100
Teil A Vertrauen Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten Schumacher Copyright # 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,Weinheim ISBN: 978-3-527-50371-1

Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Teil AVertrauen

Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 2: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete
Page 3: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

1Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit

durch Vertrauen

Eines der beherrschenden Managementthemen der nächsten zehnJahre wird »Vertrauen« heißen. Zwar ist heute eine gewisse Ver-trauens-Rhetorik zu beobachten. Sie wird zunehmend, wenn auchnoch zu langsam, im Führungs-Handeln konkreter werden.Grundsätzlich wird zukünftig, wie es sich heute in vielen Fällenschon abzeichnet, das Ausmaß und die Belastbarkeit des in einerOrganisation vorhandenen Vertrauens die entscheidende Rollespielen: Es sorgt für die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeiteines Unternehmens.

Um nicht missverstanden zu werden: Die hier angesprocheneVeränderungsbereitschaft ist keinesfalls Selbstzweck oder Gedan-kenspielerei. In meiner Beratungspraxis habe ich einfach zu vieleManager gesehen, die ihr Unternehmen mit einem Anspruch despermanenten Wandels und einem ständigen »auf zu neuen Ufern«schlichtweg überforderten. Bei solchen Veränderungen um derVeränderung willen ist es ganz und gar unerheblich, ob es sich beiden neuen Ufern um Produktneuheiten, eine veränderte Vertriebs-strategie, das Umkrempeln der Organisationsstrukturen oder an-dere Themen handelt. Beachten Sie deshalb bei jeder Veränderungund auch beim Beschreiten der hier vorgeschlagenen Wege:

Jedes Unternehmen braucht Phasen der Ruhe.

Solche Ruhephasen dürfen sich allerdings nicht zu einer ArtWinterschlaf ausdehnen, in dem über lange Zeiträume jeglicheVeränderungsprozesse blockiert und verhindert werden. In diesemanderen Extrem, der starren Ruhe, verhindern innere Widerständedie Weiterentwicklung vieler Unternehmen. Es ist jenes Festklam-mern am Status quo, das dazu führt, dass Wettbewerber vorbeizie-

29Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 4: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

hen. Es ist nicht primär die Lösung fachlicher Fragen. In diesemSinne haben so viele Unternehmen keine Erkenntnis-, sondernUmsetzungsprobleme. 11)

Ob es nun gefällt oder nicht: In schnelllebigen Zeiten raschertechnologischer Veränderungen und kurzer Innovationszyklenwird die Fähigkeit, gleichsam »von innen« – also nicht vom Auf-sichtsrat oder Anderen vorgegeben – die notwendigen Verände-rungsprozesse einzuleiten und vor allem auch konsequent umzu-setzen, zu dem kritischen Erfolgsfaktor im Wettbewerb.

Wodurch also entsteht diese Fähigkeit zur Veränderung; wasmacht sie aus? Ich bin zu tiefst davon überzeugt, dass es nicht dieviel zitierten Management-Werkzeuge von Business Prozess Re-design bis Total Quality Management sind; genauso wenig wie dieFrage, ob Veränderungsprozesse von oben vorgegeben (top down)oder unter breiter Beteiligung der Mitarbeiter (bottom up) durch-geführt werden, irgendeine Relevanz hat. Etwas ganz anderes istentscheidend:

Es gibt eine alles andere überragende Quelle, aus der sichVeränderungsbereitschaft und -fähigkeit speist: das im Unter-nehmen vorhandene Vertrauen.

Was ist nun Vertrauen im Unternehmen? In meinen Ausfüh-rungen möchte ich den Begriff »Vertrauen« auf folgendes konzen-trieren: Vertrauen im Unternehmen zeigt sich einerseits in derZuversicht der Mitarbeiter in die Führungskräfte. Das Vertrauender Mitarbeiter setzt darauf, dass deren Handeln die Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens positiv beeinflusst.Andererseits vertrauen die Führungskräfte darauf, dass jeder ein-zelne Mitarbeiter seinen bestmöglichen individuellen Beitraghierzu leistet.

Das Ausmaß des im Unternehmen vorhandenen Vertrauens istoffensichtlich ein wesentlicher Grund dafür, dass Unternehmenbei vergleichbaren Rahmenbedingungen solch unterschiedlicheErgebnisse erwirtschaften. Die Drogeriemarkt-Kette dm ist ein gu-tes Beispiel. Die Nivea-Creme ist exakt die Gleiche wie in den Re-galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet

Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit durch Vertrauen30

Page 5: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

relativ wenig Raum für produktbezogene Differenzierungen. Diegesamte Branche leidet unter Margenerosion und die Zurückhal-tung der Verbraucher tut ihr übriges. dm trotzt all dem undwächst profitabel weiter, wie in jedem Jahr, mit zweistelligen Pro-zentsätzen. Auch große Investitionen werden aus dem Cashflowbestritten. Götz Werner, Gründer und Chef von dm, führt seinenErfolg auf die ungewöhnliche Unternehmenskultur zurück, diesich um einen Begriff rankt: Vertrauen. Dass Lehrlinge hier»Lernlinge« heißen und niemand hier von Personalkosten, son-dern von »Mitarbeitereinkommen« oder »Kreativposten« spricht,ist viel mehr als bloße Wortspielerei. 12) Sein Führungsverständnisklingt nachahmenswert: »Wir können uns im Wesentlichen nurdurch die Art und Weise differenzieren, wie das Unternehmen ge-führt wird. Unsere Leute haben Vertrauen in die Firmenleitung,weil wir unsere Ankündigungen auch umsetzen und weil wir denSinn und Zweck wichtiger Veränderungen erläutern. Das sind ein-fache Dinge mit sehr hoher Wirkung.« Insofern überrascht esnicht, dass der zweite von drei Unternehmensgrundsätzen lautet:»Den zusammenarbeitenden Menschen Entwicklungsmöglichkei-ten bieten.“«

Seit fast zwanzig Jahren genieße ich in meiner Beratungsarbeitdas Privileg, Unternehmen bei unterschiedlichen Veränderungs-prozessen zu begleiten. Dabei geht es teilweise um harte Ein-schnitte mit Kostensenkungen und Personalabbau. Bei Firmenaus Liberalisierungsmärkten, wie zum Beispiel aus der Energiever-sorgungswirtschaft, mussten alte, über Jahrzehnte gewachseneZöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete Strukturen aufgebrochen werden. Unddas alles innerhalb kürzester Zeit. Während dieser Arbeiten habeich mir immer wieder folgende Frage gestellt: Warum verkrafteneinige (wenige) Unternehmen, bei allen Reibungen, auch tiefeEinschnitte gut, gehen sogar gestärkt und für den Wettbewerb bes-ser gerüstet aus ihnen hiervor, während andere (viele) vor den glei-chen Veränderungsprozessen kapitulieren? Wohlgemerkt: bei ver-gleichbarer Ausgangslage, ähnlichem Zeithorizont und verwandterZielsetzung. Nach vielem Hin-und-Her-Überlegen und entspre-chenden Analysen hat sich eben dieser eine Erfolgsfaktor immerklarer herauskristallisiert, auf den ich nahezu die gesamte Antwort

Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit durch Vertrauen 31

Page 6: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

auf obige Frage reduziere: Vertrauen. Es ist das in einer Organisa-tion vorhandene – oder eben nicht vorhandene – Vertrauen, dasdie Veränderungs-Gewinner von den Verlierern unterscheidet. Ichgehe noch einen Schritt weiter:

Vertrauen wird zu dem Erklärungsansatz für wirtschaftlichenErfolg.

Alle Verbesserungsbemühungen in den Unternehmen werdenletztlich scheitern, wenn sie nicht auf Vertrauen als dem robustenFundament aufsetzen. Es ist Vertrauen, das die Grundlage fürmanchmal auch unbequeme Veränderungsprozesse und unbe-queme Entscheidungen schafft.

Je stärker eine Organisation vertrauensbasiert geführt wird,desto leichter werden Rückschläge, unangenehme Entschei-dungen und Meinungsverschiedenheiten verkraftet.

Dieser Zusammenhang ist elementar. Allerdings genießt er, umes moderat zu formulieren, offenkundig in der betrieblichen Pra-xis nicht den Stellenwert, den er verdient. Vielmehr kommt, stattVertrauen einen Raum zu geben, das gebündelte Misstrauen inden verschiedensten Facetten daher. 13) Eine Auswahl:

– Die Vermerke: Gesprächsergebnisse werden in einer Aktennotizfestgehalten und unterschrieben. Nicht selten werden sie dabei»umformuliert«. Halbseiter, mit denen Nebensächlichkeitenfestgehalten werden, gehen dann fünf Mal hin und her, bis sievier Wochen später von allen Gesprächsteilnehmern unterschie-ben sind.

– Die Meetings: sie werden immer größer, länger und häufiger.(Die typische Antwort der Sekretärin bei meinen Anrufen: »Derist gerade in einer Sitzung.«) Man sitzt branchen- und länder-übergreifend, manche von Montag morgens bis Freitag abends.

– Die Kommunikationsmittel: cc-Listen bei E-Mails werden immerlänger. Über 100 E-Mails pro Tag sind an manchen Bildschir-

Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit durch Vertrauen32

Page 7: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

men keine Seltenheit. Also werden Sekretärinnen, Assistentenoder ganze Stäbe damit beschäftigt, vorzuselektieren, auszuwer-ten und bei größeren Anhängen Zusammenfassungen zuschreiben. Es ist genauso absurd wie wahr: die Organisation be-schäftigt sich mit sich selbst.

– Das Geld: Gehälter sind selbstverständlich streng vertraulich.Das »Verbotene« wird natürlich trotzdem entdeckt und in denKaffee-Ecken besprochen.

– Die Absicherung: man fragt immer wieder Kollegen und drücktsich vor Entscheidungen. Die Führungskraft sichert sich ab, derKunde springt ab.

– Die Verträge: auf Dutzenden von Seiten wird versucht, jede Klei-nigkeit zu regeln (Achtung: wer auffällig lange Arbeitsverträgeerhält, sollte gewarnt sein).

– Der Standardisierungswahn: in manchen Unternehmen werdenAbläufe, Präsentationen und deren Vortragsweise so lange stan-dardisiert, bis selbst der kreativste Mitarbeiter kapituliert. (Mirist natürlich klar, dass Organisationen Standards brauchen.Aber es kommt auf das Maß der Dinge an.)

– Die Handbücher: um auch noch den kleinsten Ablauf oder dieunbedeutendste Kompetenz feingliedrig schriftlich niederzule-gen, werden kilogrammschwere Organisationshandbücher erar-beitet. Ich habe buchstäblich noch kein einziges Unternehmenerlebt, in dem diese Mammutwerke irgendeine Art von Wert-schöpfung oder Nutzen generiert hätten. Im Gegenteil, sie wir-ken eher wertvernichtend. Wieder beschäftigt sich die Organisa-tion mit sich selbst.

– Die Zeiterfassung: »Stempel mich, denn ich misstraue Dir«. Einschöner Beginn des Arbeitstages.

Jeder dieser Punkte reizt zu längeren Ausführungen. Doch wo-durch entsteht eigentlich Vertrauen? Die wissenschaftliche For-schung ist hierzu relativ blank. Es liegen insgesamt wenig wissen-schaftliche Erkenntnisse darüber vor, wie Vertrauen entsteht – wasFührungskräfte also konkret tun können, damit Vertrauen als diezentrale Handlungsmaxime in ihrer Organisation auch wirklichgelebt wird. Dabei ist die Frage nach Vertrauen in Organisationenja wirklich nicht neu. Die traditionellen Erklärungsansätze aus der

Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit durch Vertrauen 33

Page 8: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Führungsliteratur sind allerdings erstens wenig überzeugend undbeziehen sich zweitens allein auf die Frage, wie man bereits be-stehendes Vertrauen erhalten kann. Es muss jedoch darum gehen,wie Vertrauen entsteht. 14) Hierauf kommt es an. Bevor ich michdieser Frage in den ersten drei Wegen zu wirksamer Führungwidme, werfe ich einen Blick auf die geläufigsten Empfehlungen,die von zahlreichen Vertrauensaposteln hartnäckig in die Manage-ment-Welt und -Literatur getragen worden sind. Diese Vertrauens-»Mythen« halte ich durchgehend für nicht überzeugend und inmanchen Fällen schlichtweg für Scharlatanerie im Management. 15)

Doch sehen Sie selbst.

11) Es gehört zu den typischsten Befunden meiner Beratungsarbeit, dass verabschiedeteThemen, Strategien, Konzepte und Maßnahmen nicht in die Geschäftspraxis umge-setzt werden.

12) vgl. Die Welt, 17. Mai 2004.13) vgl. hierzu auch Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 30–34 und ders.,

Vertrauen führt, S. 19. Sprenger bringt in diesem Kontext auch Richtlinienflut undISO-Standard.

14) Die Unterschiede zwischen dem Entstehen und dem Erhalt von Vertrauen hat Rein-hard Sprenger herausgearbeitet. Vgl. Sprenger,Vertrauen führt, S. 85–121.

15) Die wohl wichtigsten Beiträge zur »Entmythifizierung« der Vertrauensthematik hatReinhard Sprenger geliefert. Vgl. z.B. Sprenger, ebenda, S. 15–53.

Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit durch Vertrauen34

Page 9: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

2Missverständnisse über Vertrauen

›Vertrauen schafft, wer kooperativ führt‹

Die Suche nach dem »optimalen« Führungsstil hat über viele Jahreeinen beachtlichen Teil der Management-Diskussion eingenommen.Dabei werden, hier vereinfacht betrachtet, im Wesentlichen der so ge-nannte autoritäre und der kooperative Führungsstil unterschieden.16)

Diese sind beispielsweise mit folgenden Attributen belegt:

– Die autoritäre Führungskraft trifft nahezu alle Entscheidungenselber und berät sich vorher kaum mit Mitarbeitern, erteilt häu-fig persönliche Anweisungen, kontrolliert die Arbeitsergebnissesehr direkt, greift häufig in die laufende Arbeit ein.

– Die kooperative Führungskraft beteiligt Mitarbeiter an Entschei-dungen, nimmt die Rolle eines Moderators wahr, gibt Mitarbei-tern eigene Entscheidungs- und Verantwortungsspielräume,steuert über Zielvereinbarungen.

Damit dürfte die Bewertung ja wohl klar sein. Wer würde schonauf die Idee kommen, bei dieser Charakterisierung – die durchausrepräsentativ ist – Vorteile in einem autoritären Führungsstil zusehen. Betrachtet man nun den Umkehrschluss, so ergibt sich fol-gende Konstruktion: Wer einen kooperativen Führungsstil an denTag lege, baue das Vertrauen seiner Mitarbeiter auf. Diese An-schauung ist in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren so-lange wiederholt worden, bis es regelrecht »in« war – und wohlauch noch ist – kooperativ zu führen. So wurden einem kooperati-ven Führungsstil über lange Zeit vielschichtige Funktionen bzw.Wirkungen zugeschrieben. Der Führungsstil als Wunderwaffe.Hier eine kleine Auswahl aus den gängigen Management-Abhand-lungen: »Jeder Manager sollte Folgendes tun (schon der hier deut-

35Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 10: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

lich werdende Anspruch auf Gemeingültigkeit ist fahrlässig):einen Führungsstil praktizieren, der bei seinen Mitarbeitern Ein-satzfreude, gute Teamarbeit und Systematik in der Erledigung deranstehenden Aufgaben bewirkt.« Oder: »Erst durch kooperativeZusammenarbeit wird die wahre Leistungskraft der Mitarbeiterentfaltet.« Das ist, mit Verlaub, Blödsinn.

Die Führungsstil-Debatte ist eine lange Diskussion mit maxi-maler Irrelevanz.

Ich vertrete dagegen den folgenden Standpunkt: Es gibt keinerleiBeziehung zwischen einem bestimmten Führungsstil und der Füh-rungsleistung bzw. Unternehmensleistung insgesamt. Des Weiterenbesteht kein nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem prakti-zierten Führungsstil und dem Maß an Vertrauen, das einer Füh-rungskraft entgegengebracht wird oder das in einer Organisation ins-gesamt herrscht. Diesen Standpunkt leite ich aus diversen Beobach-tungen ab: Genauso, wie es autoritäre Führungskräfte gibt, dieenorme Werte für ihr Unternehmen generieren und hohesVertrauenbei ihren Mitarbeitern genießen, werden manche kooperativ führen-den Menschen nie Vertrauen erfahren oder sich durch besondereLeistungen auszeichnen. Natürlich gilt dies auch jeweils umgekehrt.

Im Übrigen unterstellt die generelle Bevorzugung eines be-stimmten Führungsstils eine statische Umwelt mit konstantenRahmenbedingungen für Führung. Das ist schlichtweg realitäts-fern. Je nach spezifischer Situation entfaltet ganz unterschiedlichesFührungsverhalten die jeweils höchste Wirksamkeit. In einer Turn-around-Situation wäre es beispielsweise alles andere als zielfüh-rend, möglichst viele Mitarbeiter einzubeziehen und mit einem ho-hen Maß an Kooperation zu führen. Schnelle Entscheidungen inkleinstem Kreis sind hier nicht nur wünschenswert, sondern fürden Fortbestand des Unternehmens entscheidend. Wirksame Füh-rungskräfte sind nicht aus Prinzip kooperativ, oder weil das gerademodern ist – sie sind dort kooperativ, wo es sinnvoll ist.

Führungsstil beschreibt die Hülle, nicht die Ergebnisse.

Missverständnisse über Vertrauen36

Page 11: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

›Vertrauen schafft, wer aktiv darum wirbt‹

In manchen Unternehmen scheint die Schaffung von Ver-trauen, wenn sie überhaupt als Top-Priorität erkannt wird, alsFleißarbeit (miss-)verstanden zu werden. In jeder Führungskräfte-runde, aber auch gegenüber Kunden, Investoren oder der Öffent-lichkeit wird mehr oder weniger vehement darum geworben, denStrategien und Aktivitäten des Unternehmens zu vertrauen. Etwa:»Vertrauen Sie uns, dass sich die Investition in Russland schonnach wenigen Jahren amortisiert haben wird!« Oder: »Wir warenzur Schließung der Niederlassung in Norddeutschland gezwun-gen und haben uns von rein betriebswirtschaftlichen Überlegun-gen leiten lassen – da können Sie uns uneingeschränkt ver-trauen.« (Was ist eigentlich »eingeschränkt« vertrauen?) Aus vie-len Beobachtungen habe ich folgendes abgeleitet: Es gibt einenZusammenhang zwischen der Häufigkeit und Intensität, mit derjemand um Vertrauen wirbt, und dem Ausmaß des tatsächlichvorhandenen Vertrauens. Allerdings: der Zusammenhang ist um-gekehrt proportional. Mit anderen Worten: je mehr über Vertrauengesprochen wird, desto kleiner ist das Reservoir tatsächlich vor-handenen Vertrauens. 17)

Wer aktiv um Vertrauen wirbt, hat es besonders nötig.

Diejenigen Führungskräfte, denen besonders viel Vertrauenauch und gerade in schwierigen Zeiten entgegengebracht wird,haben es dagegen gar nicht nötig, Vertrauen mit geschwungenenWorten einzuwerben. Sie lassen ihr Handeln für sich sprechen.

Wer Vertrauen schaffen will, muss handeln statt reden.

Bis hierhin ist der Versuch,Vertrauen durch aktives Werben ent-stehen zu lassen, nicht mehr und nicht weniger als unwirksamesManagement. Allerdings kommt in vielen Fällen noch etwashinzu: Ich habe immer wieder beobachtet, dass die Aufforderung»Vertrauen Sie mir« häufig dazu dient, auf unangenehme Fragen

»Vertrauen schafft, wer aktiv darum wirbt« 37

Page 12: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

nicht eingehen zu müssen und eigene Fehler oder Schwächenüberspielen zu können. Wer dann dennoch nachfragt, wird nichtselten abgekanzelt und in die Bösewicht-Ecke des Misstrauens ge-stellt. Die unangenehmen Fragen brauchen dann zwar tatsächlichnicht mehr beantwortet zu werden, aber ein solches Verhalten isthochgradig manipulativ.

›Vertrauen schafft, wer aktiv zuhört‹

Dieser Punkt ist insofern interessant, als mangelndes bzw. man-gelhaftes Zuhören – nicht nur im Management – weit verbreitetzu sein scheint. Ich glaube, dass viele Führungskräfte und Mitar-beiter die Qualität ihrer jeweiligen Arbeitsergebnisse verbessernkönnten, würden sie aufmerksamer zuhören – ihren Kunden, Lie-feranten, Mitarbeitern, Kollegen, Kritikern usw. Deshalb gibt esauch wohl kein Verkaufstraining mehr, das ohne den Baustein»Zuhören« auskommen würde. Soweit einverstanden. Aber ist un-ser Anspruch an wirksame Führung, die Vertrauen schafft, dennschon so weit gesunken, dass wir wirklich glauben, durch bloßesZuhören könne nachhaltig Vertrauen aufgebaut werden? Auchwenn ich mich hiermit wieder gegen eine weit verbreitete Mei-nung stelle: die Antwort kann nur nein heißen. Zur Begründungbiete ich folgende Überlegung an. Ich bin zunächst der Auffas-sung, dass »aktives Zuhören« ein Widerspruch in sich ist. Zwarhat der Terminus Einzug in die Management-Rhetorik gefunden.Es ist modern, sich der Forderung nach aktivem Zuhören anzu-schließen und allerlei Segnungen damit zu verbinden. Damitnicht genug: die Steigerung besteht dann im so genannten proak-tiven Zuhören, wobei mir noch niemand wirklich erklären konnte,was darunter eigentlich zu verstehen ist.

Zuhören ist passiv.

Dies zu akzeptieren, erscheint mit wichtig. Wer zuhört, ist pas-siv – wer redet, ist aktiv. Natürlich sollte sich jeder Zuhörendeernsthaft darum bemühen, dies möglichst aufmerksam zu machen.

Missverständnisse über Vertrauen38

Page 13: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Er bleibt jedoch in einer passiven, aufnehmenden Rolle. Es gehtmir hier nicht um begriffliche Haarspalterei, sondern darum zurelativieren. Was soll allein durch so genanntes »aktives« Zuhörennicht alles bewirkt werden – z. B. Vertrauen schaffen u.v.m.

Mit Verlaub: die Schaffung von Vertrauen gehört ohne Zweifelzu den schwierigeren, wenn nicht sogar anspruchvollsten Manage-ment-Aufgaben überhaupt. Aufmerksames Zuhören dagegen istmeines Erachtens nicht mehr und nicht weniger als ein Bestand-teil guter Manieren. So wie es Manieren bei Tisch gibt, die für je-den kultivierten Menschen eine Selbstverständlichkeit sein sollten– es offenbar aber oft nicht sind, wie die quer vor dem Teller aufdem Tisch liegenden Unterarme unwiderruflich belegen – gehörtaufmerksames Zuhören für mich zu den »guten Manieren« imManagement. (Auch wenn es sich für manchen altbacken anhörenmag: Pünktlichkeit, gegenseitiger Respekt und ein Diskurs in derSache und um der Sache willen, der auf persönliche Eitelkeitenverzichten kann, gehören ebenfalls dazu.) Man lässt seinen Ge-genüber eben ausreden und unterbricht ihn nicht; und manschaut, während der andere redet, nicht geistesabwesend aus demFenster und zählt das Herbstlaub, sondern widmet seine unge-teilte Aufmerksamkeit dem Gesprächspartner. Punkt.

Wer allerdings ernsthaft glaubt, mit dem Einhalten dieser ein-fachsten Standards – um nicht wieder von Selbstverständlichkei-ten zu reden – Vertrauen schaffen zu können, der ist entwederwelt- bzw. organisationsfremd, oder aber er hat den Anspruch ansich und seine Mitarbeiter in einem völlig inakzeptablen Ausmaßheruntergeschraubt. Oder beides.

›Vertrauen schafft, wer geradlinig ist‹

Auch Geradlinigkeit wird immer wieder an vorderster Stelle beiden vertrauensbildenden Tugenden genannt. 18) In etwa: »Wer zuseiner Meinung steht und sie auch morgen noch vertritt, demkann man vertrauen.« Die Relevanz ist hier insofern gegeben, alsder Umkehrschluss sicherlich bestehendes Vertrauen zerstörenkann: Wer seine Meinung offensichtlich nach dem Wind deröffentlichen oder betrieblichen Meinung ausrichtet und im Drei-

»Vertrauen schafft, wer geradlinig ist« 39

Page 14: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Tages-Rhythmus ändert, wer bei dem geringsten Widerstand be-reits umfällt, der verliert Vertrauen. Auch wenn es hier nicht dasThema ist, komme ich um eine Anmerkung nicht herum: Ich bindavon überzeugt, dass ein Großteil der deutschen Politikverdros-senheit genau hier ihren Ursprung hat: Wahltermine und Macht-erhalt stehen eindeutig höher im Kurs als die langfristig besteund belastbarste, sachbezogene Lösung. Insofern kann gradlini-ges, konsistentes Verhalten dazu beitragen, dass Vertrauen erhaltenbleibt (auch wenn selbst hierfür nach meiner Überzeugung nochandere Zutaten hinzukommen müssen). Es scheint mir jedochnicht geeignet und ausreichend, um Vertrauen zu schaffen. ImÜbrigen mag die erhoffte Wirkung der Gradlinigkeit für Zeitenstabiler Märkte und prognostizierbarer Geschäftsentwicklungennoch in gewissem Maße gegolten haben. In turbulenten Zeitenmit hoher Marktdynamik kann sie immer schwerer aufrechterhal-ten werden. Hier kann sich übertriebene »Geradlinigkeit« sehrschnell als Hemmschuh für die Anpassungsfähigkeit des Unter-nehmens entpuppen. Schauen wir uns zur Illustration dieses Ge-dankens das vieldiskutierte Thema der Arbeitsplatzsicherheit,kommuniziert und personalisiert als der Ausschluss betriebsbe-dingter Kündigungen, an. Wenn die Unternehmensleitung be-triebsbedingte Kündigungen für das laufende und kommende Ge-schäftsjahr ausgeschlossen hat, dann aber die wichtigsten Kundenabspringen und langfristige Verträge gekündigt werden, darf dernüchterne Blick auf die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit desUnternehmens nicht durch Versprechungen – und einem hierausabgeleiteten Wunsch nach Geradlinigkeit – getrübt werden. Gerad-linigkeit, die das Unternehmen ohne Umwege oder auch indirektgegen die Wand fährt, nützt keinem etwas. Es sollte zwar selbst-verständlich sein, aber in gewissen Kreisen, die mehr an Ideolo-gien haften als an der betrieblichen Realität, muss man immerwieder betonen, dass niemand gerne Leute entlässt. Allerdingsführt der explizite Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen indie Irre. Er produziert eine Schein-Sicherheit. Mehr nicht. Es isteine Zusage, die unter Wettbewerbsbedingungen gar nicht gege-ben werden kann. Wenn einige (erstaunlicherweise zahlreiche)Unternehmenslenker es dennoch tun, muss – auch wenn manchedies gar nicht gerne hören werden – unwirksames Management

Missverständnisse über Vertrauen40

Page 15: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

attestiert werden. Und in bezug auf das hier behandelte ThemaVertrauen ist folgende Wirkung von besonderem Interesse: werbetriebsbedingte Kündigungen für die nächsten Jahre ausschließt,der tut dies im Wesentlichen aus einem Grund: er will Vertrauenschaffen – das Vertrauen der Beschäftigten in die Sicherheit ihrerArbeitsplätze. Allerdings müsste schon die Zusage an sich bei nä-herer Hinsicht eher Skepsis als Vertrauen auslösen: Wie kann dieGeschäftsleitung überhaupt eine solche Zusage geben? 19) Warumkönnen wir sicher sein, dass trotz aller Marktveränderungen un-sere Arbeitsplätze allesamt und auf Jahre hinaus sicher sein soll-ten? Diese und andere Fragen liegen auf der Hand; sie sind imwahrsten Sinne des Wortes nahe liegend. Denken Sie bitte nicht,dass unsere Leute so kurzsichtig oder unwissend wären, dass siesie nicht stellen. Sie stellen sie. Wenn auch nicht explizit in Rich-tung Unternehmensleitung, dann doch untereinander. Oder siebewegen sie nur in ihrem Kopf. Das ist allemal ausreichend, umdie vorhandene Energie weg von der eigentlichen produktivenLeistungserstellung auf Gerüchte, Unruhen und Misstrauen zulenken. Dann ist das Unternehmen bereits mit einem Virus infi-ziert, der schwer zu stoppen ist. Wer dann auch noch trotz widrig-ster Marktentwicklungen und einer sich abzeichnenden Unterneh-menskrise an der Arbeitsplatzzusage festhält – man will ja gerad-linig sein – der zerstört meiner Auffassung nach sogar vorhande-nes Vertrauen und erreicht damit genau das Gegenteil dessen,was ursprünglich beabsichtigt war.

Auch viele andere Management-Entscheidungen werden umden Preis einer vordergründigen Geradlinigkeit durchgezogen,»weil man sich ja so entschieden hatte«, weil ein Rückzieher nega-tiv wirken würde oder als Gesichtsverlust empfunden werdenkönnte. Das Spektrum reicht von Personaleinstellungen (Warumwird das sinnvolle Instrument der Probezeit eigentlich überallzwar formal eingesetzt, aber in den meisten Fällen faktisch nichtwirksam bis gar nicht genutzt?) bis zu Investitionsentscheidun-gen. Scheinbare Gradlinigkeit statt Anpassungsfähigkeit. Das istweder wirksames Management noch zur Schaffung von Vertrauengeeignet. Reinhard Sprenger hat es auf den Punkt gebracht: mankann Meinungswechsel auch positiv interpretieren: als Lernen.20)

»Vertrauen schafft, wer geradlinig ist« 41

Page 16: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

›Vertrauen schafft, wer Freude durch Arbeitermöglicht‹

In einer merkwürdigen Mischung aus Organisations-Romantikund Realitätsferne wird immer wieder gefordert, die Erledigungder im Unternehmen anstehenden Aufgaben müsse Freude berei-ten; Spaß machen. Dieser Freude-durch-Arbeit-Ansatz wird alszentrales Ziel auf den Schild der Mitarbeiterführung gehoben undals ein Maßstab in der Beurteilung der jeweiligen Führungsleis-tung definiert. Ich halte diesen Anspruch für nicht gerechtfertigt,und zwar im Wesentlichen aus drei Gründen. Ich beziehe michmit dieser Argumentation teilweise auf Fredmund Malik, der die-sen Ansatz im Zusammenhang mit Missverständnissen überwirksame Führung ebenfalls kritisch hinterfragt hat.

Erstens wirkt er zweckentfremdend. Es ist der Zweck von Unter-nehmen, wettbewerbsfähige Leistungen zu erstellen und mittelseiner marktgerechten Honorierung bestimmte Ergebnisse zu er-wirtschaften. Punkt. Es ist nicht der Zweck von Organisationen,ihren Mitgliedern – den Beschäftigten – Glücks- oder Zufrieden-heitsgefühle zu verschaffen.21) Wenn sich diese einstellen, etwaweil wirksame Führungskräfte am Werke sind, die ihre Mitarbei-ter fordern und fördern, umso besser. Aber es kann weder Zwecknoch erster Orientierungspunkt für gute Führung sein. Jene Ro-mantiker, die dies kaltherzig und profitorientiert finden und des-halb ablehnen (und die in der Regel nie selbst Führungsverant-wortung getragen haben), will und kann ich mit meiner Argumen-tation wohl nicht erreichen. Damit kann ich allerdings gut leben,wenn diejenigen, die Verantwortung tragen und am Ende desTages ein bestimmtes Ergebnis vorzuweisen haben, meiner Auf-fassung etwas abgewinnen können.

Mein zweiter Einwand ist, dass der Freude-durch-Arbeit-Ansatzunrealistisch ist. Buchstäblich kein Beruf der Welt kann wirklichdauerhaft und kontinuierlich Freude bereiten. Kein Zahnarzt, derdas achtunddreißigste Mal innerhalb einer Woche Zahnstein ent-fernt und Löcher schließt, wird so denken. Kein Anwalt, der immerwieder ähnliche Briefe schreibt und Prozesse führt und kein Pilot,der zum x-ten Mal die gleiche Durchsage macht, wird ernsthaft be-haupten, von stetigen Glücksgefühlen begleitet zu sein.22) Denn je-

Missverständnisse über Vertrauen42

Page 17: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

der Beruf besteht letztlich zu einem beachtlichen Teil aus Routine-tätigkeiten. Das wird merkwürdigerweise häufig übersehen. Auchmein eigener Arbeitgeber kann nicht dafür zuständig sein, mir sol-che Empfindungen zu verschaffen. Dabei kann ich mir keinen bes-seren Job – außer der Selbständigkeit – vorstellen: uneinge-schränkte Leistungsorientierung, abwechslungsreiche Fragestellun-gen, sehr viel Kontakt mit unterschiedlichen Menschen, Gestal-tungsmöglichkeiten. Selbst das manchmal nervige Reisen empfindeich unter dem Strich eher als bereichernd. Und dennoch: Glückund Zufriedenheit waren nie die Angelegenheit des Unternehmens,für das ich gearbeitet habe. Keine Organisation der Welt kann sieproduzieren. Vielmehr scheinen Glück und Zufriedenheit aus derAufgabe und aus den erzielten Ergebnissen zu entstehen. Fred-mund Malik drückt es so aus: »Organisationen … brauchen nichtErlebnisse, sondern Ergebnisse.«23) Ich bin der festen Überzeugung,dass wirksames Management in jedem Fall zu zufriedeneren Mitar-beitern führt. Wer wirksam führt – und damit wirksam handelt –braucht keine Freude-durch-Arbeit-Slogans in den Hochglanzbro-schüren. Im Übrigen bedarf es in jedem Fall einer weiteren Zutat:Der entsprechenden inneren Einstellung jedes Einzelnen. Psycholo-gen, Soziologen und andere zerbrechen sich ja schon seit längererZeit die Köpfe darüber, warum für die einen das Glas halb voll undfür die anderen das Glas halb leer ist. Ich will an dieser Stelle nichtdarauf eingehen, wichtiger erscheint mit die Erkenntnis – besser:Beobachtung –, dass auch bei der Erledigung einfachster Aufgabendas Glas eben halb voll sein kann. Ich denke beispielsweise an dieToilettenfrau, die in unserem Wochenend-Refugium am Timmen-dorfer Strand seit vielen Jahren für ein bestimmtes Strand-WC ver-antwortlich ist. Es ist nicht nur das sauberste Strand-WC an der ge-samten Ostsee und wahrscheinlich darüber hinaus, es gibt zudemklassische Musik und immer ein freundliches Lächeln. Sie selbstsagte einmal: »Ich leiste doch einen konkreten Beitrag dafür, dasssich die Urlauber hier wohl fühlen.« Dem ist nichts hinzuzufügen– außer vielleicht dem Wunsch, dass mehr Menschen in unserenUnternehmen so denken mögen.

Drittens untergräbt der Anspruch, das Unternehmen sei für dasGlück der Mitarbeiter zuständig, die Verantwortung jedes Einzel-nen.24) Es ist natürlich gar nichts dagegen einzuwenden, wenn

»Vertrauen schafft, wer Freude durch Arbeit ermöglicht« 43

Page 18: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Mitarbeiter Spaß an ihren Tätigkeiten haben und hieraus Zufrie-denheit ziehen. Wer könnte schon etwas dagegen haben. Ich habejedoch ganz entschieden etwas dagegen, dass hierfür ein anderer– die Organisation – verantwortlich sein soll. Hierin liegt der viel-leicht schwerwiegendste Irrtum des Freude-durch-Arbeit-Ansatzes:eine ganz spezielle Form von Nicht-Verantwortlichkeit. Wer diesenAnsatz propagiert und gleichzeitig die Eigen-Verantwortlichkeitder Mitarbeiter fördern will, der befindet sich auf dem Holzweg!Wenn also der Zweck von Unternehmen entfremdet wird, der dis-kutierte Ansatz durch die Praxis nicht bestätigt werden kann unddie individuelle Verantwortung untergraben wird, dann kann ichbeim besten Willen nicht erkennen, wie irgendeine Vertrauenschaffende Wirkung hiervon ausgehen soll.

›Vertrauen schafft, wer Beziehungen langfristigaufbaut‹

Eine weitere, weit verbreitete Annahme besteht darin, dass Ver-trauen über längere Zeiträume aufgebaut wird, denn Vertrauen»muss man sich erst einmal verdienen.« Ganz abgesehen davon,dass ich diese Forderung nicht teile, werden hier zwei Phänomenevermischt, die durchaus unterschiedliche Charakteristika aufzei-gen: Vertrauen auf der einen und Vertrautheit auf der anderenSeite. Wenn man obiger Annahme folgte, entsteht Vertrauen dem-nach aus Vertrautheit. Nun ist es allerdings so, dass es für diesenangeblichen Zusammenhang keinerlei Beleg gibt. Ansonstenmüssten ja gerade diejenigen Organisationen, die besonders ge-ringe Mitarbeiterwanderungen aufweisen und Quereinsteiger vonaußen noch nie gesehen haben, vor Vertrauen nur so strotzen. Et-was anderes kommt noch hinzu: selbst wenn die Annahme vonlangfristigen Beziehungen als Voraussetzung für Vertrauen in derVergangenheit noch richtig gewesen wäre – in Zukunft wird ihreGültigkeit immer stärker in Frage zu stellen sein. In Zeiten derEconomy of Speed, weltumspannender Kommunikations- und Infor-mationsnetze und Global Sourcing werden organisatorische Gren-zen in immer stärkerem Maße aufgelöst. Lokale Arbeitsgruppenwerden durch virtuelle Teams ersetzt. Je virtueller das Management

Missverständnisse über Vertrauen44

Page 19: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

von Organisationen wird, desto wichtiger wird Vertrauen als dashandlungsleitende Organisationsprinzip. Aber es kann sich ebennicht aus langjährigem Kennen, aus Vertrautheit, entwickeln.Häufige Arbeitsplatzwechsel und die Ablösung des organizationman, der sein gesamtes Beschäftigungsleben wie selbstverständ-lich in einer einzigen Organisation verbracht hat, durch wech-selnde und sich verändernde assignments – also Aufgaben aufZeit – bestätigen und verstärken diesen Trend.

›Vertrauen schafft, wer auch Fehler zugibt‹

Viele so genannte Management-Weisheiten werden ohne kriti-sche Reflexion formuliert, übernommen und immer wieder zumBesten gegeben. Was häufig genug gesagt wurde, genießt irgend-wann den Nimbus der Allgemein-Gültigkeit. Ein typisches Bei-spiel hierfür ist die Vorstellung, dass derjenige Vertrauen schafft,der auch eigene Fehler zuzugeben in der Lage ist. Immer wiederwird dieser scheinbare Zusammenhang betont. Klingt ja auch gutund einleuchtend; und wer ihn postuliert, kann sich breiten Ap-plauses sicher sein. Nach meiner Auffassung und Beobachtung ister allerdings nicht zu Ende gedacht. Denn in 98 Prozent der Fälle,in denen sich Menschen zu ihren Fehlern bekennen, hat dies kei-nerlei Konsequenzen. Ein immer wieder zu beobachtendes Ritual:wenn überhaupt einmal in Vorstandssitzungen, Projekt-Lenkungs-ausschüssen oder anderen Führungskräfte-Meetings ein Fehlerzugegeben wird, dann immer von einem der Stärksten im Raum.Oftmals besteht der »Fehler« darin, dass eine der ausgeprägtestenStärken ausnahmsweise einmal nicht zur Geltung kam. So offen-bart beispielsweise der Chef der Unternehmenskommunikation,als glänzender Redner im ganzen Unternehmen und darüber hin-aus bekannt, dass er sich bei der Pressekonferenz zum ThemaUmweltschutz ganz schön verhaspelt habe. Oder der Produktions-leiter kokettiert damit, dass er die jüngste Konstruktionszeichnungseiner Leute gar nicht verstanden hätte. Die Kollegen in der Füh-rungsrunde schmunzeln, wissen sie doch genau, dass keiner imUnternehmen dem Produktionsleiter in punkto Sachkenntnis undintellektueller Kapazität das Wasser reichen kann. Was er also

»Vertrauen schafft, wer auch Fehler zugibt« 45

Page 20: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

wirklich sagt, ist: »Meine Leute sind so blöd, dass sie eine Kon-struktionszeichnung entwerfen, die nicht einmal ich verstehe.« Esgeht mitnichten um das Eingeständnis eigener Fehler, sondernum rhetorische Stilmittel, mit denen die eigene Position erhöhtund die Leistung anderer gemindert werden soll. Beide Beispielehaben eine weitere entscheidende Gemeinsamkeit: mit dem Zuge-ben scheinbarer Fehler brauchen beide nicht im Entferntesten mitKonsequenzen zu rechnen. Dieses ungeschriebene Gesetz hat innahezu allen Organisationen Gültigkeit. Damit wird jedoch denvertrauenschaffenden Maßnahmen die Grundlage entzogen unddie Kraft genommen. Wer mit scheinbaren Fehlern oder Schwä-chen, bei der keinerlei Möglichkeit irgendeiner Konsequenz imRaum steht, kokettiert, der macht sich nicht wirklich verwund-bar.25)

Und hiermit, mit der Verwundbarkeit, sind wir beim erstenWeg zu wirksamer Führung angelangt.

16) vgl. z. B. Neuberger, Führen und führen lassen, S. 426–481.17) vgl. Sprenger,Vertrauen führt, S. 85–87.18) vgl. ebenda, S. 87 f.19) Zur theoretischen Untermauerung ist ein Rückgriff auf Friedrich August von Hayek

nach wie vor empfehlenswert. Von Hayek hat verdeutlicht, dass eine zentrale In-stanz immer den dezentralen Einheiten in Bezug auf Markt-Knowhow unterlegensein muss. Dies gilt sowohl auf gesellschaftlicher Ebene für die staatliche Bürokratieim Vergleich mit privatwirtschaftlichen Unternehmen, als auch auf Unternehmens-ebene für die Firmenzentrale im Vergleich mit den dezentralen Einheiten. Vgl. vonHayek, Die Anmaßung von Wissen, insbesondere S. 3–15.

20) vgl. Sprenger,Vertrauen führt, S. 88.21) vgl. hierzu auch Malik, Führen Leisten Leben, S. 27–31. Malik nennt diesen Ansatz

im Zusammenhang mit Irrlehren über wirksames Management. Ich übertrage denGedanken auf die Vertrauens-Thematik: Wer den Freude-durch-Arbeit-Ansatz alsQuelle für die Schaffung von Vertrauen heranzieht, unterliegt einem doppelten Irr-tum. Erstens ist es nicht Aufgabe von Unternehmen, für Glücksgefühle ihrer Mitar-beiter zu sorgen und zweitens kann hierdurch – selbst wenn es eine Aufgabe desUnternehmens wäre und auch gelänge – kein Vertrauen geschaffen werden.

22) vgl. ebenda, S. 82.23) ebenda, S. 31.24) Mit diesem dritten Punkt gehe ich über die Argumentation von Malik hinaus.25) vgl. hierzu auch Sprenger,Vertrauen führt, S. 88.

Missverständnisse über Vertrauen46

Page 21: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Erster Weg:Sich verwundbar machen

Die ersten drei Wege wirksamer Führung beschäftigen sich mitder Frage, wie Vertrauen – gleichsam als Fundament wirksamerFührungsleistungen – konkret geschaffen werden kann. So unter-schiedlich diese drei Wege und meine darin enthaltenen Vor-schläge auch sind, so haben sie doch eine beachtenswerte Ge-meinsamkeit: Sie stehen bisher nicht im Zentrum der Führungs-diskussion und werden in der Management-Praxis vieler Unter-nehmen nur unzureichend beachtet und manchmal regelrechtmit Füßen getreten.

Auf dem ersten Weg zu wirksamer Führung greife ich auf Rein-hard Sprenger zurück, der in diesem Zusammenhang folgendenGedanken entwickelt hat: Nur wer sich verwundbar macht, wirdeinen Vertrauensprozess in Gang setzen können.26) Ich habedurch verschiedene Beobachtungen und eigene Erfahrungen dieKraft und Gültigkeit dieser Überlegung bestätigt gefunden. Meinerstes Beispiel bezieht sich auf eine kleine Buchhandlung an derOstsee, in der ich zwei interessante Neuerscheinungen entdeckte.Vom winterlichen Spaziergang kommend, hatte ich jedoch keinGeld bei mir. Die Verkäuferin – wie ich Monate später erfuhr, istsie auch die Inhaberin – reagierte spontan und unaufgeregt: »Siekönnen die Bücher gern schon mitnehmen und nächste Wochebezahlen.« Auch meinen Ausweis (da sieht man mal, wie wir aufMisstrauen getrimmt sind) wollte sie nicht als Pfand. »Das istnicht erforderlich.« Obwohl wir an jenem Abend wieder nachHamburg zurückfahren wollten, sind wir noch einen Tag längergeblieben und ich habe am nächsten Morgen als erstes die Bücherbezahlt. Warum? Weil die Inhaberin sich wirklich verwundbar ge-macht hatte. Sie kannte mich nicht, und ich hätte ohne Problemeden Ort verlassen können, ohne jemals die Bücher zu zahlen. Siehatte Vertrauen geschaffen. Und dieses Vertrauen entwickelte eine

47Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 22: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

unglaublich starke verpflichtende Wirkung. Heute setze ich übri-gens in »meinem« Buchladen am Timmendorfer Strand pro Jahrsicher genauso viel um wie bei Amazon oder den großen Buch-handlungen in Hamburg.

Vertrauen verpflichtet.

Ein zweites Beispiel begegnet mir seit Jahren in der deutschenFirmenzentrale eines Kundenunternehmens, genauer gesagt inder Kantine. Jeder Mitarbeiter gibt über seinen mit Geld gelade-nen Firmenausweis die gewählten Speisen und damit die Summeselbst in die Kasse ein. Wieder greift, sozusagen mit mechanischerSicherheit, die Kette Verwundbarkeit – Vertrauen – Verpflichtung:es gibt absolut niemanden, der das geschaffene Vertrauen miss-brauchen würde.

Stellvertretend für viele Unternehmenssituationen erwähne ichnoch ein drittes Beispiel, das sich auf eine strategische Fragestel-lung bezieht. In irgendeiner Ausprägung beschäftigt nahezu jedesUnternehmen das Thema firmenübergreifender Kooperationen.Ganz gleich ob sich die Kooperation im nationalen oder interna-tionalen Kontext abspielt, basiert sie wesentlich auf Vertrauen,weil eben nicht jede Eventualität in Vertragsparagraphen gegossenwerden kann. Dabei können die so genannten harten Fakten – kos-tenseitige Synergieeffekte, Marktanteilsausweitung, Wachstums-potenziale und vieles andere mehr – sich noch so glänzend darstel-len; wenn das erforderliche Vertrauen fehlt, wird die Kooperationscheitern oder gar nicht erst zustande kommen. Diese Logik giltfür alle denkbaren Formen von Kooperationen – von der losen Zu-sammenarbeit im Einzelfall bis zur gesellschaftsrechtlichen Betei-ligung und Fusion. Der Vorstand eines deutschen Energieunter-nehmens, im Gespräch über den zurückliegenden Prozess der An-teilsveräußerung, auf meine Frage, warum der Bieter mit demhöchsten Preisangebot nicht den Zuschlag erhalten hat: »Natür-lich hatte die Stadt als bisheriger Mehrheitsaktionär, insbesonderewegen der angespannten Haushaltslage, ein Interesse an einemmöglichst hohen Verkaufspreis. Aber wir haben diesem Bieternicht vertraut. Das gesamte Management hatte bei uns den Ein-

Erster Weg: Sich verwundbar machen48

Page 23: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

druck, dass wir sozusagen im Vorbeigehen schnell akquiriert wer-den sollten, um sich dann wieder wichtigeren Themen widmenzu können. Es war auch immer nur die zweite, teilweise dritteFührungsebene bei uns. Wirklichen Einblick in deren Strategieund Geschäftsentwicklung haben wir nicht bekommen. Ganz an-ders der Bieter, der trotz eines niedrigeren Preises den Zuschlagerhalten hat: zu den wichtigen Meetings ist der gesamte Vorstandinklusive Vorsitzendem angereist. Sie haben ihre Bücher wirklichoffen gelegt, so wie wir es auch getan haben, und uns klar undnachvollziehbar dargestellt, dass unser Unternehmen ein ganz we-sentlicher Eckpfeiler ihrer Wachstumsstrategie ist.«

Diese drei Praxisbeispiele mögen zur Illustration des ersten We-ges zu wirksamer Führung ausreichen.

Wer Vertrauen schaffen will, muss sich verwundbar machen.Das so geschaffene Vertrauen entfaltet eine ungeheuer starke,verpflichtende Wirkung. Die Kette Verwundbarkeit–Vertrauen–Verpflichtung stellt alle gängigen Versuche,Vertrauen zu schaf-fen mitsamt den dazugehörigen Hochglanz-Appellen in denSchatten.

Ich werde in Workshops und Beratungsprojekten immer wiedernach konkreten Vorschlägen gefragt, um den Prozess Verwundbar-keit–Vertrauen–Verpflichtung in Gang zu setzen.27) Die nächstenAbschnitte werden sich deshalb mit der Entwicklung wirksamerLösungen für die Praxis beschäftigen. Einige meiner Vorschlägewerde ich in späteren Kapiteln aufgreifen und aus anderen Blick-winkeln detaillierter analysieren.

1. Jemanden wirklich brauchen

Mitarbeiter wollen gebraucht werden – ein »alter Hut«. Sie wol-len spüren, dass das Unternehmen ein kleines Problem ohne Siebekommen würde; dass sie einen Beitrag liefern, einen Unter-schied machen. Was Sie also zuallererst tun können, ist, Ihre Mit-arbeiter dies spüren zu lassen. Allerdings nicht mit Worten und

Jemanden wirklich brauchen 49

Page 24: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Hochglanzbroschüren (»Unsere Mitarbeiter sind unser wichtigstesasset«), sondern im Wesentlichen auf folgenden zwei Wegen:durch ihr konkretes Handeln und durch die Gestaltung der Assign-ments, der Arbeitsaufträge für Ihre Leute. Wer seine Mitarbeiter indie Verantwortung lässt, der zeigt durch sein Handeln, dass er siewirklich braucht. Ich werde darauf zurückkommen. Wer dieAssignments so gestaltet, dass konkrete Beiträge zum Gesamter-gebnis deutlich werden, der wird eher Mitarbeiter haben, die sichim positivsten Sinne gebraucht fühlen, als jemand, der zwischenden einzelnen Tätigkeiten eines Mitarbeiters und dem Gesamtenkeinen Bezug herzustellen weiß. In diesem Zusammenhang isteine Einschränkung oder, besser, Grenze von Bedeutung. In klei-neren und mittelständischen Firmen werden diese Empfehlungennoch relativ leicht umzusetzen sein. Oder, von der anderen Seitebetrachtet: je größer die Organisation, desto schwieriger wird es.Ein Gefühl des Gebrauchtwerdens kann kaum noch entstehen.Wie sollen Unternehmen mit fünfzig- oder zweihunderttausendMitarbeitern eigentlich glaubwürdig vermitteln, dass sie einen be-stimmten Mitarbeiter wirklich brauchen; dass sie ohne seine Leis-tung, seinen Beitrag ein wie auch immer definiertes Problem hät-ten? Das mag auf hoch spezialisierte Überflieger vielleicht nochzutreffen; für neunundneunzig Prozent sieht die Welt in großenKonzernen diesbezüglich anders aus. Hier liegt ein unschätzbarerVorteil kleinerer und mittlerer Unternehmen. In großen Konzer-nen wird es dann allerdings umso wichtiger, dass die Führungs-kräfte auf Abteilungs- oder Bereichsebene das schaffen, was maneine »Organisationsheimat« nennen könnte. Es muss dann ebender Beitrag zum Gesamtergebnis der Unterabteilung »VertriebNord-West« verdeutlicht werden, mit dem sich der Mitarbeiter,wenn auch nicht unersetzbar (das sind die allerwenigsten Men-schen wirklich), so doch wertvoll macht. Aber es ist eine Schleifemehr; ein zusätzlicher Abstraktionsgrad.

2. Nur Ergebnisse zählen

Zahlreiche Manager haben geradezu panische Angst davor, An-zeichen von Verwundbarkeit zu offenbaren. Zu den fatalen Konse-

Erster Weg: Sich verwundbar machen50

Page 25: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

quenzen dieses »Alles-im-Griff-haben-Wollens« gehört die Nei-gung, sich nicht nur selbst mit Nebensächlichkeiten zu beschäfti-gen, sondern auch die Tätigkeiten der Mitarbeiter minutiös zu ver-folgen. Nicht die Verabredung von Ergebnissen steht im Mittel-punkt, sondern die Auseinandersetzung mit jedem kleinen Schrittdorthin. Unrealistisch? Zumindest immer wiederkehrender Be-standteil meiner Beobachtungen quer durch die Unternehmenund Hierarchieebenen. Und in jedem Fall in höchstem Maße un-wirksam. Jeder kennt sie, die Dauer-Kontrolleure: »Sich liebernoch mal vergewissern, dass das Projekt auch in die richtige Rich-tung läuft. Wir haben zwar in der vergangenen Woche die Zieleund anzustrebenden Ergebnisse besprochen, aber man weiß janie.« Wenn Sie Ihre Leute nachhaltig in die innere Kündigungschicken wollen, ist dies einer der sichersten Wege dorthin. Oderder Marketing- bzw. Regionalleiter, der zwei Drittel seiner Zeit aufdem Beifahrersitz seiner Vertriebsleute verbringt und sich dannnoch rühmt, den Kontakt zur Basis und zum Kunden nie verlorenzu haben. Oder der Vorstand, der jeden Tag nachfragt, wie weitdas Redemanuskript gediehen ist, obwohl die Besprechung desEntwurfs erst in zwei Wochen auf der Agenda steht. Oder der Vor-gesetzte, der jeden Abend kontrolliert, wann die Lichter in deneinzelnen Büros ausgehen. Und so weiter; die Liste ließe sichleicht verlängern. Wer sich so oder ähnlich verhält, wird binnenkürzester Zeit von Mitarbeitern umgeben sein, die ihre gesamteEnergie, Kreativität und Einsatzbereitschaft auf die Zeit nach17 Uhr lenken.

Mein Appell ist einfach und klar:

Vereinbaren Sie Ergebnisse mit Ihren Mitarbeitern und ver-trauen Sie darauf, dass jeder Mitarbeiter seinen eigenen Wegdorthin findet.

Es wird der individuell jeweils beste sein. Und es werden Wegesein, die sich um einiges voneinander unterscheiden. Das ist nichtnur akzeptabel, sondern wichtig und gut so. Denn in den meistenUnternehmen und Verantwortungsbereichen benötigen wir mehrVielfalt und weniger grauen Einheitsbrei.

Nur Ergebnisse zählen 51

Page 26: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Hierzu ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind der Vertriebs-leiter eines Pharmaunternehmens, dessen Vertrieb in fünf Regio-nen organisiert ist. Ihre wichtigsten Zielsetzungen sind die Steige-rung des Gesamtumsatzes um X Prozent sowie des Deckungsbei-trages um Y Prozent. Sie erleichtern allen Beteiligten und nichtzuletzt sich selbst das Leben ganz erheblich, wenn Sie mit denfünf Regionalleitern lediglich das Ergebnis, also den Beitrag ver-einbaren, den jede Region zum Gesamtergebnis liefern wird – indiesem Beispiel ausgedrückt in einem Umsatz- und einem De-ckungsbeitragsergebnis. Überlassen Sie Ihren Mitarbeitern die Su-che nach den besten Wegen zur Erreichung der Ergebnisse! Sokönnte beispielsweise Regionalleiter Schultze vorhaben, seinenBeitrag im Wesentlichen durch seine fünf Top-Kunden zu errei-chen. Die Industriestruktur der Region gibt nicht mehr her unddementsprechend wird er auch das ihm zur Verfügung stehendeMarketing-Budget für einen einzigen, dafür aber sehr hochkaräti-gen Event mit den Top-Kunden verwenden. Ganz anders ist viel-leicht die Situation bei Regionalleiter Mayerhofer. In der stark mit-telständisch geprägten Region ist er auf eine möglichst großeKundenzahl angewiesen um sein Ergebnis erreichen zu können.Seine Aktivitäten, die sich beispielsweise im Marketingplan wider-spiegeln, werden völlig andere sein als bei Schultze. Bei Regional-leiter Müller liegen die Dinge wieder anders. Da zwei Wettbewer-ber stark in den Vertrieb für diese Region investiert haben, drohenbestehende Kunden abzuspringen. Müller muss neue Wege ge-hen: Zum einen wird er sich stark um die Akquisition von Neu-kunden kümmern, zum anderen verhandelt er mit ausgewähltenKunden besondere Rabatte und Kundenbindungsmaßnahmen.Für den vierten und fünften Regionalleiter wird die spezifische,individuelle Situation wiederum anders ausgeprägt sein. Die Be-dingungen sind in München niemals wie in Köln oder in Ham-burg. Niemals. Weil es mir besonders wichtig erscheint, wieder-hole ich folgende Empfehlung: überlassen Sie Ihren Mitarbeiterndie Suche nach den besten Wegen, um die verabredeten Ergeb-nisse zu erreichen. Da Ihre Mitarbeiter näher an ihrem eigenenGeschäft sind, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch inihren jeweiligen »Entdeckungsverfahren«28) erfindungsreicher,kompetenter und marktnäher sein als Sie selbst. »Das ist doch

Erster Weg: Sich verwundbar machen52

Page 27: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

blauäugig« könnte ein typischer Einwand an dieser Stelle sein.Ein solcher Einwand wäre allerdings geprägt durch Misstrauenund Anmaßung. Misstrauen, weil Sie fürchten, ausgenutzt zu wer-den. Anmaßung, wenn Sie glauben, die individuell jeweils besten– und in der Regel sehr unterschiedlichen – Lösungswege besserzu kennen als der einzelne Mitarbeiter selbst.

Wo Vertrauen herrscht, zählen nur Ergebnisse.

Nutzen Sie die Vielfalt individueller Lösungswege! Ihre Organi-sation bzw. Ihr Verantwortungsbereich wird dadurch weniger an-fällig gegen Schwankungen und Rückschläge im Markt.

3. Verzichten

Für meinen dritten Vorschlag habe ich lange nach einer Über-schrift gesucht. Verzichten bringt es auf den Punkt. Jeder kannsich selbst(kritisch) fragen, inwieweit er den einzelnen Verzichts-aspekten in seiner Führungsarbeit schon heute Rechnung trägtund zukünftig Rechnung tragen kann.

– Verzicht auf zusätzliche Reportings – Vertrauen schaffen heißt,dem Mitarbeiter nicht ständig über die Schulter zu schauen.Vertrauen Sie darauf, dass er zu Ihnen kommt, wenn er sich ab-stimmen möchte – nicht umgekehrt, wie es in der Regel ge-handhabt wird und wie es das monotone »Vertrauen ist gut, Kon-trolle ist besser« meint. In der Konsequenz können Sie viele Re-portings in Frage stellen. Eine ganz typische Aussage vieler mei-ner Gesprächspartner: »Wenn ich all die Berichte lesen würde,die ich bekomme, würden mich meine Kunden nie mehr zu Ge-sicht bekommen.« Ein Armutszeugnis – und eines mit erstaun-lich hohem Verbreitungsgrad.

– Verzicht auf Zugangsbeschränkungen – Viel Zeit wird bei der Ein-richtung von EDV-Systemen mit der Klärung der Frage ver-schwendet, welchen Mitarbeitern auf welche Teile des Systemsein Zugriffsrecht eingeräumt wird. Sparen Sie sich die Zeit; ver-

Verzichten 53

Page 28: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

meiden Sie die entsprechenden Frustrationseffekte. VerzichtenSie auf Zugangsbeschränkungen. Spielen Sie nicht Bundeswehr,wo nur bestimmte Soldaten Zugang zum Offiziers-Casino ha-ben. Mit der Grundannahme, dass die Mitarbeiter mit Zugangs-möglichkeiten – physischen, virtuellen, informatorischen undrechtlichen – verantwortungsbewusst umgehen, ist das keinProblem.

– Verzicht auf Kontrollsysteme – Falls auch in Ihrem Unternehmendie Eingangskorridore von Stechuhren geschmückt werden:schaffen Sie Ihre Zeiterfassungssysteme ab. Gleich morgenfrüh. Es lohnt sich, denn die Mitarbeiter werden erkennen, dassSie in eine Vertrauensbeziehung einsteigen. Jedes Kontrollsys-tem regt vor allem die Phantasie an, wie es nicht nur umgan-gen, sondern sogar gegen das Unternehmen verwendet werdenkann. Die Anekdotenliste ist lang. Die Arbeitnehmer, dieabends noch ein paar schöne Stunden auf der in unmittelbarerNähe des Unternehmens angesiedelten Kirmes verbringen –und schnell noch vorher stempeln – mögen zur Illustration aus-reichen.

– Verzicht auf Regulierungen – In vielen Unternehmen ließen sichmit den selbst geschaffenen Regulierungen der betrieblichenAbläufe und Geschehnisse ganze Aktenschränke füllen. Aus derüberwältigenden Mehrheit quillt das Misstrauen zwischen denAktendeckeln hervor. Wir misstrauen unseren Leuten, alsohaben wir auf fünfzehn eng beschriebenen Seiten die Dienst-reisevorschriften in allen Kleinigkeiten geregelt. Wir misstrauenunserem Außendienst, deswegen ist den Kleidungsvorschriftenein ausführliches Kapitel im Außendienst-Handbuch gewidmet.Und so weiter. Schaffen Sie Vertrauen, indem Sie solche Regu-lierungen, die überflüssig sind wie ein Kropf, streichen. Und:Ersetzen Sie sie nicht durch neue.

– Verzicht auf den Geld-Kokon: Um möglichen Missverständnissengleich entgegenzuwirken: Weder spreche ich mich hier für fi-nanzielle Askese aus, noch habe ich etwas gegen Spitzengehäl-ter für Spitzenleistungen. Ganz im Gegenteil – ich habe denEindruck, dass in vielen Unternehmen die Einkommensdiffe-renzierung stärker ausgeprägt sein sollte. Oft verdienen die»Mitläufer«, gemessen an ihrem Beitrag für das Unternehmen,

Erster Weg: Sich verwundbar machen54

Page 29: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

eher zu viel und die Top-Performer, wieder gemessen an derenLeistung bzw. Ergebnis, eher zu wenig. (Mir ist bewusst, dasssolche Äußerungen viel Sprengstoff in sich bergen, aber ichhalte sie dennoch für richtig.) Es geht mir hier um etwas ande-res: Manche Organisationen, vorzugsweise in großen Konzer-nen, haben es sich so eingerichtet, dass jegliche Verwundbarkeitzu einem theoretischen Phänomen geworden ist. Bei Abfindun-gen in Millionenhöhe ist die wirtschaftliche Verwundbarkeit,moderat formuliert, nicht vorhanden. Dieser Zusammenhangwird gern übersehen bzw. tabuisiert: dem Vertrauen sind damitsehr enge Grenzen gesetzt. Einstellungen wie »Der hat ja gutreden, dem kann ja sowieso nichts passieren« liegen auf derHand. Auch hier liegt ein unschätzbarer und unterschätzter Vor-teil der unzähligen Eigentümer-Unternehmer in mittelständi-schen Firmen. Besonders grotesk in der Politik, wo Pensionsan-sprüche mit Aufnahme des Amtes gleichsam vom Himmel fal-len. Wirtschaftliches Risiko ist damit gleich Null. Um Vertrauenauch wirklich gar keine Chance zu lassen, wird jegliches Karrie-rerisiko gleich mit ausgeschaltet: Nach dem Scheitern in der po-litischen Arena erfolgt die individuelle Entsorgung durch Vor-standsposten in Landesbanken oder anderen politiknahen Insti-tutionen.

– Verzicht auf Chefsachen – Noch ein ganz kurzer Blick in die Poli-tik (sie eignet sich einfach gut, um unwirksames Managementzu illustrieren): Immer dann, wenn ein Minister ein Thema ansich reißt und es zur »Chefsache« macht, stehen die betroffe-nen Beamten im Regen. Sie waren ganz offensichtlich der Auf-gabe nicht gewachsen, nicht kompetent oder durchsetzungs-stark genug; haben versagt. Mit der Liste der Beispiele ließensich viele Seiten füllen. In unseren Unternehmen zeigt sich lei-der zu häufig das gleiche Bild: wird es eng, wandert die Zustän-digkeit eine Hierarchiestufe hoch. Wer so agiert, wird die tat-sächliche Belastbarkeit seiner Mitarbeiter, ihre Fähigkeit, mitStress und Druck umzugehen, nie kennen lernen.29) Das»Nadelöhr Vorstand bzw. Geschäftsführung« gehört zu den we-nigen Befunden, bei denen man einen Anspruch auf Allge-meingültigkeit wohl aufrechterhalten könnte. Dabei geht es oftnicht nur um kleinere Zeitverzögerungen im Entscheidungspro-

Verzichten 55

Page 30: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

zess. Für viele Unternehmen ist dieses Nadelöhr so groß (ge-nauer gesagt: klein), dass es zu einer wirklichen Belastung fürdas Unternehmen geworden ist und zu Einschränkungen sei-ner Leistungsfähigkeit führt.

Produzieren Sie keine »Chefsachen«, sondern lassen Sie IhreMitarbeiter in die Verantwortung.

Diesen selbstverständlich klingenden Satz halte ich für so wich-tig, dass ich im nächsten Vorschlag etwas näher darauf eingehe.

Sie werden, auch wenn ich dies für den Idealfall hielte, nichtdie gesamten Vorschläge dieses Verzichtskataloges morgen früheins-zu-eins umsetzen. Aber dennoch: Sie können damit anfan-gen, sofort, noch heute. Beginnen Sie mit den Punkten, die jenach spezifischer Situation in Ihrer Organisation am leichtestenumzusetzen sind. Die Wirkungen werden Sie überraschen. Auchwenn Sie mit kleinen Schritten beginnen, wird dies eine Sogwir-kung entfalten, und Sie werden nach und nach immer mehr un-nötigen Ballast über Bord werfen können.

4. Dauerhaft in die Verantwortung lassen

Es gehört zu den eklatantesten Widersprüchen in unseren Un-ternehmen, dass auf der einen Seite (selbst-)verantwortliches Han-deln der Mitarbeiter gefordert, aber gleichzeitig deren Handlungs-raum durch Hunderte von Vorschriften, Regulierungen und poli-cies verreglementiert wird.

Sollen Mitarbeiter wirklich ernsthaft in die Verantwortunggelassen werden, führt kein Weg daran vorbei, so viel Freiheitzu gewähren, dass jeder Einzelne seine Handlungen selbstwählen kann.

Darüber hinaus erzeugt die Freiheit, seine Handlungen selbstwählen zu können, eine stärkere Bindung an die jeweilige Sache

Erster Weg: Sich verwundbar machen56

Page 31: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

und stärkt die von innen kommende (intrinsische) Motivation.Alle psychologischen und soziologischen Erkenntnisse legen diesnahe. Ohne Vertrauen wird es nie eine Motivation geben, die dau-erhaft und belastbar ist. Ihre Mitarbeiter lechzen geradezu danach,dass Sie sie in die Verantwortung lassen. 30) Beides ist untrennbarmiteinander verknüpft. Verkürzt gesagt, setzt nach Sprenger Ver-antwortung entsprechende Wahlmöglichkeiten voraus. Ich werdebeim achten Weg wirksamer Führung – Wahlmöglichkeiten eröff-nen – auf diese Thematik zurückkommen. Gern und oft wird indiesem Zusammenhang jedoch Entscheidendes übersehen, ichspreche deshalb schon hier eine Warnung aus:

Eintagsfliegen haben eine sehr überschaubare Lebensdauer.

Hinter der simpel anmutenden Aussage verbirgt sich die ernst-hafte Aufforderung zum konsistenten Handeln: Wer durch einma-lige Hauruck-Aktionen versucht, dem hier Gesagten gerecht zuwerden, der wird nicht nur scheitern, sondern Zynismus und zu-sätzliche De-Motivation auslösen. Das Handeln der Führungs-kräfte – und damit die Handlungsmaximen der Organisation ins-gesamt – müssen dauerhaft, stetig und konsistent sein. Diese War-nung klingt einleuchtend. Es gibt auch nahezu keinen Widerstandgegen sie. Und dennoch ist der betriebliche Alltag immer wiedervom Gegenteil gekennzeichnet.

Dazu ein Beispiel: Mitarbeiter Meier hat die Endpräsentationbeim Kunden eigenverantwortlich durchführen können, da Füh-rungskraft Fischer seinen Mallorca-Urlaub nicht unterbrechenwollte. (Wahrscheinlich hat Fischer in den Tagen vor der Präsenta-tion dreimal täglich bei Mitarbeiter Meier angerufen, aber das hatMeier ausgehalten.) Die Präsentation war ein großer Erfolg. Auchin der anschließenden Diskussion konnte Meier den kritischenFragen Stand halten. Inzwischen hat sich auch der Kunde zufrie-den über Meier geäußert. Doch leider bleibt es ein Einzelfall. Beider nächsten Präsentation darf Meier dabeisitzen, aber es redetder Chef. Meier wurde nicht wirklich aus innerer Überzeugung,sondern als Lückenfüller und damit nur scheinbar, in die Verant-wortung gelassen. Meier hatte nur im Ausnahmefall Verantwor-

Dauerhaft in die Verantwortung lassen 57

Page 32: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

tung; die Regel sieht ihn jedoch bestenfalls als Assistenten. Selbst-verständlich hat Führungskraft Fischer mit seinem Verhalten keinVertrauen geschaffen. Ich möchte in diesem Zusammenhangeinen Gedanken von Stephen R. Covey aufgreifen: das Gesetz derErnte. 31) Es besagt im Kern, dass langwierige Versäumnisse ebennicht hier und da noch schnell nachgeholt werden können. DerKollaps ist vorprogrammiert. Gras wächst auch nicht schneller,wenn man daran zieht. Covey bezieht das Gesetz der Ernte aufverschiedenste Lebensbereiche: »Wie viele von uns wünschen, siehätten sich in der Schule nicht durchgemogelt? Wir haben denAbschluss, aber nicht die Bildung…. Und wie steht es mit demCharakter? Kann man durch »Mogeln« plötzlich zu einem auf-richtigen, mutigen und mitfühlenden Menschen werden? Undkörperliche Gesundheit? Kann man den jahrelangen Konsum vonKartoffelchips und Schokokeksen ohne Training von heute aufmorgen ausgleichen, wenn man am Abend vor dem Marathon inden Kraftraum geht? Wie sieht es in der Ehe aus? Wie lang siedauern kann, hängt davon ab, ob sie vom »Gesetz der Schule«oder vom Gesetz der Ernte geprägt ist.« 32) So ist es auch in unse-ren Unternehmen. Wer jahrelang ein Klima des Misstrauens ge-schaffen hat, wird seine Mitarbeiter mit plötzlichen Vertrauens-Ap-pellen nicht erreichen. Sie werden ihm nicht glauben und schongar nicht eine Vertrauensbeziehung eingehen. Wer seine Mitarbei-ter nicht aus Prinzip und auf Dauer in die Verantwortung lässt,sondern mit Einmal-Aktionen vergangene Versäumnisse auszu-gleichen versucht, wird scheitern. Denken Sie aber auch an denUmkehrschluss: wer gemäß dem Gesetz der Ernte in seinem Ver-antwortungsbereich – egal, ob Gesamtunternehmen, Abteilung,Bereich, Team oder auch bilaterale Beziehung – Vertrauen geschaf-fen hat, der wird sich auch einmal einen »Fehltritt« oder hand-werklichen Führungsfehler leisten können. Das aufgebaute Ver-trauen ist belastbarer geworden; die Organisation als Ganzes istrobuster und damit weniger anfällig gegen Krisen. Das »Vertrau-enskonto« ist sozusagen gut gefüllt und eine kleine »Abbuchung«wird entweder gar nicht wahrgenommen oder aber zumindestwird das Konto nicht in die »roten Zahlen« rutschen. Natürlichlässt sich all dies auch wunderbar auf den privaten Bereich über-tragen.

Erster Weg: Sich verwundbar machen58

Page 33: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Selbstverständlich müssen sich eingeräumte Handlungsfreihei-ten innerhalb bestimmter Grenzen bewegen. Sie sind an Bedin-gungen geknüpft. Ohne sie wäre die Freiheit kraftlos und ohneAussage, ohne Bezug und Kontext. Aber wieder kommt es auf dasMaß der Dinge an: ich plädiere dafür, die Bedingungen so »weit«wie möglich zu gestalten – es darf kein Schaden für das Unterneh-men entstehen, die vereinbarten Zielsetzungen sind zu unterstüt-zen und jeder einzelne sollte stärkenorientiert eingesetzt sein – sokönnte beispielsweise ein vernünftiger, weitgesteckter Rahmen aus-sehen, innerhalb dessen sich die Mitarbeiter entfalten können unddie Entscheidungen über ihren jeweiligen konkreten Handlungs-weg eigenverantwortlich treffen. In der Realität unserer Unterneh-men sind sie jedoch besonders »eng« gefasst und in ISO-Hand-büchern, Funktionsbeschreibungen, Policy-Dokumenten, Prozess-diagrammen und weiteren Regulierungsmonstren festgehalten.

5. Mut haben

Man könnte meinen, mit der rasanten Verbreitung des angeb-lich segnungsreichen kooperativen Führungsstils hätte der Mut zuunbequemen Fragen und Diskussionen Einzug in die Chefetagengehalten. Dies ist, vorsichtig gesagt, nicht der Fall. Deutlicher: innoch zu vielen Unternehmen grassiert das Ja-Sager-Tum. Entschei-dungen »von oben« werden vorbehaltlos akzeptiert, auch wenn siefragwürdig sind, man beugt sich den über Jahrzehnte gewachse-nen Ritualen – Planungsritual, Besprechungsritual, Beförderungs-ritual, um nur einige zu nennen – »arrangiert sich« (der Begriffkommt aus dem totalitären Regime der ehemaligen DDR) mitden unzähligen Firmenreglementierungen. Ich habe genug Orga-nisationen erlebt, in denen hoffnungsvolle Nachwuchsleute schonnach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen waren. Der anfäng-liche Elan und die Selbstverantwortung waren zugeschüttet. Ein-stellungen, sogar der Sprachgebrauch, waren »eingenordet«.

Wer sich so verhält, verspielt eine große Chance, Vertrauen zuschaffen. Denn wer mutig seine Überzeugungen darstellt undauch gegen die »Vorgaben von oben« vertritt, der verschafft sichnicht nur Respekt. Er macht sich verwundbar und damit den ers-

Mut haben 59

Page 34: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

ten Schritt in eine Vertrauensbeziehung. Je stärker das Ja-Sager-Verhalten ausgeprägt ist, desto stärker wird die Organisation vonMisstrauen geprägt.

Wohltuend die Ausnahmen. Zum Beispiel Porsche-Vorstands-chef Wendelin Wiedeking, der sich gegen die Auflage der Börsewehrte, Quartalsberichte vorzulegen. Seine Argumentation istschlüssig und glaubwürdig: Berichte über einen Zeitraum von13 Wochen laufen einer langfristigen, nachhaltigen Unterneh-mensentwicklung entgegen, der Geschäftsverlauf muss mindes-tens über den Zeitraum eines Jahres betrachtet werden, im Übri-gen spiegeln die Quartalszahlen das wider, was bei Analysten an-kommt und nicht, worauf es ankommt, um die wahrhaftige Lagedes Unternehmens darzustellen. Eine mutige und offene Argu-mentation. Der bewusste Bruch mit Regulierungen, deren Sinnzu hinterfragen ist, wirkt vertrauensbildend. Wiedeking nahmhierfür sogar einen hohen Preis in Kauf, denn die Notierung imMDax wurde dem Unternehmen entzogen. Selbstverständlich wer-den Aktionäre und Investoren durch das Porsche-Managementgut informiert, wahrscheinlich besser, als die meisten Quartalsbe-richte dazu in der Lage sind.

6. Macht teilen

Dies ist der für viele Führungskräfte schwierigste, aber wahr-scheinlich auch wirksamste Vorschlag, sich verwundbar zu ma-chen und dadurch Vertrauen zu schaffen. Macht teilen kann bei-spielsweise bedeuten, dass Sie Ihre Kundenkontakte nicht in einerverschlossenen Goldtruhe aufbewahren, sondern Ihren Mitarbei-tern zur Verfügung stellen. Sie werden überrascht sein von derverpflichtenden Wirkung, die in aller Regel hiervon ausgeht. Eintypischer Einwand: »Aber kann ein solches Verhalten nicht vonMitarbeitern ausgenutzt werden, die dann eigennützige Ziele mitden neu gewonnenen Kontakten verfolgen?« Das kann sein. DieseMöglichkeit ist sogar integraler Bestandteil des Vertrauensverhält-nisses, das sie eingegangen sind. Gerade darin drückt sich ja IhreVerwundbarkeit aus. Wenn das Ausnutzen Ihres Angebotes kei-nerlei Konsequenzen für Sie hätte, wäre es auch nicht geeignet,

Erster Weg: Sich verwundbar machen60

Page 35: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Vertrauen zu schaffen. Im Übrigen: Das Problem bzw. der Fehlerliegt in diesem Fall nicht in der Weitergabe von Kundenkontakten,sondern darin, dass offensichtlich falsche Mitarbeiter eingestelltwurden, die sich selbst optimieren, statt im Sinne des Gesamt-unternehmens zu arbeiten. Noch ein typischer Einwand: Aber ichmuss doch die Führungskraft bleiben. Ich unterminiere meineeigene Stellung.« Das ist schlichtweg falsch. Die Unterschiedlich-keit der Aufgabengebiete wird keineswegs in Frage gestellt. ImGegenteil: sie wird gefestigt bzw. klarer definiert. In dem Maße,wie Sie Ihre Mitarbeiter in die Verantwortung bestimmter Kun-denkontakte lassen, können Sie sich noch stärker um Ihre Top-Kunden und andere Führungsaufgaben kümmern, die bisher zukurz gekommen sein mögen. Und davon gibt es in den allermeis-ten Fällen viele. Auch in diesem Punkt wird deutlich: gerade weildie Machtverhältnisse, die sich unzählige Führungskräfte über»viele Jahre hart erarbeitet haben«, zementiert und verteidigt wer-den, gibt es in den Unternehmen so wenig Vertrauen. Geradeweil Führungskräfte nichts so sehr fürchten wie Machtverluste, isteine vertrauens-basierte Führung in vielen Unternehmen vonvornherein zum Scheitern verurteilt. Als Alibi werden oftmals dieberüchtigten vertrauensbildenden Maßnahmen eingesetzt: vonder »Vertrauen-Sie-uns-Rede« der Geschäftsleitung vor dem Füh-rungskreis oder der gesamten Belegschaft bis zu den mit Vertrau-ens-Appellen gespickten Hochglanzbroschüren. Es ist so, alswürde eine Pflanze immer wieder gegossen, die an der Wurzelkrank ist. In Unternehmen wird Macht – neben Kontakten – vorallem durch Informationen begründet. Vertrauen schaffen Sie alsodann, wenn Sie Informationen an Ihre Mitarbeiter weitergeben,deren Missbrauch spürbare negative Konsequenzen für Sie hätte.

7. Sich zur Wahl stellen

Dieser Vorschlag ist sozusagen die letzte Stufe auf der Vertrau-ens-Leiter. 33) Sie ist am schwersten zu erklimmen, erzeugt aberauch das Maximum an Vertrauen. Stellen Sie sich Ihren Mitarbei-tern zur Wahl, statt als Vorgesetzter vor-zu-sitzen. Suchen Sie daspersönliche Gespräch und machen Sie unmissverständlich klar,

Sich zur Wahl stellen 61

Page 36: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

dass die Meinung des Gegenübers Ihr Handeln beeinflusst. Schaf-fen Sie anonymisierte Beurteilungen ab, auch die zu 360 Gradpromovierte Ausprägung.

Hand aufs Herz: wie häufig kommen Ihre Mitarbeiter von sichaus mit kritischen Anmerkungen bezüglich Ihres Führungsverhal-tens auf Sie zu? Falls Sie nun einwenden, deutliche Kritik vonunten nach oben könne – wenn überhaupt – allenfalls in anony-misierten Befragungen transportiert werden, dann ist dem in allerEntschlossenheit folgendes zu entgegnen: Wer Mitarbeiter hat, dieanonym bleiben wollen, der hat als Führungskraft versagt. 34) Dasviel zitierte Klima der Offenheit ist dann nur eine wertlose Luft-blase. In angeblich besonders fortschrittlichen Unternehmen wirdentgegnet: wir haben ja moderne Beurteilungsinstrumente, sogardas 360-Grad-Feedback. Dabei geht es darum, dass die Führungs-kraft nicht nur von Vorgesetzten, sondern auch von Mitarbeitern,hierarchisch Gleichgestellten und gegebenenfalls weiteren Part-nern des Unternehmens beurteilt wird. Mir scheint in diesem Zu-sammenhang eine doppelte Relativierung angebracht. Zunächstdie Beurteilung durch Gleichgestellte: sie ist ein willkommenesEinfallstor, um die eigene Positionierung relativ zum Beurteiltenzu verbessern. Warum bitte sollte ich die Leistungen eines Kolle-gen in besonderer oder auch nur angemessener Weise würdigen,wenn ich mit ihm um den Bonustopf oder sogar den nächstenSchritt auf der – schmaler werdenden – Karriereleiter konkur-riere? Wer hier fordert, sachlich zu sein und Eigeninteressen aus-zuschalten, ist ein Phantast. Dann die Beurteilung durch Mitarbei-ter: haben sie wirklich Konsequenzen? In aller Regel nicht. Ein»Vielen Dank für die wertvollen Hinweise« ist noch die positivstealler denkbaren Reaktionen. Spürbare Konsequenzen braucht derschlecht beurteilte Chef nicht zu fürchten. Wenn man davon aus-geht, dass Beurteilungen nur dann keine Zeitverschwendungsind, wenn sie angemessene, der Beurteilung entsprechende Kon-sequenzen nach sich ziehen – und diesen Standpunkt vertrete ichmit aller Entschlossenheit – dann wird wirksam nur in eine Rich-tung beurteilt: top-down. Alles andere ist unehrliche, unwirksameund dem Zeitgeist folgende Sozialromantik, die nach dem Ap-plaus aus der Mitarbeiterschaft schielt und nicht nach der Wirk-samkeit für die Leistungskraft des Unternehmens fragt.

Erster Weg: Sich verwundbar machen62

Page 37: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

8. Fazit – Vertrauen: Mythen und Fundamente

Die vorgestellten Vertrauens-»Mythen« schaffen angeblich Ver-trauen. Sie eignen sich jedoch meiner Ansicht nach bestenfallsdazu, bereits bestehendes Vertrauen zu erhalten. In Entgegnungzur sogenannten herrschenden Meinung habe ich dargestellt, dassniemand Vertrauen schaffen kann, indem er einen bestimmtenFührungsstil – zum Beispiel kooperativ – bevorzugt, aktiv um Ver-trauen wirbt, auch Fehler zuzugeben bereit ist, aktiv zuzuhörenversucht, sich durch eine gradlinige Art auszeichnet, den Freude-durch-Arbeit-Ansatz verfolgt oder Beziehungen langfristig aufbaut.

Der wirksamste Weg, Vertrauen entstehen zu lassen, besteht da-rin, sich verwundbar zu machen. Die Praxis in den meisten Unter-nehmen steht dem aber diametral entgegen. Gerade weil Füh-rungskräfte alles tun, um ihre Macht abzusichern; gerade weil sienichts mehr fürchten als Verletzlichkeit, gibt es so wenig vertrau-ensbasierte Unternehmen. Sie halten das für realitätsfern undnicht umsetzbar? Einverstanden, ich habe das zu respektieren. Er-warten Sie dann aber bitte nicht, dass aus Ihrem Unternehmeneine vertrauens-basierte Organisation wird. Oder finden Sie dieGrundgedanken schon »irgendwie nachvollziehbar« und fragen sichaber noch, welche der vorgeschlagenen Schritte sie durchführenkönnen, auch gewissermaßen als Test? Ich habe hierfür Vor-schläge entlang von sieben Strängen gemacht, mit denen Siedurch konkrete Handlungen Vertrauen entstehen lassen können:

– Jemanden wirklich brauchen – Ihre Mitarbeiter lechzen danach,gebraucht zu werden, auch wenn man ihnen das auf den erstenBlick nicht (mehr!) ansieht. Zeigen Sie erstens durch Ihr Han-deln, dass der Mitarbeiter einen Unterschied macht und Sieohne ihn ein kleines, wie auch immer definiertes Problem hät-ten und entwickeln Sie zweitens Assignments, mit denen Siefordernde und fördernde Aufgaben für eine bestimmte Zeit de-finieren (lieber zwei »große« Aufgaben als fünfzehn kleine!)und den konkreten Beitrag jedes Einzelnen verdeutlichen.

– Ergebnisse – Überlassen Sie Ihren Mitarbeitern die Entscheidun-gen, auf welchen individuellen Wegen sie zu vereinbarten Er-gebnissen bzw. Beiträgen kommen. Die Lösungen werden in

Fazit 63

Page 38: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

der Summe vielfältiger, marktnäher und wirksamer sein als einzentralistischer »ich-will-alles-in-der-Hand-haben-Ansatz« es be-wirken könnte. Ihre Mitarbeiter werden auf Sie zukommen,wenn Sie Probleme haben – umgekehrt sollte es nicht sein.

– Verzichten – Durchforsten Sie den Misstrauenskatalog, der vonReportings und Zugangsbeschränkungen, über Kontrollsystemeund Regulierungen unterschiedlichster Art, bis zu Chefsachenund Abfindungen in Millionenhöhe reicht, nach Möglichkeitenzur ersatzlosen Streichung.

– Dauerhaft in die Verantwortung lassen – Beachten Sie das »Gesetzder Ernte«, ansonsten werden Sie Zynismus statt Vertrauen ernten.

– Mut haben – Stellen Sie in Frage, was Ihnen frag-würdig er-scheint; unabhängig davon, wen oder was Sie adressieren.

– Macht teilen – Teilen Sie Informationen und Kontakte. Miss-brauchsmöglichkeiten sind integraler Bestandteil der dadurchentstehenden Vertrauensbeziehung. Zusätzlich erhalten Sieneue Freiräume für wichtige Führungsaufgaben.

– Sich zur Wahl stellen – Wer sich selbst und seine Führungslei-stung auf den Prüfstand und zur Wahl stellt, wird das Maxi-mum an Vertrauen schaffen.

Testen Sie diese Wege und die darin enthaltenen Vorschläge aus!Schieben Sie den Test-Start nicht hinaus, sondern fangen Sie nochheute an! Sie werden von den positiven Wirkungen überrascht sein.

Vertrauen ist die wichtigste Basis für wirksame Führung.

Ohne Vertrauen wird Selbstverantwortung der Mitarbeiter nieentstehen. Man könnte auch pointiert sagen: Vertrauen ist Bezie-hung. Schaffen Sie ein warmes, sozial-emotionales Klima, dasdurch wirkliches Interesse am Mitarbeiter, durch eine Atmosphäredes Ernstnehmens und durch gegenseitigen Respekt und Auf-merksamkeit geprägt ist.

Im Folgenden stelle ich Ihnen zwei weitere Wege zur Schaffungvon Vertrauen vor. Sie sind mit den einfachen Worten Freiheitund Klarheit überschrieben. Hinter diesen Worten verbergen sichjedoch enorme Verbesserungspotenziale für die allermeisten Füh-

Erster Weg: Sich verwundbar machen64

Page 39: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

rungskräfte. Denn in der Regel sind die Phänomene Freiheit undKlarheit über viele Jahre systematisch zugeschüttet worden.Schaufeln wir sie also wieder frei!

26) vgl. Sprenger, ebenda, S. 100–113.27) Reinhard Sprenger hat die logische Kette Verwundbarkeit – Vertrauen – Verpflich-

tung erarbeitet. Meine Darstellung typischer Anwendungsgebiete verfolgt das Ziel,die Thematik einen Schritt weiter hin zur praktischen Handhabung zu entwickeln.

28) Der Begriff »Entdeckungsverfahren« geht zurück auf Friedrich August von Hayek.Vgl. von Hayek, Die Anmaßung von Wissen, S. 244 f. In der theoretischen Fundier-ung des Begriffes beschreibt von Hayek das Phänomen, dass bei ausreichenderHandlungs- und Geistesfreiheit immer Lösungen entwickelt werden, die denjenigenüberlegen sind, die unter reglementierten oder – im Extremfall – totalitären Bedin-gungen entstehen.

29) Vgl. Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 181 f.30) vgl. Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 41–46. Reinhard Sprenger hat

die Formulierung »in die Verantwortung lassen« geprägt. Vgl.ebenda, S. 172.31) vgl. Covey; Der Weg zum Wesentlichen, S. 47–49.32) ebenda, S. 49.33) vgl. hierzu Sprenger,Vertrauen führt, S. 109. Sprenger weist darauf hin, dass hier-

durch das Maximum an Vertrauen ermöglicht wird.34) Diese pointierte Sichtweise verdanke ich Reinhard Sprenger. Vgl. Sprenger, Auf-

stand des Individuums, S. 67.

Page 40: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete
Page 41: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Zweiter Weg:Freiheit fördern

Vertrauen ist unmittelbar mit Freiheit verbunden: Wer Freiheitenzulässt, wird Vertrauen ernten.

Regt sich bei dieser These Widerstand in Ihnen? Vielleicht den-ken Sie: »Es muss Hierarchien und Regeln geben, sonst kanneine Organisation doch gar nicht funktionieren.« Sie haben ganzRecht. Natürlich sind Freiräume eben Räume – und diese habenGrenzen. Mir geht es hier um das Maß der Dinge. Denn ich be-haupte, dass sich in der Mehrzahl der Unternehmen deshalb nurwenig Vertrauen entwickeln kann, weil kaum Freiheiten vorhan-den sind, weil Mitarbeitern keine Freiräume zugestanden werden.

Eine wichtige Ursache für diesen Mangel an Freiheiten liegt da-rin, dass das vielzitierte »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« prakti-ziert wird. Schließlich muss man sich nicht wundern, dass Mitar-beiter zynisch reagieren, wenn dieselben Firmen gleichzeitig mitauf Hochglanz polierten Visionsbroschüren oder Führungsleit-linien verkünden, dass »das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unsererMitarbeiter eine zentrale Säule unserer Unternehmenskultur darstellt.«

Doch wie dem entgegensteuern? Um in der hier entwickeltenArgumentation weiterzugehen, bedarf der große Begriff der Frei-heit noch einer Konkretisierung. 35) Also: Um eine vertrauens-basierte Unternehmung zu schaffen, müssen Sie Freiheit in fünfAusprägungen zulassen:

– Freiheit vor übertriebener Fürsorge– Freiheit vor Überreglementierung– Freiheit vor Perfektionismus– Freiheit vor Fehlerintoleranz– Freiheit vor Gleichmacherei

Die Umsetzung der Vorschläge zu diesen fünf Punkten schafftmeiner Erfahrung nach Mitarbeiterbindung in einer Qualität, die

67Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 42: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

durch die goldenen Ketten der Boni und Aktienoptionspakete nieerreicht werden kann. Und ich gehe noch weiter: Freiheit entlangdieser fünf Dimensionen ist jedem klassischen (antiquierten) Mit-arbeiter-Bindungsprogramm haushoch überlegen. Es kostet keineneinzigen Euro, bedarf aber hochwirksamer Führung. Die Grundan-nahme des zweiten Weges zu wirksamer Führung ist deshalb:

Freiheit bindet.

Sehen Sie nun, wie sich diese fünf »Freiheitselemente« inIhrem Führungsalltag konkret umsetzen lassen.

1. Freiheit vor übertriebener Fürsorge

a. Bärendienste

Das Thema Arbeitsplatzsicherheit bzw. betriebsbedingte Kündi-gungen habe ich bereits in anderem Zusammenhang angespro-chen. Doch auch hier eignet sich dieses Beispiel bestens zur Illust-ration der Bärendienste, die wir uns erweisen. Wir schimpfenzwar alle gegen die Planwirtschaft, in unseren Unternehmen aberwird sie praktiziert, wenn Arbeitsplatzsicherheit über Jahre hinausgarantiert wird. Wer Arbeitsplatzsicherheit unter marktwirtschaft-lichen Wettbewerbsbedingungen garantiert, verspricht etwas, wasgar nicht versprochen werden kann und setzt damit eher umge-kehrt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Was aber in dem hier rele-vanten Zusammenhang noch wichtiger ist: er setzt den Vertrau-ensmechanismus außer Kraft. 36) Denn eine Vertrauensbeziehungsetzt Wahlmöglichkeiten voraus – und zwar auf beiden Seiten.Auch der Arbeitgeber muss die Möglichkeit haben, die Kooperati-onsbeziehung zu beenden. Dieser Möglichkeit hat sich das Unter-nehmen im genannten Beispiel selbst beraubt. Wohlgemerkt:Kein Markt, kein Wettbewerb oder sonstige externe Einflüssehaben es dazu gezwungen. Der Beginn der Vertrauenskrise, dieErosion des Vertrauensfundaments, ist hausgemacht. Und wer sohandelt, gießt Wasser aus großen Eimern auf die Mühlen des An-

Zweiter Weg: Freiheit fördern68

Page 43: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

spruchsdenkens. Es ist dann auch kein Wunder, wenn personal-wirtschaftliche Verhandlungen und marktorientierte Verände-rungsprozesse unter dem Damoklesschwert der »Besitzstände« ste-hen. Auch der völlig überzogene betriebliche Kündigungsschutz,eine so genannte Errungenschaft zur vorgeblichen Sicherung vonArbeitsplätzen (genauer: Beschäftigung), ist ein Bärendienst indoppelter Hinsicht: Volkswirtschaftlich schadet er den Arbeits-platz-Suchenden und zementiert die »Besitzstände« der Arbeits-platz-Besitzenden. Betriebswirtschaftlich betrachtet ist er der besteDünger für Misstrauens-Wildwuchs. In einer neuen Studie hatdas Center for Economic Performance, eine der anerkannten euro-päischen Adressen für angewandte Wirtschaftsforschung, Füh-rungsaspekte und -qualität in Unternehmen verschiedener euro-päischer Länder verglichen. Das für die hier analysierten Zusam-menhänge relevanteste – und hochinteressante – Ergebnis: DieQualität der Personalführung korreliert mit der Flexibilität des je-weiligen Arbeitsmarktes. In Ländern mit flexiblen Arbeitsmärktensteigt die Qualität des Personalmanagements und umgekehrt. In-sofern wird den deutschen Führungskräften erheblicher Nachhol-bedarf in Führungsfragen attestiert. 37) Ein weiterer, typischerBärendienst wird dann geleistet, wenn abwanderungswillige Mitar-beiter mit hohen Geldsummen gehalten werden sollen. Warum?Der Volksmund sagt: Reisende soll man nicht aufhalten. So istdas auch in unseren Unternehmen. Sonst werden Eigenverpflich-tung und Selbstverantwortung durch einseitige, verrechtlichte Ga-rantien oder goldene Handschellen ersetzt. Und das Managementwundert sich, dass einfach keine vertrauensorientierte Zusam-menarbeit entstehen will. So kann sie gar nicht entstehen.

b. Entlarvungen

Die genannten Bärendienst-Beispiele haben eine interessanteGemeinsamkeit: Sie sind durch übertriebene Fürsorge motiviert.

In vielen Unternehmen sind die Führungskräfte in WirklichkeitFürsorge-Kräfte. 38)

Freiheit vor übertriebener Fürsorge 69

Page 44: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Sie überschütten ihre Mitarbeiter mit – wahrscheinlich überwie-gend gut gemeinter – Fürsorge, etwa so: »Herr Rottmann, meinenSie nicht, wir sollten den Kunden für die Präsentation übermor-gen noch mal anrufen und die wichtigsten Ergebnisse vorabdurchsprechen?« Darauf Rottmann: »Nein, ich denke nicht. Ichhabe zuerst auch daran gedacht, aber der Kunde hat mir aus-drücklich signalisiert, dass er keine Vorab-Informationen möchte,um die Diskussion übermorgen möglichst offen und lebendig zuhalten.« »Ach, Rottmann – ich bin jetzt fast 20 Jahre im Geschäft.Unsere Kunden wissen es zu schätzen, dass wir sie vorab infor-mieren. Rufen Sie ihn bitte heute noch an.« Rottmann ruft an.Rottmann fühlt sich demotiviert, frustriert und bevormundet, weilsein Chef sein Misstrauen deutlicher kaum zur Schau hätte stel-len können. In der Folge werden viele Arbeitsplätze zu initiativ-freien Räumen. Die Mitarbeiter tauchen ab und gehen sozusagenin die innere Arbeitslosigkeit. Das äußere Erscheinungsbild ist derDienst nach Vorschrift. Mit mechanischer Sicherheit gilt: Fürsorgemacht passiv.

Übertriebene Fürsorge untergräbt jede Selbstverantwortung.Deshalb: »Tun Sie nichts, was der Mitarbeiter selbst tunkönnte.« 39)

Fataler Unternehmensalltag: Die so genannte Führungskraftentscheidet, wann und wodurch der Mitarbeiter gut auf den Prä-sentationstermin vorbereitet ist. Im skizzierten Beispiel kommt esja noch schlimmer: Die Führungskraft entscheidet des Weiteren,dass der Kunde seinen eigenen Denk- und Erfahrungsmustern zuentsprechen hat. Warum ist das so? Ich wage zu behaupten: diebeiden wesentlichen Treiber solchen Verhaltens sind Angst undEitelkeit. Angst, weil Probleme beim Präsentationstermin negativauf die Führungskraft zurückfallen könnten (»Sie haben IhreLeute wohl nicht im Griff ?«) und Eitelkeit, weil die eigene Uner-setzlichkeit auf diesem Wege dokumentiert werden soll.

Es gibt nur eine Ausnahmesituation, in der Mitarbeiter tatsäch-lich sehr viel Zeit, Widmung und Zuwendung brauchen: dannwenn sie in einen neuen Aufgabenbereich oder ganz neu in die

Zweiter Weg: Freiheit fördern70

Page 45: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Organisation kommen. Diese Integrationsaufgabe erfordert in derTat etwas, was man meinetwegen auch Fürsorge nennen kann.Groteskerweise werden jedoch gerade die „Neulinge“ oft genugorientierungslos im Regen stehen gelassen – in der einen und ein-zigen Zeit, in der sich andere intensiv um sie kümmern sollten.Im Ergebnis ist dann nach der sechsmonatigen Probezeit beidenSeiten nicht wirklich klar, ob es passt. Welch vertane Chancen!

Von der Ausnahmesituation der Integration neuer Mitarbeiterabgesehen, gilt im Grundsatz: Solange Sie die Probleme IhrerMitarbeiter lösen, werden diese auch zu Ihnen kommen, um ihreProbleme gelöst zu bekommen. Die Mitarbeiter richten es sich ge-schickt ein in der Bequemlichkeit betrieblicher Kuschelecken.Denn wer keine Initiative zeigt, der kann auch nicht anecken. Werkeine Entscheidungen trifft, der läuft auch nicht Gefahr, eine Fehl-entscheidung zu fällen. Und wer keine Verantwortung über-nimmt, der kann auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden.40)

Im Ergebnis: Die Mitarbeiter haben keinerlei Verantwortung fürihr Tun und die Führungskraft ist hoffnungslos überlastet (»Allesmuss ich selbst erledigen«). Meine Empfehlung ist klar und ein-fach: Haben Sie Vertrauen zu Ihren Mitarbeitern. Das heißt: Ma-chen Sie unmissverständlich deutlich, dass Sie keinen Zweifeldaran haben, dass ihr Mitarbeiter selbst entscheiden und handelnwird. Machen Sie das Angebot, als Gesprächspartner zur Verfü-gung zu stehen. Lassen Sie dann aber auch bitte den Mitarbeiterentscheiden, ob und wann er dieses Angebot annimmt. Sprengerfasst es so zusammen:

Führung heißt, selbständige Suchprozesse beim Mitarbeiteranzuregen.41)

Solche Suchprozesse initiieren Sie, in dem Sie Ihren Mitarbeiteretwa mit folgenden Fragen seine eigenständigen Fähigkeiten ent-decken lassen:

– Wo liegen aus Ihrer Sicht die Vor- und Nachteile?– Woher können Sie weitere Informationen bekommen?– Welche Alternativen kommen in Betracht?

Freiheit vor übertriebener Fürsorge 71

Page 46: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Hierzu ein einfaches, aber typisches Beispiel: Ihr Mitarbeiter Mül-ler leitet eine Marktforschungsstudie für einen wichtigen Kunden.Er kommt zu Ihnen und fragt, ob der Abgabetermin nicht um2–3 Tage verschoben werden kann. Er würde das natürlich nicht ent-scheiden können – der Kunde sei ja schließlich wichtig. Lösen Siedas Problem für Ihren Mitarbeiter, verlieren Sie ihn ganz. Schlimmgenug, dass er sich, obwohl er das Projekt leitet, für zu schwach undinkompetent hält, um es eigenverantwortlich zu lösen. Wahrschein-lich ist ihm schon über eine lange Zeit selbstverantwortliches Han-deln abtrainiert worden. Das Ergebnis im Kopf ist dann, wie gesagt,Dienst nach Vorschrift. Lassen Sie Ihren Mitarbeiter in die Verant-wortung! Vielleicht wird er zunächst überrascht oder verunsichertsein, aber – da gehe ich jede Wette ein – er wird motiviert und eigen-verantwortlich die Problemlösung angehen. Natürlich können SieHilfestellungen im obigen Sinne anbieten, z.B.: »Welche Auswir-kungen hätte eine Verschiebung auf die Zufriedenheit des Kun-den?« Oder: »Welche internen Möglichkeiten haben wir, um die of-fenen Punkte doch noch in der verabredeten Zeit zu lösen?« Ichhabe in meiner praktischen Arbeit immer wieder gesehen, welchenorme Wirkung diese einfachen Fragen entfalten können.

Das Phänomen übertriebener Fürsorge zeigt sich an vielen Stel-len der betrieblichen Abläufe, zum Beispiel bei Leistungsbeurtei-lungen. Fast schon lächerlich wird es, wenn Vor-Gesetzte in dasstandardisierte Beurteilungs-Formblatt ohne Rücksprache eintra-gen, welche Seminare und Trainings für den Mitarbeiter als näch-stes anstehen. Tolle Selbstverantwortung. Manch einer wird den-ken: »Dann gibt es ja keine Führung mehr und jeder macht waser will.« Einspruch: Natürlich braucht jedes Unternehmen Füh-rung. Aber eine andere Art von Führung. Nicht übertriebene Für-sorge, die die Mitarbeiter entmündigt und jede Form selbstverant-wortlichen Handelns untergräbt, sondern Führung, die auf Ver-trauen basiert, Mitarbeiter in die Verantwortung lässt und ihnenindividuelle Freiräume gewährt.

Zweiter Weg: Freiheit fördern72

Page 47: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

2. Freiheit vor Überreglementierung

Wir leben in Deutschland in einem Land, in dem über 55000Normen in mehr als 1800 Gesetzen das gesellschaftliche Mitein-ander regeln. Ich frage mich immer, warum es erst sehr zögerlicheine intensivere Auseinandersetzung mit der Frage gibt, welcheNormen man ersatzlos streichen könnte, ohne dass das öffentlicheLeben hierdurch in irgendeiner Art und Weise beeinträchtigtwürde. Der Vermutung, dass es mehrere Zehntausend sein müs-sen, kann ich mich nicht erwehren. Im Übrigen schränkt jedesGesetz Freiheitselemente ein; es wuchert der allgegenwärtigeStaat. Wir leben in einem Land, in dem Industrieunternehmenauf die gleiche Baugenehmigung, die in anderen Ländern sechsWochen dauert, acht Monate lang warten müssen; in dem eineUnternehmensgründung fünf bis zehn Mal länger dauert als inanderen europäischen Ländern; in dem viele Monate lang über ge-setzlich diktierte Ladenschlusszeiten gestritten wird mit dem Er-gebnis, dass die Reglementierungsdichte zunimmt und die Un-Freiheit im Wesentlichen bestehen bleibt; in dem jeden BauherrenAlpträume heimsuchen, da ihm ein unsäglicher Vorschriften-Dschungel die Investition durchkreuzen kann; in dem durcheinen überreglementierten Arbeitsmarkt die Arbeitsplatz-Besitzen-den in ihrem kuscheligen Kokon geschützt und die Arbeitsplatz-Suchenden – deren Integration ja angeblich so wichtig ist – diskri-miniert werden. Die Liste zu verlängern wäre ein Leichtes.

Ist es da nicht nur logisch, dass unsere Unternehmen ebenfallsvon den Reglementierungs-Fanatikern heimgesucht werden? Hatein Unternehmen hier überhaupt eine Chance, sich dem Regulie-rungs-Dickicht zu entziehen? Ich meine, ja. Es ist möglich – zu-mindest was die »innere Verfasstheit« anbetrifft. Und es ist eineAufgabe mit oberster Priorität für wirksames Management. Zwarkönnen die von außen auferlegten, volkswirtschaftlichen Fesseln,von Umweltvorschriften bis zur Gleichmacherei des Tarifkartellsnicht vollständig negiert werden (obwohl immer mehr Unterneh-men mit dem Ausscheren aus den Stricken der Flächentarifver-träge genau dies schon tun), aber der inner-organisatorische Zu-stand eines Unternehmens – seine innere Verfassung – ist undbleibt Gestaltungsaufgabe des Managements. Und hier gibt es lei-

Freiheit vor Überreglementierung 73

Page 48: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

der nicht minder viel zu tun, denn sehr viele Unternehmen sindzu extrem verreglementierten Gebilden geworden. Wenn sich hieretwas ändern soll, so ist es zunächst wichtig, die Abschaffung derÜberreglementierung im direkten Zusammenhang mit der Schaf-fung von Vertrauen zu sehen – denn gerade Vertrauen wird dasbelastbarste Fundament für die Weiterentwicklung des Unterneh-mens auch und gerade in schwierigen Zeiten sein.

Wo sich Reglementierungen,Vorschriften und Policies wieMehltau über die Organisation legen, kann sich Vertrauenkaum entwickeln.42)

Besonders große Unternehmen sind anfällig für Reglementie-rungen. Robert H. Douglas, ehemals Vice-President bei Shell, zogeinen treffenden Vergleich: »Riesen-Organisationen verhalten sichwie alte Menschen. Kein Wunder, denn schließlich sind sie Hun-derte von Jahren alt. Sie sind deswegen so langsam, weil bei jedemDesaster ein neuer Kontrollmechanismus eingeführt wird. Aber eswird kein anderer dafür geopfert.«43) (Auch eine Parallele zur An-zahl der Gesetze in unserem Land.)

Schaffen Sie Freiräume in Ihrem Unternehmen, indem Sie suk-zessive Streichungen im Regulierungs-Dickicht Ihrer Organisa-tion durchführen. Jede einzelne Verordnung, Regelung, Policy,Richtlinie gehört auf den Prüfstand!

Das Prüfkriterium muss dabei in etwa heißen: Wenn kein dau-erhafter Wettbewerbsnachteil für das Unternehmen bzw. den be-troffenen Verantwortungsbereich droht, ist die Regulierung zustreichen – und zwar ersatzlos. Die damit einhergehende Manage-ment-Logik lautet: Streiche solange, bis es nichts mehr zu strei-chen gibt, ohne dass das Wesen verändert wird. Ohne Anspruchauf Vollständigkeit empfehle ich Ihnen im Folgenden einige heißeKandidaten, die auf der Streichliste ganz oben stehen sollten:

Da sind zunächst die Organisations- und/oder Prozesshandbücher,mit denen die innerbetrieblichen Abläufe festgehalten werden sol-

Zweiter Weg: Freiheit fördern74

Page 49: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

len. In ihnen wird, minutiös unterstützt durch unleserliche Gra-phiken, jeder Einzelschritt der Leistungserstellung festgehalten,Schnittstellen definiert (aber selten eingehalten) und Organisati-onseinheiten beschrieben. Wenn man das betriebliche Geschehenin der Logik der Organisations- und Prozesshandbücher zu Endedenkt, dann müssten bei jeder noch so kleinen Innovation undbei jedem kreativen Gedanken erst einmal Genehmigungen dafüreingeholt werden, denn sie verstoßen mit Sicherheit gegen diefestgeschriebenen Abläufe – sonst wären sie ja weder innovativnoch kreativ. Ich habe noch keine einzige Darstellung der betrieb-lichen Abläufe gesehen, die das jeweilige Unternehmen wirklichweitergebracht; d. h. seine Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit di-rekt oder indirekt verbessert hätte. Im Gegenteil: diese Formender Reglementierung sind in hohem Maße veränderungs- und in-novationsschädlich. Es lebe der Status quo!

Ein weiterer Regulierungsklassiker ohne Wirkung sind die Funk-tions- oder Stellenbeschreibungen, mit deren Hilfe beschrieben wer-den soll, was wo zu tun ist. Niemand glaubt ernsthaft, dass die in-nerbetriebliche Arbeitsteilung hierdurch effizienter oder effektiverwürde, aber jeder hat sie. Mit der Lektüre von Funktionsbeschrei-bungen weiß man dann aber noch lange nicht, welche Aufgaben(assignments) wo erledigt werden und geschweige denn, welcheLeistungen erbracht werden und welchen Beitrag eine Abteilung,ein Bereich oder gar ein einzelner Mitarbeiter insgesamt leistet.

Reisekostenverordnungen nenne ich als drittes Beispiel. Sie bietenden Regulierungs-Fanatikern einen besonders nahrhaften Boden.Jedes Detail wird geregelt, so dass die Abrechnung so manches Se-kretariat zur Verzweiflung bringt. Einen pauschalen Betrag proTag zu erstatten und den Mitarbeiter in die Verantwortung zu las-sen, was er sich hierfür leistet und was nicht, ist nicht nur unterFührungsgesichtspunkten eindeutig vorzuziehen, sondern spartgleichzeitig Verwaltungskosten.

Immer dann, wenn Mitarbeiter nicht im direkten Zugriff, unterdirekter Kontrolle stehen, nimmt die Regulierungsdichte weiterzu. Somit ist der Außendienst in vielen Unternehmen bis inskleinste Detail reglementiert. Selbst über die Wahl des Sakkosbraucht sich der Mitarbeiter keine Gedanken mehr zu machen,denn die Bekleidungsvorschriften regeln dies unmissverständlich.

Freiheit vor Überreglementierung 75

Page 50: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Die große Gemeinschaft der Reglementierungen hat seit eini-gen Jahren ein populäres Mitglied hinzugewonnen: die ISO-Hand-bücher des Qualitätsmanagements. In zig Ausprägungen sind un-sere Unternehmen mit so genannten Qualitätsstandards überzo-gen worden.

Wer in verantwortlicher Position der Qualität, die in Handbüchernbehauptet wird, mehr Glauben schenkt als der Qualität, dieder Markt nachweist, der sollte sich ernsthaft in Frage stellen.44)

Ich spare es mir, die Beispielliste beliebig zu verlängern. Ummeine These, die sich aus Beobachtungen in unterschiedlichstenUnternehmen über die Jahre gefestigt hat, auf den Punkt zu brin-gen: ich halte 80–90 % der hausgemachten Reglementierungenfür überflüssig. Sie gehören in den Papierkorb. Ersatz ausge-schlossen.

Reinhard Sprenger hat es auf den Punkt gebracht: Vorschriftenerzeugen Dienst nach Vorschrift. So zum Beispiel in den Unter-nehmen, in denen die grell tönende Sirene unmissverständlichklarmacht: jetzt ist Mittagspause, jetzt habt Ihr Hunger – undzwar alle – jetzt sind wir 45 Minuten nicht erreichbar. Die Regulie-rungsflut bringt übrigens in vielen Unternehmen eine andere, ausmeiner Sicht nicht minder fatale Wirkung mit sich. Es wird im-mer schwieriger, sich im Dschungel aus Vorschriften zurechtzu-finden. Am Ende machen diejenigen Karriere, die administrativstark sind und nicht diejenigen, die die größten Markterfolge vor-weisen können. Schön, wer sich das dauerhaft leisten kann.

3. Freiheit vor Perfektionismus

Von der Reglementierungsflut und -wut ist es nur ein winzigerSchritt zum Perfektionismus. Der Perfektionist umgibt sich mitimmer mehr Regeln und Verordnungen, um seine Angst zu be-kämpfen. Er ordnet und ordnet bis zur »Vervollkommnung« derVerordnungen.

Zweiter Weg: Freiheit fördern76

Page 51: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Hinter der makellosen Fassade des Perfektionisten verbirgtsich der zutiefst unsichere Mensch.

Dabei kommen Perfektionisten mit gutem Ruf daher. Wer eine Sa-che perfekt beherrscht, steht in der Regel hoch im Kurs und kannsich umfassender Anerkennung sicher sein. Das Problem ist nur,dass sich Perfektionismus und wirksame Führung gegenseitig aus-schließen. Wer viel bewegen möchte, wird um Perfektionismuseinen großen Bogen machen müssen, denn bevor eine Angelegen-heit bis ins allerletzte Detail – scheinbar perfekt – geregelt ist, hättenan vielen anderen Stellen grundsätzliche Fragen erörtert und »großeHebel« bewegt werden können. Damit will ich natürlich nicht aus-schließen, dass man sich gegebenenfalls sehr tief in einzelne Sach-verhalte einarbeiten muss; auch im Top-Management; ansonstensind viele komplexe Entscheidungssituationen gar nicht zu durch-dringen. Wer aber grundsätzlich Perfektion im Management an-strebt, wird als Sisyphos enden, besonders in einer Umgebung rasan-ter Veränderungen und Umwälzungen. Mehr noch: Kreativität,Spontaneität usw. können in einem Klima des Perfektionismus nichtgedeihen. Perfektionisten streben danach, das Unternehmen undseine geschäftsbestimmenden Abläufe »idiotensicher« zu machen.Mit mechanischer Sicherheit ziehen solche Unternehmen dannauch Idioten an. In diese Gedankenwelt passt eine Führungslehre,die es immerhin bis zur neunten Auflage gebracht hat. Der Autorschlägt vor, dass neue und ausscheidende Mitarbeiter mit Hilfe eines»Laufzettels« in die Lage versetzt werden, nichts zu vergessen:»Haustürschlüssel abgegeben, weitere Schlüssel abgegeben, Diktier-gerät abgegeben, Arbeitshandbücher abgegeben, aus der Bibliothekentliehene Bücher abgegeben, Organisationshandbuch (da ist es wie-der!, Anm. d. Verf.) zurückgegeben, Ausbildungsbücher zurückgege-ben, Zeitplansystem zurückgegeben, Ausweis für vergünstigte Ein-kaufsmöglichkeiten zurückgegeben, restliche Visitenkarten mir Fir-meneindruck zurückgegeben, Konferenzprotokolle und Seminarun-terlagen zurückgegeben, letztes gültiges Passwort für das EDV-Netzder EDV-Abteilung mitgeteilt, alle relevanten Daten und Verzeich-nisse im PC dem Vorgesetzten oder Nachfolger zur Verfügung ge-stellt, Autovermietungskarte zurückgegeben.« Mit Verlaub, das ist

Freiheit vor Perfektionismus 77

Page 52: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Lichtjahre von der Realität entfernt, grotesk und schwachsinnig. Werso etwas vorgelegt bekommt, sollte alles mitnehmen, was nicht draufsteht: Laptop, Firmenwagen, Schreibtisch, …

Wer nach Perfektion strebt, treibt sein Unternehmen in denRuin.

Der ehemalige Chef einer deutschen Bank bezeichnete sich als»Perfektionist mit Null Toleranz«. Ende 2002 musste er gehen,weil er die Erwartungen des Mehrheits-Anteilseigners nicht erfül-len konnte. Natürlich lassen Perfektionisten keine Fehler zu. Da-mit sind wir beim vierten Freiheitselement, das unsere Unterneh-men brauchen.

4. Freiheit vor Fehlerintoleranz

Wenn es um Fehler und deren Vermeidung geht, sind wir aufeinem weiteren Feld, in dem Hochglanzbroschüren dramatischvom konkreten Handeln abweichen. Während Leitlinien-Ordnergespickt mit Aussagen wie »Unsere Mitarbeiter lernen durch prakti-sche Erfahrungen am besten« oder »Bei uns kann jeder Fehler machen«im Schrank stehen, werden gleichzeitig Mitarbeiter zusammenge-staucht, denen ein Fehler unterlaufen ist. Leider wird Professionali-tät immer wieder mit Fehlerlosigkeit gleichgesetzt. Beliebt auch:»Bei uns wird unternehmerisches Engagement großgeschrieben«. Dabeiwird geflissentlich übersehen, dass Risiko – die Möglichkeit einesFehlschlags – gleichsam integraler Bestandteil jedes unternehmeri-schen Handelns ist. Unternehmerisch handeln heißt unter Un-sicherheit zwischen verschiedenen Alternativen auszuwählen. EineEntscheidung ohne Risiko ist keine Entscheidung.

Gerade in Deutschland bedeuten Fehlschläge oftmals das unwi-derrufliche Ende der Karriere. Wer mit einer Geschäftsidee einmalbaden gegangen ist, für den ist der zweite Gang zur Bank in derRegel reine Zeitverschwendung. Ich bin davon überzeugt, dass– neben anderen Gründen – auch deswegen unternehmerischeSelbständigkeit hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt.

Zweiter Weg: Freiheit fördern78

Page 53: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Wenn Fehlschläge nicht toleriert werden, entsteht ein Klima derAngst. Mitarbeiter orientieren ihr Verhalten an dem, was ihr Vorge-setzter hören will und nicht an dem, was die Kunden fordern. Vorjedem Schritt werden alle wahrscheinlichen und unwahrschein-lichen Effekte x-mal diskutiert, um den Weg des geringsten Risikoseinschlagen zu können. Es wird unglaublich viel Zeit in Bespre-chungen, Teamsitzungen, Gremien und Ausschüssen damit ver-bracht, Ergebnisse so aufzubereiten, dass der Chef zufrieden istoder die Mitarbeiter zumindest keinen Ärger bekommen. Der Vor-stand einer großen Bank, mit dem Zitat des Tages in der FinancialTimes Deutschland: »Wir müssen die Leute in Minuten ersetzenkönnen, wenn sie Fehler machen.« Herzlichen Glückwunsch. Ge-sagt wird dann, was ankommt – nicht, worauf es ankommt. Natür-lich ist nicht jeder Mist guter Dünger für Lernerfahrungen. Wereine Brücke baut, darf in der statischen Berechnung einfach keineFehler machen. Und natürlich zeichnet sich Professionalität auchdadurch aus, einen Fehler nicht ständig zu wiederholen, sondernzu reflektieren – idealer weise im Dialog auf Augenhöhe mit denBeteiligten – und Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber wiederkommt es auf das Maß der Dinge an. Ich behaupte: das typischeVerhalten in der Mehrzahl der Organisationen ist das der Fehlerver-meidung. So werden Ja-Sager produziert, die dann auch noch Kar-riere machen. Provokateure haben keine Chance, meistens passie-ren sie nicht einmal die Einstellungs-Interviews.

Ohne Provokation keine Innovation.

Dabei hat das so genannte ISO-Qualitätsmanagement den Drangnach Fehlerlosigkeit leider weiter verschärft und ihm sozusagenwissenschaftliche Segnungen verschafft.45) Die ISO-Welle ist einBärendienst in doppelter Hinsicht: sie produziert Schein-Qualitätund liefert den völlig falschen Ansatz.

Nicht Fehler sind zu bekämpfen, sondern der Mythos derFehlerlosigkeit! Wir glauben mehr an Zertifikate, die Qualitätbehaupten, als an den Wettbewerb, der Qualität sichert.

Freiheit vor Fehlerintoleranz 79

Page 54: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Es gibt in den Unternehmen wohl kaum einen Veränderungs-prozess, der nicht mit hartnäckigen Widerständen zu kämpfenhätte. Angst vor Fehlern ist eine der wichtigsten Quellen für dieseWiderstände. Die scheinbare Sicherheit des Status quo wird alsSchutzhülle für Fehler angesehen. Welch ein Trugschluss! Eineweit verbreitete Antwort auf Vorschläge, mit denen von der prakti-zierten Norm abgewichen und neues Terrain beschritten wird, lau-tet: »Das ist aber unüblich!« Ich habe mir darauf folgende Ant-wort angewöhnt: »Gut. Dann werden wir den Vorschlag ab sofortmit besonderer Aufmerksamkeit weiterentwickeln.«

5. Freiheit vor Gleichmacherei

a. Größe frisst Individualität

Ingo Alpers, ehemals Leiter Steuern bei einem Hamburger Tra-ditionsunternehmen, hat jedes Jahr durch seine innovativen undumsetzbaren Ideen nachweislich Steuern in zweistelliger Millio-nenhöhe gespart. Auf die zweimalige Nachfrage, diesen eindeuti-gen Wertbeitrag auch in Konzernkarriere zu übersetzen, kam alsAntwort zurück: »Nun mal nicht so hastig, junger Freund. IhrVorgesetzter hat noch sieben Jahre. Dann sind Sie dran.«46) Dasist das trübe Bild in vielen Unternehmen: Vorgesetzte werden vor-gesetzt und sitzen vor. Heute führt Ingo Alpers als selbständigerPartner eine florierende Kanzlei mit 50 Mitarbeitern und ist einerder gefragten Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in Hamburg.Er ist kein Einzelfall. Vielmehr nimmt die Konzernmüdigkeitbranchenübergreifend inzwischen bedenkliche Formen an. DieFlucht aus Großunternehmen nimmt weiter zu. Warum? Schließ-lich haben große Unternehmen gegenüber Mittelständlern aufden ersten Blick klare Vorteile beim »Kampf um die Besten«, etwagrößere Budgets für personalwirtschaftliche Gestaltungsaufgaben,mehr Möglichkeiten internationaler Karrieren, umfangreichere sogenannte »Sozial«-Leistungen oder einen höheren Bekanntheits-grad. Und trotzdem: viele der wirklich guten Leute verlassen dieGroß-Unternehmen, weil sie nicht ausreichend Freiheitsräumehaben, um sich voll zu entfalten und weil sie sich nicht länger im

Zweiter Weg: Freiheit fördern80

Page 55: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Dickicht der Regulierungen herumschlagen wollen. So werdenKonzerne mehr und mehr zum Terrain für Mittelmäßigkeit. Jegrößer die Organisation, desto häufiger wird Individualität geop-fert; es entsteht das egalisierende Unternehmen.47)

Fehlende Individualität ist der Preis der Größe.

Egalisierende Unternehmen, so Sprenger, negieren die indivi-duellen Stärken und Schwächen, Neigungen und Interessen, An-sichten und Werthaltungen jedes Einzelnen. Einen der bestenGradmesser für den Gegensatz Individualität – Egalisierung bietetdie Praxis der Personalauswahl. In egalisierenden Unternehmensind bei der Bewerberauswahl und bei Beförderungsentscheidun-gen genau definierte Profile ausschlaggebend. Exoten – welch Titu-lierung für jemanden, der nicht gerade Kaufmann oder Wirt-schaftsingenieur ist! – haben wenige Chancen. Auch Querein-steiger sind Exoten. Sie werden misstrauisch beäugt, schließlichhaben sie sich ja noch nicht 15 oder 20 Jahre im Unternehmenverdient gemacht. Was dies betrifft, so werden egalisierende Un-ternehmen in Deutschland nur noch von politischen Parteien unddem öffentlichen Dienst in negativer Hinsicht übertroffen. Dortist es nach wie vor, trotz anders lautender Lippenbekenntnisse,fast unmöglich, den Kärrnerweg über verqualmte Ortsverein-Hin-terzimmer zu umgehen und mit ausgewiesener fachlicher Exper-tise und/oder außergewöhnlichem politischen Talent quer einzu-steigen. So wird die Politik immer mehr zum Spielfeld für mittel-mäßige Talente. Wer individuelle Unterschiede und individuelleStärken ignoriert, wer Standardisierung höher bewertet als Indivi-dualität, der darf sich nicht wundern, dass immer mehr hochbe-gabte Mitarbeiter mit echtem unternehmerischem Elan den Kon-zern abwählen. Sie wählen dafür die Existenzgründung oder ebeneine individualisierende Organisation. Natürlich gibt es Ausnah-men, fast überflüssig zu erwähnen. Aber es geht mir auch hierum die Regel, um das Ergebnis »unter dem Strich«. Hier liegt einimmenser Wettbewerbsvorteil für mittlere Unternehmen.

Freiheit vor Gleichmacherei 81

Page 56: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Die große Chance für den Mittelstand im Wettbewerb mitKonzernen: Individualität statt Egalisierung.

Es ist allerdings ein Wettbewerbsvorteil, der noch weitgehendunentdeckt zu sein scheint. Dabei verlassen schon heute immermehr Top-Leute große Konzerne. Ich kenne viele dieser »Flücht-linge«. Es ist bemerkenswert, dass ein Hauptmotiv immer wiedergenannt wird: der Frust über Hunderte standardisierender, egali-sierender policies, Regelungen und Vorschriften. Sicher ist dieserAbwanderungseffekt in den späten 90er Jahren durch den Inter-net-Boom der so genannten New Economy maßgeblich verstärktworden. Aber auch ohne diesen Sondereinfluss (ganz davon abge-sehen, dass die Unterscheidung in New und Old Economy akade-misch ist) bleibt festzuhalten: Immer mehr Leistungsträger verlas-sen Groß-Organisationen und suchen sich einen Tätigkeitsrah-men, in dem sie ihre individuellen Stärken, Neigungen und Ein-stellungen besser umsetzen können. Ich wiederhole den letztenPunkt bewusst. Es sind gerade die Leistungsträger, die diesemSchritt unternehmen. Denn sie wollen etwas unternehmen. Bestätigtwird dies durch eine breit angelegte Mitarbeiterumfrage, die dasMagazin Fortune jedes Jahr veröffentlicht. (The 100 Best Companiesto Work for in America). Dabei ist in diesem Zusammenhang nichtprimär die Rangliste der beliebtesten Arbeitgeber interessant – ob-wohl es bemerkenswert ist, dass im wesentlichen immer die glei-chen Unternehmen unter den Bestplatzierten landen – sonderndie Begründungen, warum die Menschen hier und nicht dort ar-beiten wollen. Das Ergebnis wiederholt sich jedes Jahr: Die bestenTalente suchen eben nach Freiheit und Individualität statt Regle-mentierung und Egalisierung.48) Hieraus leitet sich ein konkretesHandlungsprogramm ab, auf dessen wichtigste Aspekte ich imFolgenden eingehe.

b. Unterschiedlichkeit fördern

Schon Goethe stellte 1829 in seinen Maximen und Reflexionennüchtern fest: »Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit

Zweiter Weg: Freiheit fördern82

Page 57: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

und Freiheit zugleich versprechen, sind entweder Phantasten oderCharlatane.« Auch John Stuart Mill, der große englische National-ökonom, betonte in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts immerwieder, dass Egalisierungstendenzen in einem nicht zu vereinba-renden Gegensatz zur Freiheit stehen. Auch in unseren Unterneh-men haben wir die Wahl zwischen einem Mehr an Gleichförmig-keit oder einem Mehr an Unterschiedlichkeit – in der Personalaus-wahl, der Karriereförderung, den assignments, der Arbeitszeitrege-lung (innerhalb dessen, was das Tarifkartell zulässt), der Gestal-tung von Besprechungen und Team-Meetings, und so weiter.

Entscheiden Sie sich für die Vielfalt – fördern Sie Unterschied-lichkeit!

Lassen Sie Ausnahmeregelungen nicht nur zu, sondern unter-stützen Sie ihre Mitarbeiter sichtbar darin. Hand aufs Herz: su-chen Sie aktiv Mitarbeiter, die für sich Ausnahmeregelungen re-klamieren, oder empfinden Sie solche Kollegen eher als unbe-quem und lästig? Meine dringende Empfehlung: lassen Sie Aus-nahmeregelungen nicht nur zähneknirschend und magenknur-rend zu, sondern unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter aktiv dabei!Am besten so, dass es im Unternehmen sichtbar wird.

Ich selbst habe mit Ausnahmeregelungen im Unternehmen eineinteressante Erfahrung gemacht. In einer noch relativ frühen Phasemeiner Beratungszeit entschied ich mich, aus privaten Gründenvon Berlin wieder nach Hamburg zurückzukehren. Nur hatte meindamaliger Arbeitgeber keine Niederlassung in Hamburg. Alle Kol-legen, mit denen ich im Vorfeld sprach, reagierten in ähnlicherForm: »Das kannst Du nicht machen. Du weißt doch, dass jederMitarbeiter laut Firmenregelung an einem der Standorte wohnenmuss.« »Das wird einen Karriereknick bedeuten.« »Da könnte ja je-der mit Sonderwünschen kommen.« Und so weiter und so weiter.Ich war erschrocken über die Reaktion meiner Kollegen, gleichzei-tig spornte sie mich aber an, eine Lösung zu finden, die meinemWunsch und den Unternehmensinteressen gerecht wurde. Bereitswenige Wochen später wohnten wir wieder in Hamburg. Ich arbei-tete noch viele Jahre für die gleiche Firma, die bis heute kein Büro

Freiheit vor Gleichmacherei 83

Page 58: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

in Hamburg hat. In der Zwischenzeit hatte ich das Geschäft inNorddeutschland maßgeblich mit ausgebaut und die Verantwor-tung für alle Marketing-Aktivitäten im Norden übernommen. Eineeindeutige win-win-Lösung. Übrigens hat es nach meiner Ausnah-meregelung, die in der gesamten deutschen Organisation bekanntwar, keinerlei Wanderungsbewegungen weg von den Firmenstand-orten gegeben. Ich behaupte: wer seine Ausnahmeregelung nichtdurchsetzt, der will es auch nicht, weil er den Preis dafür – unter an-derem größere Unsicherheit – nicht zu zahlen bereit ist. Darüberzu urteilen, steht keinem an. Aber Sie haben sich dann so entschie-den. Schieben Sie die Verantwortung nicht auf etwas Abstraktes wiedie Firma oder die Umstände. Don’t blame the company.

Im Alltag vieler Unternehmen sprießen Egalisierungen wie gif-tige Pilze aus dem Boden und verseuchen die Kreativität, Innova-tionskraft und Leistungsfähigkeit. Belohnt wird Anpassung undKonformität, nicht kreativ Neues. Ich habe Vorstände erlebt, diesich über Jahrzehnte dadurch an die Spitze der Organisation ge-schlichen hatten, dass sie nirgendwo angeeckt waren, sich wie einChamäleon der jeweiligen Macht- oder Interessenkonstellation an-passten und immer die so genannte herrschende Meinung vertra-ten. Somit war es wahrscheinlich, viele Ja-Sager auf der eigenenSeite zu haben und sich mit wenigen Kritikern auseinandersetzenzu müssen. Sind das die Führungskräfte, die im dritten Jahrtau-send den Unterschied machen und unsere Unternehmen durchfrostige Zeiten führen? Die wirksamsten Führungskräfte, die ichbis jetzt kennen lernen konnte, haben eines gemeinsam: sie ge-hen ihren Weg. Je verreglementierter ein Unternehmen ist, destoeher werden diese Leute als »eigenbrötlerische, nicht anpassungs-fähige Dickköpfe oder Querulanten« abqualifiziert. Ihr Weg ist sosteinig, dass sie irgendwann das Unternehmen verlassen und ananderer Stelle, mit mehr Handlungsspielräumen und Freiheit aus-gestattet, ihre Stärken ausspielen werden. Wohlgemerkt: ich redehier nicht schwarz-weiß; es kommt wieder einmal auf das Maßder Dinge an. Was überwiegt, was dominiert unter dem Strich denbetrieblichen Alltag: Freiheit oder Reglementierung? Individualitätoder Egalisierung?

Zweiter Weg: Freiheit fördern84

Page 59: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

c. Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein

Auf den typischen Listen von Anforderungen, die an Führungs-kräfte gestellt werden, steht Flexibilität immer ganz weit oben. Flexi-bilität bezüglich des Einsatzortes – natürlich auch international –der wahrzunehmenden Aufgaben, beim Gehaltsmodell, und so wei-ter. Damit bin ich sehr einverstanden. Gar nicht einverstanden binich jedoch mit der scheinbar universell akzeptierten Praxis, dieseFlexibilität in ihren unterschiedlichsten Spielarten als Einbahn-straße – als Forderung der Unternehmen an die Mitarbeiter – zu ver-stehen. Die Anpassungsleistung wird dann ebenfalls zur Einbahn-straße: der Mitarbeiter passt sich an die Organisation an.49) Abläufehaben sich etabliert (»Das haben wir schließlich schon immer so ge-macht und sind gut damit gefahren!«), frische Ideen ohne Betriebs-blindheit könnten die Kuschelecken des Status quo gefährden (»Siesind ja noch nicht lange bei uns!«). Gut begründete Abweichungenvon der Norm werden abgebürstet (»Da könnte ja jeder kommen!«).Solche Einbahnstraßen führen zu eingefahrenem Denken. Der fol-gende Gedanke ruft in der Regel Unverständnis oder gar Empörunghervor, obwohl er mir äußerst naheliegend zu sein scheint: Ansprü-che an Flexibilität müssen in beide Richtungen geltend gemachtwerden können: vom Unternehmen in Richtung Mitarbeiter, abergenauso auch von den Mitarbeitern an das Unternehmen.

Wer Flexibilität als Einbahnstraße praktiziert, wird nie die indi-viduellen Stärken seiner Mitarbeiter kennen lernen.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diejenigen Organisatio-nen die besten Talente anziehen und halten können, die ihreStrukturen, Aufgabenprofile (assignments) und innere Arbeitstei-lung auch an die individuellen Stärken ihrer Mitarbeiter anpassenkönnen. Auf diesen Gedanken komme ich auf dem siebten Wegwirksamer Führung – Stärken weiter ausbauen – zurück. Es wärebeispielsweise großer Zufall, wenn die vorhandenen, oft historischund nicht logisch oder marktorientiert gewachsenen Aufgabenpro-file genau dem Angebot an Stärken entsprechen würden, das eineneue Führungskraft mitbringt.

Freiheit vor Gleichmacherei 85

Page 60: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

6. Fazit – Die Macht der Freiheit

Ein Resümee erscheint mir angebracht. Wir können Vertrauenals das zentrale Fundament wirksamer Führung schaffen, indemwir:

– übertriebene Fürsorge zurückstellen und Wahlmöglichkeiteneinräumen oder bestehen lassen

– den Wust an Reglementierungen konsequent auf den Prüfstandstellen und alle Kontrollmechanismen, Regulierungen undsonstigen Freiheitsbeschränkungen, die keinen dauerhaftenWert für das Unternehmen und seine Leistungsfähigkeit dar-stellen, ersatzlos streichen

– Perfektionismus ausrotten– Fehlerintoleranz und nicht Fehler bekämpfen– individuelle Unterschiede fördern und damit der Gleichmache-

rei den Garaus machen

Die Auswirkungen auf den betrieblichen Alltag sind nicht nurevident, sie sind auch empirisch belegt. 50) So haben die Allens-bacher Demoskopen gefragt, wer sich »morgens frisch und mun-ter« fühlt. Diejenigen Personen mit großem subjektivem Freiheits-gefühl stimmen zu 42 Prozent zu, diejenigen mit geringem Frei-heitsgefühl nur zu 21 Prozent. Noch konkreter beim Thema Kran-kenstand: von den Arbeitern mit großem Freiheitsgefühl an ihremArbeitsplatz hatten 54 Prozent an keinem einzigen Tag wegenKrankheit gefehlt. Ein erstaunlich hoher Wert. Von den Befragtenmit geringem Freiheitsgefühl waren dies gerade einmal 23 Pro-zent. Jeder kann die enorme betriebswirtschaftliche Relevanz klarerkennen. Auch die Verbundenheit mit der Arbeit zeigt signifi-kante Unterschiede. Allensbach führte dazu folgende repräsenta-tive Umfrage durch: »Ich möchte Ihnen einen Fall erzählen vonzwei Kollegen, die beide an einem Auftrag arbeiten, der morgenfertig sein muss. Als der eine abends mit seinem Teil fertig ist,merkt er, dass sein Kollege seine Arbeit nicht fertig gemacht hatund gegangen ist. Finden Sie, er sollte die Arbeit seines Kollegenzu Ende führen, damit der Auftrag rechtzeitig fertig wird, oder fin-den Sie, das braucht er nicht zu tun?« Bei den Befragten mit gro-

86 Zweiter Weg: Freiheit fördern

Page 61: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

ßem Freiheitsgefühl sind 44 Prozent der Meinung, er solle die Ar-beit zu Ende führen. Bei denjenigen, die sich bei der Arbeit wenigfrei fühlen, sind es lediglich 28 Prozent. Diese Analyse wird seitdreißig Jahren durchgeführt, wobei sich die Werte auf absolut kon-stantem Niveau wiederholen. Freiheit bindet.

35) Äußerst lesenswert für eine breitere Analyse des gesellschaftlichen Phänomens derFreiheit ist die Studie »Der Wert der Freiheit« vom Institut für Demoskopie Allens-bach aus dem Jahr 2003. Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Freiheitsele-menten für den beruflichen Alltag und analysiert zudem interessante Unterschiedezwischen alten und jungen Bundesländern.

36) vgl. hierzu Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 41–64. Sprenger hat da-rauf hingewiesen, dass eine Vertrauensbeziehung dann nicht mehr funktionierenkann, wenn einer der Beteiligten nicht mehr über Wahlmöglichkeiten verfügt. Diesmuss immer auch die Möglichkeit beinhalten, eine Beziehung zu beenden.

37) vgl. Handelsblatt vom 7. Januar 2008, S. 2.38) vgl. Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 180–182. Sprenger nennt dieses

Phänomen treffend »Fürsorgliche Belagerung« und stellt die Überlastung der Füh-rungskraft als unweigerliche Folge heraus. Ich sehe diesen Zusammenhang durchmeine praktische Beratungsarbeit bestätigt und gehe noch einen Schritt weiter: dasEingreifen der Führungskraft führt, neben eigener Überlastung, in aller Regel auchzu schlechteren Ergebnissen.

39) Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 182.40) vgl. ebenda, S. 183 f.41) vgl. ebenda, S. 185 f.42) Reinhard Sprenger hat die negativen Wirkungen des verreglementierten Unterneh-

mens herausgearbeitet. Vgl. Sprenger, Aufstand des Individuums, insbesondereS. 23 ff.

43) Robert H. Douglas in einem persönlichen Gespräch mit dem Autor.44) Diese pointierte Zusammenfassung geht zurück auf Reinhard Sprenger. Vgl.

Sprenger,Vertrauen führt, S. 93.45) vgl. Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 192.46) Ingo Alpers in einem persönlichen Gespräch mit dem Autor.47) Der Begriff des »egalisierenden Unternehmens« geht zurück auf Reinhard

Sprenger. Vgl. Sprenger, Aufstand des Individuums, S. 23–51.48) vgl. Levering/Moskowitz, The 100 Best Companies to Work for in America,

S. 82–110.49) Reinhard Sprenger hat darauf hingewiesen, dass auch gefragt werden muss, ob das

Unternehmen zum Bewerber passt. Vgl. Sprenger, Aufstand des Individuums,S. 205.

50) vgl. Noelle-Neumann/Köcher, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, 1997,S. 981 ff.

Fazit – Die Macht der Freiheit 87

Page 62: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete
Page 63: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Dritter Weg:Klarheit schaffen

Klarheit schaffen klingt einfach, fast trivial. Es ist jedoch ein besonde-rer Weg zu leistungsfähiger Führung. Er ist facettenreich, hochgra-dig wirksam, voller Fallstricke und auch ein bisschen umfangreicherals alle anderen Wege. Damit Sie vorab sehen, was Sie erwartet, skiz-ziere ich die wesentlichen Stationen des Weges:

– 1. Klarheit durch Einfachheit – Wenn Vertrauen in unseren Unter-nehmen fehlt, steigt die Komplexität der Leistungserstellungs-prozesse durch immer neue Absicherungs- und Rückversiche-rungsmechanismen exorbitant an. Komplexität und Klarheit ver-tragen sich jedoch nicht. Wir müssen mit Mut zum Verzichtund durch klare Prioritäten Komplexität reduzieren. Klarheitdurch Einfachheit ist gewissermaßen das philosophische Funda-ment des dritten Weges wirksamer Führung.

– 2. Klarheit in der Ausrichtung – Warum ist Ihr Unternehmenmorgen erfolgreich? Ich schlage vor, die Antwort mit einer fun-dierten Diskussion von maximal 25 Schlüsselfragen zu formu-lieren und auf komplexe Werkzeuge zu verzichten.

– 3. Klarheit in den Zielen – Unklare Ziele gehören branchenüber-greifend zu den typischsten Befunden in vielen Organisationen.Dies gilt gleichermaßen für Unternehmens-, Gruppen- und in-dividuelle Ziele.

– 4. Klarheit in den Erwartungen – Ein Feld mit viel Raum für Ver-besserungen. Klären Sie Ihre Erwartungen an die Mitarbeitergenauso wie die Erwartungen, die die Mitarbeiter an Sie alsFührungskraft sowie an das Unternehmen insgesamt haben.Was hier nicht übereinstimmt, kann durch mühsame Persona-lentwicklungsarbeit oder ständige Veränderungen des Aufgaben-gebietes nicht mehr aufgefangen werden.

89Wenn du viel erreichen willst, tue wenig. Torsten SchumacherCopyright � 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,WeinheimISBN: 978-3-527-50371-1

Page 64: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

– 5. Klarheit durch Authentizität – Drücken Sie sich nicht gestelztoder abstrakt aus, sondern reden Sie klar und direkt; ohne Um-schweife. Und handeln Sie danach. Wer A sagt und B macht,erntet zu Recht Zynismus. Mit einem Wort: »Walk the talk«.

– 6. Klarheit in der Außendarstellung – Dieses Handlungsfeld rich-tet sich nach außen. Durch eine konsistente, widerspruchsfreieund positive »Story« ergibt sich eine Außendarstellung, dieeinen entscheidenden Beitrag zum Vertrauen von Kunden, Ko-operationspartnern und Investoren leistet.

1. Klarheit durch Einfachheit

Eine eigene Erfahrung als Einstieg: Die Geschäftsführer des Le-bensmittel produzierenden Unternehmens, ein großer Mittel-ständler und bedeutender Arbeitgeber in der Region, wollten eineregelmäßige Mitarbeiterbefragung einführen, um die Arbeitszu-friedenheit in der Belegschaft zu messen und Vorschläge zur Ver-besserung der betrieblichen Abläufe direkt von den Mitarbeiternzu bekommen. Eine Arbeitsgruppe wurde eingesetzt und mit derEntwicklung des Fragebogens beauftragt. Schon die Zusammen-setzung der Arbeitsgruppe hatte langwierige Diskussionen hervor-gerufen, schließlich sollten alle Bereiche und unterschiedlicheHierarchieebenen berücksichtigt werden. Dann hatte sich dieFrauenbeauftragte zu Wort gemeldet und einen Platz in der Ar-beitsgruppe für sich reklamiert. Bereits nach dem zweiten Treffengab es Ärger. Die Betriebsräte hatten von der Arbeitsgruppe erfah-ren und waren empört, wie so ein wichtiges und mitarbeiterbezo-genes Vorhaben nur ohne sie durchgeführt werden könne? AbTreffen Nummer drei diskutierten sie mit. Der Fragebogen wurdelänger und länger. Die letzten drei Meetings, es sind die Num-mern 12 bis 14, dienten zur Überarbeitung und Strukturierungeines Fragebogens, der am Ende 84 Fragen auf 11 Seiten vereinte.Zwar wurde der mit dem Ausfüllen verbundene Zeitaufwanddurchaus kritisch gesehen, aber zufrieden mit dem Detailbewusst-sein der Arbeitsgruppenmitglieder und ihrer Ausdauer verschick-ten die beiden Geschäftsführer die Umfrage in die Organisationhinein. Das Ergebnis war niederschmetternd: Eine Rücklaufquote

Dritter Weg: Klarheit schaffen90

Page 65: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

von unter 5 Prozent, dabei die Hälfte der Antworten unvollständigoder missverständlich. Die Aktion versandete.

Warum? Die Antwort ist einfach: eine zu hohe Komplexität. Inder Sorge, vielleicht nicht jeden Winkel des Unternehmens, nichtjede Befindlichkeit der Mitarbeiter aufgenommen zu haben, istdie entscheidende Frage aus dem Blickfeld geraten: Wie erreicheich eine möglichst hohe Rücklaufquote mit aussagekräftigen Antwor-ten? Denn nur dann hat die ganze Aktion ja wohl einen Sinn.Wäre diese wesentliche Frage beachtet worden, wäre sehr schnellklar gewesen, dass der Fragebogen benutzerfreundlich und über-sichtlich sein muss, dass er die wichtigsten (eher wenigen!)Aspekte der Mitarbeiterzufriedenheit adressieren sollte und ebennicht besonders lang sein darf. Es wurden keine Prioritäten ge-setzt. Keiner der Arbeitsgruppenmitglieder hatte Mut zum Ver-zicht. Der Spruch des weniger ist mehr ist zwar etwas abgegriffen,aber das ändert an seiner Richtigkeit und Wirksamkeit gar nichts.Einfacher ist stets wirksamer. Doch wie können Sie Einfachheit,also weniger Komplexität schaffen? Meiner Ansicht nach spieltAngst im Beispiel von oben und in vergleichbaren Situationeneine wichtige Rolle.

Angst ist der fruchtbarste Nährboden für Komplexität.

Die Angst davor, irgendeinen Aspekt zu vergessen, führte imSinne von Ergebnissen ins Nichts. Kein Wunder, dass sich in un-seren Unternehmen fehlendes Vertrauen mit übermäßiger Kom-plexität zu einem leistungsfeindlichen und lähmenden Gemischpaart. Konzerne arbeiten mit Reisekostenverordnungen in einerLänge von Dutzenden klein beschriebener Seiten. Diese zu lesenund nach fünf bis zehn Telefonaten und Rücksprachen zu verste-hen, dauert wohlwollend geschätzt einen halben Tag. Das ent-spricht, bei 50 000 Mitarbeitern, einer mittelständischen Firmamit 25 Beschäftigten, die fünf Jahre lang nichts anderes macht,als Reisekostenverordnungen zu lesen.

Angst wird primär mit Regulierungen bekämpft.

Klarheit durch Einfachheit 91

Page 66: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Wer von Angst getrieben ist, wird sich nie verwundbar machenund damit auch kein Vertrauen schaffen können. Und wo einKlima der Angst herrscht, wird nie Vertrauen geschaffen werden.Der Vertriebschef eines deutschen Energieversorgungsunterneh-mens sagte einmal im Vier-Augen-Gespräch: »Unsere Absatz-Sta-tistik ist jetzt so detailliert und ausgefeilt, dass wir unsere Kundenim Griff haben.« Ganz abgesehen von der Sprach-Wahl im Griffhaben, die auf eine Einstellung schließen lässt, die nicht Kunden,sondern eher Zwangsabnehmer meinen muss, gerät auch hierdurch stetig gesteigerte Komplexität das Wesentliche aus demBlickfeld: Warum kauft der Kunde bei mir seinen Strom? Die so ge-nannten wichtigsten Kunden werden statistisch nach immer de-taillierteren Regeln der Kunst erfasst, aber ein persönliches Ge-spräch über ihre Zufriedenheit und Erwartungen bleibt aus. Daswäre einfach und wirksam.

Ein gefährliches Signal des Misstrauens: Messen stattHandeln.

In Unternehmen, die von Komplexität und Misstrauen geprägtsind, so meine Beobachtung, wird gemessen statt gehandelt. 51) Ichwerde diesen Gedanken im Abschnitt über Klarheit in den Zielenwieder aufgreifen. Messen sorgt für eine trügerische Sicherheitund lenkt die Aufmerksamkeit des Managements vom Wesentli-chen auf Nebensächlichkeiten. Man weiß, wie sich die neu einge-stellten Hochschulabgänger der letzten Jahre auf Universitätenund Disziplinen verteilen, welche Notendurchschnitte sie erreichthaben (man errechnet natürlich hierfür auch Standardabweichun-gen, Mediane, Trends und anderes, was das Unternehmen nichtweiterbringt), wie lange sie sich in welchem Ausland aufgehaltenhaben, welche Praktika sie absolviert haben und stellt nichts-sagende Korrelationen her – man weiß aber nicht, was das Unter-nehmen besser machen kann, um die besten Talente anzuziehen.Man weiß, wie viel Ausschuss in der Produktionsabteilung in denvergangenen 60 Monaten bei welchen Fertigungsteilen angefallenist, welche Kosten dadurch entstehen (immerhin!) und was manalternativ mit diesem Geld machen könnte – man weiß aber nicht,

Dritter Weg: Klarheit schaffen92

Page 67: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

mit welchen einfachen Maßnahmen der Ausschuss deutlich ver-ringert werden kann. Man weiß, welche Kunden in welchen Re-gionen welche Produkte wann gekauft haben, kann Absatz- undUmsatzkurven für immer kleinere Segmente daraus ableiten. ImEinzelhandel erlauben Scannerkassen sogar Analysen nach Tages-zeiten. Man weiß aber nicht, warum der Kunde in diesem Unter-nehmen kauft. Was auffällt: Fragen nach dem wie, was, wann, wieviel sprießen aus dem Boden. Dagegen braucht die Frage nachdem warum dringend mehr Aufmerksamkeit. Warum ist das Un-ternehmen nicht attraktiv genug für die besten Abgänger der bes-ten Universitäten? Warum ist der Produktionsausstoß höher alsbei Wettbewerbern? Warum kauft der Kunde mein Produkt? DieMess-Sucht gipfelt in bekannten Aussagen wie »What gets measu-red gets done.« Ich werde hierauf im übernächsten Abschnitt überKlarheit in den Zielen zurückkommen.

2. Klarheit in der Ausrichtung

a. Die Zukunft sichern

Warum ist das Unternehmen Aldi in der Lage, innerhalb vondrei Tagen Computer im Wert von 200 Millionen Euro zu verkau-fen, während sich der entsprechende Facheinzelhandel über sin-kende Umsatz- und Absatzzahlen beklagt? 52) Wieder eine einfacheAntwort: die Ausrichtung des Unternehmens ist klar. Sie ist soklar, dass nahezu jeder Verbraucher keinen Zweifel daran hat, niewieder preiswerter an einen PC zu kommen. Vertrauen ist dasFundament dieser Einschätzung. Es resultiert aus der konsequentauf Kostenführerschaft ausgerichteten Strategie des Unterneh-mens. Die Billig-Fluglinien sind ähnlich erfolgreich auf diesemWeg, genauso IKEA oder der PC-Anbieter Dell. Klare Differenzie-rer sind beispielsweise Porsche oder Bang&Olufsen. Porsche trotztseit Jahren den schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingun-gen, obwohl »eigentlich niemand einen Porsche braucht«, wie Fir-menchef Wendelin Wiedeking gerne ironisch anmerkt. Für dasDesign des HiFi-Herstellers Bang&Olufsen greifen die Konsumen-ten tief in die Tasche, obwohl sie wissen, dass sie für die gleiche

Klarheit in der Ausrichtung 93

Page 68: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Preisklasse deutlich bessere Technik bekommen könnten. Einfachgesprochen gibt es 10 % Kostenführer und 10 % Differenzierer.Das Problem haben die anderen: 80 % sitzen zwischen den Stüh-len. Dabei sollte man meinen, dass nach mindestens 20 JahrenStrategie-Diskussion der Durchdringungsgrad der Unternehmenmit klaren strategischen Ausrichtungen hoch ist. Das tatsächlicheBild ist allerdings weitaus ernüchternder: Ich behaupte, dass achtvon zehn Unternehmen gerade hier eklatante Defizite aufweisenund keine klare mittel- bis langfristige Ausrichtung zeigen.Warum ist das so? Es geht mir hier nicht um eine vollständigeAnalyse, sondern um die wichtigsten Gründe:

– In der Hektik des Tagesgeschäftes fehlt die Zeit, um »über denTag hinaus zu denken« und die Positionierung des eigenen Un-ternehmens und die wichtigsten strategischen Ziele im Sinnevon Prioritäten für die nächsten Jahre zu überdenken.

– Die Notwendigkeit einer Unternehmensstrategie wird verneintoder ignoriert. »Wer weiß schon, was in drei Jahren ist« oder»Die Zukunft ist sowieso nicht planbar« sind beliebte Aussagen– besser: Ausreden – in diesem Zusammenhang.

– Es fehlen Stäbe, die sich systematisch mit strategischen Frage-stellungen beschäftigen und damit den Inhaber/Geschäftsführerbei der Unternehmensleitung unterstützen. Dieser Punkt giltinsbesondere für kleinere und mittelständische Unternehmen.

– »Die Wahrheit liegt in der Kasse« ist eine immer noch häufiganzutreffende Binsenweisheit – die grundlegend falsch ist: DieWahrheit liegt nicht in der Kasse, sondern in den Gründen fürein bestimmtes Finanzergebnis. Diese gilt es systematisch zubewerten und Konsequenzen daraus abzuleiten.

– Es mag in den Köpfen etlicher Unternehmenslenker eine Artstrategische Ausrichtung vorhanden sein. Oftmals fehlt jedochdie Kommunikation in die Organisation hinein. Dies setzt imÜbrigen voraus, dass die Strategie konkret, praktikabel und fürdie Mitarbeiter verständlich definiert ist. Ein seltener Fall.

– Mancher Unternehmer, gerade im Mittelstand – schreckt zu-dem davor zurück, sich mit kompliziert wirkenden Methodikenund Werkzeugen auseinander zu setzen, mit denen er die zu-künftige strategische Positionierung entwickeln könnte.

Dritter Weg: Klarheit schaffen94

Page 69: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

b. Schlüsselfragen beantworten

Der letztgenannte Grund führt direkt zu meiner grundlegendenThese, die ich in vielen Jahren praktischer Beratungsarbeit ent-wickelt habe und erfolgreich erproben konnte: Komplizierte Werk-zeuge (tools) sind gar nicht erforderlich, um die langfristige Ausrich-tung eines Unternehmens zu bestimmen. Meiner Erfahrung nachreicht es völlig aus, einen Katalog von maximal 25 Schlüsselfragenaufzustellen, der individuell auf das Unternehmen zugeschnittenist. Dem Prinzip der Einfachheit folgend werden diese Schlüsselfra-gen klar beantwortet und die gewonnenen Erkenntnisse konsequentumgesetzt. Gehen Sie so vor, werden Sie damit jedes noch so auf-wendige tool in den Schatten stellen. Und es ist nicht schwer, dennletztlich führen Sie die Diskussion um die Treiber Ihres Geschäftes.Sie beantworten zentrale Fragen, deren Ursprung die Grundfragenach der Zukunft ist: Warum sind Sie morgen erfolgreich?

Nehmen Sie diese Aufgabe dennoch nicht zu leicht. Sie erfor-dert Disziplin, Gründlichkeit, Zeit und vor allem Quer-Denkenund Entscheidungsfreude. Zu den Schlüsselfragen gehören bei-spielsweise folgende:

– Was ist der USP (unique selling proposition, d. h. das Alleinstel-lungsmerkmal im Wettbewerb) des Unternehmens?

– Welche Wertschöpfungskette leitet sich daraus ab?– Was sind die wichtigsten Zielsetzungen für die nächsten Jahre?– Wie halten und gewinnen Sie die besten Talente?– Was werden Sie zukünftig nicht mehr machen?– Was können Sie konkret tun, um die Attraktivität Ihres Unter-

nehmens weiter zu verbessern?– In welchem Umfang werden Sie Kooperationen und/oder Betei-

ligungen eingehen?– Inwiefern haben sich Ihre Produkte/Dienstleistungen in drei

Jahren verändert?– Was können Sie aus anderen Branchen lernen?– Wie beurteilen Sie, ob Ihr Unternehmen erfolgreich ist?

Wenn Sie sicher sind, dass die Beantwortung dieser Fragen»eigentlich leicht« ist, dann versichere ich Ihnen, dass – abgese-

Klarheit in der Ausrichtung 95

Page 70: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

hen von der tieferen Bedeutung des Wortes eigentlich – deren Be-antwortung intensive, wahrscheinlich (hoffentlich!) sogar leiden-schaftliche Diskussionen in Ihrem Managementkreis auslösenwird. Es werden ganz unterschiedliche Sichtweisen auf den Tischkommen, und das ist auch gut so.

Am Ende der Diskussion um die Schlüsselfragen haben Sieschließlich die drei Kernbereiche ihrer individuellen wirksamenUnternehmensstrategie adressiert:

Erstens, eine Lagebeurteilung mit nüchternem Realismus, zweitensdie wesentlichen Veränderungen des Geschäftes heute und morgenund drittens die bestmögliche Allokation der erfolgskritischen Res-sourcen, also Geld, Zeit, Menschen,Wissen und Aufmerksamkeit.

c. Wie Wettbewerbsvorteile entstehen

Nach Michael Porter gibt es, wie gesagt, grundsätzlich zweiQuellen, um dauerhaft Wettbewerbsvorteile zu erlangen: Differen-zierung und Kostenführerschaft. Nun fällt die Entscheidung fürden einen oder den anderen Weg nicht vom Himmel. Deswegensollten Sie die gesamte Wertschöpfungskette ihres Unternehmensauf diese beiden Pole hin untersuchen. Dies betrifft sowohl dieKernfunktionen wie Beschaffung/Einkauf, innerbetriebliche Logis-tik, Produktion, Vertrieb, Marketing und After Sales Services wieauch die unterstützenden Funktionen wie beispielsweise Personal,Finanzen, Rechnungswesen und Controlling. Aus dieser Analyseleiten sich dann die beiden wesentlichen Determinanten für diejeweilige relative Wettbewerbsposition, verstanden als die Stellungim Markt im Verhältnis zu den Wettbewerbern, ab: OperationaleEffektivität und die strategische Positionierung.

Operationale Effektivität bezieht sich im Kern auf die Frage, mitwelchem Aufwand die betrieblichen Leistungserstellungsprozesse– insbesondere im Vergleich zu den Wettbewerbern – betriebenwerden. Der Bezugsrahmen hierfür ist die jeweilige Industrie undnur diese. Wenn beispielsweise die Kundenabrechnung bei einemdeutschen Energieversorgungsunternehmen Kosten in der Grö-ßenordnung von 30 Euro pro Kunde verursacht, einige der Wettbe-werber die gleiche Aufgabe jedoch mit internen Kosten von 8–10

Dritter Weg: Klarheit schaffen96

Page 71: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Euro und in vergleichbarer Qualität erledigen, und diese Unter-nehmen mehrere hunderttausend Kunden haben, dann wird er-sichtlich, dass wir hier über spürbare Beiträge zur Verbesserungder relativen Wettbewerbsfähigkeit reden. Ständige Verbesserun-gen im Bereich der operationalen Effektivität zu realisieren, isteine notwendige Bedingung für Wettbewerbsvorteile, aber keinehinreichende. Diese Relativierung kann gar nicht häufig genugwiederholt werden, sind doch die meisten Unternehmen sehrstark hierauf fixiert und halten doch manche Unternehmens-lenker Anstrengungen in diesem Bereich für ausreichend. Undwieder gilt: unsägliche Management-Modewellen verstärken dieseEinäugigkeit. In diesem Zusammenhang ist es das allseits beliebtgewordene Benchmarking, das sich seit vielen Jahren großer Be-liebtheit erfreut. Mit scheinbarer Weitsichtigkeit wird verkündet,dass man die internen Leistungserstellungsprozesse, den Markt-auftritt oder die Overhead-Kosten mit der Konkurrenz verglichenund wichtige Erkenntnisse daraus gewonnen habe (die meistenwerden allerdings nie im eigenen Unternehmen umgesetzt). DasManagement sonnt sich in der selbst proklamierten Modernität.Wie schon gesagt: es kommt nicht darauf an, was modern ist, son-dern was gute Führung unterstützt und damit die Leistungs- undWettbewerbsfähigkeit fördert. Ich gehe auch hier einen Schrittweiter: wer dieser modernen Management-Modewelle hinterher-läuft (merke: er läuft hinterher), richtet sogar Schaden an.

Die Modewelle Benchmarking hat zwei Haken. Haken Nummereins: wer will eigentlich für sich in Anspruch nehmen, die Wettbe-werber wirklich so genau von innen zu kennen, dass belastbareAussagen möglich wären? Ein sehr zweifelhafter Anspruch. Soverwundert es nicht, dass sich die Heerscharen der für Benchmar-kingprojekte Verantwortlichen, unterstützt durch genauso verzwei-felte Berater, vielen kritischen Einwänden stellen müssen: »Wirsind aber anders, unsere spezifische Situation erfordert, dass wir20 Prozent mehr Mitarbeiter in der Buchhaltung haben.« »DieKosten mögen ja höher sein, dafür ist die Qualität unseres Berei-ches Y aber auch bekanntermaßen besser als bei der Konkurrenz.«Und so weiter und so weiter. Mit allen möglichen und unmög-lichen Einwürfen und einer Kreativität, die ansonsten leider mor-gens am Werkstor abgegeben wird, beschreiben die Bedenken-

Klarheit in der Ausrichtung 97

Page 72: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

träger die ganz besondere Situation des eigenen Unternehmens,die Nicht-Vergleichbarkeit, und damit die Nutzlosigkeit der Be-nchmarking-Ergebnisse.

Der status quo wird betoniert.

Damit passiert am Ende das Gegenteil dessen, was eigentlichbeabsichtigt war, nämlich scheinbar „objektive“ Argumente fürdas Einläuten notwendiger Veränderungen zu sammeln.

Haken Nummer zwei: wer sagt uns, dass uns der Blick auf dieWettbewerber wirklich weiterbringt? Vielleicht müssen wir die bis-her unangetasteten Mechanismen der gesamten Branche in Fragestellen, um dauerhaft zu überleben. Wer sich ständig vergleicht,wird kaum Alleinstellungsmerkmale haben können, sich von derKonkurrenz unterscheiden können. Bedenken Sie:

»Wer sich ständig vergleicht, wird vor allem eines: gleicher.« 53)

Daher ist die Klärung der strategischen Positionierung imMarkt das notwendige zweite Element, um dauerhafte Wettbe-werbsvorteile zu erlangen. Die Leitfrage richtet sich an die ValueProposition des Unternehmens. Wie sieht also der Weg aus, aufdem Ihr Unternehmen Werte generiert, die dauerhafte relativeWettbewerbsvorteile ermöglichen?

Wettbewerbsvorteile entstehen aus der Kombination vonoperationaler Effektivität und strategischer Positionierung.

Bei der strategischen Positionierung eines Unternehmenstaucht ein bestimmter Fehler immer wieder auf: Viele Managermeinen, es gäbe nur einen ganz bestimmten Weg, sich im Wettbe-werb zu behaupten. Diese Annahme ist aber grundfalsch. Woraufes ankommt, ist vielmehr Einzigartigkeit. Wer allerdings die aus-getretenen Pfade nie verlässt, wird es schwer haben, seinen Kun-den zu vermitteln, welche einzigartigen Werte er zu bieten hat.

Dritter Weg: Klarheit schaffen98

Page 73: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Sehen wir uns zur Illustration das Geschäft der Autovermietungenan: Die Grundannahme der allermeisten Wettbewerber bestehtseit vielen Jahren darin, dass sich Privat- und Geschäftsreisendean den räumlichen Start- und Zielpunkten ihrer Reise einen Pkwabholen. Der Reisende ist die Zielgruppe und das gesamte Aktivi-tätsspektrum der Autovermieter richtet sich danach aus: Es wirdin aufwändige Marketing- und Anzeigenkampagnen investiert, dieKunden erhalten Hochstufungen in höhere Fahrzeugklassen; im-mer wieder gibt es Wochenend- und sonstige Preisaktionen; vieleder Stationen befinden sich auf Flughäfen und Bahnhöfen. Ausdem massiven Druck, unter dem die Branche seit Jahren steht,hat sich auf diesem Wege keiner der Wettbewerber wirklich be-freien können. Meine Erklärung hierfür ist eindeutig: Es fehlt anklaren Strategien mit einer klaren Value Proposition. Es fehlt aneinzigartigen Werten. Eine Me-too-Strategie jagt die nächste undmit mechanischer Sicherheit richten sich alle Blicke auf die opera-tionale Effektivität – also werden die Kostenschrauben weiter ge-dreht und die internen Abläufe das x-te Mal nach Einsparmöglich-keiten durchforstet. Es ist wie bei einem Autofahrer, der für denWeg von Hamburg nach Berlin immer mehr Gas gibt (und dabeijede Menge Tickets und Punkte kassiert), tatsächlich auch einmaleine innerstädtische Abkürzung entdeckt, und so über die Jahredie Fahrzeit von über drei auf zweieinhalb Stunden drückt (es seidenn, Baustellen oder Staus machen einen Strich durch die Rech-nung). Was er nicht sieht: Der Zug von Hamburg nach Berlin be-nötigt 90 Minuten (in denen er sogar arbeiten oder schlafenkann). Es sind genau Erkenntnisse dieser Art, die branchenüber-greifendes Benchmarking liefert. Die fundamentalen Annahmen,die Paradigmen der Branche in Frage zu stellen, kann jedoch be-deuten, dass der Fahrer gar nicht nach Berlin muss, sondern nachKöln.

So wie das Unternehmen Enterprise Rent-A-Car. Der amerikani-sche Autovermieter hat sich darauf ausgerichtet, im privaten Be-reich Pkw zur Verfügung zu stellen, die für eine bestimmte Zeitgebraucht werden: bei Reparaturen am eigenen Auto, bei Besuchvon Freunden oder Verwandten oder wenn für einige Wochenoder Monate ein zusätzliches Auto im Haushalt benötigt wird.Der Reisende als Zielgruppe findet nicht mehr statt. Eine wirklich

Klarheit in der Ausrichtung 99

Page 74: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

fundamentale Veränderung. Vor allem aber ist dies eine einzigar-tige strategische Positionierung. Das Unternehmen hat seineWertschöpfungskette konsequent hieraus abgeleitet und beispiels-weise die Schlussfolgerung gezogen, dass bewusst auch ältereFahrzeuge und gerade auslaufende Modelle angeschafft werden.Die Autos bleiben über längere Zeiträume im Bestand als bei denWettbewerbern, die Büros sind kostengünstig und liegen in Wohn-gebieten nahe am Kunden. Natürlich braucht der Kunde das Autonicht abzuholen; es wird vor die Haustür geliefert. EnterpriseRent-A-Car bietet Tarife, die in der Größenordnung von 30% unterden Flughafen-Tarifen der Wettbewerber liegen. Es ist das mit Ab-stand rentabelste Unternehmen der Branche.

Der Erfolg basiert im Kern darauf, dass die Führungskräfte desUnternehmens die fundamentalen Grundannahmen, die Paradig-men der eigenen Tätigkeit bzw. der gesamten Branche nicht blindübernommen, sondern in Frage gestellt haben.

Das ist es: die »heiligen Kühe schlachten«; das, was sich keinertraut anzupacken und zu hinterfragen. Wer es dennoch wagt,kann sich als Unternehmen neu erfinden. Und in manchen Fällensogar eine ganze Zunft aufmischen. Sehen wir uns zur Illustra-tion weitere Beispiele an.

In der Modebranche besteht eines dieser Paradigmen darin,möglicht viel Geld ins Marketing zu stecken in der Hoffnung,dass sich die Marktanteile so erhöhen. Die spanische ModefirmaZara macht es anders: Zara gibt hierfür keinen Cent aus. Stattdes-sen werden unterschiedlichste Kollektionen in geringer Stückzahlauf den Markt »geworfen«. Dann der entscheidende Punkt: dieKunden werden nun in ihrem Kaufverhalten sehr genau beobach-tet. Auf Basis eines hervorragenden Logistiksystems reagiert dasUnternehmen dann sehr schnell. Zara hat nebenbei eine weitere»heilige Kuh geschlachtet« und die Grenzen der Marktforschungerkannt: auch die Kunden bewegen sich nur innerhalb des Ge-wohnten.

Jeder kennt IKEA. Diese bemerkenswerte Erfolgsgeschichte ba-siert, hier vereinfachend gesprochen, auf dem Bruch mit einemder scheinbar unveränderbaren Paradigmen der Möbelbranche: Esgalt als unvorstellbar, dass Kunden ihre Schränke und Regale selbstaufbauen würden. Dass sie es sogar gerne tun. Dass sie stolz

Dritter Weg: Klarheit schaffen100

Page 75: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

ihren Kindern und Freunden von den Aufbauerfolgen berichten(die zwischenzeitliche Verzweiflung wird gerne ausgeblendet).Dass Billy, während der Ausbildung angeschafft, über viele Jahrevon einem Regal zum Weggefährten wird, der nicht nur all dieUmzüge mitgemacht und überstanden hat, sondern auch heutenoch irgendwo im Hobbykeller, Abstellraum oder in der Garagesteht und unter das Last der Farbtöpfe und Werkzeuge langsameinen krummen Rücken bekommt, weil wir uns einfach nichttrennen können.

Auch weniger bekannte Unternehmen haben Veränderung alsChance begriffen. Das Label Naxos brach in den neunziger Jahrendas Preis-Paradigma für klassische Musik: eine Klassik-CD»musste« damals mindestens 30 DM kosten. Warum eigentlich,fragten sich die weitsichtigen Gründer. Braucht es wirklich immerWeltstars? Schließlich gibt es überall auf der Welt zwar noch weit-gehend unbekannte, aber ohne jeden Zweifel hervorragend ausge-bildete Musiker. Die nahm Naxos unter Vertrag und revolutio-nierte die Branche, denn der Verkaufspreis lag nicht etwa bei 25oder 27 DM, sondern bei 10 DM. Trotz aller Gegenmaßnahmender etablierten Konkurrenz, rannte der Handel Naxos die Türenein. Das Unternehmen wurde 1995 zum »Label des Jahres« ge-wählt. Heute gibt es im Kultkaufhaus Dussmann in Berlin eineeigene Abteilung für Naxos. Das Unternehmen hat ganz neueKäufergruppen erschlossen. Veränderung als Chance.

Tragen Sie eine Brille? Die Erfolgsgeschichte des Unterneh-mens Fielmann gründet sich ebenfalls darauf, dass Gründer Gün-ther Fielmann das Paradigma der Branche durchbrochen hat. Die-ses bestand darin, Brillen so billig wie möglich einzukaufen undso teuer wie möglich wieder zu verkaufen – und sich in der Folgeüber Margen von 300 % zu freuen. Fielmann war davon über-zeugt, dass es sich auch mir geringeren Margen gut leben lässtund brachte im Jahr 1981 insgesamt 640 modische Modelle derKassenbrille ohne Zuzahlung auf den Markt. Von nun wurdenKinder mit Kassengestellen nicht mehr gehänselt.

Noch ein letztes Beispiel, über das sich ein ganzes Buch zuschreiben lohnt. Die 1983 gegründete Grameen-Bank stellte dasParadigma der Bankenwelt auf den Kopf: die Bonität des Kundensei alles entscheidend für die Kreditvergabe. Und: Kleinkredite

Klarheit in der Ausrichtung 101

Page 76: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

könnten nicht rentabel sein. Gründer Mohammed Yunus begann1976 in Bangladesch Kredite an die Ärmsten der Armen zu verge-ben, die sich hiermit eine eigene Existenz aufbauten. Kredithöhe:wenige Dollar. Kunden: fast ausschließlich Frauen ohne jeglicheSicherheiten, außer dem Versprechen, dass sie das Geld zurück-zahlen würden, sobald sie die ersten Produkte verkauft hätten.Die Kreditausfälle liegen unter 2 Prozent. Bis heute nehmen24 Millionen Menschen aus 28 Ländern Yunus Kleinkredite inAnspruch. Er musste hierfür seine eigene Bank gründen, denndie Manager der etablierten Häuser hatten ihn und sein Vorhabenjahrelang abgewiesen. Heute hat die Grameen-Bank über 24.000Mitarbeiter. Mohammed Yunus wurde 2006 mit dem Friedens-nobelpreis ausgezeichnet.

Was garantiert uns, dass der status quo die optimale Situationist? Vieles ist »historisch gewachsen«. Manchmal muss man imZuge von Veränderungen auch verkrustete Strukturen aufbrechen.Beispiel Deutschen Fußballbund: Wir hätten das Sommermär-chen 2006 nicht erlebt, wenn Klinsmann & Co. nicht mit einemfulminanten Veränderungsprozess den DFB auf den Kopf gestellthätten.

Die Unternehmen aus den genannten Beispielen haben sehrklar herausgearbeitet, was ihr einzigartiger Wert ist, den sie für ihreKunden schaffen. Es gibt in diesem Zusammenhang einen weite-ren Lackmus-Test für klare Strategien: Es sind die bewussten Ent-scheidungen, was in Zukunft nicht mehr gemacht wird oder, mitanderen Worten, welche Kundenbedürfnisse zukünftig nicht mehrbefriedigt werden.

Gute Unternehmensstrategien versuchen niemals alle Kunden-bedürfnisse zu erfüllen.

Gute Strategien nennen also deutlich beim Namen, was in Zu-kunft nicht mehr erfüllt wird. Im Beispiel von Enterprise Rent-A-Car sind dies beispielsweise kostspielige Büros sowie der Wunschder Kunden nach möglichst neuen Autos. Solche Entscheidungen,die dahin führen, etwas wegzulassen, sind besonders schwierig;gerade sie aber zeichnen wirksames Management aus.

Dritter Weg: Klarheit schaffen102

Page 77: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Wer den Mut hat zu sagen, welche Leistungen nicht erbrachtund welche Kundenbedürfnisse nicht erfüllt werden, schärftmit mechanischer Sicherheit sein Profil.

So beispielsweise der mittelständische Bibliothekenbauer Pa-schen & Companie. Bis Anfang der neunziger Jahre stellte dasUnternehmen, ohne klares Profil und »Pepp«, Möbel für Speise-zimmer her und dümpelte vor sich hin. Dann fasste Firmen-inhaber Günther Paschen einen radikalen, mutigen und wirk-samen Entschluss: Das Unternehmen sollte ab sofort nur nochRegalsysteme für Bibliotheken herstellen. Aber würden damitnicht zahlreiche Kundenbeziehungen gekappt und das Unterneh-men in seiner Existenz gefährdet? Das Gegenteil war der Fall:Durch die klare strategische Positionierung, verbunden mit Ver-besserungen in der operativen Leistungserstellung, wurde das Un-ternehmen zum »Shootingstar der Branche«. 54) Die Umsatzver-dopplung auf 46 Millionen Euro innerhalb von 5 Jahren und derdaraus resultierende Anteil von 25 bis 30 Prozent in diesem(Nischen-)Markt sind das Ergebnis der Klarheit in der unterneh-merischen Ausrichtung – und nicht die Eingangsgröße bzw. dasZiel einer unreflektierten Wachstumsstrategie.

Leider grassiert jedoch genau diese Seuche durch unsere Unter-nehmen: das Streben nach ungebremstem Wachstum. Wachs-tumsraten, am besten natürlich jährlich steigend, werden immerwieder als strategisches Ziel definiert. Ein grundlegender Fehler.Wachstum, wie auch andere finanzwirtschaftliche Größen, dürfennicht als Inputgröße verwendet werden – sie sind das Ergebniseiner bestimmten strategischen Ausrichtung und unternehmeri-schen Tätigkeit und nicht das Ziel. Zahlreiche Beispiele belegen,dass unreflektierte Wachstumsambitionen die entsprechendenUnternehmen in neue Geschäftsaktivitäten und -bereiche treiben.Die Konsequenz bleibt nicht aus: Das Profil wird verwässert.

So versuchte beispielsweise Wal-Mart, weltweit größter Einzel-händler, sein Billig-Image abzustreifen und sich durch vermeint-lich trendige Damenbekleidung auch als Einkaufsziel für geho-bene Ansprüche zu positionieren. Der erhoffte Erfolg und die an-gestrebten Wachstumsimpulse blieben aus; schnell revidierte Wal-

Klarheit in der Ausrichtung 103

Page 78: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Mart diesen Kurs, der außer Verunsicherung bei den Kundennichts bewirkt hat, wieder. 55)

Selbst erfolgsverwöhnte Unternehmen tappen immer wieder indie Falle falscher Wachstumsambitionen. Jeder kennt Lego aus sei-nen Kindheitstagen. Seit ein dänischer Kunsttischler diese Kombi-nation aus Plastik und Noppen im Jahr 1958 als Patent angemel-det hat, sind nach Firmenangaben etwa 400 Milliarden Elementerund um den Globus verkauft worden. Der Enkel des Gründersführt heute ein Unternehmen, dass mit 4.500 Mitarbeitern undmehr als einer Milliarde Euro Umsatz zum fünftgrößten Spiel-zeughersteller der Welt geworden ist. Und dennoch: Vor wenigenJahren wurden zum ersten Mal Stellen gestrichen – bis dahin un-vorstellbar in der Firmengeschichte. Die Analyse war einhellig:Lego hatte sich mit Merchandising von Harry Potter und anderenFiguren aus der Unterhaltungsindustrie zu weit von seinen Wur-zeln entfernt. 56)

Auch McDonalds, ein faszinierendes Unternehmen und eineder wertvollsten Marken der Welt, scheint der gleichen Versu-chung zu erliegen: Durch separate Kaffeetheken (»McCafé«) sollKaffeehausanbietern wie Starbucks Konkurrenz gemacht werden.Das ist ungefähr so, als ob Thomas Schaaf bei Werder Bremenauf die Idee käme, den Torwart des THW Kiel abzuwerben. Wasalso treibt McDonalds? Es sind die Wachstumsambitionen und-versprechen. Durch die Kaffee-Offensive soll der Umsatz von ca.22 Milliarden Doller um eine weitere Milliarde erhöht werden. 57)

Im Klartext: Für eine Wachstumssteigerung von weniger als 5 Pro-zent wird das Unternehmensprofil verwässert. Denn woran den-ken Sie bei McDonalds? Natürlich an den Hamburger, der auf dergesamten Welt gleich schmeckt. Das ist großartig und hiermit istdie Marke emotional aufgeladen. Wer daher hochwertigen Es-presso oder Milchkaffee genießen möchte, der wird auch weiter-hin Starbucks frequentieren. Übrigens: Auch Starbucks hat bittereErfahrungen in diesem Zusammenhang gesammelt. Da oft neueLäden in unmittelbarer Nachbarschaft zu alten Filialen eröffnetwurden, traten – was niemanden wirklich verwundern kann – Sät-tigungseffekte und eine regelrechte Kannibalisierung von be-stehenden Läden auf. Schlimmer noch: durch den viel zu schnel-len Expansionskurs (da sind sie wieder, die unreflektierten Wachs-

Dritter Weg: Klarheit schaffen104

Page 79: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

tumsambitionen!) ist der wesentliche Kern des Unternehmensverwässert worden: das besondere, warme Ambiente eines »hei-meligen« Treffpunktes für Kaffeegenießer. Die »Seele« des Unter-nehmens wurde unterwandert; die Gefahr der Wahrnehmung alsMasseware hat das Unternehmen in eine formidable Krise ge-stürzt. In der Folge sank der Aktienkurs in 2007 um fast dieHälfte. 58) Anschauungsmaterial für unwirksames Management.

Ein anderes positives Beispiel ist in diesem Zusammenhang dieamerikanische Fluglinie Southwest Airlines. Das Unternehmenist seit Jahren deutlich profitabler als seine Wettbewerber in denVereinigten Staaten. Warum? Die Analyse der wesentlichen Kos-tentreiber hat ergeben, dass die größten Kostensenkungsmöglich-keiten im Servicebereich liegen. Durch die Ausrichtung aller Akti-vitäten auf das strategische Ziel Kostenführerschaft nutzt South-west erstens seine Flotte besser aus und braucht zweitens zwi-schen Landung und Start nur maximal 20 Minuten – ein Wert,von dem andere nur träumen und der den entscheidenden Kos-tenvorteil bringt. Auch hier war für die erfolgreiche Umsetzungder Strategie eine ganz wesentliche Entscheidung erforderlich:Sämtliche Flughäfen, die aufgrund ihrer Größe oder anderer Spe-zifika das 20-Minuten-Ziel unmöglich machen, werden von South-west nicht angeflogen.

d. Die Macht der Klarheit

Sie sind noch nicht überzeugt – mit anderen Worten: Sie fragensich immer noch, warum Sie Ihre kostbare Zeit in die Entwick-lung der mittel- bis langfristigen Firmenausrichtung investierensollen? Dann werfen Sie bitte einen Blick auf die folgenden Ef-fekte und bewerten Sie deren Relevanz für Ihr Unternehmen. Jenach spezifischer Unternehmenssituation treten natürlich unter-schiedliche Gewichtungen auf, aber grundsätzlich sind es die fol-genden positiven Effekte, die mit der Entwicklung einer klarenUnternehmensstrategie einhergehen. Es sind Wirkungen imDunstkreis von Orientierung, Effektivität, Zusammenarbeit (nichtTeamorientierung, dazu später mehr), Profilschärfung und Ergeb-nisbeitrag.

Klarheit in der Ausrichtung 105

Page 80: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

– Erstens entsteht mehr Orientierung bei den wichtigsten The-men. Vor dem Hintergrund einer weiter dramatisch steigendenallgemeinen Informationsflut (schon die täglich ankommendenE-Mails zu lesen wird zunehmend unmöglich) und dem Ohn-machtsgefühl »alles ein bisschen« zu machen, wird diese Orien-tierungsfunktion immer wichtiger. Wenn Mitarbeiter nach demSinn ihres Tuns fragen, dann hat das auch etwas damit zu tun,ob die strategische Ausrichtung des Unternehmens transparentgenug und verstehbar ist und ob eine Verbindung – und sei sienoch so unvollständig – zum Arbeitsalltag der Mitarbeiter her-gestellt werden kann.

– Zweitens werden das Handeln in der Organisation und ihre Res-sourcen (Zeit, Geld) auf die wichtigsten Themen gelenkt. Ichhabe immer wieder beobachten können, dass insbesondere inunwirksamen Unternehmen über zu viel Arbeit geklagt wird.Der tägliche Aktionismus vernebelt den klaren Blick. Von mor-gens bis teilweise spät abends sind ganze Abteilungen damit be-schäftigt, einen Berg von »Vorgängen« abzuarbeiten. Oft ist die-ser Berg am Abend größer als am Morgen. Die Zentralabteilun-gen klagen über die Vielzahl der Projekte, für einen Gedanken-austausch über die Strategie und über die wichtigsten Ziele derAbteilung fehle einfach die Zeit. »Bei uns ist jeder Mitarbeiterzeitlich völlig überlastet.« Und tatsächlich geht kaum jemandvor 19 Uhr nach Hause, die letzten machen in der Nacht dasLicht aus. Hier geht es offensichtlich um die Unterscheidungzwischen Effizienz (»Machen wir die Dinge richtig?«) und Ef-fektivität (»Machen wir die richtigen Dinge?«). Viele Unterneh-men kümmern sich zwar mühevoll um effizientere Arbeitsab-läufe, aber die Effektivität bleibt unterbelichtet. Wie viel gearbei-tet wird, ist hier die falsche Fragestellung. Wirklich wichtig sindallein die Beiträge zur Umsetzung der Strategie.

– Drittens können die Diskussionen über die strategische Ausrich-tung in der Geschäftsführung einen wichtigen Ventil-Effekt ha-ben. Unter der Voraussetzung einer offenen, tabulosen und aufdie Schlüsselfragen konzentrierten Auseinandersetzung werdenmit mechanischer Sicherheit unterschiedliche Vorstellungen aufden Tisch kommen, sei es über die Attraktivität des eigenen Un-ternehmens, tatsächliche oder mögliche Alleinstellungsmerk-

Dritter Weg: Klarheit schaffen106

Page 81: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

male im Wettbewerb, Umfang und Form notwendiger Koopera-tionen oder wirksame Vertriebswege. Was jahre-, teilweise jahr-zehntelang unter den Teppich gekehrt wurde, ist nun Gegen-stand der Diskussion im Management. In Folge dieser Ausein-andersetzung wird die Führungsmannschaft aller Wahrschein-lichkeit nach stärker »an einem Strang ziehen« als zuvor. DieZusammenarbeit – verstanden als direkter, freiwilliger, nicht-for-malisierter Dialog zwischen Partnern auf Augenhöhe – wird ge-fördert.

– Viertens ist die Wirkung nach außen von Bedeutung. Wer keineklare strategische Ausrichtung hat, dessen »story« kann von nie-mandem verstanden werden. Wer jedoch den Versuch macht,mit den oben angesprochenen Schlüsselfragen zu arbeiten undsein Unternehmen konsequent danach ausrichtet, der wird fürKunden, Geschäfts- und Kooperationspartner ein klares undkonsistentes Profil erzeugen. Leider wird dieser Punkt insbeson-dere in vielen kleinen und mittleren Unternehmen sträflich ver-nachlässigt.

– Fünftens sind die Effekte schließlich von harter betriebswirt-schaftlicher Relevanz. So glauben über zwei Drittel von 600durch Mercuri International befragten europäischen Top-Mana-gern, dass sich die operativen Ergebnisse um mindestens20 Prozent verbessern würden, wenn Strategien konsequenterin konkrete Maßnahmen umgesetzt würden. Jeder dritte Be-fragte sieht die Ergebniswirkung sogar in der Größenordnungvon 50 Prozent.

Ich halte die Annahme für nicht allzu gewagt, dass zumindestein Teil dieser Punkte auch für Ihr Unternehmen oder Ihre Orga-nisation zutrifft. Die Bedeutung einer klaren strategischen Aus-richtung, und damit die Relevanz der genannten Effekte, wirdauch weitgehend anerkannt. So empfanden nach einer Untersu-chung der Wirtschaftswoche aus dem Jahr 1998 insgesamt 98 Pro-zent der befragten Unternehmensvertreter strategische Arbeit als»wichtig« oder »sehr wichtig«. Allerdings war die Hälfte gleichzei-tig unzufrieden mit der Umsetzung einer formulierten Strategiein die praktische Tagesarbeit.59) Es existiert hier offensichtlich einegroße Lücke, wenn – so das renommierte Fortune Magazine –

Klarheit in der Ausrichtung 107

Page 82: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

90 Prozent der erfolgreich formulierten Strategien niemals erfolg-reich umgesetzt werden, oder wenn – so schreibt das ebenso aner-kannte CFO Magazine – 93 Prozent der Mitarbeiter und 60 Pro-zent der Führungsverantwortlichen die Strategie ihrer Organisa-tion gar nicht kennen. Das sind alarmierende Befunde, die sichbis heute nicht maßgeblich verändert haben. Warum ist das so?Mit den Vorschlägen der nächsten Abschnitte biete ich Antwortenhierauf an: Ich appelliere für Klarheit in den Zielen, Klarheit inden gegenseitigen Erwartungen, Klarheit durch Authentizität undKlarheit in der Außendarstellung.

3. Klarheit in den Zielen

Die allermeisten Unternehmen haben in den vergangenen Jah-ren Ziele definiert und ein wie auch immer ausgestaltetes Ziel-system zur Steuerung ihres Geschäftes aufgebaut. Peter Druckerwar es, der bereits in den neunzehnhundertfünfziger Jahren mitdem »Management by Objectives (MbO, »Führen mit Zielen«)« dieGrundlagen hierfür legte.60) Inzwischen sind die Grundprinzipiendes Führens mit Zielen weitgehend unbestritten. Dennoch zeigtdie Praxis ein ernüchterndes Bild. Nach meiner Beobachtung undpraktischen Erfahrung existieren in mindestens sieben von zehnUnternehmen die jeweiligen Zielsysteme nur auf dem Papier, abernicht im betrieblichen Alltag und damit auch nicht als wirksamesFührungsinstrument. Warum ist das so? Ich skizziere im Folgen-den drei Erklärungsansätze, aus denen sich konkrete Vorschlägezur Verbesserung der Führungsleistung ableiten lassen.

a. Spannungsbilanz statt Zahlenbilanz

Der Vorstandsvorsitzende eines deutschen Industrieunterneh-mens schildert plastisch seine Problemlage: »Ich wühle mich hierdurch Zahlenkolonnen, mit denen ich mein gesamtes Büro tape-zieren könnte. Damit kann ich zwar sehen, was auf jeder einzel-nen Kostenstelle los war, aber nicht, warum wir morgen erfolg-reich sind und bis zu welchem Grad wir unsere strategischen

Dritter Weg: Klarheit schaffen108

Page 83: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Ziele auch erreichen.« So oder ähnlich ergeht es vielen Unterneh-menslenkern. Die Unternehmensziele werden in Zahlenkolonnengegossen. Mit beachtlicher Finesse und auch Einfallsreichtumwerden immer neue Facetten des zurückliegenden Zeitraumes be-leuchtet. Es ist bildlich gesprochen so, als ob ein Raum immernoch ein Stück heller ausgeleuchtet wird – nur wird die Frage ver-gessen, ob es überhaupt der richtige Raum ist. Manchmal bleibtsogar unklar, in welchem Gebäude man sich gerade befindet. Ausden Datenkolonnen entsteht eine Zahlenbilanz, die nahezu alle fi-nanzwirtschaftlichen Aspekte des zurückliegenden Geschäftsjah-res abbildet. Wohlgemerkt: des zurückliegenden Geschäftsjahres.Finanzwirtschaftliche Auswertungen sind immer rückwärtsgerich-tet.61) Sie bilden lediglich ab, was gewesen ist. Die entscheidendeFrage aber, warum ein bestimmtes Finanzergebnis erwirtschaftetworden ist, bleibt vollständig oder weitgehend unbeantwortet. Umes ganz deutlich zu sagen: die immer feinere Detaillierung der fi-nanzorientierten Datenkolonnen bringt nicht mehr Klarheit, son-dern weniger. Von den oben exemplarisch genannten Schlüsselfra-gen wird damit nicht eine einzige beantwortet.

Es muss eingeräumt werden, dass die einseitige Orientierungauf rückwärtsgewandte Finanzzahlen in den vergangenen Jahrenin manchen Unternehmen verringert worden ist. Ansätze wie bei-spielsweise Balanced Scorecards (wörtlich etwa »ausgewogenesZielsystem«) haben in diesem Zusammenhang Wirkungen ge-zeigt. Führungssysteme mit Balanced Scorecard sehen im Kernvor, dass neben finanzwirtschaftlichen Zielen – die natürlich wei-terhin wichtig bleiben – gleichgewichtig Unternehmensziele ausden Bereichen Kunde/Markt, interne Prozesse und Mitarbeiterverfolgt werden. Durch deren Verknüpfung soll transparenter wer-den, wo die wesentlichen Stellhebel für ein bestimmtes Finanz-ergebnis liegen. Dieser Ansatz ist in der Tat interessant, adressierter doch einen der gravierendsten Missstände in typischen Ziel-systemen und damit bei der Führungsleistung insgesamt.62) Be-dauernswerterweise hat der im Kern wirksame Ansatz allerdingsStilblüten mit sich gebracht, die geradezu absurd anmuten. DerAnspruch besteht nämlich weiterhin darin, für alle definierte ZieleKennzahlen zu ermitteln und ihnen geeignete Maßnahmen zuzu-ordnen, mit denen die einzelnen Ziele auch umgesetzt werden

Klarheit in den Zielen 109

Page 84: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

und mit deren Hilfe die Lücke zwischen allgemeiner Unterneh-mensstrategie und konkretem Tagesgeschäft reduziert wird. Dasklingt und ist zunächst logisch. Es wird jedoch übersehen bzw. ne-giert, dass sich nicht jedes Thema in ein mathematisches Gerüstpressen und quantifizieren lässt. Ob man es wahrhaben will odernicht: Manche Ziele lassen sich relativ leicht messen – dazu gehö-ren beispielsweise Themen wie Kundenwechselraten oder die Ant-wortzeit im Call Center. Andere dagegen lassen sich eben nichteinfach mit einer Kennzahl quantifizieren.

Je wichtiger ein Ziel, desto weniger lässt es sich messen.

Wer will schon ernsthaft behaupten, dass Themen wie Mitarbei-terzufriedenheit, Kundenloyalität oder unternehmerisches Denkenund Handeln exakt zu messen sind? Die Anhänger der Alles-ist-messbar-Euphorie tun es und entwickeln mit geradezu missionari-schem Eifer immer neue Kennzahlen. Am Ende heißt es dann bei-spielsweise, die Mitarbeiterzufriedenheit sei umso höher, je längerdie durchschnittliche Verweildauer im Unternehmen ist. So wirddas Ziel »messbar« gemacht. Ein Bärendienst, denn da die Füh-rungsmannschaft auf das strategische Ziel »Mitarbeiterzufrieden-heit erhöhen« verpflichtet wird (besser: sich darauf verpflichtenlässt), trennt man sich auch von den unproduktivsten Mitarbeiternnicht, nur weil sie schon lange im Unternehmen sind. Frische Im-pulse von Neueinstellungen bleiben aus, denn das würde ja dieKennzahl drücken. Wieder stoßen wir hier auf die bereits bekannte,hinter dem Messwahn liegende Einstellung, die auf den Gipfel ge-trieben wird durch berühmt gewordene Aussagen wie »what gets’measured, gets’ done«. Die Kunst wird vielmehr darin bestehen,die guten und sinnvollen Ansätze etwa einer Balanced Scorecard –keine einseitige Orientierung mehr auf Finanzdaten, mehr Verbin-dung zwischen Strategie und Tagesgeschäft – zu nutzen undgleichzeitig nicht in den Alles-ist-messbar-Wahn zu verfallen.

Ich schlage daher vor, für die hiesigen Zwecke die Zahlenbilanzdurch eine Spannungsbilanz zu ersetzen. Die Spannungsbilanzadressiert im Kern die Frage, wie attraktiv – wie spannend – IhrUnternehmen für Kunden, Investoren, Medien und für Ihre Mit-

Dritter Weg: Klarheit schaffen110

Page 85: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

arbeiter ist. Interessanterweise verkündete der Deutschland-Chefdes Beratungsprimus McKinsey Anfang 2008, dass das deutscheBüro künftig keinen Umsatz mehr nennen würde, da die Summealler Geldeingänge keine sinnvolle Steuerungsgröße darstellt.Wichtiger sei der Nutzen der Beratung für die Kunden. Wie großdieser Nutzen ist, wird die Öffentlichkeit indes nicht erfahren. DerDeutschland-Chef selbstbewusst: »Sie müssen uns nicht messenkönnen. Die Meinung der Kunden ist entscheidend.« Dem istnichts hinzuzufügen. Außer einer gedanklichen Verbindung zumEingangskapitel, in dem ich dafür plädiert habe, die Leistungsfä-higkeit des Unternehmens in den Mittelpunkt zu stellen undnicht in die Irre führende Konzepte wie Shareholder Value blindzu übernehmen – wohl dem, der als beratender Dienstleister alsPartnerschaft organisiert und der Börse fern geblieben ist. Kompli-zierte Instrumente zur Bewertung der Spannungsbilanz scheinenmir überflüssig zu sein. Vielmehr reicht eine überschaubare An-zahl wirksamer Fragen aus. Zu ihnen gehören:

– Wann haben Sie Ihre Kunden das letzte Mal überrascht?– Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Mitarbeiter begeistert?– Wann hat die für Ihre Branche wichtigste Fachzeitschrift das

letzte Mal eine ›positive story‹ über Ihr Unternehmen geschrie-ben?

Das sind die Themen, auf die es ankommt. Diese Liste lässtsich leicht verlängern. Zahlenkolonnen und -kosmetik sagen nochgar nichts darüber aus, ob die Spannung existiert und ob sie sozu-sagen »von innen« kommt.

b. Zu hohe Komplexität

Die Alles-ist-messbar-Fanatiker produzieren noch ein weiteresProblem, nämlich Zielsysteme, deren Komplexität nicht mehrhandhabbar ist. Sie verstoßen in fundamentaler Weise gegen denGrundsatz der Einfachheit. Es wird versucht, jeden Aspekt der Ge-schäftstätigkeit in Ziele zu gießen. Am Ende entstehen nicht sel-ten Listen mit 20 strategischen Zielen oder mehr. Alles ist priori-

Klarheit in den Zielen 111

Page 86: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

tär; alles muss gemacht werden. Jedes Ziel wird dann mit zwei bisdrei Kennzahlen scheinbar »messbar« gemacht. Pro Kennzahlwerden fünf bis zehn Maßnahmen definiert, mit denen die verab-redeten Ziele umgesetzt werden sollen. Wer aber soll bei 50 Kenn-zahlen und mehreren hundert Maßnahmen den Überblick behal-ten? Konzentriertes Arbeiten ist schon schwer genug in unsererheutigen Organisationsrealität. Wer dann noch einen Katalog von20 oder mehr Zielen vor sich herträgt, der wird mit mechanischerSicherheit in Orientierungslosigkeit enden. Wohlgemerkt: KeinMarkt, kein Wettbewerber und keine Naturkatastrophe habendiese Komplexität verursacht – sie ist vollständig hausgemacht. Eswerden schlichtweg zu viele Ziele definiert. Man nimmt sich zuviel auf einmal vor, sowohl bei den Organisations- als auch denMitarbeiterzielen. Die notwendige Konsequenz ist, »alles ein biss-chen und nichts wirklich richtig« zu machen. Ich werde auf die-sen Fehler beim sechsten Weg zu leistungsfähiger Führung – AufWeniges konzentrieren – zurückkommen.

Ein Zeichen hoher Wirksamkeit: wenige große Ziele.

Was also nicht mehr? Wer Prioritäten setzt, muss im gleichenAtemzug auch Posterioritäten beschließen. Ich erlebe immer wie-der Führungskräfte, die zwar ihren Mitarbeitern noch zusätzlicheprioritäre Aufgaben geben, allerdings nicht bereit sind, darüber zusprechen, was der Mitarbeiter dafür im Einzelnen in Zukunft nichtmehr macht. Diese Unfähigkeit zum Verzicht ist einer der stärk-sten Motoren für immer höhere Komplexität.

Das Dilemma der Zahlenbilanz und der damit einhergehendenKomplexität findet sein Spiegelbild in den Berichten: Sie werdenimmer umfangreicher, immer detaillierter. Besonders starke Aus-wüchse sind in Großunternehmen (natürlich nicht in allen) zufinden. Dabei geraten, wie schon gesagt, die eigentlich entschei-denden Fragen immer weiter aus dem Blickfeld. Es wird diezweite Nachkommastelle in der Absatzplanung der Vertriebsabtei-lung für das Kundensegment X in der Region Y analysiert, berich-tet und kommentiert. Die Frage, warum das Unternehmen heuteim Vertriebsbereich erfolgreich ist, ist im Bericht nicht vorgese-

Dritter Weg: Klarheit schaffen112

Page 87: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

hen. Sie bleibt unbeantwortet. Ganz zu schweigen von der Frage,warum das auch morgen noch der Fall ist.

Komplexität verstellt den Blick auf die entscheidenden Fragen.

c. Ziele für wen?

Ein dritter Grund für das Scheitern vieler Zielsysteme liegt da-rin, dass sie zwar für die Organisation in Form von Unterneh-mens- oder Abteilungszielen formuliert, aber nicht auf die Ebeneder einzelnen Führungskraft gebracht werden. Ein durchgängigesZielsystem bis auf die Mitarbeiterebene ist jedoch die Grundvor-aussetzung für konsequentes Handeln und Führen. Organisati-onsziele werden immer ins Leere laufen, wenn sie nicht auch aufder Ebene der einzelnen Führungskraft – idealerweise nach dengleichen Prinzipien – definiert werden.

Wirksame Ziele sind persönliche Ziele.

Sie können Orientierung geben und – bei allen Unzulänglichkei-ten, die jede arbeitsteilige Organisation mit sich bringt – Zu-rechenbarkeit von Erfolgen und Ergebnissen unterstützen. Geradedieser Schritt ist jedoch besonders arbeitsintensiv. Er erfordert eineVereinbarungshaltung unter Partnern. Ich werde hierauf im achtenWeg zu wirksamer Führung – Wahlmöglichkeiten eröffnen – zu-rückkommen.

4. Klarheit in den Erwartungen

a. Erwartungen abgleichen

Ich werde bei Vorträgen oder Workshops immer wieder gefragt,welche eine Maßnahme nach meiner Erfahrung die größte positiveWirkung auf die eigene Führungsleistung hätte. Auch wenn die-

Klarheit in den Erwartungen 113

Page 88: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

ser Fragetyp etwas beschränkt und eindimensional anmutet (»Wel-chen Knopf muss ich drücken, damit meine Führungserfolge inden Himmel hochschnellen?«), antworte ich wie folgt: Es ist derprofessionelle Abgleich der gegenseitigen Erwartungen. In unzäh-ligen Beratungsmandaten habe ich immer wieder erleben dürfen,welch enorme Verbesserungsmöglichkeiten in diesem Feldschlummern. Dabei ist diese vierte Zutat zu klarer Führung ein-fach – und wird dennoch in der Regel sträflich vernachlässigt. Er-wartungen abzugleichen, ist weder intellektuell noch aus anderenGründen besonders anspruchsvoll; man muss es nur machen –und zwar in beide Richtungen. Der erste Lackmus-Test findet be-reits bei Einstellungsgesprächen statt. Wenn das Abgleichen dergegenseitigen Erwartungen wirklich ernsthaft betrieben werdenwürde, könnte viel Geld im später einsetzenden »Reparaturzir-kus« Personalentwicklung eingespart werden. Zu häufig wird hiermühsam versucht Fehler auszugleichen, die Monate oder sogarJahre zuvor gemacht wurden. Die Anforderungen des Erwartungs-abgleichs haben drei Dimensionen: Klarheit (Was wird erwartet?),Hintergrund (Warum wird etwas erwartet?) und Realismus (Wieviel kann erwartet werden?).

Beginnen wir mit der Frage, was die gegenseitigen Erwartungensind; also der Anforderung nach Klarheit. Wenn die Führungs-kraft den Mitarbeiter auffordert, »sich voll reinzuhängen« und»die Kunden zufrieden zu machen«, dann sind das zwar die typi-schen Motivationsparolen (besser: Parolen, von denen fälschlicher-weise angenommen wird, sie würden Motivation entfachen), abervon Klarheit über das, was vom Mitarbeiter erwartet wird, was erbeitragen soll, keine Spur. Klarer wäre etwa folgende Erwartungs-haltung: »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie innerhalb der nächstenzwölf Monate das Unternehmen X zu einem unserer Top-Kundenentwickeln. Des Weiteren erwarte ich, dass Sie Ihre Abteilung soorganisieren, dass die Abstimmung mit der Produktion deutlichreibungsloser und schneller funktioniert.« Klarheit bedeutet indiesem Zusammenhang nicht notwendigerweise Zahlen. Werseine Erwartungen mit detaillierten Zahlenwerken schmückt, pro-duziert nicht selten Scheingenauigkeiten. Richten Sie vielmehrIhre Erwartungen auf die wesentlichen Themen. Auch aus Sichtdes Mitarbeiters. Zum Beispiel: »Ich erwarte im Gegenzug für die

Dritter Weg: Klarheit schaffen114

Page 89: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Einarbeitungszeit deutliche Unterstützung durch meinen Stellver-treter und auch durch die Geschäftsführung. Weiter erwarte ichmaximalen Freiraum bezüglich der Frage, mit welchen Angebotenich die Zusammenarbeit mit dem Kunden gestalten werde. Fürdie Vertriebsregion Nord erwarte ich, dass ich einen weiteren Mit-arbeiter mit mindestens fünf Jahren praktischer Erfahrung einstel-len kann.« Es ist schockierend, wie wenig über gegenseitige Erwar-tungen gesprochen wird. Annahmen, Mutmaßungen und Un-sicherheit ersetzen klare Verabredungen.

Die Gründe für Trennungen sind in der Regel die Dinge, überdie nicht gesprochen wurde.

Nur wenig anspruchsvoller wird es bei der Frage des »warum«;d. h. dem Aufzeigen eines Kontextes bzw. Hintergrundes für einebestimmte Erwartungshaltung. Ohne Hintergründe wundert esnicht, wenn Mitarbeiter eine Einstellung nach dem Motto »DieBotschaft hör ich wohl – allein, es fehlt der Sinn« entwickeln.Warum sollen die Umsätze innerhalb der nächsten zwei Jahre ver-doppelt werden? Also: was ist die Geschäftslogik dahinter undwas ist die Evidenz dafür, dass wir es schaffen können? Warumwird Produktlinie A abgestoßen? Warum schließen wir 30 % derFilialen? Warum ist die Fusion erforderlich? Weniges wird in un-seren Unternehmen so stark vernachlässigt wie die Frage nachdem Warum. Doch wer die Hintergründe seiner Erwartungshal-tungen erläutert und transparent macht, wer hierin investiert, derwird einen extrem hohen Return on Investment bekommen. IhreMitarbeiter lechzen geradezu danach. Etwas zugespitzt ausge-drückt: wenn Mitarbeiter ihre Energie, Kreativität und Problem-lösungskompetenz nicht in die Zeit nach 17 Uhr verlegen sollen,brauchen Sie eine möglichst klare Vorstellung davon, warum sieden Großteil ihrer Zeit im Unternehmen verbringen. Es geht da-mit auch um den Sinn ihres Tuns, auf einer Ebene jenseits desTagesgeschäftes. Intellektuell scheinen das viele nachzuvollziehen,die Praxis sieht jedoch anders aus.

Damit zum dritten Element eines wirksames Erwartungsab-gleichs: Realismus. Ein wesentliches Anwendungsgebiet ist hier

Klarheit in den Erwartungen 115

Page 90: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

die Frage, welche Fähigkeiten eine Führungskraft in sich vereinenmuss. Da ich diese Diskussion um die »ideale Führungskraft« fürvöllig verfehlt halte, will ich hierauf im Folgenden etwas ausführ-licher eingehen.

b. Die ›ideale Führungskraft‹ – eine falsch gestellte Frage

Wenige Themen sind in der Management-Literatur und -for-schung so detailliert über viele Jahre hinweg untersucht worden,wie die Frage, welche Eigenschaften die ideale Führungskraft insich vereinen muss. Ganze Bibliotheken ließen sich mit den dabeigenannten Persönlichkeitsvoraussetzungen füllen. Die Ergebnissedieser Untersuchungen lesen sich regelmäßig wie das »Einmal-eins zum Universalgenie«, z.B.: unternehmerisch denkend, tea-morientiert, emphatisch, sensibel, durchsetzungsstark, entschei-dungsfreudig, visionär, kommunikativ, begeisterungsfähig, begei-sternd, sozial ausgerichtet, multi-kulturell.63) Die Wunsch-Listeließe sich fast beliebig verlängern. Sie ist kein Einzelfall, sondernAbbild der in vielen Organisationen vorherrschenden Meinung,dass die Top-Leute eine Mischung aus Nobelpreisträger für Mathe-matik, Oberstleutnant und Show-Master sein müssten. MancheGutmenschen aus den Personalabteilungen tragen wesentlich zudiesem Bild bei, indem sie bereits in Stellenanzeigen das Unmög-liche verlangen. Übrigens nicht nur bei Führungskräften, sondernauch bei Universitätsabsolventen: Der Wunschkandidat ist maxi-mal 25 Jahre, hat in 2 Ländern studiert, diverse Praktika absolviert,spricht 3 Sprachen verhandlungssicher (wie wird das beurteilt? –die meisten Absolventen haben noch nie eine tatsächliche Ver-handlung in einer Fremdsprache führen können), ist in verschie-denen Institutionen sozial, kulturell oder sonst wie engagiert undhat natürlich – last but not least – eine erste 2–3jährige beruflichePraxis erfolgreich hinter sich gebracht.

Auf Stellenanzeigen solchen Typs sollten sich deren Verfassereinmal selbst mit dem Lebenslauf bewerben, den Sie als 25jährigevorzuweisen hatten. Ich halte es für keine gewagte These, dass we-niger als 5% der Stellenanzeigen-Verfasser überhaupt zu einemersten Gespräch eingeladen werden würden. (Übrigens sind 95%

Dritter Weg: Klarheit schaffen116

Page 91: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

der Stellenanzeigen auch in punkto Erscheinungsbild stark reno-vierungsbedürftig: Sie muten wie Todesanzeigen mit Trauerrandan. Nicht besonders vorteilhaft für eine erste Visitenkarte.) Ichselbst hätte nie eine Bewerbung abschicken dürfen, wenn ich dieUniversalgenie-Beschreibungen auch nur halbwegs ernst genom-men hätte. Es macht den Eindruck, dass sich Personaler bei derLektüre der Samstags-Ausgabe der FAZ immer neue Adjektiveherauspicken und sich gegenseitig hochschaukeln. Drehen wirden Spieß herum. Für mich scheinen – zumindest auf einen ers-ten Blick – diejenigen Unternehmen glaubwürdig, die diese im-mer schneller-höher-weiter-Spirale nicht mitmachen und ambitio-nierte, aber eben auch realistische Erwartungen formulieren. Indiesem Kontext gilt es, mit einem verwandten Mythos aufzuräu-men: Niemand – buchstäblich niemand – erbringt ständig Spit-zenleistungen. Auch wenn diese Vorstellung seit etwa zwei Jahr-zehnten durch zahlreiche Bücher und Vorträge immer wieder ge-nährt wird, bleibt sie dennoch Lichtjahre von jeder praktischenLebenserfahrung entfernt. Sie ist schlichtweg inhuman.

Die ideale Führungskraft gibt es nicht. Die Frage ist falschgestellt.

Fredmund Malik hat vorgeschlagen, die Frage umzuformulie-ren: Was ist eine wirksame Führungskraft?64) Wieder ist die Versu-chung groß, Gemeinsamkeiten wirksamer Menschen herauszuar-beiten und in einen Kriterienkatalog zu gießen. Nach langjährigerBeobachtung zahlreicher Führungskräfte scheint mir diese Er-kenntnis gesichert: Es gibt die Gemeinsamkeiten nicht. Was dage-gen geradezu offensichtlich wird, ist ihre Individualität, ihre Ein-zigartigkeit. Hier schließt sich der (Teufels-)Kreis. Dies zu erken-nen und zu akzeptieren, fällt den Verantwortlichen in den meistenOrganisationen schwer. Es ist nicht vereinbar mit Verreglementie-rung und Egalisierung.

Ich habe wirksame Menschen kennen lernen dürfen, die nachihrem Doppelstudium wie selbstverständlich berufsbegleitend pro-moviert und sich sogar habilitiert haben, aber auch solche, die aufjegliches Studium verzichten mussten – sie waren genauso gut.

Klarheit in den Erwartungen 117

Page 92: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Manche Manager fühlten sich umso wohler, je mehr Menschenihrem Vortrag zuhörten, andere dagegen bekamen bereits feuchteHände, wenn sie nur vor fünf Mitarbeitern sprechen sollten – ihreWirksamkeit war dadurch nicht beeinträchtigt. Ich habe mit Füh-rungskräften zusammenarbeiten können, die sofort einen Raummit ihrer Präsenz und Energie füllten, während andere nicht ein-mal bemerkt wurden. Manche sind in ihrem äußeren Erschei-nungsbild und in ihrer Wortwahl distinguiert und wählerisch, an-dere dagegen sind hemdsärmelig, holprig oder legen auf Worteund Erscheinung gar keinen Wert – über ihre Wirksamkeit sagtdies nichts aus. Es wäre ein Leichtes, diese Aufzählung an Nicht-Gemeinsamkeiten – mit anderen Worten: an Individualität – zuverlängern. Was also macht wirksame Führungskräfte aus? Es istIhr Handeln! Erstens ist Vertrauen die vielleicht wesentlichsteHandlungsmaxime wirksamer Menschen. Zweitens orientieren siesich an Ergebnissen, an den Resultaten ihres Handelns, und anden Ergebnissen bzw. Beiträgen ihrer Mitarbeiter. Drittens ist zubeobachten, dass wirksame Menschen in Selbstverantwortung han-deln und die Selbstverantwortung ihrer Mitarbeiter fördern.

5. Klarheit über Authentizität

Ich habe Führungskräfte kennen lernen dürfen, die in ihrer Ab-teilung oder ihrem Bereich nahezu vorbehaltlos von ihren Mitar-beitern akzeptiert wurden, obwohl ihnen regelmäßig offensicht-liche handwerkliche Führungsfehler unterliefen. Im Laufe derZeit hat sich für mich immer stärker herauskristallisiert, was dieseMenschen gemeinsam haben: sie sind authentisch. Für unserenZusammenhang sind die Elemente herauszustellen, die im Zu-sammenhang mit der Schaffung einer vertrauensbasierten Organi-sation wichtig sind. Schon ein einfacher Blick in den Duden zeigt,wofür Authentizität steht: Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdig-keit. Dabei ist meiner Ansicht nach wichtig zu erkennen, dass derletztgenannte Begriff – Glaubwürdigkeit – nur eine Folge, eineKonsequenz von Echtheit und Zuverlässigkeit sein kann.

Führungskräfte, die »echt« sind, versuchen keine Rollen zuspielen. Sie geben sich so, wie sie – mit all ihren Ecken und Kan-

Dritter Weg: Klarheit schaffen118

Page 93: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

ten – wirklich sind. Das finden Sie naiv, weil man sich doch in kei-ner Organisation der Welt so geben könne, wie man wirklich ist?Nun, auch hier kommt es mir wieder auf das Maß der Dinge an.Sicher gibt es immer Situationen, in denen Kompromisse einge-gangen werden müssen. Beispielsweise kann es sein, dass be-stimmte Informationen erst später an die Mitarbeiter kommuni-ziert werden können, als es unter dem Gesichtspunkt der Authen-tizität geboten wäre. Übrigens in der Regel gerade deswegen, weilsie vertraulich sind. Aber es geht um den Grundsatz:

Authentische Menschen meinen, was sie sagen. Und sie han-deln entsprechend. Im Ergebnis ist ihr Handeln konsistent.

»Walk the talk«, wie die Angelsachsen sagen. In der Kommuni-kation: Authentische Botschaften sind schnörkellos, zum Punkt,ungeschminkt, selbsterklärend und kommen bei Konfliktstoff sozeitnah wie möglich – und nicht erst acht Monate später im Jah-resendgespräch. Sie verzichten auf verabsolutierende Sprachele-mente wie »immer«, »nie« oder »ständig«. Etwas weiteres kommthinzu: Authentische Personen spielen keine Rollen. So wichtigder Begriff der Rolle für die Zwecke der Soziologie auch sein mag,ich halte ihn in Führungsdiskussionen für ungeeignet und sogarschädlich.

Wer eine Rolle spielt, befindet sich im Film oder im Theater.65)

Der Zweck von Unternehmen jedoch besteht darin, Aufgabenzu erfüllen und Ergebnisse zu erzielen und nicht Rollen zu spie-len bzw. die Bühne dafür bereitzustellen, dass Mitarbeiter Rollenund Führungskräfte Hauptrollen spielen. Dadurch, dass sie»echt« sind, und ihr Handeln (tun) ihren Worten (sagen) undauch ihren Einstellungen (meinen) entspricht, entstehen für dieMitarbeiter Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit. Das heißt nicht,wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, dass man seine Mei-nung nicht ändern dürfe. Häufig wird das missverstanden. Esmuss nur klar kommuniziert und erläutert werden.

Klarheit über Authentizität 119

Page 94: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Authentische Menschen haben eine weitere Gemeinsamkeit: siebeanspruchen keine Lorbeeren, die andere – etwa ihre eigenenMitarbeiter – eingefahren haben. Echtheit bedeutet in diesem Zu-sammenhang, dass Lob, Anerkennung und Erfolg sozusagen ver-ursachungsgerecht zugeordnet werden. Der Alltag sieht in vielenUnternehmen leider anders aus: Führungskräfte schmücken sichinsbesondere in den Besprechungen, an denen ihre Mitarbeiternicht teilnehmen können, mit Erfolgen und Ergebnissen, die imWesentlichen auf ihre Mitarbeiter zurückgehen. Schließlich zeich-nen sich authentische Menschen dadurch aus, dass sie keinenWert auf etwas legen, dass allgemein immer noch vielbeachtetund vieldiskutiert ist: Führungsstil ist ihnen egal. Es gibt, wie ichbereits erläutert habe, keinen Zusammenhang zwischen einem be-stimmten Führungsstil und der Akzeptanz einer Person.

Sehen wir uns nun einige Beispiele für mangelnde Authentizi-tät an. Kaum ein Unternehmen, das heute nicht in aufwendigenHochglanzbroschüren klarstellt, dass die Mitarbeiter »die wichtig-ste Ressource sind«, das »wertvollste Asset darstellen« und über-haupt »ohne sie die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensernsthaft gefährdet« wäre. Gleichzeitig werden 25% der Beleg-schaft abgebaut, Weiterbildungsprogramme aus Kostengründenzusammengestrichen und die gesparten Kosten gleichzeitig fürden Aufbau zusätzlicher misstrauensgetriebener Kontrollinstru-mente und Rechtfertigungsrituale ausgegeben. In solchen Unter-nehmen muss sich in der Konsequenz Zynismus breit machen.Das ist der Anfang vom Ende, denn Zynismus ist der fleißigsteTotengräber jeglicher organisatorischer Entwicklung. Und erwächst schneller als Krebs. Er startet in einer Abteilung und hatsich binnen kurzer Zeit über das gesamte Unternehmen ausge-breitet und dessen Leistungsfähigkeit gelähmt. Ein weiterer funda-mentaler Zusammenhang kann durch keine Hochglanzbroschüreder Unternehmenswelt adressiert werden. Vertrauen kann erstdurch Handeln entstehen. Erst im Handeln kann ich erkennen, obmein Gegenüber – Chef, Mitarbeiter, Kunde, Lieferant, Journalist,Investor – in ein Vertrauensverhältnis einzusteigen bereit ist.

Vertrauen entsteht durch Handeln, nicht durch Ankündigungen.

Dritter Weg: Klarheit schaffen120

Page 95: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

Wenn man sich über Authentizität Gedanken macht, ist der Wegbis zur Sprache, die in einer Organisation vorherrscht, nicht weit.An ihr lässt sich vieles ablesen. Nehmen wir als Beispiel diejenigenUnternehmen, in denen das Wort Besitzstände zu den am häufig-sten benutzten Begriffen gehört. Das ist in gewisser Weise authen-tisch, denn es spiegelt die innere Verfasstheit der Organisationwider. Sie ist gekennzeichnet durch ein Festhalten am Bestehen-den, wenig Veränderungsbereitschaft oder -fähigkeit, null Risikobe-reitschaft und einen alles dominierenden Drang zur Absicherung.Auch weit oben in der Hitliste der Sprach-Monster: Funktionsbe-schreibungen. Mitarbeiter funktionieren und die Art und Weise, wiesie dies zu tun haben, wird beschrieben. Die Leitfrage des an Funk-tions- oder Stellenbeschreibungen orientierten Unternehmens lau-tet: »Wer ist formal zuständig?« Und nicht: »Wer kann es am bes-ten?« Es geht mir nicht um sprachliche Feinsinnigkeiten. Aber ichbin fest davon überzeugt, dass mit der Sprache ganz bestimmteVerhaltensmuster und Einstellungen verbunden sind. Bei den Be-sitzstands-Unternehmen sind es die Einstellungen der Sicherheit,des Exakten und deswegen Richtigen. Was wir brauchen, mehrdenn je zuvor, ist jedoch das Gegenteil: Mut zur Unsicherheit, zumUnperfekten. Lieber mit der 80-Prozent-Lösung starten und lernenals mit der 100-Prozent-Lösung keinen Marktanteil mehr haben.

Auch Nicht-Verantwortlichkeit zeigt sich schon in der Sprache.Ich muss keine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen anstel-len, um die Drückeberger zu entlarven. Vier Ausprägungen derNicht-Verantwortlichkeit sind es, bei denen es mich immer wiederschüttelt: das berühmte man, der allgegenwärtige Konjunktiv, derbeliebte Passiv-Stil und Fragen statt Sagen. Gelegentlich wird die-ses Viergestirn noch vom ominösen eigentlich flankiert. (Gehen Siemal nach Hause und sagen zu Ihrem Partner: »Du, Schatz, eigent-lich liebe ich Dich und eigentlich war ich Dir immer treu.«) AchtenSie einmal darauf, wie sehr der Schriftverkehr in Ihrem Unterneh-men durchseucht ist mit Passiv-Stil-Elementen wie »das wurdebeschlossen«, »ist dementsprechend analysiert worden« oder»konnte nicht besser gegenübergestellt werden«. Und dann nochdas Papierkorb-Wort Nummer eins: man. Man hat eine Entschei-dung verschoben, man beobachtet den Markt und man setzt sichfür das Führungskräfte-Entwicklungsprogramm ein. Wo aber ar-

Klarheit über Authentizität 121

Page 96: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

beitet man? In welcher Abteilung? Unbekannt verzogen. Dannder Konjunktiv: »Ich würde das übernehmen« – gedanklich mussdieser Satz so enden: »aber ich mache es dennoch nicht«. Wenndann Kombinationen auftauchen, wie zum Beispiel »Man hättedas Marktforschungsergebnis mal validieren lassen sollen« oder »Hättenicht eigentlich der Deckungsbeitrag der Produktgruppe X verdoppeltwerden können?«, und diese Nicht-Aussagen den firmeninternenSprachgebrauch zu dominieren beginnen, dann ist der Weg zuselbst-verantwortlichem Handeln besonders dornenreich undlang. Oder der Konjunktiv paart sich gleich mit man und Passiv-Stil: »Man müsste das mal auswerten lassen«. Ist das der Jargonder Verantwortlichkeit?66)

Wo man etwas verantwortet, da trägt keiner Verantwortung.

Eine kleine Steigerung bietet Reinhard Sprenger noch an: dasVersuchen. »Ich habe versucht, eine Zusammenfassung zu schrei-ben« oder »Ich habe versucht, Dich anzurufen«. Sehr schön.

6. Klarheit in der Außendarstellung

Auch in der Außendarstellung geht es wiederum um Vertrauen:um das Vertrauen der Öffentlichkeit, aktueller und potentieller In-vestoren und der Analysten, wenn das Unternehmen börsenno-tiert ist. Je nach Unternehmenszweck liegen die Gewichte natür-lich anders. Aber die Bedeutung einer klaren Außendarstellungwird von vielen Unternehmen unterschätzt. Insbesondere zahlrei-che mittelständische Firmen kümmern sich hierum nur spora-disch oder gar nicht. Aussagen wie »Zu teuer. Brauchen wir nicht«oder »Wir wissen schon, wann wir mal einen Presseversand machenmüssen« sind kein Einzelfall. Das Meinungsforschungsinstitut Ip-sos hat ermittelt, dass gerade einmal 16% der Mittelständler übereine Pressestelle verfügen und ganze 8% mit einer PR-Agenturzusammenarbeiten. Dies ist ein Indiz dafür, dass vier von fünfmittelständischen Unternehmen ihre Außendarstellung vernach-lässigen. Damit werden positive Wirkungen verschenkt:

Dritter Weg: Klarheit schaffen122

Page 97: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

– Der naheliegendste Effekt einer klaren Außendarstellung be-steht darin, dass schlichtweg der Bekanntheitsgrad des Unter-nehmens gesteigert wird. Das klingt trivial und vielleicht ist esdas auch. Dennoch wird gerade dieser Punkt häufiger unter-schätzt als allgemein angenommen wird.

– Wenn sich in vielen Bereichen Produkte und Dienstleistungenimmer ähnlicher werden, dann ist das Alleinstellungsmerkmalim Wettbewerb (unique selling proposition, USP) von immergrößerer Bedeutung. Was unterscheidet Sie von Ihren Wett-bewerbern; wodurch erlangen Sie den entscheidenden Vor-sprung im Kampf um Kunden und Marktanteile? Dieses Allein-stellungsmerkmal zu entwickeln ist schon alles andere als tri-vial. (Es helfen die bereits erwähnten Schlüsselfragen). Es nachaußen zu kommunizieren ist der zweite Teil der Aufgabe.

– Neben Fakten und Zahlen geht es aber auch darum, eine emo-tionale story zu entwickeln. Wir alle wissen, dass Kaufentschei-dungen nur in seltenen Fällen rein sachlich-rational getroffenwerden.

In diesem Zusammenhang machen viele Unternehmen einenfundamentalen Fehler. Wie gesagt, es geht um Vertrauen. In derDarstellung der Unternehmensergebnisse und –ereignisse werdenselbst die negativsten Fakten noch ins Positive zu drehen versucht.»Umsatz- und Gewinneinbruch ja, keine Dividende diesmal, aber dieAbsatzzahlen der letzten vier Wochen lassen bereits eine Trendwende er-kennen.« Alles wird gut. Wird so Vertrauen geschaffen? Mit Sicher-heit nicht. Im Gegenteil: vorhandenes Vertrauen wird zerstört. Esist wie in der Politik nach Wahlen, wo es grundsätzlich nur Ge-winner gibt. Erinnern wir uns an den ersten Weg zu wirksamerFührung: Wer sich verwundbar macht, schafft Vertrauen. DieAußendarstellung der meisten Unternehmen mutet jedoch an wieein Schauspiel der Unverwundbarkeit. Vertrauen hat keineChance.

Klarheit in der Außendarstellung 123

Page 98: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

7. Fazit – Wirksame Führung mit klarem Blick

Die Macht der Klarheit: Wer die hier formulierten Vorschlägeumsetzt, schlägt den Weg zur vertrauensbasierten Organisationein. Sie ist die Grundlage für Wettbewerbsvorteile, die belastbarersind als die Mehrzahl der Preisnachlässe, Produktveränderungenoder Marketingaktionen. Meine Vorschläge sind einfach und sofortumsetzbar. Vielleicht beginnen Sie nicht mit allem gleichzeitig,sondern Schritt für Schritt. Das empfehlenswerte Tempo wird jenach Unternehmen und spezifischer interner und Umfeldsituationunterschiedlich sein. Für die meisten Unternehmen gültig sind je-doch die Felder, auf denen Sie wie folgt Klarheit schaffen können:

– Formulieren Sie die mittel- bis langfristige Ausrichtung IhrerOrganisation. Beantworten Sie hierfür maximal 25 Schlüsselfra-gen. Auf komplizierte Werkzeuge können Sie dann verzichten.

– Vereinbaren Sie Unternehmens- und Mitarbeiterziele, diegleichzeitig ambitioniert und realistisch sind. Denken Sie anfolgendes Bild: Wenn Ihr »Hochspringer« 2,30 Meter springenkann, dann legen Sie die Latte unter Umständen auf 2,35 Meter.Legen Sie sie nicht auf 2,50 Meter – das wäre demotivierend.Legen Sie sie aber auch nicht auf 1,90 Meter – schon mancherHochspringer hat dann gerissen! Des weiteren: Vereinbaren Siewenige, große Ziele statt vielem Kleinkram. Und: achten Sie da-rauf, dass keine Zahlenfriedhöfe entstehen, sondern dass dieFrage beantwortet wird, wie spannend Ihr Unternehmen ist.

– Gleichen Sie die gegenseitigen Erwartungen mit Realismus ab.Konzentrieren Sie sich dabei auf die (wenigen) wesentlichenPunkte. Erläutern Sie die Hintergründe Ihrer Erwartungen undauch Ihrer Entscheidungen.

– Walk the talk! Kommen Sie schnörkellos zum Punkt, reden Sieverständlich und nicht in abstrakter Technokraten-Sprache.

– Erzählen Sie Dritten außerhalb Ihrer vier Firmenwände, wasIhr Unternehmen macht und was es besonders gut macht,ohne dabei Unverwundbarkeit vorzugaukeln.

Dritter Weg: Klarheit schaffen124

Page 99: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete

51) vgl. in diesem Kontext auch Sprenger, Aufstand des Individuums, S. 151–153.52) vgl. hierzu Brandes, Einfach managen, S. 114.53) Förster, Kreuz: Alles, außer gewöhnlich, S. 125.54) vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Januar 2008, S. 20.55) vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 2006, S. 16.56) vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Februar 2008, S. 20.57) vgl. Handelsblatt vom 8. Januar 2008, S. 15.58) vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2008, S. 14.59) vgl. Wirtschaftswoche Nr. 3–1998.60) vgl. Drucker, The Practice of Management, New York 1955, 17. Auflage 1995.61) vgl. in diesem Kontext z. B. Hinterhuber, Strategische Unternehmensführung,

S. 247–257.62) vgl. hierzu u. a. Kaplan/Norton, Balanced Scorecard, Stuttgart, 1997.63) vgl. auch Malik, Führen Leisten Leben, S. 16. Malik stellt dabei heraus, dass das

Bild eines Universalgenies unrealistisch und unmenschlich ist. Ich stimme dem zuund füge einen weiteren Aspekt hinzu, der die Verbindung zur Vertrauens-Thema-tik herstellt: wer seine Anforderungen dergestalt formuliert, verspielt Vertrauenbzw. gibt dessen Entstehung erst gar keine Chance.

64) vgl. Malik, Führen Leisten Leben, S. 18.65) vgl. ebenda, S. 140 f.66) vgl. auch Sprenger, Das Prinzip Selbstverantwortung, S. 55 f. Dabei betont Reinhard

Sprenger, dass Mitarbeiter das Zögern, das Nicht-Entscheiden gewissermaßen selbstwählen, aber dann die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Unentschieden-heit ablehnen. Diese Beobachtung kann ich aus meiner praktischen Arbeit bestäti-gen. Allerdings halte ich es für wichtig, auch das Gegenstück im „gleichen Atem-zug“ zu beleuchten: das Unternehmen, das einen Jargon der Verantwortlichkeit för-dert oder eben nicht.

Fazit – Wirksame Führung mit klarem Blick 125

Page 100: Teil A 27. - Wiley-VCH · galen der Wettbewerber; auch der Rest der Angebotspalette bietet ... Zöpfe abgeschnitten, liebgewonnene Gewohnheiten über Bord ge-worfen und verkrustete