dialogische KörperarbeitGanz grob skizziert: Was können wir denn von der verbalen Arbeit her für die

Körperarbeit lernen und was können wir aus der alten Körperarbeit in die verbale

Therapieform übertragen? Wie kann das klientenzentriert geschehen und gedacht

werden? Und daraus wollen wir dann versuchen, eine Form und ein Nachdenken zu

finden, das nicht mehr trennen muss zwischen Körper und Sprache. Eigentlich sind die

Menschen ja beides, sind doch eine Einheit aus beidem. Körper „spricht“ ja auch,

Sprache geht sowieso nur körperlich, eben mit Mund und Zunge und Atmung und

Knöchelchen, die im Ohr bewegt werden usw. Sehr zentral dabei wurden die

Teilaspekte, wie denn Fragen und Antworten rein körperlich gehen könnten. Das ist für

einen klientenzentrierten Ansatz der Körpertherapie unerlässlich. Dabei möchten wir

nicht ständig den Umweg über Sprache machen. „Hier drückt es. Was könnte es wohl

bedeuten?,“ oder „Was kommt mir dazu in den Sinn?“ Und umgekehrt: „Ich fühl mich so

einsam.“- „Wo in deinem Körper spürst du das?“

Das kann ab und zu alles sinnvoll sein, aber eben, es nimmt immer den Umweg über

Sprache, über Denken. Der direkte Weg führte zur Entwicklung des Konzepts der

„Dialogischen Körperarbeit“. Und erst damit wurde es möglich, in den GFK-Körper-

Therapien, das für die klientenzentrierte Haltung notwendige Fragen direkt-körperlich

stellen zu können.

Wir können in unseren Körpern direkt Wohlgefühl oder Irritation bis Schmerz

empfinden. Das kann eine Region liefern, etwa der Nacken oder eine bestimmte Haut-

oder Muskelstelle. Je nach Charakterstruktur, je nach Art der Störung oder des „guten“

Gefühls, können diese Empfindungen lokaler oder verbreiteter sein, sie können eher

spitz oder diffus-verwischt sein, usw. Es gibt da eine grosse Vielfalt. Manchmal finden wir

selber oder eine Fachperson schnell oder unmittelbar eine einleuchtende Erklärung.

Manchmal auch nicht, oder sie erweisen sich als falsch oder unzureichend. Wir können

sicher davon ausgehen, dass der Körper häufig Reaktionen hat, die unmittelbar

„sprechen“. Sozusagen aus dem Körper gibts Körper oder aus dem Gefühl gibts Körper.

Nicht immer gehts von Körper zu Verstehen und erst von da wieder zu Körper. Nur

können wir dazu oft nicht „Sprache“ sagen, weil eben zu viel daran unklar ist. Wir wissen

nicht, was zu tun ist, damit der Schmerz aufhört, wir wissen nicht, was zu tun ist, dass

wir dieses Wohlgefühl sichern können. Nun ist ja nicht nur der Klient „Körper“, sondern

auch der Therapeut. Die Hand der Therapeutin ist nicht nur Wahrnehmungsinstrument

und Handlungsinstrument, die der Steuerung des Denkens der Therapeutin gehorcht,

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nein, diese Hand ist selber Körper mit unmittelbaren Reaktionen auf den eigenen

Körper, auf die eigenen inneren Zustände. Die Hand der Therapeutin, die die Schulter

des Klienten berührt und bewegen möchte, die bekommt im Zusammenspiel eigene

Impulse, eigene Zustände. Wärme oder Kälte der Schulter, als Beispiel, ergeben

unmittelbare Reaktionen in die Hand, in den Körper der Therapeutin. Vielleicht zieht

sich die zusammen oder sie beginnt zu streicheln oder zu kneten. Das wiederum macht

unmittelbar wieder etwas mit der Schulter, usw. Es kann so ein sich zusammen bewegen

entstehen. Oft hat das keinen „Sinn“ für unser Denken. Es tut einfach zusammen,

miteinander oder gegeneinander, sich irgendwie bestätigend oder bekämpfend oder

zusammen suchend oder zeigend und aufnehmend. Wir sagen: Es findet ein

Körperdialog statt. Der ist getragen von der Schulter (des Klienten) mit der Hand (des

Therapeuten) und den jeweiligen ganzen Personen hintendran. Voraus gehen aber die

Körperteile, die im unmittelbaren Austausch sind. Dieser Dialog kommt nicht immer

automatisch und leicht zustande. Ganz genau gleich wie beim verbalen Dialog, der ja

auch oft eine spezielle Frage, eine spezielle Vertrauenssituation braucht. So kann die

Schulter des Klienten auf die Berührung, das „Dialogangebot“, der Hand, stumm

bleiben. Es scheint nicht die richtige, nicht die günstige Frage zu sein. Wir haben

gelernt, dass die meisten Körperstellen Zustände haben, in denen sie „Frage-, Antwort-

bereiter“ sind als in andern Zuständen. Am leichtesten können wir das erfahren, wenn

wir mit Gelenken experimentieren. Es gibt da meist einen Winkel, eine Druck-Zug-

Situation, die unmittelbar reagiert. Es zuckt dort, es stösst, zieht, macht allerlei. Es ist,

wie wenn das Gelenk in dem Winkel nicht „wüssste“, wie es sich verändern möchte, es

ruft aber im Gelenk nach Änderung. Also beginnt es sich unmittelbar zu bewegen. Und

mit der Antwort der Therapeutinnenhand entsteht ein suchendes sich zusammen

Bewegen. Das Gespräch hat begonnen. Und wenn man mal im Reden ist, ... Und wenn

die Therapeutin geschickt darin ist, weitere „Fragen“ zu finden, dann „redets“ weiter.

Dieses Zusammen-Bewegen ist oft zuerst irritierend: Was soll denn das? Warum zuckts

denn da? Bin ich gestört? Das sind häufige verbale Fragen, die da kommen. Die zwei

Untersysteme, verbale und Körpersprache, sind nicht einfach zusammen. Sie haben noch

ihre je eigenen Abläufe, wobei das eine System nicht einfach sinnvoll mit dem andern

zusammenspielt. Da brauchts nun verbale und körperliche Unterstützungsarbeit der

Therapeutin. Die Schulter und die Hand können ein Zusammenarbeitsgefühl kriegen.

„Wir verstehen nix, aber es fühlt sich gut an.“ Und verbal muss die Therapeutin

vermitteln, dass da etwas Wertvolles passiert, dass sie jetzt zusammen dran sind,

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„Wissen“ des Körpers anzuzapfen, zugänglich zu machen. Dass sie das ganz wichtig und

interessant findet. Dass das eine optimale Mitarbeit des Klienten ist.

Dieses körperlich miteinander Drauflosreden kann auf hauptsächlich vier Arten in

unsere üblichen Einordnungssysteme (Sprache, Denken, Erinnern, Planen,...)

übergeführt werden. So wie aus dem Klönen über das kalte, nasse Wetter ein

inhaltsreicheres Gespräch werden kann:

1. Das Miteinander Tun von Schulter und Hand kriegt mehr Tiefe, indem ein Gefühl

dazu kommt. Geborgenheit, Einsamkeit, Kampf, Zärtlichkeit kann in der Schulter, in der

Hand, im Miteinander entstehen. Daraus entstehen Bewegungen, Berührungsqualitäten,

die auch gefühlsmässig empfunden werden, die also „Inhalt“ haben.

2. Wir probieren, das „leer bleibende“ Plaudern mit der linken Schulter auch auf der

rechten Seite. Indem wir die beiden Seiten in ihrer Qualität vergleichen, entstehen

Unterschiede, daraus Ideen oder Fragen, die wir auch verbal angehen können. Diese

Unterschiede sind fast immer da. Manchmal nimmt sie vorerst nur die Therapeutin

wahr, weil sie ja, hoffentlich, geübter ist im Wahrnehmen solcher Phänomene. Sie kann

ihre Wahrnehmungen erzählen. Achtung: meist ist es besser, nur bei den

Wahrnehmungen zu bleiben, keine möglichen Erklärungen vorschnell zu geben. So

bleibt es spannend, die zusammen zu suchen. Oder das noch sein zu lassen und weiter

im Körperlichen zu bleiben.

3. Die Klientin lässt Vorstellungen entstehen, wer denn die handelnde Person an ihrer

Schulter sein könnte. So könnte etwa mit der linken Schulter eine Anmutung von

„Mutter“ entstehen, rechts, der ruppige Bruder, der sie immer gezerrt hat.

4. Wir fassen das „Geplauder“ als „Geplänkel, Geplansche“ in der Wellenwelt auf und

suchen Fortsetzungen in der Wellenwelt des Klienten. Zuckt es noch an einer andern

Stelle des Körpers, entstehen Schwingungsanmutungen irgendwo, kann die Therapeutin

irgendwo Wellen anregen, die einen Zusammenhang haben mit der Ausgangsstelle? Das

lokale Wellengeplänkel wird also nicht klein-klein in ein anderes Teilsystem genommen,

sondern zuerst ins grössere der Gesamtwellenwelt übergeführt und dort wird „Sinn“

gesucht, indem die Wellensituation überhaupt, ausgehend von diesem Schulter-Hand-

Dialog, untersucht wird.

Die Ausarbeitung dieses Körperdialogs, die Entwicklung dieser Technik, das

Erfahrungen sammeln damit, ergab viel mehr Vertrauen in die zuerst doch eher

postulierte Einheit von Körper und Denken und Gefühlen. Durch diese Dialoge in den

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verschiedenen Rollen, als Klient, als Begleiter, als Beobachter wurde dieses „Postulat“

erlebt, es wurde so „Wirklichkeit“. Es ist also wieder einmal aus einer gedachten

Fortsetzung eine „Technik“ geworden, die wiederum das Denken klärte und stärkte, und

aus dem Pendelprozess zwischen denen ist eine neue „Realität“ geworden, die Körper-

Sprache. Sie wird immer erlebt, aber es ist nicht automatisch eine Sprache mit Gefühl,

manchmal wird es eine Körper-Gefühl-Sprache, also ein Hin und Her in diesem ganzen

Geschehen. Es klärt unser Denken und Wahrnehmen in dieser Sache: Aspekte können

wegfallen, können Übergewicht kriegen. Wir können die Aspekte nacheinander oder

miteinander haben. Aber wir verstehen sie dann als Aspekte einer möglichen Ganzheit.

Ob es zur Ganzheit oder zum Aspekt wird, das macht die Art unserer Betrachtung, es ist

also eine Beobachterwahl. Ich werde also auch nicht mit allen Klienten oder Schülern

gleich reden in dieser Angelegenheit. Meine verbale Sprache muss abhängig sein von der

Sichtweise des Andern. Und damit sind wir auch bei der Frage der Ausbildung, sei es

KlientIn oder SchülerIn.

Die Körperarbeit, insbesondere die dialogische Körperarbeit, in einer Gesprächstherapieausbildung?In den ersten Ausbildungsgängen, in denen wir in die klientenzentrierte verbale

Therapie (eben die damals sogenannte Gesprächstherapie) auch Körperliches

einbeziehen wollten, machten wir einfach neben der verbalen Ausbildung noch „Körper-

Übungen“. Die waren belebend für die TeilnehmerInnen und auch für die

AusbilderInnen. Sie ergaben manchmal auch Gesprächs“material“. So machten wir zum

Tagesbeginn Atemübungen. Und wir massierten uns die Rücken, die vom ewigen Sitzen

steif waren. Und schon näher bei der Psychotherapie: wir machten allerlei

Wahrnehmungsübungen. Und eine gute Eigenwahrnehmung braucht man ja dringend

für die klientenzentrierte Therapie, die die Beziehung, das Beziehungsgeschehen, die

Atmosphäre der Gespräche usw. so wichtig nimmt. Die immer wiederkehrende Frage,

was denn der eigene Anteil sei bei einer Reaktion auf das Verhalten des Klienten. Ich

sehe, ich spüre, ich denke dazu. Und bitte, unbedingt, die drei immer mal wieder

getrennt voneinander. Da waren die Körperübungen hilfreich.

Leider und glücklicherweise erwiesen sich die Körperübungen oft als gefühlsmässig

bedeutsamer, stärker, als die verbalen Gespräche. Es tauchten in den Körpersituationen

manchmal Themen auf, die trotz langer, sorgfältiger Eigentherapie noch nicht

vorgekommen waren oder dort nicht behandelbar waren. Das Problem war nun nur die

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Weiterverarbeitung. Verbal weitermachen? Oder in einer Form der Reichschen

Körperarbeit, die aber weitgehend eine psychoanalytische war, weiterfahren? Beides gab

es zu Beginn: Bei mir selber häufig die Reichsche Fortsetzung, bei eher verbal geschulten

GesprächspsychotherapeutInnen die verbale Weiterarbeit. Beides war nicht so richtig

befriedigend. Es war keine Körperpsychotherapie oder sie war nicht klientenzentriert.

Mit der dialogischen Körperarbeit wurde hier eine Lücke zwischen den beiden Ansätzen

geschlossen.

Und wieder haben wir ein Beispiel von einem sich gegenseitig anregenden, ja sich

gegenseitig bedingenden Prozess. Zur Anreicherung nahmen wir Körperübungen in die

Ausbildung und handelten uns theoretische Probleme ein. Wir kamen zum

klientenzentrierten Konzept raus, verhedderten uns auch haltungsmässig. Aus der Not

entstand die Dialogische Körperarbeit. Und die wieder bereicherte den

Gesprächstherapieansatz grundsätzlicher, so, dass der Begriff „Gesprächs...“ nicht mehr

sinnvoll war.

Für die Ausbildung hat das Kapitel der dialogischen Körperarbeit ein riesiges Potential.

Nach den psychotherapeutischen Übungsgesprächen zu einem Thema, in einer Technik,

kann immer versucht werden, eine verwandte Situation im Körperdialog zu finden. Das

ergibt IMMER Neues, Zusätzliches zum verbalen Gespräch von vorhin. Einander

„Verstehen“ kriegt Vertiefung, Vertrauen. Oder dessen Manko kann erfahren werden. So

wird leicht klar, dass die Körper je nach Beziehungssituation aufeinander reagieren. Und

es wird so in der Übersetzung auch erlebbar, dass manche verbalen Fragen in

Sackgassen, vielleicht beziehungsmässige, vielleicht inhaltliche, führen können. Es ist

auch interessant zu lernen, wie ich denn über die Berührung Sicherheit oder

Geborgenheit aufbauen kann. Und natürlich in beiden Rollen, Klient und Therapeut.

Was macht etwa die Geschwindigkeit des Bewegens aus? Was die Stärke der Berührung,

was löst die Unsicherheit der Therapeutin beim Gegenüber aus, was eine „falsche“

Sicherheit? Was wäre das verbal Analoge zum einfachen und sicheren Halten eines

Körperteils? Was könnte es körperlich heissen, „eine Frage im Raum stehen lassen“?

Wir sehen, es gibt nicht nur eine Verdoppelung der verbalen Übungsmöglichkeiten, es

gibt auch ein Verdeutlichen. Und es tauchen an dem einen System Qualitäten auf, mit

denen man im andern gar nicht gerechnet hat. Tröstlich für manche angehenden

Therapeuten ist auch, wenn sie erleben können, dass ihre verbale Unbeholfenheit im

Vergleich mit Kollegen im körperlichen gar nicht da sein muss. Dass sie hier vielleicht

sogar gewandter, fantasievoller sind.

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Rogers mit der Gesprächspsychotherapie und Gendlin mit dem Focusing

Zeitlich parallel, und natürlich nicht unabhängig voneinander, beschäftigten wir uns

auch mit Focusing. Ich möchte hier nicht in die Breite gehen, da es ja zu Focusing riesig

viel Literatur gibt. Es ist der Teil in unserem Therapieansatz, zu dem es mit Abstand am

meisten zu lesen gibt. Mir geht es hier darum, zu erzählen, wie das Kennenlernen von

Focusing mein Denken erleichtert und geklärt hat.

In meiner Anfangszeit als Körperpsychotherapeut kam in mir immer mehr das Gefühl

auf, ich müsste noch unendlich viel lernen. Es sei eigentlich immer zu früh, schon mit

Klienten zu arbeiten. Ich sollte mich viel besser in der Psychoanalyse auskennen und

eigentlich sollte ich noch Medizin studieren wegen der körperlichen Geschehnisse, die

ich oft gar nicht verstand. Und das war ja nur die eine Seite, - die unmittelbare, die

andere Seite war, dass jede Klientin mit einer eigenen Lebenswelt kam, die ich ja auch

nicht kannte. Wie war es, selber Kinder zu haben, wie war es, eigene kranke Eltern zu

haben, wie war es, Künstler zu sein und die Kreativität verloren zu haben, wie war die

Welt auf dem Bauplatz, in einer Bank usw. Von dem unmittelbaren Problem, immer zu

wenig zu wissen, erlöste mich die Idee, dass das doch eigentlich der Klient in erster Linie

wissen müsste und dass im prozesshaften Geschehen der Prozess selber in erster Linie

„wissen“ müsste. Ich war mir aber nie so ganz sicher, ob das nicht ein aus meiner

Bequemlichkeit heraus geborener Gedanke sei. Als ich dann Rogers kennenlernte, der

das auch theoretisch und praktisch begründen konnte, war das für mich eine grosse

Erleichterung. Ich war nicht mehr allein mit dieser vielleicht ja doch nur schäbigen Idee.

Im Fall von Focusing respektive Gendlin als seinem Konstrukteur ging es um diese

verzwackte Geschichte, dass der Prozess des Erzählens den vorherigen Erlebensprozess

veränderte und dieses veränderte Erleben gar nicht so selten eine ganz neue Erzählung

ergab. Der Begriff von Wahrheit und das Gefühl für zeitliche Abläufe war in meiner

Arbeit unsicher geworden. Es wurde mir klar, dass mein naturwissenschaftlich

geschultes Prozessverständnis hier nicht ganz gültig war, vielleicht sogar unpassend war.

Ich bekam immer mehr eine Ahnung davon, dass da etwas Schlaufiges im Gang war: Das

Eine verändert das Andere und das neue Andere wieder das Eine. Das hatte etwas

Bodenloses, weil sich ja alles ändern konnte, je nach Situation. Ahnungsweise wurde mir

klar, dass eine andere Art Sicherheit kommen muss, die gerade mit diesem schlaufigen

Charakter von Therapieprozessen zu tun hat. Ich wusste nicht recht, wie und mit wem

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darüber gut zu reden wäre. Und nun traf ich auf Menschen, die Focusing kannten, für

die das grad Beschriebene ganz selbstverständlich war, und das Tollste, die hatten schon

eine Theorie dazu. Gendlin hatte sich mit solchen Fragen professionell, er war ja

Philosoph, befasst. Er hatte bereits ein ganzes Gerüst von Begriffen und

Prozessvorstellungen erarbeitet und auch mit vielen Leuten erprobt. In der Focusing-

Theorie war schon in der Konstruktion dieses Verschlaufte enthalten: Um den einen

Begriff zu verstehen, muss man auch die andern verstehen, für die man aber auch wieder

schon den ersten braucht. Für viele Focusing-Neulinge ist das vertrackt, für mich war das

eher eine Erleichterung, „so ist es doch in diesen therapeutischen Prozessen“. Also ist es

nur konsequent, wenn man auch so eine Theorie baut. Es gab also in gewissem Sinne

nur ganz verstehen oder gar nicht. Und das ist natürlich nicht realistisch oder zu

absolut, aber der Lernprozess wird anders, nicht Schritt für Schritt, wie von der Schule

gewohnt, sondern mal ein wenig verstehen, dann wieder scheitern, dann etwas mehr

oder anders, dann wieder nicht, dann noch besser, ... Man muss ertragen oder schätzen

lernen, dass jedes Nicht-Verstehen auch wieder etwas beiträgt für das Verstehen, dann

mal. Und jedes Verstehen ist in gewissem Sinne auch nur ein Vorläufiges. Aber, und,

wenn wir doch an Lernprozesse denken: so geht es doch in der Wirklichkeit zu und her.

Das war das eine, sehr Erleichternde für mich. Es gab mir auch schnell eine Art

Heimatgefühl: Ach, der denkt ja ganz ähnlich wie ich, der ist einfach älter und darin viel

weiter.

Das zweite war, dass Focusing eine eigene Verbindung von Körper und Sprache enthielt,

und zwar eine deutlich andere als die psychoanalytische Hintergrundtheorie der Reich

´schen Nachfolger damals. Das wichtigste Element in dem drin war und ist geblieben,

dass das Reden und Nachdenken über Körperprozesse ein persönliches bleibt, sowohl

das des Klienten als auch das des Therapeuten. Und es muss nicht geklärt werden, was

denn nun die wahre Beschreibung sei. Nein, aber jede Erzählung über ein Erleben ist

selber wieder Erleben, reichert also an, verändert. Was ich ursprünglich als Problem

erlebt habe, dass da keine Konstanz war, das war grad das Hilfreiche. Der therapeutische

Prozess geht so immer weiter, und dieses Weitergehen, das ist das Erwünschte. Und dass

sich auch das Erzählen über Erlebtes ändern kann, ja muss, das ist ja ein wesentliches

Element von erfolgreicher Psychotherapie.

Das ist nun alles kein Argument für ein Verleugnen von medizinischen oder auch

interpretatorischen Ideen. Die können Prozesse durchaus nützlich anreichern. Nur allzu

ernst nehmen darf man sie nicht. Mal helfen sie, mal stören sie, mal sind sie egal.

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Wie das im Focusing alles gehandhabt wird, brauch ich hier nicht aufzuschreiben.

Auf zwei heikle Punkte will ich auch noch hinweisen. Ich war nicht mit allem glücklich,

was ich da in der Focusingpraxis angetroffen habe. Es gab keine Kultur, es war sogar

etwas verpönt, direkt mit dem Körper des Klienten zu arbeiten. Berührungen,

Bewegungen, Arbeiten mit der Atmung, zu all dem war keine Erfahrung da. Es war

leider üblich, alles, was an Ideen, Gefühlen, Impulsen in einem Focusing-Prozess

auftrat, verbal aufzunehmen und verbal fortzuführen. Ich hatte zeitweise das

unangenehme Gefühl, der Körper würde missbraucht, um Themen und Worte zu

finden, und selber dürfe er gar nicht so recht leben, eben nur als Lieferant von Worten.

Da gabs dann halt zu tun für uns.

Der zweite für mich schwierige Punkt war, dass die „Focusingleute“ kein Verständnis für

energetische Zustände hatten. Was in der Körpertherapie selbstverständlich war, dass der

Therapeut darauf achtete, ob der Klient ganz belebt, vielleicht übererregt war oder

schlaff, müde, das war hier nicht üblich. Es war für mich klar, dass der Focusingprozess

anders würde, je nach dem, ob der Klient sich zuerst etwas bewegen würde oder ob er

aus seiner Schlaffheit heraus in den Prozess einsteigen würde. Das konnte man also für

eine entsprechende Intervention, einen Vorschlag nutzen. Das war aber verpönt. Das

galt eher als unzulässige Einmischung in ein klientenzentriertes Geschehen. „Der Klient

müsste da schon selber drauf kommen und das wollen.“

Es gab so für mich persönlich und für die Theoriebildung im GFK viel Hilfe durch das

Kennenlernen von GT und Focusing. Das Verständnis für therapeutische Prozesse, wie

wir sie suchten, wurde grösser, insbesondere ist ja für die Entwicklung vom zd wichtig,

dass dieser eigenartige Charakter von den verschlauften Prozessen etwas klarer wurde.

Und, fast als Gegenbewegung bei mir, ergab es auch eine grössere Wertschätzung für die

körpertherapeutischen, die Reich`schen Erfahrungen in meiner therapeutischen

Herkunft. Es blieb hingegen dort für mich viel Not im Verstehen. Die Energiefrage war

nach wie vor ungelöst, und wir hatten auch keine Theorie für das energetische

Geschehen, die dem doch verwandten Charakter von Focusing gerecht wurde. Das

Besprechen nach Focusing-Sitzungen mit den Klienten oder mit Ausbildungskandidaten

war ganz ähnlich, wie es nach den Körpertherapiesitzungen stattfand. Im Focusing war

aber immer der Rückgriff auf die Focusing-Theorie möglich, und worauf sollten wir

denn zurückgreifen, wenn theoretische Fragen in der Körpertherapie entstanden? Und

umgekehrt: Wie sollte es denn jeweils weitergehen, wenn ich das deutliche Gefühl nach

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einem Focusing-Prozess hatte, dass ein autonomer Prozess jetzt als Fortsetzung günstig

wäre? Wie krieg ich denn das im Focusing-Verständnis geregelt?

Also, sehr überspitzt und persönlich gesagt, entweder im Focusing mit der potenteren

Theorie bleiben oder in der Reichnachfolge mit der potenteren Praxis. Es war einfach

noch nicht zusammen.

Ich will versuchen, noch einmal einzusteigen in meine Erinnerungen der eigenen

Körpertherapie, wie ich sie in der Reichnachfolge kennengelernt habe, und daraus dann

die Theorie weiterbauen.

Zum Verständnis der „Wellenwelt“So nennen wir heute die therapeutische Erlebens- und Handlungs- und Theorie-Welt,

wenn wir sie mit der energetischen Brille ansehen. Also keinesfalls nur die

Körpertherapiewelt, obwohl die Begriffsbildung stark mit dem dortigen Erleben zu tun

hat.

Obschon ich schon vor der Eigen-Therapie allerlei von Wilhelm Reich gelesen hatte,

waren die Erlebnisse dann oft sehr überraschend. Es traten neue, unbekannte

Gefühlsqualitäten auf, und zwar sozusagen aus heiterhellem Himmel, ohne Veranlassung

in der realen momentanen Situation. Manchmal war es „nur“ die Stärke oder

Eindeutigkeit des Gefühls, die überraschte. Es konnte auch einen neue Mischung sein.

Es war also keineswegs immer besonders klar. Ganz anderes als im Alltagsleben waren

auch die Reihenfolgen in den Prozessen. So konnte es in einer Therapiestunde

vorkommen, dass ich schrecklich traurig war und diese Trauer dann plötzlich in ein

grosses Glücksgefühl kippte. Umgekehrt leider genau so gut.

Eindrücklich waren auch viele körperlichen Geschehen. Es gab da Verkrampfungen im

Körper, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Es konnte wild oder sanft zucken, mich

biegen oder zusammenziehen oder strecken. Oft schnellte ich vom Massagetisch hoch, so

ähnlich wie ein Fisch, den man auf den Boden wirft. Es konnte mich schütteln. Mit

einem Gefühl dazu, aber auch ganz ohne.

Das sind Phänomene, Erlebnisse, die alle mit einer ähnlichen Therapieerfahrung als

selbstverständlich kennengelernt haben. So ist das halt dort. Und gleichzeitig ist es für

das „normale“ Leben ganz schräg, aussergewöhnlich. Das führte oft dazu, dass es eine

Art Eingeweihte gab. Und daneben die Banausen, „die ja keine Ahnung hatten“.

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Besonders eklatant wurde das, wenn sich irgendwelche anderen Therapeuten oder

Psychologieprofessoren Urteile erlaubten, rein theoretisch hergeleitet, ohne diese

Selbsterfahrung gemacht zu haben, ja manchmal sogar mit Verachtung für Menschen, die

sich auf so was Schräges eingelassen hatten, mit Vorwürfen an KollegInnen, die ihre

KlientInnen so unseriös behandeln würden.

Ich bin damit in eine Beschreibung von Phänomenen geraten, die bei „autonomen

Prozessen“ erlebt wurden. Heute ist das unser Fachausdruck. Damals sagten wir

Vegetotherapie dazu, ein Ausdruck von Reich. Was die Klienten tatsächlich machten, war

äusserlich ganz einfach: Auf einer Matratze oder einem Massagetisch auf dem Rücken

liegen, die Knie anstellen und ruhig und gleichmässig atmen (manchmal auch eine

andere Atemform, die sich spontan ergab oder die der Therapeut vorschlug - das will ich

hier nicht alles genauer aufschreiben, das soll in Ausbildungen gelehrt werden. Es

braucht praktische Erfahrung dabei.)

Hilfreich für den Klienten war, sich möglichst nicht an bestimmten Gedanken

festzuhalten, sie eher kommen und gehen zu lassen, sich eher mit dem Körper und mit

Gefühlen zu befassen. Die Praxis hat sich heute im GFK sehr verändert. Es wird wohl

kaum mehr vorkommen, dass einfach solche Therapiestunden gemacht werden wie

damals - hinlegen und atmen und abwarten.

Rückblickend gesehen waren diese Erlebnisse für die Einführung ins zyklische Denken

sehr wichtig, wenn auch nicht unmittelbar. Unmittelbar hat mich die Sache, wie schon

erwähnt, sehr verwirrt. Es gab zu vieles, was üblicherweise nicht auftrat, weder im

Alltagsleben noch in der Schule oder im Studium von Naturwissenschaften. Aber es hat

mich neugierig gehalten, ich wollte mehr verstehen, und ich kapierte bald, dass das

übliche Denken nicht ganz passend war. Es gab kaum „vernünftige“

Prozessentwicklungen, zu viel war sprunghaft, zu viel war nicht linear. Man könnte also

vermuten, dass solche Prozesse für den Therapeuten sehr schwierig zu begleiten sind.

Und das stimmt interessanterweise kaum (in der Praxis, Theorie ist ja eben was anderes,

da sind wir ja dran). Schwierigkeiten gibt es schon, aber die sind eher mit der

mangelnden Selbsterfahrung des Therapeuten verknüpft, so bekommt er vielleicht

Angst, oder er meint, den weiteren Prozessverlauf voraus zu wissen und ähnliches. Die

Schwierigkeiten liegen also eher in der Charakterstruktur des Therapeuten, nicht im

Handwerk, nicht im mangelnden Wissen. Und wieder: Das Handwerk gehört in die

Ausbildungsseminare, zum Hintergrundverständnis will ich hier schreiben.

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Ein erster Zugang, der sich für den Beobachter, also auch für mich damals, aufdrängt,

sind die Bewegungsmuster und die Spannungszustände im Körper des Klienten.

Grossen lokalen Spannungen folgen oft Zuckungen an den Rändern dieser Stellen.

Zuckende Stellen können sich ausbreiten. Es treten dann öfter Wellen auf oder

Vibrationen, die durch Teile des Körpers gehen. Zucken oder Vibrieren sind nur

Spezialfälle von Wellen. Wir sind also vom Beobachter her in einer Wellenwelt. Klienten

erleben das Zucken als Zucken, manche Wellen als Fliessen. Zucken und Fliessen

können mit Gefühlen korrespondieren, allerdings ist diese Korrespondenz nicht immer

gleich. Manchmal erleben die Klienten nur das Gefühl, das von aussen sichtbare

Wellengeschehen ist dann für sie nicht bemerkbar. In diesem Zusammenspiel würde es

sehr kompliziert: Warum jetzt dieses Zucken als Schreck erlebt wird und das scheinbar

ganz analoge als Freude und beim dritten ähnlichen Zucken für den Klienten gar kein

Gefühl da ist? Und warum ist sich der Therapeut manchmal sicher, dass es da um dieses

oder jenes Gefühl gehen muss, während der Klient genau so sicher die Abwesenheit von

solchen Gefühlen behaupten kann? Das ist alles kompliziert, die psychologische Welt

wird hier sehr komplex. Die Wellenwelt bleibt einfach. Es zuckt halt oder es zuckt nicht,

die Wellen verändern sich oder nicht. Und das zu begleiten ist für viele TherapeutInnen

einfach. Nicht für alle: manche sind in ihrem Berufs-Selbstverständnis sehr auf Gefühle

angewiesen: Prozess ohne Gefühle empfinden sie als wenig bedeutungsvoll. Für die

andern gilt, der Klient will weiter oder er will Pause oder er will was anderes: „Klar,

machen wir.“ Für die Wellen ist das vorerst mal alles gleichwertig. Wir, Klient und

Therapeut, lernen zusammen die Wellenwelt dieses Klienten kennen. Und was wir da

kennenlernen, ist bei allen Menschen ähnlich, es ist sogar bei den Säugetieren ähnlich,

und, das lernten wir von Reich, manches scheint noch aus der Evolutionsgeschichte von

Vorläufern von den Säugetieren zu stammen. Allerlei bei diesen Wellenbewegungen

kann man etwa schon bei den Würmern und Raupen gut beobachten. Diese Prozesse

können also helfen, bescheiden zu werden, „es ist ja bei allen ähnlich“, und sie können

auch helfen, sich in die Natur eingebunden zu fühlen, „es geht ja bei allen ähnlich“ und

sie können glücklich machen, „das was ja bei allen ist, das scheint ja auch bei mir

möglich - ist vielleicht doch alles ganz normal und gut bei mir?“. Und für den

Therapeuten, wenn der Klient die grosse Angst kriegt? „Ach ja, das kommt halt und geht

auch wieder.“ Es ist nicht per se, weil es ein starkes Gefühl ist, auch ein wichtiges

Gefühl. Ob es ernst zu nehmen ist, das ist ein anderes Thema, das hat mit der

momentanen Lebenssituation des Klienten zu tun, nicht aber mit dem Geschehen jetzt

in diesem Prozess. Hier verstehen wir das grosse Gefühl einfach als momentane

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Symbolisierung von einer Wellenkonfiguration, diese Konfiguration kann in zehn

Sekunden ganz anders sein, und das Gefühl wird dann auch ganz anders sein oder

einfach verschwinden. Gefühle dürfen kommen und gehen, Gedanken dürfen kommen

und gehen, die Wellen, die Atmung, die bleiben, aber sie entwickeln sich.

Woher kommen denn diese Wellen?

Und damit kommen wir mitten ins zyklische Denken: Jedes Atom schwingt, jede Zelle

pulsiert, sie dehnt sich aus, zieht sich zusammen. Das tönt hier so, als ob die das machen

würde, als ob sie eine Aktivität entwickeln würde, also hier Zelle, da ihre Aktion. Ich

denke aber, dass die so ist, die kann nicht anders, das ist Teil ihres Lebens. Und jede

Zelle ist ja verbunden, nur schon mal rein örtlich, mit Nachbarzellen. Ihre pulsierende

Bewegung stösst an die Nachbarzellen an, und die stossen zurück. Es ist ein ständiges

gegenseitig auf sich Einwirken. Wenn sich die Pulsationen zusammenfinden, wenn

zeitliche Abläufe entstehen, dann sind da Rückkopplungsprozesse im Gang. Der

Beobachter macht daraus eine zusammenhängende Bewegung, und der Körper selber ist

ja in diesem Fall auch sein eigener Beobachter. Es entstehen so im Wahrnehmen

fliessende Bewegungen. Vielleicht auch Stocken, also sich gegenseitig Anhalten, und

dann plötzlich wieder Bewegung. Körperteile können sich verfestigen oder sie sind

schon fest, es gibt da so etwas wie Seile, die können nun als Ganzes schwingen, auch

Membranen können als Ganzes schwingen. Und ein Seil ist wahrscheinlich an

Membranen befestigt, und so können die sich auch in einer gemeinsamen Bewegung

organisieren. Besser gesagt, es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, es ist einfach so. Es

ist sicher sinnvoll, zu denken und zu sagen, dass unsere Körper schwingende Systeme

sind. Es gibt kleine Einheiten mit ihren Eigenschwingungen, auch grössere Einheiten

schwingen, und alle anatomisch möglichen Kombinationen von Körperteilen schwingen

ebenfalls. Der Titel der Überschrift „Wellenwelt“ ist damit hoffentlich begründet. Aber

damit haben wir noch keine brauchbare Hintergrundtheorie. Die Physik ist da wohl

nicht so passend, weil sie keine Verbindung ins Erleben macht.

Die zweite Metapher: Die Wellenwelt der MusikinstrumenteAn dieser Stelle können wir besser einen Vergleich mit Musikinstrumenten machen. Die

Musik ist wahrscheinlich das Gebiet, das am meisten Erfahrung und Theorie mit

persönlichem Erleben verbinden kann. Und fast alle Menschen haben zumindest einen

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kleinen Zugang zu ihr. Sie bietet sich also an für den Versuch, günstige Analogien zu

finden und damit vielleicht auch den Ansatz zu einer eigenen passenden Theoriebildung.

Nehmen wir doch als Ausgangspunkt eine Geige. Damit eine Seite einen hörbaren Ton

machen kann, braucht sie genügend Spannung und dann eine Irritation, etwa ein

Zupfen mit den Fingern oder ein Streichen mit einem Bogen. Die Spannung mit der

Anregung des Bogens zusammen ergibt den Ton. Mit der Festlegung der Spannung wird

auch die Stimmung des Instruments vorgenommen. Und mit den Griffen auf die Seite,

also einer Änderung der schwingenden Länge der Seite, wird die Tonhöhe verändert.

Das ist physikalisch gesehen eine Veränderung der Frequenz, was da die Tonhöhe

ändert. Eine Verstärkung des Bogenstrichs ergibt eine Verstärkung der Lautstärke,

physikalisch gesehen ist dies eine Vergrösserung des Ausschlags beim Vibrieren der

Seite, also eine Amplitudenänderung. Bei der Geige ist auch der Resonanzkörper, also

der Holzkasten, auf dem die Seiten schwingen, sehr wichtig. Er gibt dem Klang

Volumen, er bestimmt weitgehend die Klangfarben. Die Frequenz der

Seitenschwingungen ergibt eine gleichfrequente Schwingung von Luftmolekülen, die

wiederum ihre Bewegung auf unsere Ohren übertragen. Wir hören Töne. Bei ganz

niederen Frequenzen und genügender Lautstärke schwingen auch andere Teile unseres

Körpers mit, vor allem das Bauchfell. Das können wir dann nicht hören, aber spüren.

Wir sagen dazu, gewisse Frequenzen seien im hörbaren Bereich, andere seien im

spürbaren, und es gibt einen Bereich, in dem beides möglich ist. Je nach Person und

ihrem Alter ändern diese Bereiche etwas.

Oben habe ich es schon erwähnt: In unseren Körpern drin ist dasselbe vorzufinden, viel

reicher, viel komplexer. Gewebestrukturen können genügend Spannung haben oder

aufbauen, dass sie bei einer geeigneten Irritation ins Schwingen kommen. Auch

Membranen können schwingen, wie etwa ein Trommelfell oder das Bauchfell. Nun wird

auch die Stauseemetapher, die ich weiter oben eingeführt habe, leichter verständlich.

Eine der Hauptaussagen dort war, dass jeder Teil des Körpers jede „Stausee“-Funktion

übernehmen kann. Das können wir nun verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass

jedes Gewebe so Spannung aufbauen kann, dass es schwingen kann. Natürlich meist

nicht im hörbaren Bereich, aber vielleicht im spürbaren, vielleicht so fein, dass es weder

hör- noch spürbar ist. Es ist die Schwingung aber trotzdem da, und sie macht etwas mit

dem Gesamtkörper. Wir können da auch spekulieren, dass einige der seltsamen

„Wahrnehmungs“-phänome - ich meine solche Beispiele, wo es eigentlich nichts zu

sehen, hören, spüren, riechen gibt - so zustande kommen könnten. Vermutlich haben wir

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„Sensorien“ für mehr Schwingungsbereiche, als wir konkret wissen. Ein Gewebe oder

eine Körperregion kann aber nicht nur zur „klingenden Seite oder zur tönenden

Membran“ werden, es kann auch zum Resonanzkörper für einen schwingenden Teil

werden. Oder ein Teil von uns übernimmt die Aufgabe, andere Gewebe zu irritieren, also

den Ton auszulösen, aufrecht zu erhalten. Wir bespielen uns sozusagen selber. Ich finde,

dass das ein sehr schönes Bild ist. Es gibt also in uns eine ganze Menge von

Instrumenten, wir können sogar immer wieder neue kreieren, und die können mit- oder

gegeneinander spielen. Sie können dezent, wohlklingend, kräftig, dissonant usw. sein.

Wenn wir uns selber als Orchester oder von mir aus auch als eine Band betrachten, dann

ergibt sich die Frage vom Zusammenspiel, vom Stimmen, von Lautstärken Anpassen, ...

Und vor allem: Wie können wir denn einwirken? Oder sind wir einfach der Katzenmusik

ausgeliefert? Kann ich „Tonhöhen“, „Lautstärken“, „Klangfarben“ ändern, willkürlich

ändern? Ja, können wir. Aber der Aufwand ist ähnlich wie beim Lernen eines

Musikinstruments, und wie dort braucht es tägliche Übung. Warum soll die einfach

gestrickte Geige schwerer zu spielen sein als unser hochkomplexer Körper? Wir können

lernen, Spannungszustände zu verändern, das ist leicht einsehbar, vielleicht nicht immer

leicht hinzukriegen. Oft braucht man Hilfe von aussen, den Geigenlehrer, eine

Physiotherapeutin, einen Körperpsychotherapeuten, einen Freund, ... Und wir kriegen

natürlich aus einer Trommel keine Geige gemacht. Aber eine Geige kann auch nicht

tönen wie eine Trommel. Das soll uns also nicht prinzipiell stören.

Ein wichtiges Stück für die Beeinflussung dieses Geschehens haben wir in unserer

Metapher-Übersetzung noch nicht gefunden. Was ist der Ton, die Tonhöhe und

Lautstärke? Lautstärke ist ja noch leicht zu übersetzen: Es gibt „laute“ Gefühle, heftige,

übertönende. Es gibt heftige Körperreaktionen, z.B. Schmerz, oder klare vegetative

Zustände wie Schlaflosigkeit, Übelkeit, Schweissausbrüche. Es gibt Zitteranfälle,

Wadenkrämpfe, Schiefhals. In all diesen Beispielen können wir „laut“ erkennen. Wenn

wir also etwas finden, das diese Symptome verkleinert, dann spielen wir wahrscheinlich

dieses zu laute Instrument auch leiser. Aber es bleibt der Klang, der Ton. Das ist nun

eben die Schwingung im Körper, die Welle mit ihrer Art, insbesondere mit ihrer

Frequenz. Langsamere Wellen können wir sehen als tatsächlich erlebbare

Bewegungswellen durch Körperteile oder manchmal durch den ganzen Körper. Bei

manchen passt das Wort „Welle“, bei manchen, eher schnelleren, passt das Wort

„schütteln“ vielleicht besser, und bei dritten ist es eher ein „Vibrieren“ oder „Zittern“.

Einige solche Wellen sind nicht sichtbar, aber deutlich spürbar als Strömungsgefühl im

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Körper, vielleicht auch als heisse Welle oder kalter Schauder. Und nun brauchen wir

dazu noch ein Qualitätsgefühl, wie wir es ja für die Töne haben. Und das haben wir

tatsächlich in Form von verschiedenen Qualitäten von angenehm und unangenehm,

stimmig - seltsam -unbekannt, passend oder irritieren oder suchend und anderen

Gruppen von Qualitäten. Allerdings, auch wieder wie in der Musik, man muss das

lernen. Es ist nicht einfach gegeben. Tönt eine Geige, klingt sie, macht sie eher Lärm - ist

der Lärm vielleicht sogar passend im Musikstück?

Und dazu nun noch ein Kapitel für unsere Metapher: Für das Klanggefühl braucht es

ziemlich sicher mehrere Menschen, die Musik machen. Heutzutage können das zum Teil

auch technisch hergestellte Beispiele auf Tonträgern sein. Wir müssen einander

zuhören, zusammen spielen, wir müssen beurteilt werden, wenn wir selber Geige

spielen. Es muss sich jemand freuen oder grämen dabei. Kurz, dieses Qualitätsgefühl

wird miteinander hergestellt, das ist kein Ein-Personen-Ding. Das gilt wahrscheinlich

schon für den Klang eines einzelnen Tones, sicher noch mehr für den Klang vom

Akkord, der durch das Zusammenspiel von mehreren Instrumenten hervorgebracht

wird. Vielleicht ist es auch umgekehrt, dass nämlich das Gefühl für den Klang des

Einzeltons erst im Zusammenspiel entsteht. Wie beim Lesen und Rechnen haben wir es

hier mit grundlegenden Kulturtechniken zu tun, die weitergegeben werden zu den

Kindern, die daran aber auch ändern, Neues suchen.

Auch im Menschen gelten für diese energetische Welt, diese Wellenwelt ganz ähnliche

Aufbauthemen wie in der Musik. Die Instrumente mit den schwingenden Teilen, die

wiedererkennbare Qualitäten ergeben, die in der Zeit unserer Erziehung und unserer

Reifung als Töne und Musik wiedererkennbar werden, ja, wo wir auch selber lernen

können, die Instrumente zu bespielen. Genau so unsere Körper mit den schwingenden

Teilen, die wiedererkennbar Qualitäten ergeben, die wir mit der Zeit unserer Erziehung

und Reifung als Gefühle, als Gefühlsabläufe (Gefühlsmusik) wiedererkennen, ja, wo wir

auch selber lernen können, mit uns „zu spielen“, „Gefühlsmusik“ zu machen. Und so wie

es moderne, uns noch fremde Musik gibt, die uns vielleicht sogar Angst oder Unbehagen

macht, genau so gibt es auch neu entstandene Körperschwingungen, die uns Unbehagen

und Angst machen können. Ein unangenehmes Gefühl ist also nicht automatisch

schlecht, vielleicht ist es nur noch nicht gewohnt. Und wenn ich es immer vermeide,

dann bleibt mir wahrscheinlich der Zugang zu einem ganz neuen Gefühlsgebiet oder

Denkgebiet verschlossen.

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Das muss ich hier ja noch anbringen: Für das Denken gilt genau dasselbe wie für die

Gefühlswelt. Unpassenderweise meinen wir oft, Gefühle würden einfach passieren, das

Denken hätten wir aber im Griff, das könnten wir steuern. Ich meine, es ist sinnvoller,

die beiden Prozessarten ganz in ihrer diesbezüglichen Potenz als verwandt anzuschauen:

Das Denken kann einfach so passieren, ohne dass ich dabei noch steuern könnte und

die Gefühle kann ich manchmal gezielt erzeugen. Beide Prozessarten sind sozusagen

funktionell identisch mit einer schwingenden Körperkonfiguration, einem schwingenden

Körperzustand.

Ich bin der Meinung, dass die Pflege der Wellenwelt leider noch viel zu wenig geübt wird

und der Zusammenhang zu Gefühlen und dem Denken weitgehend unbekannt

geblieben ist. Es wird zwar wild drauflos geturnt und Sport getrieben, aber leider mit zu

viel Gewicht auf den Leistungsaspekten - schneller, weiter, kräftiger. Gewinnen ist die

Maxime. Selbst fürs Tanzen werden ständig Leistungs- und Erfolgskriterien aufgestellt.

Es kommt mir vor, als ob ein modernes Orchester noch gar nicht realisiert hätte, dass es

zu Beginn seine Instrumente aufeinander abstimmen könnte. Man steht halt auf und es

beginnt vor sich hinzuwellen (-denken, -fühlen). Dabei könnten wir am Morgen

stimmen. Für die Bewegungsfähigkeit des Körpers machen wir das ja manchmal oder wir

machen es in bestimmten Situationen. Wir könnten das auch für die Denkfähigkeit, für

die Gefühlsvariabilität machen. Da wäre noch allerlei zu untersuchen für das Morgen-

Einstimm-Programm: wofür ist etwa Meditation geeignet, wofür Frühturnen, wofür

Musik hören oder selber spielen, wofür Atemübungen, wofür Zeitung lesen? Was hilft für

meine Denkfähigkeit, was für meine Konzentrationsfähigkeit, was für die Fähigkeit,

mitfühlend zu sein, unabhängig zu bleiben, weich oder hart zu sein im sozialen Kontakt?

usw.

Wieder zurück zum Bewertungsgefühl (angenehm - unangenehm). Auch das wird in uns

mit andern zusammen entstehen oder eben nicht. Es wird deutlich werden, es gibt mit

der Zeit Sprache dafür, Erfahrung wird ausgetauscht, andere beobachten uns, wir die

andern. Ähnlich wie Klänge, Töne miteinander schwingen, so schwingen auch Körper,

ihre Bewegungen, miteinander. Es ist ein kontinuierlicher Tanz, der da stattfindet. Und

die Kinder und die Erwachsenen erleben, dass auf ihren Tanz eingegangen wird oder

nicht, dass ihr Bewegungsfluss vielleicht sogar gebrochen wird, das ihr Tempogefühl von

ihrer Umgebung nicht beachtet oder sogar verletzt wird. Es ist hier also ein grosses

Lerngebiet für Kinder vorhanden, grösser als das Musizieren und wahrscheinlich

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wichtiger, existenzieller, weil umfassender, weil auch beim Musizieren wichtig oder

grundlegend.

Ich möchte an dieser Stelle nochmals zu einem eher allgemeinen Schwingungsthema

zurückkehren. Es ist wichtig in der Musik und es ist eben auch ganz wichtig in der

Körperpsychotherapie:

Resonanz, Resonanzgeschehen, ResonanzkörperImmer wieder tauchen diese Begriffe in meinem Text auf, sogar explizit mit der

Bemerkung versehen, ich müsste das dann genauer beschreiben. Nur hab ich es bisher

nicht gemacht.

Ich will an die verwendeten Zusammenhänge erinnern:

Bei den Charakterstrukturen soll man eigene Resonanzen zu Geschehen bei andern

kennenlernen, ja sie sogar entwickeln.

Bei den Bindungsqualitäten soll man anhand einer eigenen Resonanz wahrnehmen

können, ob eine solche Qualität da ist oder nicht.

Im Kapitel der energetischen Brille wird die Arbeit in der Wellenwelt weitgehend mit

Hilfe des Resonanzgeschehens erlebt und gesteuert. Das ganze Stimmen, von dem ich

grad geschrieben habe, geht ja über so einen Resonanz-Abstimm-Prozess.

Und wahrscheinlich können wir unser Erleben nur mit Hilfe von vielfältigem

Resonanzgeschehen einordnen.

Es sind also in unseren Modellen ganz zentrale Begriffe, sie meinen ganz zentrale

Prozesse.

Jeder Gegenstand hat, wenn man an ihn klopft, sein eigenes Klangverhalten. Mit dem

Löffel auf den Teller, mit den Weingläsern anstossen, der Stuhl an den Heizkörper, eine

Gitarrenseite zupfen, ... Wir kennen alle viele solcher Beispiele, und oft erkennen wir die

Gegenstände an ihrem Klang. Jeder Gegenstand hat eine oder mehrere charakteristische

Schwingungsverhaltensweise, wenn er irritiert wird. Wir sagen dazu, er habe eine (oder

mehrere) Eigenschwingung(en). Wenn diese Schwingung im hörbaren Bereich sind, also

etwa zwischen 40 und 15000 Herz (Schwingungen pro Sekunde), dann wird es ein

Klang. Ausserhalb dieser Bandbreite kann die Eigenschwingung trotzdem spürbar oder

wirksam oder messbar sein. Das vertrauteste Beispiel ist wohl die Seite eines

Musikinstruments. Damit eine ihrer Eigenschwingungen in den hörbaren Bereich gerät,

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muss sie eine geeignete Spannung haben. Wenn wir zusätzlich ihre Länge verändern,

etwa dadurch, dass wir den Finger an verschiedene Stellen auf den Steg des Instruments

legen, dann kommen auch verschiedene Eigenschwingungen, Töne, hervor. Wenn nun

ein anderer Gegenstand in der Nähe ist, vielleicht sogar an der Seite anliegt, der auch

eine Eigenschwingung im hörbaren Bereich hat, dann kann die klingende Seite den

zweiten Gegenstand zum Klingen bringen. Ein schwingungsfähiges Medium, z.B. Luft

oder Wasser, überträgt die Schwingung des ersten Gegenstandes, eben in unserem

Beispiel die Schwingung der Seite. Wenn dieses Geschehen gelingt, sagen wir, dass die

zwei Gegenstände in Resonanz sind. Sie schwingen zusammen. Zusammen heisst aber

nicht automatisch mit demselben Ton, also derselben Schwingung. Der zweite

Gegenstand kann auch nur in einer seiner Eigenschwingungen klingen. Der erste Ton

wirkt also einfach als Auslöser, wie der Löffel auf den Teller. Der Ton des Tellers hört

sofort wieder auf. Damit es „Musik“ gibt ,muss das kleine Kind den Schlag mit dem

Löffel ständig wiederholen. Im Fall von zwei Seiten, etwa eines Klaviers, bei dem das

Pedal gedrückt bleibt, können zwei Töne bleiben, sich gegenseitig zum Klingen bringen.

Das geht aber nur bei geeigneten Längen der Seiten, sie müssen Ober- respektive

Untertöne voneinander sein. Die Schwingungszahlen müssen in günstigen Verhältnissen

zueinander sein. Das braucht uns hier nicht genauer zu interessieren, es ist Thema der

Theorie der Instrumente, respektive ihrer Physik.

Wenn wir nun aber in der Körperpsychotherapie, also zwischen Menschen, von

Resonanz reden, dann meinen wir den Fall, dass ein „Ton“ einige Zeit bleibt oder eben

auch, dass er immer wieder ähnlich „angeschlagen“ wird. Damit wir körperliches

Geschehen überhaupt wahrnehmen können, muss es einigermassen lange, langsam,

sein. Ein paar Sekunden mindestens, kürzere „Klänge“ geben höchstens eine weitere

Irritation, nicht das, was wir unter Resonanz verstehen. Wir meinen ja ein eigenes

Schwingungsgeschehen, das wir eben als eigenes erkennen, dem wir einige Zeit

nachgehen können, das uns einen Sinn macht, zumindest eine Ahnung von Sinn. Nun

ist das Schwingen in unseren Körpern kaum direkt Klang, ausser beim Singen. Wir

nehmen es wahr als flattern, spannen, zucken. Und wir erleben das in menschlichen

Kategorien als Gefühle, als Schmerz oder Wohlgefühl, wir sind irritiert oder fühlen uns

geborgen, und vieles mehr. Und, wie oben schon geschrieben, denken wir in der

Köperpsychotherapie, dass zu jedem Gefühlszustand ein Schwingungs-Spannungs-

Geschehen im Körper da ist, ja dass das zwar individuell verschieden erlebt wird, aber

eigentlich dasselbe ist in dem Sinne, dass es das eine nicht ohne das andere gibt. Es ist

eins. Erleben tun wir Gefühlszustände, physisch sind Schwingungen und Spannungen

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da. Wieder wie bei der Geige: Erleben tun wir Musik oder zumindest den Versuch dazu,

und physisch sind Schwingungen und Spannungen da.

Ganz wichtig ist aber zu bedenken, dass das Resonanzgeschehen zwischen zwei

Menschen zwar gegenseitig bedingt ist, dass aber nicht automatisch auf die

Ursprungsschwingung geschlossen werden kann, weil ja eben nur Eigenschwingungen

stattfinden. Also, wenn etwa bei mir als Mitschwingendem eine Resonanz entsteht, ein

Schwingungsgeschehen, das ich von mir ganz eindeutig als Angst erkenne, dann heisst

das überhaupt nicht (überhaupt nicht!), dass die andere Person selber Angst hat. Es kann

durchaus richtig sein, dass die andere Person das Resonanzgefühl in mir ausgelöst hat,

aber sie hat eben eine Eigenschwingung von mir ausgelöst, also auch ein Gefühl von mir.

Zusammenfassend, zwei Metaphern:Wir haben bisher also für das Verständnis der Wellenwelt im Menschen und zwischen

den Menschen und von den Menschen zur Natur zwei Metaphern zu Hilfe genommen.

Die Stauseemetapher, sie befasst sich vor allem mit der Energievorstellung für die

Wellenwelt, und die Musikmetapher, sie befasst sich vor allem mit den Formen und

ihrem Zusammenspiel in der Wellenwelt.

Was heisst das alles nun für unser Denken, inwiefern helfen diese Vorstellungen bei der

Entwicklung und beim Verständnis unseres speziellen Denkstils? In der

Stauseemetapher wird deutlich, dass es ungünstig ist, sich die Energie als irgendeinen

geheimnisvollen Stoff zu denken. Hingegen ist es sinnvoll, sie als Vergleichszahl der

Arbeit, die ein Prozess braucht (oder liefert) zu verstehen. Also nicht das Wasser oder

eine zusätzliche Substanz in ihm drin ist die Energie, sondern es ist die Fähigkeit, über

die Entleerung des Wassers über ein Wasserrad, das dann in eine rotierende Bewegung

gerät, andere Maschinen anzutreiben, die diese Rotation aufnehmen können. Der

Prozesss „Entleerung“ geht über den Prozess „Drehen des Wasserrads“ zu den Prozessen

„Drehen der Sägen und Mühlen“. Wenn wir nun festlegen (eine Einheit wählen), dass

das Drehen einer Maschine während einer Woche die Energie EINS hat und der Stausee

die Fähigkeit besitzt, tausend solcher Maschinen während einer Woche zu drehen, dann

sagen wir, dass der Stausee die Energie TAUSEND hat.

In unserem menschlichen Erleben wählen wir auch solche Einheitsenergiegrössen, z.B.

das Lebensgefühl, etwa das Gefühl, arbeiten zu können, an einem durchschnittlichen

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Tag. Am nächsten Tag vergleichen wir damit das aktuelle Gefühl, unsere Fähigkeit zur

Arbeit und sagen dann, „heute habe ich keine Energie“, oder „heute habe ich soviel

Energie, ich könnte Bäume ausreissen.“ Wir wissen, dass das sehr subjektive Aussagen

sind. Wenn der eine sagt, er hätte keine, so ist es wahrscheinlich immer noch zehn mal

mehr als bei einem speziell Lahmen. Für die Alltagssprache ist das genügend tauglich.

Wir wissen im grossen Ganzen, was wir mit solchen Aussagen meinen. Für eine

„Fachsprache Psychotherapie“ ist das zu ungenau. So können wir feststellen, dass an

einem scheinbar energielosen Tag die Energie, also die Fähigkeit, Prozesse zu machen,

nicht einfach überhaupt weg ist, sondern dass sie teils weg ist. Sie ist weg für das

Arbeitsgefühl, aber vielleicht braucht der Prozess“ krank sein, Fieber haben“ ganz viel

Energie. Oder das Gefühl Lebenslust hat ganz wenig „Saft“, dafür geht jede Menge

Aufwand in schlechte Gedanken, miese Gefühle, es wird vielleicht herumgeklönt,

schlechte Laune sogar an seine Umgebung weitergegeben. Alles braucht viel Energie,

Kunststück ist keine da für die Lebenslust, wie man sie an einem andern Tag erlebt hat.

Wenn nun das subjektive Erleben sagt, „heute keine Energie“, so kann nun der

Psychotherapeut dem Klienten anbieten, sich nach und nach ein differenzierteres

Verständnis von solchen Zuständen zu erarbeiten. In der Metapher:

. der Stausee kann zu wenig Wasser haben

. es hat zwar genug, läuft aber in die falschen Bahnen

. zwischen See und Turbine ist zu wenig Höhenunterschied

. die Röhre zur Turbine oder zur Mühle ist verstopft

. der Schieber zwischen See und Röhre, also der Verschluss oder die Öffnung der

Staumauer, der ist zugebacken, lässt sich nicht bewegen

. oder der Staumauer-Wart hat vergessen, wie er zu bedienen ist

. es kommt zu viel Wasser runter und die Turbine überdreht gleich, läuft heiss

. die produzierte Drehzahl der Turbine passt gar nicht zur Maschine, die gedreht werden

soll

. usw.

Die Aussage des Klienten kann natürlich auch heissen: seit Jahren habe ich die Freude

verloren. Oder: ich hab keine Interessen, ich werde immer so müde, zuhause geht’s, aber

bei der Arbeit nicht, ...

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Die oben genannten Ideen zu der unerwünschten Situation kommen aus der Stausee-

Metapher. Aus der Musik-Metapher gibts natürlich auch Ideen:

. der Einstimmvorgang am Morgen läuft schief

. die Resonanz zwischen inneren Prozessen, die die Energie liefern müssten, und den

erwünschten äusseren Prozessen, .z.B. der Arbeit, harmoniert nicht

. meine Schwingungsformen passen schlecht zu denen der Mitspieler, ich bin immer

schneller

. usw.

Das tönt jetzt wahrscheinlich einfach, und es bleibt ein und „doch, was ist sie denn, die

Energie, müsste es nicht doch etwas sein?“ Dahinter steckt die Gewohnheit, unter etwas,

für das wir einen Namen gefunden haben, sich auch etwas vorzustellen. Und weil unsere

Welt, unser Denken so „Ding“-geprägt ist, wird diese Vorstellung auch dinglich. Ich hab

weiter oben geschrieben, „Eine Zelle pulsiert und das ist einfach so, sie ist so, wenn sie

lebt.“ Es ist nicht sinnvoll zu denken, „es gibt eine Zelle, so ein Ding und die hat noch

etwas, ein anderes Ding in sich, nämlich die Bewegung.“ Damit ich mir die Bewegung

wirklich vorstellen kann, damit das auch einen sinnlichen Bezug gibt, muss ich mir das

Ding, die Zelle mit einem zeitlich-örtlichen Veränderungsprozess vorstellen können. Die

Bewegung ohne Zelle, das geht nicht, das wäre dann nur Wortgeklimper. Und mit der

Energie ist es jetzt noch etwas komplexer, aber im Prinzip gleich. Ich stell mir einen

Prozess vor (etwa die pulsierende Zelle) und einen andern (etwa einen arbeitenden

Muskel, der die Zelle enthält) und kann nun die Arbeit dieser beiden Prozesse

vergleichen. Und so können wir uns vorstellen, dass sich der eine Arbeitsprozess aus

anderen Arbeitsprozessen zusammensetzt. Der Muskel(-Prozess) hat seine „Energie“ aus

den „Energien“ der Zellen (der Zellprozesse). So wie ich mir die Bewegung nicht ohne

Ding vorstellen kann, so kann ich mir die Energie nicht ohne zumindest zwei

austauschende Prozesse vorstellen. Wenn man so konsequent weiterdenkt, kann man

diese Vorstellung zu einem Prozessmodell ausbauen, indem wir uns vorstellen, dass ja

auch in der Zelle viele Unterdinge enthalten sind, sie daraus besteht, und all die sind

wieder im Austausch. Also besteht auch „die Energie der Zelle“ aus den Energien der

Zellteile. Wir landen im Atommodell oder aber wir sagen, alle diese scheinbaren Dinge

haben ja nur eine gedachte Konstanz (nur eine gedachte Existenz). Wir können uns

gleich alles als Prozesse vorstellen und einfach für unsere Wahrnehmungsfähigkeit

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länger gleichbleibende Situationen dann als Dinge bezeichnen. So gedacht besteht die

Welt (der Weltprozess) aus Prozessen, und manche davon haben eher

Veränderungscharakter, die sehen wir als z.B. Bewegungsprozess, und andere haben eher

für unsere Wahrnehmung Konstanzcharakter, zu denen sagen wir Dinge.,

So ist Klarheit entstanden über diese Frage, was denn diese spezielle Orgonenergie von

Reich sein könnte und ob er denn ein spezielles Energiekonzept verlangt, wie es etwa

mit der so genannten „Feinstofflichkeit“ in manchen esoterischen Konzepten behauptet

wird. Es ist klar geworden, wir brauchen kein spezielles Konzept für den Energiebegriff,

das naturwissenschaftliche ist zufriedenstellend. Um zum Kalauern, es reicht für Reich.

Und wir haben über die energetische Brille, über die Verallgemeinerungskonzepte aus

der Körpertherapie in die Wellenwelt eine Prozessvorstellung gefunden und sind damit

in Verwandtschaft zu der Theorie vom Focusing gelangt.

Es bleibt natürlich die Frage, welche Wissenschaft welche Prozesse anschaut. Und da

haben wir ein eigenes Gebiet, neben der aktuellen Naturwissenschaft, insbesondere

neben der Medizin, zu pflegen. Unsere Prozesse, die wir speziell betrachten, wenn wir

energetisch denken, sind die Wellenprozesse (in der Welt, die durch die Betrachtung mit

der energetischen Brille entsteht) und die Erlebensprozesse (vor allem in der

Focusingwelt). Das dürfen wir jetzt nicht zu eng verstehen. Ich meine damit nicht das

Untergebiet der Körpertherapie und schon gar nicht das noch kleinere Gebiet der

sichtbaren Wellenbewegungen im Körper des Klienten. Und ich meine nicht, dass im

Focusing keine Wellen wären und in der Wellenwelt nicht doch auch das Erleben ganz

wichtig ist. Nein, ich meine, dass was wir sehen, hören, spüren, denken können, wenn

wir prozesshaft wahrnehmen. So kann uns also z.B. auffallen, dass der Brustkörper

speziell ruhig ist, dass die Stimme schriller ist, und ähnliches. Das sind immer

Vergleichswahrnehmungen: der Brustkorb ist heute ruhiger als letzte Woche oder als der

eines andern Klienten. Die Stimme dieser Frau klingt anders als die Stimme anderer

Frauen, eben irgendwie schrill. Es sind immer Vergleichswahrnehmungen, wir können

auch sagen, „Wahrnehmungen 2. Ordnung“, weil sie nur im Vergleich von zwei

wahrnehmbaren Situationen Sinn machen. Bei Wahrnehmung 2. Ordnung (W2) stellt

sich immer die Energiefrage. Wo steckt die Energie, die letzte Woche den Brustkorb

bewegt hat. Woher kommt die Ladung, die diese Stimme so zum Umschlagen bringt, sie

schrill macht? Es hat sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, sich den folgenden Satz

als Leitsatz für die W2 zu nehmen: Ein Mensch hat immer gleich viel Energie - die Frage

ist nur, wo sie steckt.

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Die Wellenwelt in der PsychotherapieKurz gesagt können wir also jeden Körperzustand als Pulsationszustand ansehen. Welche

Zellen, Regionen, Organe pulsieren stark oder eingeschränkt oder rhythmisch,...? Und

viele ähnliche Fragen. Und jede Bewegung können wir sehen als Kombination, als

Muster von Pulsationsabfolgen. Wir können so irgendein körperliches Geschehen direkt

einordnen in diese Wellenwelt, die Welt von Mustern aus Pulsationen und verschiedenen

Wellen. Diese Wellenwelt hat ihre Gesetzmässigkeiten, die kann man erfahren, man kann

sie lehren und lernen, übend sicherer werden. Man muss nicht immer über ein

psychologisches Deuten gehen, auch nicht über ein psychologisches Verständnis des

Klienten selber. Es entsteht mit der Zeit in jedem Klienten, oder beim Therapeuten für

jede Klientin, eine Sicherheit in diesen Wellen. Wie ist das in einem befriedigenden

Sinn zu verändern, welche Wellen gehören zusammen, wie können sie auseinander

entstehen. Und vor allem, drittens, zwischen Wellen können wir Verwandtschaften

erkennen und mehr noch, zwischen zwei (Gegenständen, Personen) entsteht ein

zusammen Schwingen, es gibt Resonanzen, Dissonanzen, Harmonie, Verstärkung,

Aufhebung, Interferenz, usw. Wir haben so eine Variante von emphatischem „Verstehen“

gefunden, das nicht über Inhalte, Bedeutungen geht, sondern direkt über miteinander

Schwingen, gemeinsame Wellen.

Es gibt in dieser Welt sehr viel zu entdecken. Ich glaube, die Körperpsychotherapie ist

hier erst am Anfang. Sie hat zwar inzwischen ein paar Dutzend Jahre Erfahrung, aber im

Vergleich mit anderen Gebieten, anderen Wissenschaftszweigen ist das a) eine kurze

Zeit. Und erschwerend kommt b) dazu, dass das Beobachten und Nachdenken in diesem

neuen Gebiet oft so anders geht. Nicht zuletzt darum habe ich mir ja soviel Gedanken

gemacht um einen passenderen Denkstil. Und leider, c), die verschiedenen

Therapieschulen haben es nicht leicht, sich untereinander zu verständigen. Es gibt noch

keine allgemein anerkannte Sprache, kein allgemein anerkanntes Einordnungssystem für

Beobachtungen. Der Austausch von „Wissen“ ist nicht gesichert, ja noch nicht mal, was

denn „Wissen“ sei, was blosse Behauptung, was denn eher in den Bereich von

Behauptungen, Ideologie, Glaube, Wahrnehmungsverzerrung, ... gehört.

Trotz dieser schwierigen Situation, einem eigentlich noch vorwissenschaftlichen Zustand

des ganzen Gebiets, ist es wichtig, persönliche Erfahrung zu teilen, untereinander zu

bereden, zu überprüfen. Es fehlen allerdings zwei wichtige Instrumente der

Naturwissenschaften: das wiederholbare und so von andern überprüfbare Experiment

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und die gemeinsame Sprache der Mathematik. Warum sich diese beiden Mankos

zwingend, nicht nur vorübergehend, ergeben, will ich ganz kurz erläutern.

Obwohl vieles, was in dieser energetischen Weltsicht wahrgenommen werden kann, bei

allen Menschen gleich ist, ja vieles sogar bei den Tieren vorkommt, bleibt eben das

Erleben das Wichtigste. Und das Erleben ist nicht nur in seiner Bewertung persönlich,

sondern es ist in seiner ganzen Art, in seiner ganzen Entstehung individuell. Es ist eben

nicht das Zittern der Bauchmuskulatur interessant, sondern dass bei diesem zitternden

Bauch Angst entsteht und beim andern Freude und beim dritten Aggression. Und da

spielt dann immer die Geschichte des betreffenden Menschen eine wichtige Rolle und es

spielt die momentane Situation eine wichtige Rolle und es spielt die

Gesamtkonfiguration des Betreffenden die Haupt-Rolle - kurz, es ist zu komplex. Und

Vereinfachen bringst's nicht, gibt nur Unsinn. Es gibt prinzipiell keine wiederholbaren

Situationen. Und für die Schwierigkeit der Mathematisierung möchte ich zwei Gründe

nennen. Es gibt kaum zweiwertige Situationen, man kann also kaum für irgendwelche

wesentlichen Fragestellungen jeweils ein Nein oder Ja finden. Und statistische Aussagen

werden Unsinn, wenn mit linearen oder auch nur stetigen Funktionen gearbeitet wird.

Die zu untersuchenden Prozesse sind weder das eine noch das andere. Fragebogen, die

oft mit „finden Sie oder finden Sie nicht?“ und dann mit minus drei bis plus drei

beantwortet werden können, ergeben unsinnige Resultate, und dass sich diese mit einer

grösseren Zahl ausmitten liessen, ist reiner Aberglauben. Bleibt ein Ansatz wie die

Synerkgetik, der mit reinen Korrelationen arbeiten. Mein Mitautor Ulrich Schlünder

arbeite sich grad am Thema ab. Ich habe bisher den Eindruck, dass das zwar riesig viel

Arbeit macht, viel Futter für Forscher gibt, aber kaum Resultate bringen kann. Aber das

wäre schon eine grössere Diskussion. Ich hoffe, Uli leistet sie.

Und ähnlich, wie aus dem Zusammenspiel von Sprache und Körper die dialogische

Körperarbeit entstanden ist, so entsteht nun aus der Wellenwelt die Arbeit und das

Verständnis der „autonomen Prozesse“. Wir sagen manchmal auch „die Arbeit vom sich

innerlich Überlassen“ dazu. Das ist ein Wortungetüm und darum nicht gut geeignet für

den alltäglichen Sprachgebrauch, aber die Bezeichnung macht deutlich, worum es hier

geht.

Die zwei, Therapeutin (1.) und Klient (2.), werden (3.) zu einem schwingenden System.

Ganz spannend, hilfreich erwies sich, (4.), die Denkmöglichkeit, dieses System als neues

eigenes Lebewesen zu verstehen. Dieses Lebewesen hat eine eigene Geschichte, es

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entsteht, kann genährt werden, gestärkt werden, es hat einen Rand, es kann nach aussen

wirken usw. Wenn man sich das genügend deutlich präsent macht, bleibt es nicht nur

eine Denkmöglichkeit, sondern es wird erfahrbar, es lebt „tatsächlich“.

Mit der dialogischen Körperarbeit, mit Focusing, mit der Wellenwelt sind wir in drei

zyklischen Gebieten. Also drei Gebieten, in denen wir vorteilhaft auch zyklisch denken.

Die dialogische Körperarbeit ist ja keine Einweginstruktion oder Behandlung, sondern

ein gemeinsames, sich gegenseitig anstossendes, sicherndes Tun und hat so

Eigenschaften, die im darüber Nachdenken auch vorkommen sollten. Das Denken sollte

ja die Form des Handelns und Erlebens nachvollziehen können oder manchmal auch

vorausgehend passende Ideen liefern. Ebenso beim Focusing, das ja sowieso zyklisch

aufgebaut ist, schon so von Gendlin gedacht wurde. Und auch in der Wellenwelt, wie

man sich leicht am Beispiel der Atmung immer wieder vergegenwärtigen kann, ersieht

man den zyklischen Charakter dieser Welt. Atmung hat die Form eines sich

wiederholenden Zyklus und die Atmung ist so typisch mit anderen Zyklen, biologischen

und psychischen, verschlauft.

Also diese drei Ergänzungen, Abänderungen der von uns vorgefundenen Körperarbeit

passen gut ins zd, ja, unserer Meinung nach erfordern sie eigentlich den zd.

Damit eröffnen sich nun auch andere Gesichtspunkte, andere Arten, über das

therapeutische Geschehen nachzudenken.

Und darüber hinaus: Damit, dass wir so deutlich im prozesshaften Handeln waren, sind

wir auch in die Nähe von Theorien gerückt, die viel versprechend, spannend waren. Die

Systemtheorie liegt nahe und die Chaostheorie liegt nahe. Und natürlich, weil es in der

Körpertherapie ja sowieso auch immer um physiologische, um biologische Prozesse und

darin um die Fragen der Steuerung geht, die ganze Hirnforschung lag für uns auch in

der Nähe. All diese anregenden Theorien und Untersuchungen konnten wir nun

zusammen aufarbeiten, in Zusammenhänge mit unserer Arbeit bringen. Keine der

erwähnten Theorien halte ich für grundlegend für die Körperpsychotherapie. Aber jede

liefert Vorstellungshilfen, Denkhilfen für das sich „Bewegen“ in der Wellenwelt.

Ich bemerke an dieser Stelle, dass ich da etwas linear beschreibe, was gar nicht linear

verlaufen ist. Das Bewusstsein für den zyklischen Denkstil, das gab es ja noch lange

nicht, zumindest nicht in expliziter Form. Wir bemerkten aber z.B., dass gewisse

Denkfiguren, etwa beim Besprechen von Wellengeschehen nach einer Sitzung, eine

ähnliche Form hatten wie sie beim Beschreiben von Focusingprozessen entstanden:

Klient und Therapeut beschreiben beide je einen Erlebensprozess, der Rudimente von

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Sinn „enthält“. Über das Reden und einander Zuhören geht der Erlebensprozess weiter,

das Erleben verändert sich, dadurch geht die Bewegung des Erzählens zeitlich nach

hinten und nach vorn, ja man bemerkt, dass diese Zeitachse gar nicht so passend ist. Das

Geschehen und Verstehen hat oft eher eine andere Form. Der Zeit- und Erlebens- und

Versteh-Prozess ist, wie wir heute sagen, zyklisch.

Das zweite grosse Thema (neben der Energiefrage), das Deuten von körperlichen

Zuständen und körperlichen Prozessen, wie es historisch auf einem psychoanalytischen

Hintergrund gegeben war, das konnten wir weglassen und uns damit davon lösen, immer

Anleihen in einer fremden, nicht so recht passenden Theorie zu machen.

Wie beschrieben ersetzten wir das Deuten durch:

- die oben erwähnte dialogische Körperarbeit

- Focusing, in dem der Klient selber Bedeutungen sucht, selber mögliche Entwicklungen

ahnt und probiert

- die Wellenwelt und damit

- die autonomen Prozesse und damit

- eine neue Art von Sinnbildung mitsamt

- einem neuen Konzept von Lebewesen und der damit verbunden Theorie der

Bindungsarten

Es entstand also durch die therapeutische Arbeit und in der Beziehung zwischen

Klientin und Therapeutin ein sich fortsetzender Verständnisprozess oder zumindest ein

Prozess, in dem nächste Schritte aufschienen. Wir mussten nicht mehr auf ein

Annahmensystem des Therapeuten, wie es die psychoanalytische Vorstellungswelt war,

zurückgreifen und damit das Erleben der Klientin „deuten“. Der Veränderungsprozess

des therapeutischen Geschehens bleibt mehr in der Verfügungsmacht der Klientin, auch

wenn oder grad weil auch ihr Körper „mitspricht“.

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