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Teil II: Hayrettin »Die Menschen in den europäischen Ländern wissen nicht, was hier passiert ist.« Hayrettin Altun

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Teil II: Hayrettin

»Die Menschen in den europäischen Ländern wissen nicht,was hier passiert ist.«

Hayrettin Altun

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((Abb. 19 Vignette Hayrettin TK-III-85))

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9 Jahre der Unbekümmertheit

MEIN TIYAKS

»Tîyaks ist mein Paradies auf Erden.«Hayrettin als Kind

Hayrettin ist nicht einfach das zweite Kind, das überlebt, Hayret-tin ist viel, viel mehr. »Ein Junge! Es ist ein Junge!« schallt dieStimme des hoch aufgeschossenen, kräftigen Mannes durch dassteinerne Haus. »Nichts habe ich mir mehr gewünscht als einenJungen!«

Cafer Altun ist überglücklich. Sein Ansehen im Dorf wird mitdem männlichen Nachwuchs enorm wachsen.

Seine zweite Frau Saniye Azer hat bereits fünf Mädchen undeinen Buben geboren: Sakine, Hayriye, Sabiha, Sabina, Nimetund Mehmet Hanifi. Hayriye hat als einzige überlebt, vier deranderen sind schon im ersten Lebensjahr an Durchfall gestorben,eines an Masern. Wann Hayriye geboren worden ist, weiß keinerso genau, auch ihre Eltern nicht, denn Geburtstage werden hierim Südosten noch nicht lange erfasst. Wahrscheinlich ist sie1939 zur Welt gekommen und demnach inzwischen fünfzehnJahre alt. Aber was spielt das für eine Rolle in einem Land, indem fast ausschließlich religiöse und nationale Feiertage gefeiertwerden?

Nach den Schicksalsschlägen der vergangenen Jahre geselltsich zur Freude über Hayrettins Geburt schnell die Angst, derneugeborene Sohn könne ebenfalls an Diarrhö erkranken undsterben. Besorgt füttern ihn die in bescheidenen Verhältnissenlebenden Eltern mit dem besten, was das Gebirgsdorf zu bietenhat: mit feinen Früchten und wohlschmeckenden Schildkröten-

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eiern, ergänzt durch frische Eselsmilch, das nahrhafteste allerGetränke in Tîyaks.

Ein Dreivierteljahr später feiern sie in ganz Kurdistan und Meso-potamien das Newroz-Fest. Zum Frühlingsanfang am 21. März1955 trägt Saniye Azer ein gelb-grün-rotes Band, das an die kur-dische Nationalflagge erinnert. »Binde das Seil in den Frühlings-farben, dann werden Mäuse und Schnecken darben und dich nichtlänger plagen«, zitiert die kleine Frau lachend ein traditionellesGedicht. Den kerngesunden Hayrettin wiegt sie im Arm.

Nach gutem altem Brauch kaufen die Eltern in den sechs erstenLebensjahren keine Kleidungsstücke für den Kleinen und lassensich statt dessen von Verwandten und Bekannten Höschen undHemdchen schenken. In ihnen stecken viele wohlmeinende Zet-tel mit segensreichen Sprüchen des Koran, die dem Sprösslingdurchs Leben helfen sollen.

Mit Hasan, Fehmi und Sakine bringt Saniye in den kommen-den Jahren noch drei weitere Kinder zur Welt. Zwar verfügt dasaus gut hundert Häusern bestehende Tîyaks noch über keineKrankenstation, aber die ärztliche Betreuung und die Versorgungmit Medikamenten sind besser geworden, so dass Saniyes Kinderdiesmal alle überleben.

Das Newroz-Fest – Politischer Jahres– und FrühlingsanfangIn vielen Ländern des Orients gefeiert, wird Newroz in Kurdistandie größte Bedeutung beigemessen. Das Fest gilt als eines derwichtigsten im Jahr, es ist ein gesellschaftliches Ereignis, das oftwochenlang vorbereitet wird.Hintergrund des alljährlich zum Frühlingsanfang, zumeist am 21.März gefeierten Festes ist die Legende vom Tyrannen Eshdehak,der etwa 600 vor Christus an einer schmerzhaften Krankheit litt:Zwei Schlangen, die seinen Schultern entwuchsen, bereiteten ihmgroße Schmerzen. Zahlreiche Ärzte bemühten sich vergeblich um

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Eshdehaks Heilung, alle wurden sie mangels Erfolg hingerichtet.Ein Arzt versprach Heilung, falls der Tyrann seinen Schlangentäglich das Gehirn eines Kurden zum Fressen gäbe – was dieser tatund unzählige Kurden töten ließ.Der kluge Schmied Kawa, von dessen sieben Söhnen in EshdehaksAuftrag bereits sechs getötet worden waren, begab sich anstelleseines siebten Sohnes in die Hände des Tyrannen. Zuvor hatte eralle kampfeswilligen Kurden um sich geschart, die EshdehaksPalast stürmen und ihn befreien sollten, sobald auf dem höchstenBerg ein Feuer entfacht werden würde.So geschah es. Kawa wurde befreit und der Tyrann besiegt. Erst-mals hatten die Kurden ihre Unterdrücker vertrieben. So kommtden landesweiten Newroz-Feiern in Zeiten der Repression hoheSymbolkraft zu.Am 20. März wird im Familienkreis feierlich der Beginn deskurdischen Jahres und des Frühlings begangen. Auf den Bergenwerden Feuer entzündet. Soweit möglich werden politische An-sprachen gehalten, Schwüre gegen Ausbeutung und Unterdrü-ckung werden erneuert, traditionelle kurdische Tänze aufgeführtund bis tief in die Nacht Feste gefeiert.Seit dem offiziellen Verbot der Newroz-Festivitäten in Türkisch-Kurdistan wurde im Familienkreis und sogar in Gefängnissenheimlich gefeiert.

Der Sohn reibt sich an Cafers strenger Religiosität, was schonfrüh zu heftigen Auseinandersetzungen führt. Als Hayrettin einJahr vor der staatlichen Einschulung in die Islamschule geschicktwird, weigert sich der Junge standhaft, stundenlang Korantexteherunterzubeten. Cafer, der selbst nie die Schule besucht und erstbeim Militär Lesen und Schreiben gelernt hat, fährt aus der Haut.Wütend schlägt der strenggläubige Moslem seinen fünfjährigenSohn, was den Trotz des Jungen nur verstärkt.

Zum Glück steht ihm in solchen Momenten seine Mutter bei.Für Saniye ist das friedliche Zusammenleben wichtiger als alles

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andere, Gewalt lehnt sie strikt ab. Wenn sein Vater hart zuschla-gen will, wirft sie sich zwischen die beiden. Das führt manchmalzu der komischen Situation, dass die Mutter ihren Sohn schützenund dieser sie aus der Gefahrenzone bringen will. Dann drängensich beide nach vorn, um dem anderen zu helfen.

Auch wenn Hayrettin noch nicht die Kraft hat, sich gegen denWillen seines Vaters durchzusetzen, und zähneknirschend denIslamunterricht erträgt, wächst seine Abneigung gegen alles Reli-giöse und Traditionelle. Jede Tracht Prügel und jeder erzwungeneKoranvers stärken seinen inneren Widerstand.

Wenn sich der Sturm gelegt hat, streifen Cafer und Hayrettindurch die Bergwelt rund um Tîyaks. Am liebsten klettert derJunge auf den nahe gelegenen Kizilgac, wo er seinem Vater imSommer beim Brennholzsammeln hilft und danach im nahenFluss planschen geht.

Im Winter dagegen sausen er und seine Freunde auf dem Holz-schlitten in Schussfahrt die Hänge hinab, tollen in der Gegendherum und veranstalten Schneeballschlachten. Auf geflochtenenSchneeschuhen durchstreifen die Buben die wunderbare Winter-landschaft.

Manchmal rollt Hayrettin mit seinem sechs Jahre jüngerenBruder Hasan eine riesengroße Schneekugel zusammen, größernoch als sie selbst, setzt eine kleinere obendrauf und schmücktden Schneemann mit einem Strohbesen, einer Karottennase undKohlenaugen. Und damit sein neuer Freund nicht friert, bekommter Vaters Hut aufgesetzt und dessen Jacke umgehängt.

Wenn sie der Übermut packt, wetteifern die Buben darin, dengrößten Schneemann im Dorf zu bauen. Dann wird stundenlanggeschippt und geformt, bis einer von ihnen mit geschwellter Brustverkünden kann, er sei der berühmteste Großbaumeister von ganzTîyaks. »Ich habe einen Schneemann aufgetürmt, viel größer alsalle anderen!«

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Türkisch-Kurdistan und das Dorf TîyaksSeit dem 12. Jahrhundert wird der Begriff »Kurdistan« vom Sul-tan der Seldschuken Sandschar benutzt. Weltweit sind die Kurdendas größte Volk ohne eigenen Staat. In der Türkei, im Iran, imIrak und in Syrien leben rund 27 bis 32 Millionen Kurden, etwa dieHälfte von ihnen stammt aus Türkisch-Kurdistan im Südosten derTürkei. Das Land der Kurden erstreckt sich zudem bis in die frühe-ren Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Kasachstan,wo mehr als eine halbe Million Kurden leben.Mit einer Fläche von rund 500 000 Quadratkilometern ist derLebensraum der Kurden etwa eineinhalbmal so groß wie die heu-tige Bundesrepublik Deutschland. Größte Stadt und heimlicheHauptstadt Kurdistans ist Diyarbakir mit über 1,4 Millionen Ein-wohnern.Das kurdische Dorf Tîyaks, im Türkischen Narlica genannt, befin-det sich 130 Kilometer nordöstlich von Diyarbakir. Die nächstge-legene Kleinstadt ist das zehn Kilometer südöstlich gelegene Kulp.In einer Höhe von 900 Metern über dem Meeresspiegel breitensich die meist ein- oder zweistöckigen Häuser von Tîyaks in eineman dieser Stelle noch weiten und vegetationsreichen Talboden aus.Die Spitzen des Ömer-Bergs in nächster Nähe erheben sich bis auf2075 Meter. Weiter nach Norden erstreckt sich ein kleines Sträß-lein bis zum Dorf Islamköy, von wo aus Wanderwege ins 2940Meter hohe Akçakara-Gebirge hinaufführen.

Krönender Höhepunkt des Jahres im Tal von Tîyaks ist derSommer, auch wenn die Sonne den Menschen im August undSeptember viel zu lange Arbeitstage beschert. Gemeinsam erntensie Tomaten, Bohnen, Gurken, Kürbisse, Weizen und Pfeffer,pflücken die Kokons der Seidenraupen und den Tabak auf denFeldern und binden ihn zu Büscheln. Abends hilft Hayrettin beiden Tieren: Er füttert die Hühner, melkt die Ziegen und die Kühe,schert die Schafe und mistet den Stall aus.

In der freien Zeit reitet der Junge stundenlang allein oder mitFreunden aus. Mal auf Wegen, mal zwischen dem wild wachsen-

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den Wacholder, zwischen Pappeln, Maulbeer- und Obstbäumen.Manchmal bindet er den störrischen Esel an einem Ast fest undschlägt sich den Bauch mit Aprikosen, Äpfeln, Pfirsichen, Trau-ben oder Walnüssen voll. An anderen Tagen streift er durch dieWiesen, macht sich auf die Suche nach wild wachsenden rotenTulpen oder pflückt einen violettfarbenen Strauß duftender Veil-chen. Seine Lieblingsblumen bringt er seiner Mutter Saniye mit,die ihn strahlend umarmt.

»Tîyaks ist mein Paradies auf Erden. Nie will ich mein Tîyaksverlassen«, sagt Hayrettin.

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Tîyaks liegt in einem grünen Tal unterhalb des Ömer-Bergs.

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DER MUSTERSCHÜLERUND SEIN LIEBLINGSLEHRER

»Werde so schnell wie möglich ein Türke und rette dich damit.«Cafer Altun

Der Ernst des Lebens beginnt mit dem ersten Schultag. Hayrettinsoll eine Sprache sprechen, die er nicht kennt und die er nicht ver-steht. Der Sechsjährige kann nicht begreifen, dass in der Grund-schule alle anders sprechen als seine Eltern und Geschwister zuHause.

»Günaydin çocuklar, guten Tag, Kinder«, begrüßt SaitAyyidiz, der große und ziemlich dicke Klassenlehrer die Kinderauf Türkisch statt mit dem kurdischen Gruß »Rojbas zarakno«.Dabei ist Ayyidiz selbst Kurde, aber offiziell gibt es nur Türkisch,kein Kurdisch.

»Tesekkür ederim«, entgegnet die Klasse wie aus einem Mund.Bis auf einen Schüler, der sich hartnäckig weigert, die Sprache zuverleugnen, mit der er aufgewachsen ist.

»Rojbas mamoste, guten Tag, Lehrer«, antwortet Hayrettin aufKurdisch, seiner Muttersprache.

»Sprich Türkisch!« befiehlt Sait Ayyidiz.»Rojbas«, wiederholt der kleine Hayrettin stur.»Du Verräter!« beschimpfen ihn gleich mehrere seiner Mit-

schüler.»Selbst Verräter!« versucht er sich zu wehren, aber er steht mit

seiner Einstellung auf verlorenem Posten.»Ich werde dir schon noch beibringen, deinen Klassenlehrer

korrekt zu grüßen!« Ayyidiz fährt aus der Haut. »Streck deineHände aus!« Tag für Tag erhält der widerspenstige ErstklässlerSchläge mit dem Stock. Zu allem Übel findet Hayrettin auch zuHause keine Unterstützung.

»Was soll denn das, Junge?« fragt ihn sein Vater barsch. »Dumusst deinem Lehrer gehorchen. Wenn du überleben willst, musst

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du Türkisch lernen. Daran führt kein Weg vorbei.« Cafer rät ihmsogar, ein Türke zu werden: »Hayrettin, du kannst unser Dorfnicht länger Tîyaks nennen. Sag Narlica, wie alle Türken!«

»Aber ihr selbst habt mir beigebracht, Kurdisch zu sprechen.Du sprichst Kurdisch, Papa, und Mama spricht Kurdisch, wir allesprechen Kurdisch. Wir sagen ›Rojbas‹ und unser Dorf heißt Tîy-aks!«

»Zu Hause, natürlich. Aber in der Schule ist das ein Verbre-chen!«

Seine Mutter versucht den Streit zu schlichten. »Wenn du einKurde bist, ist das Leben sehr gefährlich. Bitte, sei vernünftig,mein lieber Hayrettin.«

Die Schläge des Lehrers, das Drängen seines Vaters und dieBitten seiner Mutter lassen dem Jungen keine andere Wahl. Weilder Druck zu groß ist, und weil er sich in der Schule viel vorge-nommen hat, muss Hayrettin nachgeben. In seinem Inneren aberempfindet er Türkisch immer als Fremdsprache, Kurdisch ist undbleibt seine Muttersprache.

Das Kurdische (1) – Eine indogermanische SpracheVergleichbar dem Persischen ist auch das Kurdische eine iranischeSprache und gehört – wie das Deutsche – zum Indogermanischen.Weil Kurdisch im weitesten Sinne auch mit dem Deutschen ver-wandt ist, können deutschsprachige Interessenten es leichter erler-nen als Türkisch, das zu den Turksprachen zählt.Grob lassen sich die drei Dialektregionen Nordkurdisch (Kirman-ci), Zentralkurdisch (Sorani) und Südkurdisch unterteilen. AuchZazaki, im Nordwesten des Kirmanci, gilt unter Kurden zumeistals Dialekt, doch Sprachwissenschaftler sehen darin eine eigen-ständige Sprache. Alles in allem herrscht eine große Dialekt-vielfalt, die dazu führt, dass sich Kurden aus unterschiedlichenRegionen und Staaten zuweilen nur schwer verständigen können.In der Verfassung der Türkei von 1924 ist Türkisch zur Amtsspra-che erklärt worden. Die Sprache und Kultur der Kurden wurden

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unterdrückt. In den Schulen mussten kurdische Kinder allmor-gendlich im Chor singen: »Ich bin ein Türke, aufrecht und fleißig.«Sie sollten zu Türken umerzogen werden.

Früh interessiert sich Hayrettin für die große weite Welt. Aberwas soll er machen in einem Dorf, in dem es keine Fernsehgerätegibt und die Häuser noch nicht einmal ans Stromnetz angeschlos-sen sind? Wenigstens existieren in Tîyaks zwei Radiogeräte. Werein Radio besitzt, der ist ein berühmter Mann. Das eine gehörtdem Lehrer Cemil Altun, einem Cousin Hayrettins. Das anderebefindet sich im Besitz von Halim Seker, einem vermögendenZimmermann. Der Junge ist ganz stolz, wenn er zwischen sieb-zehn und achtzehn Uhr auf einem türkischen Kanal der »Stimmevon Armenien« lauschen darf, der einzigen Sendung in Kurdisch.Dann hört Hayrettin Musik und versucht die Nachrichten zu ver-stehen.

Zeitungen bekommt er nur dann zu Gesicht, wenn sie ein Leh-rer vorliest. Oder wenn sein Vater im Herbst und Winter ein altesExemplar mitbringt, um das Papier zum Schutz gegen Zugluftund Kälte in die Ritzen der Tür oder rund um die Fenster zu ste-cken. Dann stibitzt sich der kleine Hayrettin einige Seiten, liesteinzelne Sätze oder betrachtet die Schwarzweißbilder.

Hayrettin lernt fleißig, was vor allem in der kalten Jahreszeitnicht ganz so einfach ist. Im Winter ist nur der große Wohnraumim Obergeschoss beheizt, in dem die Eltern mit ihren fünf Kin-dern leben und schlafen. In der kleinen Küche ist ebensowenigPlatz wie in den beiden Lagerräumchen. Und im Erdgeschoss desaus Stein, Lehm und Holz gebauten Hauses befinden sich dieStälle mit den lärmenden Tieren: drei Kühe, zehn Ziegen undSchafe, zwanzig Hühner und ein Maultier, das seinem Namenalle Ehre macht. »Eine seltsame Mischung zwischen Esel undPferd«, erzählt Hayrettin lachend, »das einen ziemlichen Radauveranstalten kann.«

Aber der Junge lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen.

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Selbst wenn sich Saniye und Cafer unterhalten oder seine Ge-schwister neben ihm spielen, liegt der Bub bäuchlings auf demBoden und erledigt seine Hausaufgaben im Licht der Gaslampe.Dann schreibt er auf die Rückseite der Blätter, die ihnen der Arztseines Vaters überlassen hat.

Immer wieder bricht Hayrettins rebellischer Charakter durch. Baldmuss sein Vater erkennen, dass er den ältesten Sohn nicht über Jah-re hinweg in die Islamschule schicken kann, ohne dessen Wider-stand zu wecken. Als Hayrettin im dritten Jahr wider Willen Ara-bisch und Religion pauken muss, kommt es zum großen Krach.

»Nein! Ich weigere mich, jeden Tag neue Verse zu lernen.Damit kann ich nichts anfangen«, schreit Hayrettin. »Ich bin jetztin der zweiten Klasse. Da brauche ich keinen Koran!«

»Das ist unsere Religion! Du musst an Gott glauben! Du musstauf die Islamschule gehen!« befiehlt Cafer. Wieder einmal ver-prügelt er den Jungen. Zum Glück schreitet Saniye ein.

»Du kannst mich totschlagen, aber ich gehe nie wieder in dieKoranschule«, erklärt der Siebenjährige trotzig. Als Cafer dieFassung verliert und wild auf ihn eindrischt, packt Saniye ihrenSohn, stößt ihn aus dem Raum und stellt sich schützend vor diegeschlossene Tür.

»Du Sturkopf! Du Verweigerer! Du Unruhestifter!« brüllt CaferHayrettin hinterher, der die Treppe zu den Ställen hinabrennt undins Dorf flüchtet.

In der vierten und fünften Grundschulklasse wendet sich dasBlatt zum Guten. »Hayrettin ist mein Goldjunge: äußerst wert-voll und klar im Kopf. Kein Wunder, Altun bedeutet im Türki-schen ›Gold‹«, sagt der adrett gekleidete Mann mit dem feinenSchnauzbart. Mehmet Aydeniz freut sich über seinen Muster-schüler Hayrettin Altun. Im September 1964 hat der Junglehrersein Amt in Tîyaks angetreten. Das staatliche Gehalt kann sich

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sehen lassen und wird auf dem Dorf schon mal mit ein paar Eiern,einem Hühnchen oder einem Korb voller Früchte aufgebessert.

»Hayrettin ist wohlerzogen, küsst mir zur Begrüßung die Handund behandelt mich mit dem gebührenden Respekt«, lobt Ayde-niz. Seit der Zwanzigjährige den Unterricht leitet, findet er nurwohlwollende Worte: »Der Bub ist begabt, strebsam, aufgeweckt,will alles wissen, lernt wie wild und erledigt seine Hausaufgabenvorbildlich.« Um so mehr ärgert sich Hayrettin, wenn er eine Fra-ge nicht beantworten kann. »Dann läuft er rot an, ist völlig verle-gen und schaut schüchtern zu Boden«, sagt Aydeniz grinsend.

Angesichts der vielen Aufgaben, die erledigt werden müssen,ist Mehmet Aydeniz froh, dass ihm Hayrettin hilft. Als Lehreraller fünf Klassen, Schulleiter, Hausmeister und Holzhacker ineiner Person hält er Unterricht, führt Elternabende durch, schreibtBriefe, streicht Wände, bessert das Dach aus und hackt Holzfür die Feuerstelle, damit die Kinder im Winter nicht erfrieren.»Ich bin alles«, sagt er ironisch, wobei ihm zuweilen auch allesüber den Kopf wächst. Dann schickt er die untersten drei Klassenmit Aufgaben nach Hause, unterrichtet die vierte und beauftragtHayrettin mit der Kontrolle der fünften.

In so einem Moment ist es gut, dass er sich auf den Elfjährigenverlassen kann. Der ist vor drei Jahren zum Klassensprechergewählt und immer wieder im Amt bestätigt worden. Ein leichtesAmt ist das nicht. Denn das einstöckige Schulgebäude, in demAydeniz zugleich wohnt, verfügt nur über einen einzigen großenUnterrichtsraum, in dem sich alle fünfzig Schüler aufhalten undfür Unruhe sorgen. Auch wenn Hayrettin keine Strafen verteilendarf, fällt ihm häufig die Aufgabe zu, unter seinen Kameraden fürRuhe zu sorgen. Besonders dann, wenn Aydeniz Schüler eineranderen Stufe unterrichtet.

Trotzdem ist Hayrettin in seiner Klasse äußerst beliebt, vorallem weil er ein Talent mitbringt, über das keiner seiner Mit-schüler verfügt: Mit seiner Vermittlungsgabe versöhnt er dieStreithähne, die sich auf dem Pausenhof oder dem Nachhausewegprügeln oder mit Steinen bewerfen. »Seine Worte sind nie verlet-

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zend, statt dessen wirkt er beruhigend und hilft, so gut er kann.Deshalb mag ihn jeder an der Schule«, sagt Aydeniz.

»Und ich mag meinen Klassenlehrer«, erklärt der FünftklässlerHayrettin. »Bei ihm lerne ich am allermeisten. Herr Aydeniz istmein Lieblingslehrer!«

Die unbekümmerten Tage der Kindheit neigen sich dem Endeentgegen, als Hayrettin mit einer Frage konfrontiert wird, mit derer sich noch nie beschäftigt hat.

»Die Grundschule ist bald beendet. Was willst du einmal wer-den?« fragt ihn sein Vater, der insgeheim hofft, dass der Sohneines Tages Landwirt werden und die eigenen Felder bewirt-schaften will. Hayrettin spürt, was der Vater sich wünscht, undweiß nicht, was er sagen soll.

Er möchte so gern Lehrer werden. Gleich mehrere Gründesprechen dafür: Zum einen interessiert sich der Junge zusehendsfür das, was in der Welt passiert. Da käme eine Ausbildung zumLehrer gerade recht. Zum anderen geht er sehr gerne in die Schu-le, seitdem sein Klassenlehrer Mehmet Aydeniz heißt. Mit ihmhat er sein großes Vorbild kennengelernt, so wie er will er einmalwerden.

Ganz nebenbei kann er auf diesem Weg auch dem Wehrdienstentgehen. Eigentlich muss in der Türkei jeder junge Mann fürzweiundzwanzig Monate den Dienst an der Waffe leisten, einenErsatzdienst gibt es nicht. Doch zu dieser Zeit braucht die Regie-rung dringend Lehrer, Lehramtsanwärter sind deshalb von derWehrpflicht befreit. Und weil nicht nur Hayrettin, sondern auchseinen Eltern militärischer Drill und Waffengewalt zuwider sind,befürworten auch sie seinen Wunsch.

Die letzten Sommertage in Tîyaks fallen ihm schwer. Eigent-lich freut sich Hayrettin auf die neue Aufgabe, andererseits ist ermit seinen elf Jahren noch viel zu jung zum Abschiednehmen. Zusehr hängt er an seinen Eltern, den Geschwistern und Freundenund dem Leben auf dem Land. Das Internat mit der Lehrerschule

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im mehr als hundert Kilometer entfernten Ergani erscheint ihmweiter weg als die Sterne über Tîyaks.

Sobald die Sonne untergegangen ist und ein warmer Wind-hauch eine schöne Sommernacht herbeiweht, legt sich Hayrettinunter den freien Himmel. Kein Wolkenschleier trübt die Sicht inein Sternenmeer, das tiefer und schöner nicht sein könnte.

Seine Stimme klingt sanft und träumerisch. »Die Luft in denBergen ist kristallklar. Ich liebe die Sterne über alles.« Hayret-tin beobachtet die Milchstraße, zählt die Sterne, verfolgt dasWandern der Planeten, schaut den Sternschnuppen hinterher undträumt. Dann fliegen seine Gedanken in die Weiten des Weltallsund erzählen ihm wundersame Geschichten.

Elf Jahre lang bestand die Welt aus Tîyaks und den umliegen-den Dörfern und Bergen. Mehr kennt er nicht, und mehr brauchter nicht für ein glückliches Leben. Hier ist seine Welt. »Die Ster-ne in Tîyaks sind die schönsten der Welt.«

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Familie Altun in glücklichen Zeiten (stehend v.l.n.r.): HayrettinsSchwester Sakine, seine Mutter Saniye, Hayrettin, seine SchwesterHayriye und sein Vater Cafer; (sitzend v.l.n.r.:) Hayrettins BruderHasan mit seinem Neffen Vehbi (1974).

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10 Jahre der Rebellion

OFFIZIERSSCHULE ERGANI

»Diesen Regeln ordne ich mich nicht unter.«Hayrettin Altun als Lehramtsanwärter

Die ersten acht Monate auf der Lehrerschule in Ergani sind härterals befürchtet. Zucht und Ordnung herrschen im Bereich desSchulgeländes mit den drei Unterrichtsgebäuden und dem vier-stöckigen Schlaftrakt. Beim allmorgendlichen Appell auf demSchulhof müssen die achthundertfünfzig kurdischen Lehramts-anwärter lautstark das Türkentum beschwören.

Vorbei die Zeit, in der Hayrettin als Klassensprecher Verant-wortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln konnte. Alser, wie in der Grundschule zu Hause, einige Verbesserungen vor-schlägt, werden seine gutgemeinten Anregungen als Zeichen derRebellion ausgelegt. Zur Strafe für seine Aufmüpfigkeit wirdHayrettin vor allen Klassenkameraden geschlagen. In Ergani istAnpassung gefragt, wird Unterordnung verlangt, gilt Schweigenals oberste Pflicht. Die meisten der dreißig Lehrer sind sehrstreng.

Hayrettin ist der jüngste und kleinste der fünfundvierzig Schü-ler seiner Klasse. Nicht lange, da bekommt der Elfjährige Heim-weh, will zurück zu Mutter und Vater, zu seinen Geschwisternund den Spielkameraden in Tîyaks. »Die Schule ist eine Qual«erzählt er seinen Eltern, als er 1966 zur dreimonatigen Sommer-pause nach Hause fahren, abschalten, entspannen und sich erho-len kann.

Zumindest im zweiten und dritten Jahr wird doch noch vielesanders. Hayrettin akzeptiert die Regeln des Hauses, lernt fleißig

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und findet neue Freunde, mit denen er allerlei Unsinn treibt.Schnell erarbeitet er sich den Ruf eines Spaßvogels, der für aller-lei Schabernack zu haben ist. Auch seine Freunde machen jedenBlödsinn mit.

Zuviel Blödsinn möchte man meinen. Denn im vierten Schul-jahr bekommt der Vierzehnjährige ernsthaft Ärger, als er diedirekte Konfrontation mit seinem Geschichtslehrer sucht. DerMann ist nicht sehr groß, aber äußerst stämmig. Sein Schnurrbartverrät die rechte Gesinnung. So preist er die großen Taten desrevolutionären Kemâl Atatürk in den höchsten Tönen, die kurdi-sche Kultur aber schweigt er tot.

»Wahre Albträume sind die Geschichtsstunden, in denen ras-sistische Inhalte vermittelt werden. Der Rassismus meines Ge-schichtslehrers richtet sich indirekt gegen uns Kurden, denn unsgibt es gar nicht in seiner Vorstellung – nur die Übermenschenaus der Türkei. Dieser Mann ist mir zuwider«, sagt Hayrettin.Und weil er mit seiner Ansicht nicht hinter dem Berg hält, wird erimmer wieder geschlagen. »Hier geht es zu wie beim Militär«,stellt Hayrettin resigniert fest, aber einfügen oder unterordnenwill er sich dennoch nicht.

Die Jahre quälen sich dahin, bis es 1970 endgültig zum Eklatkommt. Leistungsmäßig kann ihm sein Mathematiklehrer ErgünÇoban, ein ehemaliger Soldat der türkischen Streitkräfte, nichtsnachsagen. Doch das Verhalten des vorlauten Schülers ist ihm einDorn im Auge. Als sein Freund Muhittin in einer Rechenprüfungbei ihm abschreibt, gilt Hayrettin und nicht sein Mitschüler alsder Schuldige.

»Das ist ein eindeutiger Betrugsversuch! Null Punkte!« brülltÇoban und zieht Hayrettin alle Punkte ab, während Muhittin dievolle Punktzahl erhält. Hayrettin bedrängt seinen Freund, mit derWahrheit herauszurücken. Der aber schweigt. Zu allem Übel legtsich Hayrettin mit dem Mathematiklehrer an und wird, wie nichtanders zu erwarten, wieder einmal vor seinen Mitschülern ge-züchtigt.

»Niemals werde ich nach Ergani zurückkehren!« schwört sich

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Hayrettin. Gleichzeitig weiß er jedoch, dass seine Eltern das nichtakzeptieren werden. Darum macht er sich zusammen mit seinemKlassenkamerad und Freund Adnan Tufan, dem es in der Lehrer-schule nicht besser ergeht, nach den Sommerferien aus demStaub.

Im September 1970 setzen sie sich in den Bus nach Istanbul,die Fahrkarte wird vom Schulgeld ihrer Eltern bezahlt. Nacheiner zwei Tage und zwei Nächte währenden Fahrt erreichen siedie Millionenstadt am Bosporus, in der sie gleich nach ihrerAnkunft früh am Morgen von der anatolischen auf die europäi-sche Seite wechseln.

Im Stadtteil Eminönü reicht das Geld gerade noch für ein paarFischbrötchen. Den Tag verbringen sie im Kapali Çarsi, demgrößten Bazar der Welt, und schlendern zwischen den welt-berühmten Moscheen und den historischen Baudenkmälern um-her. Am Abend wissen die beiden nicht weiter, die Übernach-tungskosten für ein Hotel sprengen ihren Etat. Kurzerhand fah-ren sie zu Adnans Eltern ins Städtchen Kesan nahe der griechi-schen Grenze.

»Seid ihr aus der Lehrerschule abgehauen?« Adnans Vater,selbst Lehrer von Beruf, weiß sofort, was los ist, als die Jungenbeschämt schweigen. »Na, dann lasst mich mal schauen, was ichfür euch tun kann.« Der bulgarische Emigrant hält keine Stand-pauke, sondern kümmert sich um das Naheliegende und besorgtden beiden Arbeit.

Fast ein ganzes Jahr lang schuftet der sechzehnjährige Hayret-tin ohne Pause von sieben Uhr morgens bis abends um neun ineinem Restaurant. Je länger er dort arbeitet, desto mehr plagenihn die Schuldgefühle. Saniye und Cafer und die anderen Fami-lienmitglieder wissen noch immer nicht, warum und wohin ihrSohn abgehauen ist. Selbst im Sommer, als die Eltern und dieGeschwister darauf warten, dass er nach Hause kommt, lässt erzunächst nichts von sich hören.

Hayrettin kommt sich schon wie ein Verbrecher vor, als er imAugust 1971, elf Monate nach seiner Abreise aus Tîyaks und

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einen Monat vor Beginn des neuen Schuljahrs, endlich seinenganzen Mut zusammennimmt und heimzukehren beschließt.

Überglücklich umarmt Saniye ihren Hayrettin, als dieser nach solanger Zeit endlich wieder zu Hause auftaucht. Ganz andersCafer, der dem ältesten Sohn nach einem Tag kalten Schweigensbitterböse Vorwürfe macht.

»Warum hast du uns das angetan? Hast du deine Eltern völligvergessen? Denkst du, wir machen uns keine Sorgen um dich?Wie soll das mit dir weitergehen?«

Der Junge schweigt schuldbewusst.»Reiß dich jetzt endlich zusammen!« fordert ihn sein Vater

lautstark auf. »Du musst dein Studium fortsetzen, ob du Lust hastoder nicht.« Plötzlich wird Cafer leise und gibt ihm einen Rat,den Hayrettin nie vergessen wird: »Eines kannst du mir glauben,mein Sohn: Die Flucht vor einem Problem ist immer die falscheAntwort.«

An diesem Tag nimmt sich Hayrettin vor, nie wieder wegzu-laufen, wie groß das Problem auch sein mag. Und er fasst einenzweiten Entschluss: »Ich will ein guter Lehrer werden und esbesser machen als alle Ergün Çobans dieser Welt.«

Mit einem Koffer voller guter Vorsätzen und im festen Glau-ben, die Lehrerschule im zweiten Anlauf zu meistern, besteigtHayrettin Altun den Bus nach Ergani.

Dort angekommen stellt der Siebzehnjährige mit Freuden fest,dass sich das Blatt inzwischen zu seinen Gunsten gewendet hat.Der verhasste Mathematiklehrer hat eine neue Stelle angetreten,und Hayrettin wird freundlicher denn je aufgenommen. All das,was ihm früher schwergefallen ist, geht ihm nun locker von derHand.

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VON TIYAKS NACH TIYAKS

»Erst dann, wenn wir unsere Muttersprache sprechendürfen, leben wir in einem freien Land.«Hayrettin Altun

Im achten und letzten Jahr seiner Lehrerausbildung absolviertHayrettin ein Praktikum an einer Grundschule in Ergani. In derersten Woche folgt er dem Unterricht seiner Mentorin, in derzweiten darf er selbst unterrichten. Zufrieden stellt Hayrettin fest,dass ihm das Unterrichten viel Spaß macht und er gern mitKindern zusammen ist. »Ich hoffe, ich werde ein guter Lehrer«,nimmt er sich zwar vor, als er nach diesem Praktikum im Frühjahr1975 auf seine erste Stelle wartet. Aber er hat auch einen heim-lichen Traum: Wenn es nur ginge, würde er nämlich erst einmalPhilosophie studieren. Im Jahr zuvor hat die Universität Diyar-bakir ihre Pforten geöffnet – allerdings leider ohne eine philoso-phische Fakultät.

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Hayrettin mit seiner Schulklasse als Praktikant in Ergani (1975).

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So nimmt er mit einem lachenden und einem weinenden AugeAbschied von Ergani: das lachende freut sich auf die Schule, dasweinende trauert dem vorerst versagten Studium nach. Zum Ab-schluss bekommt Hayrettin wie seine Kameraden in der Lehrer-schule eine Urkunde in die Hand gedrückt. Kein Fest, keine Freu-denfeier, keine Abschiedszeremonie.

Irgendwann muss er auf der mit Schafswolle gefüllten Matratzeeingenickt sein, das Buch mit den Erzählungen ist längst zuBoden gerutscht. Plötzlich reißt ihn ein Geräusch aus dem Schlaf.Im ersten Moment glaubt er, kleine Kinder würden an die Türepochen, dann aber beginnen die Wände zu wackeln, eine Blu-menvase fällt zu Boden. Von Panik erfasst, brüllen die Tiere imUntergeschoss und rennen gegen den Holzverschlag an, der sie ander Flucht hindert. Irgend jemand kreischt vor Angst.

»Ein Erdbeben!« ruft Cafer Altun und legt seine Arme schüt-zend um Saniye. Instinktiv dreht sich Hayrettin auf den Bauch,die Hände über den Kopf haltend. Was ist, wenn das Dach zusam-menbricht und die Holzbalken herabstürzen? Wieder bebt dieErde, nicht ganz so stark wie beim ersten Mal.

Von einer Sekunde zur andern herrscht Totenstille. »Raus ausdem Haus«, ordnet Cafer an, der ein Nachbeben fürchtet. Hayriyeund Hayrettin zerren die kleineren Geschwister Hasan, Fehmiund Sakine nach draußen, wo sie auf die aufgeregt diskutierendenNachbarn treffen. Das ganze Dorf ist auf den Beinen.

Zur vollen Stunde hört Hayrettin die Nachrichten im Radio.»Heute, am 6. September 1975, ist das Zentrum von Lice durchein schweres Erdbeben zerstört worden«, lautet die erste Mel-dung um dreizehn Uhr. Große Verwüstungen werden gemeldet,über die Zahl der Opfer ist zu diesem frühen Zeitpunkt nochnichts bekannt. Als Hayrettin die Dorfstraße entlangläuft, sieht ertiefe Risse an den Wänden der Häuser. Zum Glück ist keines ein-gestürzt, aber bewohnbar werden sie dennoch nicht mehr sein.

Mit vier Freunden macht er sich auf den Weg nach Lice. Je

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näher sie der dreißig Kilometer südwestlich von Tîyaks an derStraße nach Diyarbakir gelegenen Kleinstadt kommen, desto grö-ßer sind die Zerstörungen, die das Beben angerichtet hat. Rundum die Stadt sind mehrere Dörfer wie Kartenhäuser in sichzusammengefallen. Als sie die Ortsmitte erreichen, offenbart sichdas ganze Ausmaß der Katastrophe: Lice liegt in Schutt undAsche, als hätten hier wochenlang Bomben und Granaten einge-schlagen. Die Moschee ist eingestürzt.

Am Morgen darauf hört er im Radio, dass insgesamt fünftau-send Menschen umgekommen sein sollen. Hayrettin versucht inden nächsten Tagen nach Kräften zu helfen, indem er den Überle-benden Früchte und Gemüse vom Feld bringt. Wiederholt hin-dern ihn Soldaten der türkischen Streitkräfte daran, die Stadt zubetreten. Angeblich aus Sicherheitsgründen.

Obwohl Tîyaks weit vom Epizentrum des Bebens entferntliegt, sind die Schäden hier immerhin so groß, dass die Re-gierung Fertighäuser errichten lässt. Stereotype einstöckige Bau-ten sind das, für viele aber die Rettung vor dem kommendenWinter.

Im Sommer hat Hayrettin die siebzehnjährige KinderschwesterRaziye Ibil aus Tunceli kennengelernt, die gerade ihre Ausbil-dung als Krankenpflegerin absolviert hat. Die beiden verliebensich ineinander, und so fällt die Trennung schwer, als Hayrettinnoch im September sein Heimatdorf verlässt, um seine ersteStelle in Kiziltepe anzutreten, einer Kleinstadt im Bezirk Mar-din, rund hundert Kilometer südlich von Diyarbakir und damitetwa zweihundertdreißig Kilometer von Tîyaks entfernt. DreiMonate später, am 26. Dezember 1975, heiraten Raziye und Hay-rettin.

»An der Schule in Kiziltepe fühle ich mich wohl. Die zweiund-sechzig Schüler in meiner Klasse sind richtig nett«, meldet der

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Junglehrer nach Hause. Voller Elan stürzt er sich in die Arbeit –schulisch wie politisch. Auch wenn in der Stadt nicht viel los ist,findet er auf politischer Ebene rasch Freunde.

Im Jahr zuvor erst der Lehrervereinigung TÖB-DER beigetre-ten, ist er schon zu einem ihrer Direktoren aufgestiegen. In enga-gierten Reden tritt er für die Erweiterung der Rechte von Lehrernein, kritisiert die Unterdrückung der kurdischen Kultur und Spra-che, fordert mehr Bürgerrechte für die Menschen hier im Südos-ten der Türkei und eine demokratische Regierung – ganz schönmutig für einen, der gerade erst in den Schuldienst übernom-men worden ist. Hayrettin sagt, was er denkt, und er sagt es inaller Öffentlichkeit: »Erst dann, wenn wir unsere Muttersprachesprechen und unsere Lieder auf allen Plätzen singen dürfen, erstdann leben wir in einem freien Land. Das Recht auf ein Leben inFreiheit ist uns untersagt.«

Die Quittung erreicht ihn in Form seiner ersten Strafverset-zung. Nach nur einem Jahr in Kiziltepe wird Hayrettin im Som-mer 1976 in den Bezirk Sirnak im äußersten Südosten verbannt,keine vierzig Kilometer von der türkisch-irakischen Grenze ent-fernt.

Mit den Dorfbewohnern von Ayinser, auf Türkisch Pinarbasigenannt, findet Hayrettin engen, fast freundschaftlichen Kontakt.Seine Klasse ist mit sechsundzwanzig Schülern ungewöhnlichklein, doch das ist kein Wunder, schließlich zählt das ganze Dörf-chen 1976 gerade mal fünfzig Häuser. Entsprechend herunterge-kommen sind die Schule und das Klassenzimmer.

Mit seinem Engagement macht sich Hayrettin nicht nur Freun-de. Das wird ihm drastisch vor Augen geführt, als Unbekannte imJanuar 1977 seine Haustür zertrümmern. Über den Anlass für die-sen Überfall kann er nur spekulieren. Hayrettin beruhigt sich undRaziye mit dem Gedanken, dass er nicht getötet, sondern nureingeschüchtert werden soll.

Schon nach sechs Monaten in Ayinser wird Hayrettin im Feb-ruar 1977 nach Hantepe im Zentrum Diyarbakirs abgeordnet. DieBezirkshauptstadt hat viel zu bieten, außerdem hat er einige

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Bekannte dort, so dass er, der Landmensch, sich in der Großstadthalbwegs zurechtfindet.

Aber auch hier bleibt er nur kurz, denn zu seiner großen Freudekommt das Bildungsministerium in Ankara seinem Herzens-wunsch nach und versetzt ihn im Sommer 1977 dorthin, wo erunbedingt hin will: in sein Heimatdorf Tîyaks.

DER VERHINDERTE PHILOSOPH

»Ich stamme aus Diyarbakir, deshalb schlugen mich diesefaschistischen Studenten.«Hayrettin Altun

Hayrettin ist und bleibt ein unruhiger Geist. Nach reiflicher Über-legung und langen Diskussionen mit Raziye will er dochnoch seinen Traum vom Philosophiestudium verwirklichen. Vorallem interessiert er sich für die Lehren des Aristoteles, des-sen Lehrer Platon sowie seinen Lehrmeister Sokrates, für denPositivismus des 20. Jahrhunderts, für Hegels Dialektik oder dieMarxismustheorie. Zum zweiten Mal in seinem Leben fährt ermit dem Bus nach Istanbul, aber diesmal ist er nicht auf derFlucht.

Am Eingangsportal zur Registratur der Universität Istanbulwird Hayrettin angehalten und nach seinen Dokumenten gefragt.Er glaubt, Polizisten vor sich zu haben, und zeigt den beidenMännern bereitwillig seine Unterlagen.

Pedantisch genau werden die Papiere und der Personalausweisbegutachtet.

»Nein! An dieser Universität kannst du nicht studieren!« DieUniformierten verweigern ihm den Zutritt.

»Aber warum nicht? Ich erfülle doch sämtliche Voraussetzun-gen für das Studium«, stammelt Hayrettin verdutzt.

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»Du stammst aus Diyarbakir!« lautet die Begründung. Erstjetzt fallen ihm die Schriftzüge und Fahnen an den Wänden auf:der Mond und die Hunde – die Flaggen der Nationalisten. Aufgroßen Tafeln stehen die Parolen: »Türken haben keine Freun-de – außer Türken«, »Nur Türken dürfen in dieser Universitätstudieren« und »Kommunisten raus«.

Schlagartig wird Hayrettin bewusst, dass die beiden unifor-mierten Männer keine Polizisten sind. Wütend entreißt er ih-nen die Dokumente. Im selben Augenblick treffen ihn mehre-re Faustschläge im Gesicht. Mit seinen Papieren in der Handrennt Hayrettin weg, verfolgt von den beiden Wachstudenten,die ihn durch den Garten der Universität jagen. Erst als er leichtabschüssiges Gelände erreicht, lassen die Verfolger von ihmab.usatz

Auf einer Bank am Busbahnhof betastet er seine geschwolleneNase, die zum Glück nicht gebrochen ist. An mehreren Stellendes Gesichts haben sich blaue Flecken gebildet. Nach einiger Zeitkommt Hayrettin zur Besinnung. »Sie haben die Aufgabe, zuverhindern, dass Studenten aus Südost an die Universität kom-men«, überlegt er. Ob ein zweiter Versuch mehr Erfolg ver-spricht? Er glaubt es nicht, zumal er sich von der Polizei keineUnterstützung erwartet. Da er niemanden kennt, an den er sich inseiner Not wenden könnte, besteigt er den Bus und fährt zurücknach Hause.

Wer ihm einen derart unfreundlichen Empfang bereitet hat,erfährt Hayrettin erst später, als er nähere Bekanntschaft mitden Auseinandersetzungen zwischen der faschistischen Milliyet-çi Hareket Partisi (MHP) und ihrer Nachfolgeorganisation MÇPmacht. »Vor allem habe ich gelernt, dass sich Studenten ausDiyarbakir organisieren müssen«, erkennt er.

Cafer weint, als er die Gesichtsverletzungen seines Sohnes siehtund von der politisch motivierten Schlägerei hört. Lange überlegter, was er seinem Sohn raten soll.

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»Du bist ein Lehrer«, sagt er dann. »Würdest du studieren,wärst du weiterhin ein Lehrer. Ich glaube nicht, dass du an dieUniversität gehen musst, damit du ein zufriedenes Leben führenkannst.«

Hayrettin beherzigt die Worte seines Vaters und bleibt, was erist: ein begabter, engagierter und angesehener Lehrer in Tîyaks.Anstatt in Istanbul Vorlesungen zu besuchen und Wissen in sichhineinzupumpen, unterrichtet er in der Dorfschule, melkt Küheoder hilft bei der Tabakernte. Aber immerhin darf er genau indem Gebäude Lehrer sein, in dem er selbst einst die Schulbankgedrückt und Mehmet Aydeniz bewundert hat.

Die Zeit in Tîyaks zählt zur schönsten seines Lebens, obwohldie Lage im Land angespannt ist und ihm sein politisches Enga-gement jederzeit gefährlich werden kann. Als geachteter Lehrergenießt Hayrettin das Leben in seinem Heimatdorf, und auchRaziye erfährt viel Anerkennung für ihr berufliches Engagement.»Wir beide arbeiten hart, aber uns geht es blendend. Die Leutemögen uns – und wir sie«, erzählt er.

Zum beruflichen Glück kommt 1978 das private: Raziye undHayrettin werden Eltern. Am 23. Januar kommt ihr Sohn Rojhatzur Welt. Kein Grund für die Mutter, ihre Arbeit als Kranken-schwester aufzugeben.

Ein halbes Jahr danach ziehen die Altuns in eines der neuenFertighäuser um. Das Leben verläuft in festen Bahnen auf siche-rem Grund – vorerst.

Im Sommer 1979 verletzt Hayrettin seine Pflichten als Wahlhel-fer, als er dem Wahllokal fernbleibt und zu allem Unglück nochin einen Unfall verwickelt wird. Ein mit religiösen Hardlinernbesetztes Gericht verurteilt den »als Atheisten« verschrienenHayrettin zu einer Haftstrafe, die dieser locker zu nehmen ver-sucht, zumal ihm der Staatsanwalt unter der Hand mitgeteilt hat:»Du musst ins Gefängnis wegen des Zorns dieses streng religiö-sen Gerichts.«

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Das Gefängnis in Kulp ist keines der gefürchteten, in denenGefangene misshandelt werden. Um die Haftanstalt und um dienebenan gelegene Militärstation patrouillieren Soldaten einerkleinen, harmlosen Einheit mit G3-Gewehren.

Im September 1979 steht erneut Nachwuchs an. Gut eineinhalbJahre nach Rojhats Geburt erblickt Jehat das Licht der Welt.»Wieder kein Mädchen? Ich hätte mich so über ein Mädchengefreut!«, macht sich Hayrettin über das traditionelle Weltbildseiner Mitmenschen lustig. »Hauptsache meine Frau und dieKinder sind gesund.«

Die jungen Eltern genießen das Leben auf ihre Weise – mitviel Arbeit. Als Krankenschwester sorgt Raziye für ihre Mitbe-wohner in Tîyaks und den umliegenden Dörfern. Und Hayrettinfreut sich, dass er seine Eltern unterstützen kann. »Ich bin soglücklich, dass ich Lehrer bin, Geld verdiene und damit denLebensstandard meiner Eltern sichere.« In diesen Jahren ist es

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Blick aus dem Gefängnis von Kulp. Hier musste Hayrettin seine ersteHaftstrafe absitzen, zu der den Atheisten ein mit religiösen Fanatikernbesetztes Gericht verurteilt hatte.

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ihm möglich, Saniye und Cafer »das zurückzugeben, was sie mirGutes angetan haben«. Hayrettin kauft ihnen, was sie sich alsLandwirte nicht leisten können: gutes Schuhwerk für seinenVater, schöne Kleider für seine Mutter und vieles mehr, was siesich wünschen.

Doch die heile Welt ist klein und eng begrenzt. In Tîyaksbekommt man vergleichsweise wenig mit von dem, was sich erstin den Großstädten und dann im ganzen Land abspielt: Mit wohl-wollender Duldung der USA und der Nato putschen die Militärsim Land. Nicht nur die Lehrergewerkschaft TÖB-DER, sondernfast vierundzwanzigtausend Verbände, Vereine und Gewerkschaf-ten werden verboten, Hunderttausende missliebiger Menschenwerden inhaftiert, Hunderte hingerichtet.

Blutiger MilitärputschDer 12. September 1980 ging als schwarzer Tag in die Geschichtedes Landes ein. Nach 1960 und 1971 übernahmen die Militärszum dritten Mal die Macht in der Türkei.Unter der Führung von fünf Generälen putschten Militäreinheitenvor Tagesanbruch, entmachteten die Regierung Demirel und bela-gerten mit Panzern und G3-Gewehren alle zentralen Verkehrskno-tenpunkte. Das Parlament wurde ebenso besetzt wie alle Radio-und Fernsehsender. Letztere sendeten erst Militärmärsche, dannKenan Evrens Rede. Währenddessen erfolgten Festnahmen weite-rer führender Politiker.Offiziell wurde der Putsch mit dem steigenden Einfluss linker kur-discher Kräfte, dem »Schutz des türkischen Staates und der türki-schen Nation vor Separatismus und Kommunismus« begründet.CIA-Chef Alexander Haig jubelte, »unsere Jungs« hätten dieMacht übernommen.Der neue Staatspräsident Evren setzte die Verfassung außer Kraftund verhängte ein Parteienverbot. Zehntausende von Beamtenwurden entlassen, 650 000 Menschen gefangengenommen, meh-rere hundert – teilweise nach Folterungen – ermordet. Allein nach

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Deutschland flohen in den drei Monaten bis Ende des Jahres 1980rund 60 000 türkische Staatsbürger.

Im Herbst 1981 wird Hayrettin ins nahe gelegene Kulp versetzt,woraufhin die Altuns auch gleich den Wohnort wechseln. An-fang Januar 1982 erfüllt sich endlich ihr langgehegter Wunsch:In aller Stille feiern die Eltern die Geburt ihrer ersten TochterGülistan.

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11 Jahre der Sterne

TIYAKS IST NIRGENDWO

»Ich kenne das Wort Tîyaks nicht.«Hayrettin Altun als Häftling

Aufgeregt stürmt Zeki auf Hayrettin zu. Der Fahrer des Mini-busses ist im Februar 1982 eigens von Tîyaks nach Kulp gekom-men, um seinen Onkel zu warnen.

»Soldaten sind bei dir zu Hause. Sie haben deinen Vatergezwungen, sich auf den Boden zu legen, bis sie dich finden.Aber du bist ja hier. Später ist Cafer mit all den anderen ins Orts-zentrum gebracht worden. Auf dem großen Platz vor dem Kaffee-haus habe ich ihn und deine Lehrerkollegen auf der Erde liegensehen. Sie mussten alle hin und her robben. Mehr weiß ich nicht,wir sind alle auseinandergetrieben worden.«

»Warum suchen mich Soldaten? Ich habe doch nichts verbro-chen!« Hayrettins Gedanken überschlagen sich. »Ich habe nie-mandem etwas angetan … Was wollen die von mir?« Hayrettinhat Angst. Oft genug erzählen Gefangene, dass sie völlig un-schuldig gefoltert worden sind. Andere sind abgeholt worden undbis heute nicht wieder aufgetaucht.

Eine Stunde lang spielt er alle Möglichkeiten durch. »Soll ichnach Tîyaks gehen und mich um meinen Vater kümmern? Sollich mich irgendwo bei Verwandten oder Freunden in Diyarbakirverstecken? Oder soll ich ins Ausland fliehen? Aber was passiertdann mit Raziye, mit den beiden Buben und der kleinen Gülistan?Werde ich sie jemals wiedersehen?«

Wenn er hierbleibt, da ist sich Hayrettin sicher, werden sie ihnüber kurz oder lang finden. Ob zu Hause, in der Schule oder in

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einem Versteck – nirgends wird er wirklich sicher sein. Überallgibt es Spitzel. Natürlich ist ihm nicht entgangen, dass die ande-ren sieben Lehrer aus Tîyaks in den letzten Monaten wiederholtverhört worden sind. So gesehen, ist es kein Wunder, dass siejetzt nach ihm suchen. Im Gegenteil, eigentlich hätte er längstdamit rechnen müssen. In dieser schweren Stunde erinnert sichHayrettin an seine Flucht aus dem Lehrerseminar, an das verlore-ne Jahr in Istanbul, an die beschämende Rückkehr und an dasVersprechen, das er sich selbst gegeben hat, nie wieder vor einemProblem davonzulaufen.

»Ich führe meinen Kampf gegen dieses ungerechte System.Die Auseinandersetzung können wir nur gewinnen, wenn wirinnerlich stark sind«, spricht sich Hayrettin Mut zu. Er weißnicht, was ihn erwartet. Sie werden ihn holen, soviel ist klar –doch was dann passiert, ist ungewiss. Dennoch entscheidet er sichzu bleiben.

Hayrettin erzählt seiner Frau von der Gefahr und wie er sichentschieden hat. Raziye ist entsetzt, aber Hayrettin beruhigt sie:»Mach dir keine Sorgen, wenn ich weg bin. Sie werden mich baldwieder freilassen. Ganz bestimmt, im März oder im April.« Dasssie ihn länger als einen oder zwei Monate dabehalten, kann er sichnicht vorstellen. Vielleicht will er es sich auch nicht vorstellen.

Als es dunkel wird und Zeit zum Schlafengehen, können siekein Auge zumachen. Hayrettin verabschiedet sich von seinerFrau, zieht sein Samtjackett an, nimmt auf einem Sitzkissen Platzund wartet. Um Mitternacht sind sie da. Vierzehn Soldaten um-stellen das Haus, alle mit G3-Gewehren und MP5-Maschinen-pistolen bewaffnet. Drei von ihnen dringen mit vorgehaltenerWaffe ein.

»Hayrettin Altun? Mitkommen!« befiehlt einer mit vorge-haltener MP5, während ein anderer das Zimmer auf den Kopfstellt.

»Schau an, Herr Altun ist schon gerichtet«, spottet der miteiner Pistole bewaffnete Befehlshaber. Dass Hayrettin sie offen-sichtlich erwartet hat, erspart ihnen die Durchsuchung des Hau-

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ses. Als er sich widerstandslos in den Militärwagen stoßen lässt,erkennt er weitere Soldaten, die ihre G3-Gewehre in die Luftgereckt halten.

MP5-Lizenzen (1) – Türkei: »Die ultimative Nahkampfwaffe«Die Maschinenpistole MP5 ist eine H&K-Entwicklung auf derBasis des Schnellfeuergewehrs G3. In der Bundesrepublik wurdedie MP5 nach 1966 bei Polizei und Bundesgrenzschutz einge-führt. Mit den MP5-Direktexporten und den Lizenzvergaben ent-wickelte sich die Maschinenpistole zum Bestseller für Polizeienund Sicherheitskräfte rund um den Globus.Seit der 1983 erfolgten MP5-Lizenzvergabe von Heckler & Kochan die Türkei werden die MP5A3 und die MP5K bei der türkischenStaatsfirma Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu (MKE) naheAnkara gefertigt. Die MP5A3 mit einschiebbarer Schulterstützeverfügt über einen Handschutz und Magazine mit je 30 Schuss imKaliber von 9 mm x 19.Im Bürgerkrieg benutzten türkische Sicherheitskräfte die MP5 alsStandardwaffe beim Einsatz in kurdischen Dörfern oder gegenDemonstranten in den Städten.

Die Nacht verbringt Hayrettin in einer Militärstation in Kulp, miteng angezogenen Handschellen an das Rohr eines Heizkörpersgekettet, das an der Oberkante der Wand entlangläuft. Damit ihmdas Metall nicht die Adern abdrückt und weiterhin Blut durchseine Hände rinnen kann, muss er stundenlang auf Zehenspitzenstehen.

»Bitte, lockert die Handschellen«, fleht er die türkischen Sol-daten an, »meine Finger sind schon völlig taub.« Als sie nicht rea-gieren, schreit Hayrettin lauthals um Hilfe und tritt verzweifeltmit den Schuhen gegen die Mauer. Endlich bequemt sich einerder Soldaten, ihm die Fesseln zu lockern.

Erst jetzt nimmt Hayrettin wahr, dass jemand von der anderen

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Seite der Wand seinen Namen ruft. »Einige meiner Kollegen ausTîyaks sind auch hier!« Er nimmt es als gutes Zeichen, dass ernicht der einzige eingesperrte Lehrer ist. »Sicher werden wir allewieder freigelassen. Schließlich hat keiner von uns irgend etwasSchlimmes getan.«

Der Morgen beginnt mit einer weiteren Schikane. Die Lehrerund einige Jugendliche aus Tîyaks werden in einen Raum zusam-mengelegt, wo sie für mehrere Stunden auf einem Bein stehenund sich dabei mit einem Finger an der Wand abstützen müssen.»Wer müde geworden ist, hat Schläge mit den Kolben der G3-Gewehre erhalten«, erzählt Hayrettin.

Bis mittags müssen sie in dieser Stellung verharren. Zwischenhalb drei und drei Uhr nachmittags werden sie mit verbundenenAugen in ein Militärfahrzeug verfrachtet und eine längere Weg-strecke gefahren. Sprechen ist verboten. Als ihnen die Augenbin-den abgenommen werden, befinden sie sich in einem tristen

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In seinem Wohnzimmer demonstriert Hayrettin, in welcher Haltunger stundenlang zu stehen gezwungen wurde.

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Raum, in dem sie ein Dokument ausfüllen müssen, das ihreRegistrierung bestätigt.

Hayrettin kennt die neun Leidensgenossen, die wie er nachzweistündiger Wartezeit erneut mit verbundenen Augen in einenMilitärtransporter gestoßen und an ihr nächstes Ziel gefahrenwerden. In einem anderen Gebäude werden sie namentlich aufge-rufen, ihre Geburtsdaten aufgenommen und der Personalausweiskonfisziert. Mit weißer Kreide erhalten sie Nummern auf ihreKleider.

»Was bedeutet ›Tîyaks‹?« fragt ihn einer der Soldaten.Mit einem Schlag ist Hayrettin hellwach. Er ist der erste

der zehn, der verhört wird. Wenn er jetzt falsch antwortet undden armenisch-kurdischen Namen seines Heimatdorfes be-stätigt, wird er mit hundertprozentiger Sicherheit misshandeltwerden. Selbst wenn er mit Narlica antwortet, der türkischenBezeichnung seines Dorfes, verrät er, dass er Tîyaks kennenmuss. Für türkische Militärs und Politiker ist das Kurdischedie Sprache des Feindes, die verbotene, die nicht existenteSprache.

»Ich kenne das Wort Tîyaks nicht. Vielleicht stammt es ausdem Amerikanischen? Was bedeutet das?«

»Du musst Tîyaks kennen. Jeder von euch kennt das eigeneDorf!«

Hayrettin kommt die Antwort kaum über die Lippen. »EinDorf? Wo soll das liegen, dieses Tî-yaks?«

Sein Gegenüber nickt zufrieden angesichts der Selbstverleug-nung des Kurden. Doch die Erniedrigung reicht ihm noch nicht.

»Bist du Armenier?« Dahinter verbirgt sich die Frage, ob erwomöglich christlichen Glaubens ist. Hayrettin verneint, aberman glaubt ihm nicht. Er muss die Hose herablassen, damit siesich überzeugen können, ob er beschnitten ist. Zwar beweist dieBeschneidung seinen islamischen Glauben, aber trotzdem wird ervon den Soldaten mit Fäusten geschlagen und mit Militärstiefelngetreten.

Nach der Vernehmung werden alle zehn in einen Raum beför-

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dert, in dem weit mehr Gefangene warten. Wie es weitergeht,weiß keiner von ihnen.

Das Warten in der Militärbaracke mit den Metallwänden ziehtsich über Tage hin. Die Gefangenen sind von der Außenweltvöllig isoliert. Nur durch einen Kratzer in der bemalten Toiletten-scheibe ist es möglich, einen Blick auf die Umgebung zu er-haschen. Der Blick nach draußen verrät Hayrettin, dass er sich inSeyrantepe im Stadtzentrum von Diyarbakir befindet.

Diyarbakir – »Eine der malerischsten Städte der Türkei«»Die Provinz Diyarbakir mit ihren zwölf Distrikten liegt in Südost-anatolien, im Norden der Mesopotamischen Ebene. Sie erstrecktsich bis zu einer Höhe von 100 m auf einem 60 m dicken Basalt-plateau, vom erloschenen Vulkan Karaca dag bis zum Dicle, demheiligen Fluss Tigris, der in großen Schleifen und Fruchtbarkeitspendend das Gebiet durchzieht.Die Provinzhauptstadt Diyarbakir ist mit dem in seinem Kernerhaltenen historischen Stadtbild eine der malerischsten Städte inder Türkei. Als Amida, Kara Amid und seit dem 10.12.1937 Di-yarbakir hat die Stadt eine reiche und bewegte Vergangenheit. ImLaufe ihrer 5000jährigen Geschichte war sie Wiege für 26 Zivili-sationen.Da die Stadt stets kultureller und ökonomischer Mittelpunkt war,sind noch heute bedeutende Baudenkmäler aus den verschiedenenEpochen zu sehen. Den obersten Rang unter ihnen nimmt dieStadtmauer ein, die Diyarbakir in der Form eines Steinbuttes ein-fasst. Sie wird an Länge und Stärke nur noch von der ChinesischenMauer übertroffen.Diyarbakir ist mit seinem geschichtlichen, kulturellen und folklo-ristischen Reichtum und der herzlichen Gastlichkeit seiner Ein-wohner eine Reise wert!«Aus dem offiziellen Werbeprospekt »Türkei Diyarbakir«

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Nach acht Tagen werden Hayrettin erneut die Augen verbun-den. Mit gesenktem Kopf soll er durch einen Tunnel gehen. Alser es wagt, durch eine Ritze der Augenbinde zu linsen, erkennter, dass er sich immer noch in einem langgezogenen Raumbefindet. »Psychologische Kriegsführung«, denkt sich Hayret-tin und erhält einen Schlag, als ob sie seine Gedanken lesenkönnten.

Dann wird er in ein quadratisches Zimmer geführt. Überallwarten Gefangene auf langen Holzbänken, fast alle sind Kurden.

»Setz dich aufrecht hin!« brüllt ihm eine Stimme direkt insOhr. »Und wehe, du schläfst ein!«

Da sitzt er und hat Zeit, sich Gedanken zu machen. »Warumbin ich nur eingesperrt? Was werfen sie mir vor?« fragt er sich.»Und was ist mit meiner Klasse? Meine Schüler haben bestimmtauf mich gewartet. Oder hat mich die Schulleitung krank gemel-det?« Stunden vergehen. Wie lange Hayrettin mit starrem Rückendagesessen hat, weiß er nicht. Wenigstens haben sie ihn in Ruhegelassen.

»Altun!« schreit jemand, und Hayrettin schreckt auf. Währender sich überlegt, was er tun soll, ist sein Cousin längst aufgesprun-gen.

»Jawohl!« gibt sich Servet Altun zu erkennen.»Bist du der Lehrer?« wird er gefragt und antwortet wieder mit

einem deutlich vernehmbaren »Ja!«, was ihm einen unerwartetenHieb einbringt.

»Wann wurde der große Atatürk, der Retter des Vaterlandes,geboren?« fragt die Stimme. Für jeden Kurden, dem die türkischeGeschichte in der Schule eingetrichtert worden ist, während dieeigene totgeschwiegen wurde, ist diese Frage eine Qual.

»Im Jahr 1981«, antwortet Servet aufgeregt, in der Hoffnungvon weiteren Gewaltakten verschont zu bleiben. Dabei hat er dennächsten Fehler begangen.

»Hundert Jahre zuvor, 1881!« explodiert die Stimme. PureGewalt entlädt sich über Servet, der erst schreit, dann stöhnt,schließlich verstummt. »Haben sie ihn umgebracht?« fragt sich

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Hayrettin besorgt. Unter dem Schal hindurch erkennt er, wie sichServets Schuhe bewegen. Wenigstens hat sein Cousin überlebt.

Kemâl Atatürk – Vater der Türken, nicht der KurdenIm Jahr 1923 rief General Mustafa Kemâl Pasa die TürkischeRepublik aus, erklärte Ankara zur Hauptstadt und wurde zum ers-ten Staatspräsidenten berufen. Nach 1925 verordnete er grundle-gende Veränderungen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft: u.a.führte er den gregorianischen Kalender und die lateinische Schrift,Familiennamen, die Einehe und den Sonntag als Ruhetag ein.Im Jahr 1934 ließ sich Mustafa Kemâl mit dem Beinamen Atatürk(Vater der Türken) auszeichnen. Mit allen Mitteln setzte er denGrundsatz durch, dass »jeder, der in der Türkei lebt, Türke ist«.Die Kemalisten strebten einen Einheitsstaat mit einer einheitli-chen Flagge, Sprache und Religion an. Alle Bürger anderer ethni-scher Gruppen hatten sich anzupassen.Wer sich – wie viele Kurden – weigerte, wurde unterdrückt. Dabeihatten kurdische Soldaten zuvor noch an der Seite der Türken im»Befreiungskrieg« gekämpft, da Mustafa Kemâl ihnen die glei-chen Rechte wie den Türken versprochen hatte. Alle späteren Auf-stände der Kurden wurden rücksichtslos niedergeschlagen.1938 starb Mustafa Kemâl Pasa, sein Nachfolger wurde GeneralIsmet Inönü.

Als die Stimme am nächsten Tag erneut »Altun!« schreit, springtHayrettin hoch, um Servet vor weiterer Gewalt zu schützen.

»Was für eine Überraschung«, bemerkt der Soldat sarkastisch,»da haben wir uns gestern ja den falschen Mann vorgeknöpft.«

Ein Grund, ihn zu verschonen, ist das nicht. Hayrettin ergeht eskein bisschen besser als seinem Cousin. Dabei hat er nicht die ge-ringste Idee, warum sie ihn so hemmungslos zusammenschlagen.

»Warum prügelt ihr ihn?« vernimmt er eine andere Stimme.»Seid ihr Tiere?«

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Mit einem Mal nehmen die Faustschläge und Fußtritte einEnde, wortlos verlassen die Soldaten den Raum. Ein Mann inZivilkleidung nimmt ihm die Augenbinde ab. Hayrettin schenktihm ein dankbares Lächeln. »Mein Retter! Ein Licht in der Dun-kelheit«, schießt es ihm durch den Kopf. Vor lauter Erleichterungwäre er dem Unbekannten am liebsten um den Hals gefallen.

Wieder wird er nach seinem Verhalten gefragt, diesmal aber ineiner angenehmeren Tonlage.

»Am 23. April 1978 hast du in Narlica die türkische Flaggegegen eine kurdische ausgetauscht. Warum hast du das gemacht?«

»Ich war das nicht!« widerspricht Hayrettin wahrheitsgemäß.Alle Glieder schmerzen ihn.

»Aber du hast am 1. Mai 1978 den Gewerkschaftstag mitge-feiert?«

»Selbstverständlich, das ist Tradition bei uns«, antwortet derLehrer ebenso ehrlich. »Um diese Zeit hat der Frühling begon-nen. Wir bereiten mit unseren Schülern Essen und Trinken zu undgehen mit ihnen zum Picknick.«

Da springt der Zivilist auf, verpasst Hayrettin einen Kinnhakenund packt ihn kräftig im Genick. »Hurensohn!« brüllt er. »Ichhabe dich nach dem Gewerkschaftstag gefragt und nicht nachdem Frühling!« Dann setzt er sich an den Tisch, hämmert einGesprächsprotokoll in die Schreibmaschine und übergibt dasPapier den türkischen Sicherheitskräften.

»Macht das Flugzeug mit ihm!« sagt er.Zwei Soldaten erscheinen. Widerstandslos lässt sich Hayret-

tin die Arme mit einem Seil auf dem Rücken zusammenbin-den. An der Decke aufgehängt, schwebt sein Körper über demBoden. In den ersten Minuten spürt er, wie sich seine Muskelnzusammenziehen und sich der Körper verhärtet. Mit der Zeitglaubt er, seine Leber werde aus dem Bauch herausgetrieben.Am Ende verspürt Hayrettin nur noch Schmerzen, ehe ihn dieOhnmacht erlöst.

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Wann er wieder erwacht ist, weiß er nicht. Ein anderer inZivil gekleideter Mann fragt ihn, ob er krank sei. Hayrettin ver-neint.

»Haben sie dich geschlagen?« will der Zivilist wissen.»Nein«, sagt Hayrettin mit schmerzverzerrtem Gesicht. Mitge-

fangene haben ihn davor gewarnt, die Wahrheit zu sagen, geradewenn er gefoltert worden ist.

»Dann steh auf!« meint der Unbekannte barsch.Vergeblich versucht Hayrettin aufzustehen, immerhin kann er

sich nach vorne beugen.»Haben sie das Flugzeug mit dir gemacht?« will der Zivilist

wissen.Schweigen.»Gut. Dann unterschreib dieses Papier.«Hayrettin liest den Text. Darin heißt es wahrheitsgemäß, dass

er alle Verbrechen ableugnet, die ihm zur Last gelegt werden.Hayrettin unterschreibt, dann wird er in seinen Raum zurückge-bracht.

In den nächsten Tagen müssen auch seine Begleiter die Torturüber sich ergehen lassen. Dabei bringen nicht alle HayrettinsDurchhaltevermögen auf, vor allem die Jugendlichen nicht.

Als zwei fünfzehnjährige Jungen aus Tîyaks zusammenge-schlagen werden, entleert sich ihr Darm. »Wenn du so brutalgeschlagen wirst, kann es sein, dass du deinen Stuhl nicht haltenkannst. Du verlierst jede Kontrolle über deinen Körper«, erklärtHayrettin und ergänzt: »Dann haben sie die beiden Jungen ge-zwungen, ihre eigenen Fäkalien zu fressen.« Seine Stimme klingtrauh.

»Sie wollten uns zeigen, wie stark sie sind. Und dass sie mituns Kurden alles machen können. Alles.«

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DIE SCHÖNSTEN STERNE DER WELT

»Ich sehe die Sterne von Tîyaks.«Hayrettin Altun in seiner Zelle

In einem langen Bus wird die Gruppe aus Tîyaks ins Gefängnisgebracht. Links und rechts von Hayrettin sitzen zwei Soldaten.Auch wenn er nur geradeaus schauen darf, erkennt er, dass dieSoldaten mit G3 ausgerüstet sind, während der leitende Inspektoreine Maschinenpistole vom Typ MP5 in Händen hält.

Wieder muss Hayrettin in einem Warteraum ausharren. Dortsitzt bereits ein Junge mit verbundenen Augen, der einen derWärter um eine Zigarette anfleht.

Dieser grinst breit. »Gib mir zwei Namen, dann kannst du eineZigarette haben.«

Der Junge nennt die Namen von zwei Männern. Um den Preiseiner Zigarette haben sie zwei neue Opfer genannt bekommen.Hayrettin kann nur rätseln, ob es sich bei den Verratenen um Mit-glieder der Kurdischen Arbeiterpartei PKK handelt.

In diesem Augenblick versteht er, wie abhängig ein Süchtigersein kann und wozu die Abhängigkeit ihn treiben kann. Für vier,fünf Monate kämpft er mit sich und hört erst einmal mit demRauchen auf.

Der Kampf der PKK –unterstützt von weiten Teilen der kurdischen BevölkerungDie Partîya Karkerên Kurdistan (»Arbeiterpartei Kurdistans«oder »Kurdische Arbeiterpartei«) wurde 1978 gegründet. Im Be-wusstsein, dass der türkische Staat alle demokratischen Bemü-hungen um die Achtung kurdischer Rechte und Kultur zunichtemachte, attackierten PKK-Kämpfer am 15. August 1984 zweiMilitärkasernen in Semdinli und Eruh. Damit begann der Guerilla-krieg gegen die türkischen Streitkräfte. Die »Brigaden zur Befrei-

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ung Kurdistans« und die »Volksbefreiungsarmee Kurdistans«, dermilitärische Arm der PKK, operierten von Stützpunkten in den vonSyrien kontrollierten Regionen und dem Nordirak aus. Die PKKzählte zwischenzeitlich mehr als 10 000 Kämpfer.Mit zunehmender Kriegsdauer wurden die Strafaktionen der türki-schen Armee in Südostanatolien (Türkisch-Kurdistan) und imNorden des Irak immer brutaler und richteten sich zunehmendgegen weite Teile der Zivilbevölkerung. In der Folge sympathisier-te ein Großteil der Kurdinnen und Kurden mit den Zielen der PKK.»Den unterdrückten Kurden erschienen die bewaffneten Aktionender PKK wie eine willkommene Rettung. Gegen den Staatsterrorhat die kurdische Landbevölkerung die PKK mit allen möglichenMitteln unterstützt und überwiegend als Retter bejubelt«, erklärtder Journalist und Menschenrechtler Mehmet Sahin, Mitglied imKölner Dialog-Kreis.

Hayrettin ist in die Haftanstalt Diyarbakir E Tipi Cezaevi(DETC) eingeliefert worden. Hier fristen etwa dreieinhalbtau-send Insassen ihr unglückseliges Dasein, je fünfundsechzig zu-sammengepfercht in einer Sammelzelle. Die Organisation desGefängnisses ähnelt der Armee. Die Häftlinge tragen schwarzeKleidung, die Hayrettin an die Uniformen der Sicherheitskräfteerinnert. Wieder ist er mit fast ausschließlich kurdischen Gefan-genen zusammengesperrt.

Täglich müssen sie fünf bis sechs Stunden im Hof auf und abmarschieren und lauthals eines der mehr als fünfzig heroischenLieder über die türkischen Streitkräfte und den Gebrauch ei-nes Gewehrs grölen, die ihnen während ihrer Haft eingetrichtertwerden. Einmal wöchentlich muss einer der Häftlinge einen Mili-tärmarsch vorsingen. Zehnmal, fünfzehnmal, dann ist er erlöst –vorausgesetzt, dass alles geklappt hat. Wer den Text vergisst,erhält Stockschläge auf die Innenseite der Hand.

Was in der Armee dazu dient, den Nationalismus eines Solda-ten zu verstärken, wirkt auf Hayrettin Altun wie eine psychische

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Form der Folter: »In meinen Ohren klingen der Laufschritt unddie türkischen Märsche rassistisch.« Und wenn er an den Gefäng-nisleiter Yildiran denkt, vergleicht er ihn automatisch mit einemNazi. Will er überleben, muss er solche Gedanken für sich be-halten.

DETC – Haftanstalt für politische GefangeneNach dem Militärputsch 1980 wurde Esat Oktay Yildiran zumChef des Diyarbakir E Tipi Cezaevi (E-Typ-Spezialgefängnis vonDiyarbakir), der sich bereits auf Zypern einen Namen als grausa-mer Folterer von Griechen gemacht hatte. Für seine Taten musstesich der Gefängnisleiter einzig gegenüber dem Juntachef unddem Staatspräsidenten Kenan Evren rechtfertigen. Yildiran beein-flusste die Entscheidungen von Staatsanwälten und Richtern derStaatssicherheitsgerichte (DGM). Die Gefangenen ließ er auf sa-distische Art und Weise foltern, um ihre Psyche systematisch zuzerstören.

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Hier, im DECT-Gefängnis inDiyarbakir, wurdeHayrettin achtzehnMonate lang immerwieder gefoltert.Die Wachmann-schaften tragenG3-Gewehre

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In den Jahren 1980 bis 1982 gründete sich im Spezialgefängnisdie »Einheit junger Kemalisten«, Verräter aus Sicht der Kurden,die als sogenannte Abschwörer Mitgefangene ausspionierten undgezielt Morde begingen, wenn sie Freigang hatten. Die Gefange-nen, meist PKK-Anhänger, versuchten mit Hungerstreiks bis zumTod auf ihre aussichtslose Situation aufmerksam zu machen. Bis1988 stieg die Zahl toter Gefangener auf über 50 an.Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international berich-teten wiederholt über die Vorgänge im Spezialgefängnis Diyar-bakir als einem der schlimmsten weltweit. Yildiran wurde am16. Oktober 1988 in Istanbul von PKK-Kämpfern ermordet.

Zum Alltag in der Haftanstalt zählen auch die »besonderen Be-handlungsmethoden«, für die das Gefängnis für politische Gefan-gene berüchtigt ist. So wird Hayrettin im Februar 1982 in eineArt Duschraum gebracht, wo die Wächter einen Druckschlauchnehmen und ihn von oben bis unten mit eiskaltem Wasser absprit-zen. Als sie ihn in seiner völlig durchnässten Kleidung in dieunbeheizte Massenzelle zurückbringen, zittert er am ganzen Kör-per. »Anderen ergeht es noch schlimmer. Sie müssen sich nacktausziehen, ehe sie abgespritzt werden«, berichtet Hayrettin miteinem merkwürdig an-mutenden Lachen.

»Cok Konus, TürkceKonus« steht an derGefängniswand: »Sprichviel, aber sprich Tür-kisch.« Kurdisch zusprechen ist verboten.

Schikanen und Ver-bote prägen das Lebenin dem Spezialgefäng-nis. So ist es untersagt,Papier und Bleistifte in

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DECT-Gefängnis in Diyarbakir.

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die Gefangenenräume mitzunehmen. Wenn einer der Wachpos-ten glaubt, das Verbot sei missachtet und Schreibzeug mitgenom-men worden, geht alles ganz schnell. Ohne Vorwarnung wird dieTür aufgerissen.

»Aufstehen!« brüllt die Stimme eines Wächters. »Stellt euchvor das Bett!« Sechzig Gefangene springen von ihren Matratzenauf.

»Geht auf den Flur!«Dort erwartet sie die gleiche Anzahl von Soldaten, viele von

ihnen mit G3-Gewehren bewaffnet. »Stellt euch an die Wand,und blickt auf den Boden! Ich warne euch, wer hochschaut, wirdbestraft!«

Auf Zehenspitzen stehend, die Hände an die Mauer gepresst,warten die Inhaftierten, bis sie erlöst werden. Währenddessenreißen Soldaten die Matratzen in den Gemeinschaftszellen herausund durchstöbern die wenigen Privatsachen der Häftlinge.

Werden sie fündig, heißt es kurz und knapp: »Mitkommen!«Was das bedeutet, ist allen bewusst. Der Beschuldigte wird ineinen anderen Raum geführt und zusammengeschlagen. »Das G3ist ihre Waffe, um uns zu bestrafen. Sie dreschen so lange damitauf dich ein, bis du dich nicht mehr bewegen kannst.«

Nach drei Monaten, im Mai 1982, wagt Hayrettin zum erstenMal, gesenkten Hauptes die Augen zu verdrehen und auf dieSoldaten und ihre Gewehre zu linsen.

Im selben Moment erhält er mit dem Schaft des G3 einenSchlag ins Gesicht. Wie vom Blitz getroffen fällt er auf denRücken.

»Was ist los?« fragt einer der Offiziere den Soldaten, derHayrettin malträtiert hat.

»Dieser Kurde hat versucht, mich anzuschauen«, erläutert derWachsoldat knapp.

»Er hat dich angeschaut? Dann hat er sich schuldig gemacht.Haut drauf!« befiehlt der Offizier. Im nächsten Moment schlagen

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mehrere Wächter auf die Oberschenkel des am Boden liegendenHayrettin ein, die einen mit Holzknüppeln, andere mit der Schul-terstütze des G3.

»Mach die Augen zu!« brüllt einer der dunklen Männer überihm. Ein zweiter packt den Reglosen am Arm, dreht ihn auf denBauch und hält die Sohlen der Füße nach oben, die wie bei allenGefangenen ungeschützt sind, da sie keine Schuhe tragen dürfen.Die Schläge treffen ihn auf die Fußsohlen und die Hüfte.

Irgendwann bringen ihn Mitgefangene in die Zelle zurück.Zwar ist nichts gebrochen, aber Hayrettin kann sich nicht mehrbewegen. Einen Monat lang ist sein ganzer Körper fast schwarzvor Blutergüssen.

Einmal monatlich darf Raziye zu Besuch kommen, und sie nutztjede Gelegenheit. In zwei Kabinen des Besucherraums sitzen sieeinander gegenüber und unterhalten sich eine Stunde lang, übereine dicke Glasscheibe hinweg. Hinter beiden stehen Militärs mitden üblichen Heckler&Koch-Waffen und verfolgen jedes Wortargwöhnisch.

Die Wahrheit muss er verschweigen. Unter diesen Umständenkann er nichts erzählen von der Folter und ihren psychischen undphysischen Folgen. Aber wenn er auch nur über Belanglosesreden darf, kann er sie doch immerhin sehen. Sie zu sehen, gibtihm Kraft, denn Raziye ist das Symbol dafür, dass es die Weltjenseits der Gefängnismauern noch gibt, eine Welt, die seinenPeinigern nicht ausgeliefert ist.

Doch die Wachsoldaten wissen, wie wichtig Raziyes Besuchefür Hayrettin sind, und eines Tages nutzen sie dieses Wissen aus.Vor seinen Augen fahren sie sanft durch das Haar seiner Ehefrau,streicheln ihre Wangen und berühren sie an anderen Körperteilen.Hayrettin muss tatenlos zuschauen, wie sie starr vor Schreck allesüber sich ergehen lässt. Würde einer der beiden protestieren,hätten sie einen neuerlichen Anlass, ihn fertigzumachen.

Wenn man ihnen keinen Anlass gibt, erfinden sie einen: Als

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Hayrettin seine Frau um ein Medikament gegen seine Krankhei-ten bittet, unterstellen ihm die Sicherheitskräfte, er verwende einCodewort.

Wieder landet er in einem der düsteren Räume.»Was hast du gesagt? Was hast du gemeint? Rück mit der

Wahrheit raus!« schreit ihn einer der Soldaten an. Doch Hayrettinkann nur immer wieder auf seine Schmerzen und das benötigteMedikament verweisen. Weil er nicht sagt, was sie hören wollen,wird er einen ganzen Tag lang geprügelt.

Gedemütigt, gepeinigt, geschlagen und gequält wird er fast täg-lich, gefoltert in größeren Zeitabständen.

»Du hast das Abiturzeugnis deines Mitgefangenen Ibrahimgefälscht«, lautet der Vorwurf an Hayrettin, der nicht weiß, wieihm geschieht.

»Ich bin Grundschullehrer, wie soll ich das Diplom eines Gym-nasiums fälschen?« fragt er ungläubig. Weil Hayrettin standhaftbleibt, wird er in einen anderen Raum geführt. Plötzlich erhält ermehrere Schläge aufs Schlüsselbein, dann fällt er in Ohnmacht.Als er erwacht, hängt er mit den Beinen an einem Seil. Von einemBalkon aus schwenken ihn zwei kräftige Männer zweieinhalbMeter über dem Boden.

»Gleich lassen wir dich los!« schreit einer.»Dann knallst du auf die Steine!« ruft der andere und zieht so

einseitig, dass Hayrettin der Wand mit jedem Schwung näherkommt. Er versucht sich mit den Händen abzufangen, doch diebeiden Soldaten sind Spezialisten. Hayrettin schlägt aufs Mauer-werk auf und blutet am Kinn und aus der Nase.

»Jetzt ist es soweit. Ich lasse jetzt los!« ertönt die Stimme deseinen.

»Alles wird wie ein Unfall aussehen«, ruft der andere. »Gestor-ben bei der Flucht, schreiben wir ins Protokoll!«

Irgendwann, Hayrettin hat jede Vorstellung von Zeit verloren,ziehen sie ihn doch nach oben. Anstatt ihn in die Zelle zurückzu-

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bringen, muss er seine Hände ausstrecken. Mit einem Stockschlagen sie unerbittlich zu.

»Zähl bis hundert!« lautet der Befehl.»Eins« – Schlag – »zwei« – Schlag – »drei« – Schlag – »vier« –

Schlag – »fünf« – Schlag – … – »sechzig« – Schlag – »einund-sechzig« – Schlag – … – Als seine Hände erlahmen, hält einer derWächter sie in die Höhe – »neunundneunzig« – Schlag – »hun-dert« – Schlag.

»Endlich vorbei«, denkt Hayrettin. »Ich halte das nicht mehraus …«

»Von vorne!« kommandiert die Stimme eines Soldaten, undalles geht von neuem los.

Wann die Prozedur ein Ende gefunden hat, weiß Hayrettinnicht mehr. Aber er kann sich noch daran erinnern, wie irgendei-ner »Kogus« ruft, das Wort für »Krankensaal«. »Ein Arzt …wenigstens werde ich jetzt medizinisch versorgt«, glaubt Hayret-tin, aber er täuscht sich. Denn »Kogus« bedeutet im Türkischengleichermaßen »Gefängniszelle« – und genau dorthin wird er miteinem Fußtritt gekickt. Wie der Ball bei einem Fußballspielkommt er sich vor, dann sinkt er in tiefen Schlaf. Jedoch nichtlange, denn wer sich auf seiner Holzbank umdreht, wird sofortgeweckt.

»Umdrehen ist verboten, Altun! Das weißt du doch!« Hayret-tin nimmt alles wie durch eine Nebelwand wahr. Sein Körper istnur noch eine Ansammlung schmerzender Stellen.

Eines Tages besucht ihn Raziye und überreicht ihm Geld fürServet. Wer Geld hat, kann sich im Gefängnis Zigaretten undanderes leisten.

»Warum gibt dir deine Frau Geld?« will ein Offizier wissen.»Das ist für meinen Cousin Servet«, antwortet Hayrettin wahr-

heitsgemäß, vergisst aber die vorgeschriebene Anrede »Sir« oder»mein Kommandeur«.

Der Offizier ruft daraufhin einen Wachsoldaten. »Der Häftling

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Altun verweigert mir seine Ehrerbietung. Macht mit ihm, wasnotwendig ist.«

Kurz darauf packen zwei Soldaten Hayrettin an den Füßen undstoßen ihn kopfüber in die Kanalisation der Toiletten. Einmal,zweimal, dreimal. Irgend jemand macht sich über ihn lustig. Vier-mal, fünfmal, sechsmal. Hayrettins Nase blutet längst, auch ausseinem Mund läuft Blut. »Dreckiger Kurde!« sagt eine Stimme.Siebenmal, achtmal, neunmal – erneut wird er ohnmächtig.

Als er in der Gruppenzelle erwacht, tupfen ihm Mithäftlingevorsichtig das Gesicht und den Körper mit Papiertüchern ab. Inden kommenden Wochen plagt ihn Ungeziefer, Läuse und Nissensetzen sich in allen Körperritzen fest. Wasser zum Reinigen gibtes nicht.

Hayrettin hat viel mehr gesehen, als er sagen kann, viel mehrerlebt, als er erzählen will. Über vieles will und kann er nichtsprechen, weil es ihm und anderen Opfern den letzten Rest vonSelbstachtung und Menschenwürde nehmen würde.

»Anderen ist es schlimmer ergangen als mir. Allen voran den-jenigen, die sie immer wieder vergewaltigt haben.« Nein, mehrmöchte er darüber nicht sagen.

Unendlich langsam fließen die Stunden, Tage, Wochen, Monateim zeitlosen Strom der Zeit dahin. Nichts passiert, was ihn ausseiner Zelle und dem Gefängnis düsterer Gedanken befreienkönnte. Schlaf ist schwer möglich, das Reden mit anderen Häft-lingen gefährlich. »Werden sie mir die Knochen brechen, wennwir uns unterhalten? Mit wem kann ich über meine Gefühle spre-chen, ohne dass ich verraten werde? Wer wird mir das Unglaub-liche glauben, wenn ich eines Tages das Gefängnis verlassenkann?«

Die letzten Monate hat er sie innerlich bekämpft, hat versucht,sich auf seine Weise zu wehren. Irgendwann aber verspürt Hay-rettin eine überraschende Veränderung in sich vorgehen. Genau-genommen ist eine neue Einstellung da, als habe sie der Zeitstrom

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mitgebracht und bei ihm angeschwemmt. Bisher hat er gegen dieFluten der Gewalt angekämpft, hat mit dem Gedanken an Fluchtgespielt und Rachepläne geschmiedet. Von nun an akzeptiert eralles, nimmt alles hin, erträgt alles. Daraus erwächst ihm einewundersame innere Stärke, eine sanfte Kraft, die ihm so langeabhanden gekommen war.

Plötzlich glaubt er daran, dass er stärker ist als seine Peiniger,dass sie ihn nicht brechen können. »Was ihr mit all euren Metho-den bisher nicht geschafft habt, werdet ihr auch in Zukunft nichtfertigbringen. Ihr könnt meinen Körper kaputtmachen, aber mei-nen Willen werdet ihr nicht brechen!« Hayrettin schöpft neuenMut. Vor allem aber kehren seine Träume und Erinnerungenzurück.

Wenn es dunkel wird, tauchen die Bilder auf. Längst ver-gessene Bilder seiner Kindheit, in der er Nacht für Nacht unterfreiem Himmel geschlafen, das Weltall beobachtet und die Sternegezählt hat. Allen anderen Häftlingen ist der Blick zum nächtli-chen Himmel verbaut, nicht so für Hayrettin. Der liegt auf seinerharten Holzpritsche in einem dunklen Raum, starrt an die Deckeund sieht die Weite des Weltalls.

»Ich sehe die Milchstraße über mir«, auch wenn sie für ihnunsichtbar ist. »Ich sehe Sternschnuppen vorüberziehen«, diekein anderer außer ihm sieht. »Ich sehe die schönsten Sterneder Welt, die Sterne von Tîyaks«, bildet sich Hayrettin ein. Vorseinen Augen entstehen immer neue Bilder glücklicher Tage inseinem Heimatdorf, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mitseinen Eltern, seinen Geschwistern, mit Freunden. Im Licht derSterne von Tîyaks nehmen sie Gestalt an: seine Frau Raziye,seine beiden Buben Rojhat und Jehat und die kleine Gülistan.

Den täglichen Torturen zum Trotz beginnt Hayrettin an eineRückkehr in die Welt jenseits der Gefängnismauern zu glauben.Sein Körper ist verdreckt, von Wunden übersät und von Parasitenbesetzt. Aber das Träumen von den Sternen, die Gedanken an dasGlück mit seiner Familie und die Freiheit, die irgendwann wie-derkommen wird, geben ihm die innere Stärke zum Überleben

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und die Kraft zum Lachen. Ein Lachen, das er noch für sich behal-ten muss, das aber endlich wieder zurückgekehrt ist nach derlangen Zeit der Verzweiflung.

Nach und nach werden einige der Inhaftierten aus Tîyaks freigelas-sen. Nicht so Hayrettin Altun, dem nach türkischem Recht Propa-ganda für Kommunismus und Separatismus vorgeworfen wird.

An jedem weiteren Verhandlungstag vor dem Staatssicher-heitsgericht (DGM) begegnet Hayrettin Soldaten mit den Waf-fen, die ihn seiner Freiheit beraubt, ins Gefängnis begleitet habenund jeden Gedanken an einen Fluchtversuch hinfällig erscheinenlassen: Das G3 ist die Standardwaffe der türkischen Streitkräfteund damit auch der Wachsoldaten im DETC-Gefängnis, Sinnbildder Gewalt gegen die im Südosten des Landes lebenden Kurden.»Die Soldaten, die auf den Gefängnismauern patrouillieren, tra-gen G3-Gewehre. Die Soldaten, die mich in die Militärfahrzeugestoßen, tragen G3-Gewehre. Die Soldaten, die mich in Fuß- undHandfesseln vor Gericht bringen, tragen G3-Gewehre«, erzähltHayrettin ohne jede Gefühlsregung.

Dass ein Verhandlungstag bevorsteht, erkennt er vor allemdaran, dass die Foltermaßnahmen vorübergehend ausgesetzt wer-den. Gesichter müssen vor Gericht gesund aussehen, Angeklagtemit violett-schwarzen Blutergüssen an Haut und Händen sollenden Verwandten nicht zugemutet werden, die sich als Zuschauerin die hinteren Reihen setzen dürfen. Hayrettins Vater nimmt anvielen, seine Frau an allen Verhandlungen teil. Eingreifen könnensie nicht, und er darf sich nicht einmal nach ihnen umdrehen.Aber sie sind bei ihm, und auch das bestärkt ihn.

DGM – Politische Justiz gegen KurdenDie Staatssicherheitsgerichte Devlet Güvenlik Mahkemesi (DGM)waren ein Jahr nach dem Militärputsch von 1971 als Gerichtefür den Ausnahmezustand gegründet worden, Mitte der siebziger

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Jahre wurden sie jedoch wieder abgeschafft. Im Jahr 1982, zweiJahre nach dem neuerlichen Militärputsch, wurden sie im Rahmender neuen Verfassung wiedereingeführt.Ihre Kompetenzen wurden ausgeweitet, die Anzahl auf 13 erhöht.Fünf der DGM-Gerichte befanden sich in Istanbul, drei in Diyarba-kir, drei weitere in anderen Städten Türkisch-Kurdistans.Formal gingen die DGM gegen jede Form der widerrechtlichenOpposition vor, de facto aber vornehmlich gegen Kurdinnen undKurden. So waren die DGM politische Gerichte, die kurdischeAngeklagte in der Regel zu hohen Strafen verurteilten.

Der Richter ist Zivilist, die anderen Mitglieder des Sonderge-richts sind Soldaten. Für Hayrettin sehen die Militärs alle gleichaus. »Human ist keiner von denen.«. Vor allem der Richter ver-hält sich »extrem aggressiv« ignoriert ihn als Angeklagten, alssei er »kein menschliches Wesen«. Wenn Hayrettin ums Wortbittet, weist ihn der Richter rüde zurecht: »Seien Sie ruhig!Erzählen Sie hier keine Geschichten!« Vergeblich bemüht sichsein Strafverteidiger um Unterstützung.

Die Staatsanwaltschaft benennt Augenzeugen, die Hayrettinbeim Hissen der verbotenen kurdischen Fahne beobachtet habenwollen. Zudem wird dem Richter eine Klageschrift vorgelegt, dievon führenden Persönlichkeiten des politischen Lebens in derRegion unterzeichnet worden ist. Hayrettins vermeintliche Ver-gehen werden vom Provinzvorsitzenden in Kulp, dem Komman-deur der Jandarmas, dem amtierenden und dem früheren Ortsvor-steher Tîyaks bestätigt – letzterer ist einer seiner Verwandten.

Im Wissen um seine Unschuld bestreitet Hayrettin standhaftdie ihm zur Last gelegten Verbrechen, verlangt vom StaatsanwaltAugenzeugen der Tat. Genau diese erscheinen bei der nächstenVerhandlung vor Gericht. Die vier Männer, einfache Leute ausTîyaks, fürchten sich vor dem Richter und dem Staatsanwalt undbejahen alle ihre Fragen nach Hayrettins Vergehen. Der Ange-klagte aber hält dagegen. »Sehr geehrter Herr Staatsanwalt, bitte

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befragen Sie die Zeugen, wie die Flagge ausgesehen hat, die ichaufgehängt haben soll.« So einfach seine Frage ist, so verwirrendfallen die Antworten aus. Die vermeintlichen Augenzeugen ma-chen völlig widersprüchliche Aussagen.

Nach vierzehn Verhandlungstagen verkündet das Gericht EndeJuli 1983 endlich den erhofften Freispruch. Achtzehn Monatehat Hayrettin unschuldig im DETC-Gefängnis verbracht, hat ge-weint, gelitten, gebangt und gehofft. Überglücklich fallen sichRaziye und Hayrettin in die Arme und weinen vor Freude. Hayret-tins Lachen hat seinen Weg in die Freiheit zurückgefunden.

Später wird Hayrettin erfahren, dass gegen ihn Intrigen gespon-nen, dass Blankopapiere unterschrieben und zur Vortäuschungfalscher Tatsachen verwendet worden sind, dass er sich mit sei-nen liberalen Ansichten über Religion und Demokratie vieleFeinde in Tîyaks und Kulp gemacht hat.

Und er wird erfahren, dass die Gerüchte wahr gewesen sind,die unter den Häftlingen des DETC die Runde gemacht haben:Während seiner Zeit in Gefangenschaft sind rund zwanzig Insas-sen ums Leben gekommen. Vier PKK-Mitglieder haben sich ausProtest gegen die Haftbedingungen selbst verbrannt, die anderensechzehn sind ihren Verletzungen in den Folterkammern erlegen.

ALS KURDE IN KONYA

»Sie haben Informationen über mich eingeholt.«Hayrettin Altun

Auch wenn Hayrettin Altun nach seiner Freilassung nicht als Kri-mineller eingestuft wird, sieht die Nationale Nachrichtendienst-organisation Milli Istihbarat Teskilati (MIT) in ihm einen poten-

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tiellen Verbrecher. Deshalb wird der Lehrer nach nur einemMonat, den er in Tiyaks und Kulp verbracht hat, nach Hacipirliverbannt. Er hat seinen Dienst sofort anzutreten.

Hacipirli ist ihm unbekannt, Hayrettin muss sich erst einmalerkundigen, wo sich sein neuer Arbeitsplatz überhaupt befindet.Mit Schrecken stellt er fest, dass das Dörflein rund fünfund-sechzig Kilometer von Konya und damit mehr als siebenhundertKilometer westlich von Diyarbakir entfernt liegt.

In Hacipirli ist Hayrettin der einzige Lehrer an einer winzigenDorfschule mit einer Klasse von zweiundzwanzig Grundschü-lern. Raziye, die vor Ort keine Anstellung findet, zieht mit dendrei Kindern in die Kleinstadt Saçikara. Sechzig Kilometer liegenzwischen ihr und ihrem Mann.

Zu allem Übel befindet sich in Hacipirli eine Jandarma-Sta-tion, wohin Hayrettin ein- bis zweimal wöchentlich zur Ver-nehmung zitiert wird. Es sind immer die gleichen Fragen: Waser in der Schule mache, welche Themen er gerade unterrichte, ober politische Aktivitäten plane. Hayrettin muss vorsichtig sein.

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1983 wird Hayrettin nach Hacipirli, einem winzigen Ort im Zentrumder Türkei, strafversetzt.

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Frisch aus dem Gefängnis entlassen, steht er auf der Observa-tionsliste ganz oben. Zudem erkundigen sich die Jandarmas fort-während beim Ortsvorsteher nach seinem Verhalten. Doch dasgibt keinerlei Grund zur Beanstandung. Möglicherweise wird sei-nem Versetzungsantrag sogar wegen guter Führung entsprochen,so dass er 1984 zu seiner Familie nach Saçikara umziehen unddort seine siebte Stelle antreten kann.

Ausgerechnet in Saçikara, Hunderte von Kilometern von Di-yarbakir entfernt, trifft Hayrettin einen der Menschen, die ihn imDETC-Gefängnis gefoltert haben. Der frühere Gefängniswächterweiß sofort, wen er vor sich hat, und erschrickt zutiefst, weil ervermutet, der Häftling habe seine Strafe abgeleistet und sei ihmbis hierher gefolgt, um Rache zu nehmen.

»Ich habe dir nicht nachspioniert. Unser Treffen ist reinerZufall«, beruhigt ihn Hayrettin, der seinen Folterer anlacht, mitihm ins Gespräch kommt und feststellt, dass der »ein ganz einfa-cher Mann vom Land« ist. Der Grundschullehrer nimmt sich Zeit,versucht den türkischen Mann zu verstehen und erzählt ihmseinerseits viel von der kurdischen Kultur.

Am Ende werden sie, was Türken und Kurden viel zu seltensind: gute Freunde.

Doch solche Erlebnisse bleiben die Ausnahme in einer Region, inder den Kurden das Leben schwergemacht wird. Nicht genugdamit, dass Hayrettin sich mit den Polizeibehörden auseinander-setzen muss, auch kirchliche Institutionen sehen in ihm einen»Unruhestifter«, wie er von einem Hodscha an den Kopf gewor-fen bekommt. Als ihn der Geistliche auch noch als »Kurde«beschimpft, fragt ihn Hayrettin ganz direkt: »Glauben Sie nicht,dass wir Kurden auch Muslime sind?«

»Ja«, antwortet der religiöse Lehrer knapp.»Und die Türken, sind nicht auch viele von ihnen Christen?«

hakt Hayrettin nach.Wieder bejaht der Hodscha.

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»Wenn also ein muslimischer Kurde mit einem christlichenTürken streitet, wen werden Sie dann unterstützen?« lautet seineFrage.

»Mit Sicherheit werde ich den christlichen Türken unterstüt-zen. Denn mein Türkentum steht über allem«, stellt der Hodschaseinen Nationalstolz über seinen Gott. Hayrettin zieht daraus dieLehre, dass »die nationalistischen Ultrarechten der MHP selbstdie Religiösen in der Hand haben«.

Kurdische Lehrer (1) – Ein Leben in ständiger AngstKurdische Lehrer standen unter Beobachtung und lebten in ständi-ger Angst. Strafversetzungen waren im Falle gewerkschaftlicherAktivitäten an der Tagesordnung.Der erste getötete Lehrer war Siddik Bilgin aus Kalaxi (Doganli)im Bezirk Bingöl. Am 31. Juli 1985 überfiel Ali Sahin, Komman-dant der nahe Kalaxi gelegenen Jandarmastation, mit seiner Ein-heit das Dorf. Die Jandarma besetzte die örtliche Volksschule undfolterte Siddik Bilgin, der am dritten Tag seinen Verletzungenerlag. In einem Waldstück erteilte Sahin vierzig Soldaten denBefehl, die Leiche des Lehrers bis zur Unkenntlichkeit zu beschie-ßen.Bei einem zwei Jahre später erfolgenden Gerichtsverfahren gegenAli Sahin kam der Mord zufällig zur Sprache, als der SoldatSakip Ay detailliert über den Tathergang berichtete. Dennochwurde Sahin freigesprochen und später sogar vom Hauptmannzum Bataillonskommandanten befördert.

Im September 1985 bringt Raziye ihren dritten Sohn Firat zurWelt. Nur drei Monate später stirbt Hayrettins Vater Cafer.

1986 müssen die Altuns schon wieder umziehen, diesmal nachHatay. Hayrettin tritt im Dorf Varisli seine achte Stelle an. Mitden Kindern lebt Raziye in Iskenderun, siebzig Kilometer vonihrem Mann entfernt, wo sie als Krankenschwester arbeitet.

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Als Grundschullehrer kann Hayrettin in einem Zimmer imSchulgebäude wohnen. Der Raum hat nur sieben Quadratmeter,aber es stehen ein Bett, ein Schrank, ein Gasherd und eine Schü-lerbank darin. Acht, neun Monate lebt er in diesem Raum, nurunterbrochen durch die Wochenendtouren mit dem Bus, dennmanchmal treffen sie sich in einem kleinen Dorf auf halberStrecke.

Die familiäre Situation ändert sich erst, als die ganze Familienach Hatay zieht. Wie in Dorfschulen üblich, ist Hayrettin dieeinzige Lehrkraft und unterrichtet logischerweise auch die eige-nen Kinder, was mitunter zu nicht unerheblichen Spannungenführt.

»Rojhat, du treibst mich noch in den Wahnsinn! Alles kannstdu, und alles weißt du. Du könntest so ein guter Schüler sein.Aber was machst du?« empört sich der Vater über seinen ältestenSohn.

In dieser Unterrichtsstunde soll es um unterschiedliche Wol-kenformationen gehen, doch Rojhat steht der Sinn nach Höhe-rem: »Die Sonne ist über den Wolken. Ich möchte viel lieber überdie Sonne sprechen.« Rojhat weiß genau, dass sich sein Vater fürheute ein anderes Thema vorgenommen hat. Dass der deshalbwütend werden wird, ist dem Jungen egal.

Solche Szenen zwischen Vater und Sohn sind so häufig wie dieWolken am Himmel. Zweifellos ist kein Lehrer zu beneiden, derseine eigenen Kinder unterrichten muss. Und zweifellos ist keinSohn zu beneiden, dessen Vater zugleich der eigene Klassen-lehrer ist und dessen Anordnungen man nicht nur zu Hause,sondern auch tagtäglich in der Schule Folge leisten muss.

»Thema verfehlt«, stellt Hayrettin erbost fest und fährt mitdem Unterricht über die Wolkenarten fort.

Zu Hause diskutiert er mit seinem Sohn über ihre Differenzen,und Rojhat gelobt Besserung. Am nächsten Morgen aber wieder-holt sich das Schauspiel vom »Vater und dem widerspenstigenSohn«, und zumeist reagiert Hayrettin streng. Zu streng, wie erJahre später selbstkritisch sagt. Denn eigentlich sollte er, der zeit-

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lebens den Konflikt mit den staatlichen Obrigkeiten sucht, mehrVerständnis für seinen aufsässigen Sohn aufbringen.

Gülistan besucht nun auch schon die erste Klasse, und auch ihrKlassenlehrer heißt Hayrettin Altun. Mitten im Unterricht strei-chelt der Vater seiner Tochter sanft durchs Haar. Gülistan freutsich, und ein anderes Mädchen beginnt zu weinen. Zutiefst be-rührt nimmt Hayrettin die Schülerin in die Arme. »Ich habe euchdoch alle gern«, beteuert er verlegen.

»Aber du hast Gülistan gestreichelt und nicht mich«, meint dasMädchen unter Tränen. Fortan achtet Hayrettin darauf, dass erseinen Kindern im Unterricht nicht zu nahe kommt.

Was anderen unbedeutend erscheint, macht ihm zu schaffen.Lehrer der eigenen Kinder zu sein ist für ihn eine der schwierigs-ten Situationen in seinem Leben. Den eigenen Kindern gegenübersoll er sich verhalten, als seien sie nicht die seinen. So kommtes, dass der Lehrer Altun in der Schule viel strenger zu seinenKindern ist als der Vater Hayrettin zu Hause.

Genau das macht Gülistan und ihren Brüdern schwer zu schaf-fen. »Er haut mich fest. Nein, das ist nicht schön«, beschwert sichHayrettins Tochter.

»Aus meiner Sicht wäre es besser, wenn Papa nicht mehr unserLehrer ist«, sagt Jehat, ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder. »Wiralle strengen uns an, aber er gibt uns keine guten Noten. Zu uns ister einfach viel strenger als zu den anderen Schülern.«

Das wird auch Firat zu spüren bekommen. Als der Siebenjähri-ge seinen Vater nicht wie gefordert mit »Mein Lehrer« sondernmit »Mein Vater« anspricht, wird er daheim geschlagen. Undnoch eine andere Erfahrung muss Firat machen: »Wenn ich michbei den Hausaufgaben verrechne, bekomme ich vor der KlasseSchläge mit der flachen Hand«, meint er traurig.

Zu Hause ist Hayrettin nicht allein, hier kann sich Raziyeschützend vor ihre Kinder stellen. »Meine Mutter ist sehr auf-opfernd«, sagt Firat. Früher hat Saniye sich schützend vor ihren

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kleinen Sohn Hayrettin gestellt und Cafers Attacken abgewehrt,heute stellt sich Raziye Hayrettin in den Weg.

Jahre später stimmt Hayrettin seinen Kindern zu. Am liebstenwürde er das Rad der Zeit zurückdrehen, würde zwar weiterhingerecht sein wollen, aber »längst nicht so streng«.

Die jahrelangen Repressionen haben ihre Spuren in HayrettinsVerhalten hinterlassen: Manchmal wird er handgreiflich – aus-gerechnet er, die Ausgeglichenheit und Freundlichkeit in Person.Dennoch ist es erstaunlich, wieviel Hayrettin in sich hineinge-fressen und wie wenig Druck er an andere weitergegeben hat.

Auch wenn er sich theoretisch frei bewegen kann, kommt ersich noch immer wie ein Gefangener vor. »Die Jahre im BezirkKonya sind nicht viel besser gewesen als die im Gefängnis«,resümiert Hayrettin Altun. »Alles hat damit angefangen, dass sieInformationen über mich eingeholt haben. Schon bevor ich dort-hin gegangen bin. Und danach haben sie versucht, mich fertig-zumachen.«

Das ist ihnen nicht gelungen.

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12 Jahre des Feuers

DER KLANG DES G3

»Sie töten jeden, den sie treffen können.«Fehmi Altun

Sein erster Schultag ist ihm ziemlich genau in Erinnerung geblie-ben. Abdurrahman Baran hat nicht vergessen, wie er damals miteinem gewissen Stolz den großen Raum der Grundschule betre-ten hat und wie er sich inmitten der anderen Schulanfänger ziem-lich verloren vorgekommen ist. Herr Altun, ein großer, stämmi-ger Mann mit fast schwarzen Haaren, hat sie freundlich begrüßt,dann aber ziemlich durchgegriffen und einigen der Buben kräftigmit dem Stock auf die Finger geschlagen. »Unser Lehrer istwütend gewesen«, hat Abdurrahman seinen Eltern zu Hauseerzählt.

Hayrettin Altun hat die Grundschule bald danach verlassen,ohne dass ihnen ein Grund dafür mitgeteilt worden wäre. Dasssich sein Klassenlehrer häufig mit anderen, älteren Lehrern ge-stritten hat und daraufhin ins Gefängnis für politische Gefangenein Diyarbakir eingeliefert worden ist, hat Abdurrahman Baranerst viel später erfahren.

Zehn Jahre danach, im Sommer 1991, ist Tîyaks zu einem Ortmit drei- bis vierhundert Wohnhäusern und zweitausend Einwoh-nern angewachsen. Vorbei die Zeit, in der sich die Menschen mitgroßen Gasflaschen aus Diyarbakir oder Kulp behelfen mussten.Inzwischen ist das Dorf durch die Stromleitung mit Kulp ver-bunden, die Elektrizität bringt Licht und schafft Arbeitsplätze. Indem Teppichhaus fertigen Frauen Wolldecken und handgeknüpf-te Teppiche.

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Im Ortskern stehen die alte und eine neue Moschee, befindensich ein Krankenhaus und ein Büro für landwirtschaftliche Unter-suchungen sowie eine Grund- und eine Sekundarschule. Mit demSchulbesuch fast aller Bewohner ist der Bildungsstandard gestie-gen, die Menschen in Tîyaks sind für ihr Wissen bekannt. KeinWunder, dass das Dorf drei bekannte Parlamentarier hervorge-bracht hat.

Ganz andere Vorteile schätzen die Menschen, die auf derDurchreise nach Islamköy und noch weiter in den Bergen gelege-nen Dörfern in einem der beiden Teehäuser einkehren oder denörtlichen Markt besuchen. Auf ihm wird alles angeboten, was dasHerz begehrt. In Tîyaks ist der Lebensstandard höher als imUmland. Nicht zuletzt deshalb bietet der Ort ideale Vorausset-zungen für ein glückliches Leben in dem wunderschönen Tal amFuß der südlichen Ausläufer des Taurusgebirges.

Am Sonntag, den 15. September 1991, steht in der FamilieBaran ein Großereignis an: Abdurrahmans Bruder Mahmut willheiraten. Am Freitag beginnen die Vorbereitungen, am Samstag-abend fahren Freunde nach Diyarbakir, um die Braut zu holen.Mahmut ist einer der Direktoren der Halkin Emek Partisi (HEP),

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Die Schule in Tîyaks.

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der Partei der Arbeit des Volkes, so dass viele Gäste von weit heranreisen. Samstagabend wird bereits kräftig gefeiert, gut gelauntgehen sie alle zu Bett.

Noch vor Sonnenaufgang am nächsten Tag hören sie lautesGebrüll, Uniformierte pochen gegen die Tür.

»Auch in eurem Haus sind Waffen versteckt!« schreit einer derSoldaten. »Fliehen ist zwecklos!«

Spontan muss Abdurrahman daran denken, wie Soldaten vordrei Jahren mit Waffengewalt in ihr Haus eingedrungen sind undihre G3-Gewehre gegen sie gerichtet haben. »Alle deine Kindersind Terroristen!« hat Kommandeur Regep damals gebrüllt, ob-wohl einer von Abdurrahmans Brüdern gerade bei der türkischenArmee gedient hat.

»Wir suchen nach Waffen!« haben sie auch damals behauptet.Einer der Krieger ist auf das Dach geklettert und hat es mitdem Gewehrkolben seines G3 zertrümmert, jedoch nichts ge-funden. In ihrer Wut haben Regeps Männer seine Mutter Sivi mitder Schulterstütze eines G3 geschlagen. Rechtlich hatten siefreie Hand, denn das Gesetz über den Ausnahmezustand OHALgibt den staatlichen Sicherheitskräften schier unbegrenzte Hand-lungsmöglichkeiten.

OHAL und Anti-Terror-Gesetz – Die rechtliche Basis zum Kampfgegen KurdenDas bereits 1987 in Kraft getretene Gesetz über den Ausnahme-zustand Olaganüstü Hal (OHAL) verlieh dem jeweiligen OHAL-Gouverneur eines Bezirks nahezu uneingeschränkte Machtbe-fugnis. Diesen Gouverneuren sind die Gendamerieeinheiten, dergesamte Justizapparat, politische, soziale, kulturelle und andereInstitutionen unterstellt. Der OHAL-Gouverneur kann auch Mili-täreinheiten Befehle erteilen und für das Ausnahmegebiet Sonder-militär- und Geheimdiensteinheiten gründen.Außerdem kann er »den Zugang und das Verlassen« von Ortenbeschränken und »bestimmte Ansiedlungen entvölkern oder umsie-

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deln«. Für die weit überwiegende Zahl von Kurdinnen und Kurdenzog das OHAL-Gesetz massive Repressionen nach sich.Eine weitere Verschärfung der Lage der kurdischen Bevölkerungtrat im April 1991 ein, als das Anti-Terror-Gesetz Nr. 3713 erlas-sen wurde. Als Terrorist wurde eingestuft, wer »die politische,rechtliche, soziale, laizistische oder wirtschaftliche Grundordnungunter Anwendung von Druck, Nötigung und Gewalt, Verbreitungvon Angst und Schrecken, Einschüchterung oder Drohung zuverändern oder die unteilbare Einheit von Gebiet und Nation destürkischen Staates und der Republik zu zerstören« versuchte.

An diesem Sonntagmorgen verrät ein Blick nach draußen, dassdie Situation diesmal noch bedrohlicher ist. Wohin man auchschaut, überall sind dunkle Gestalten mit Handfeuerwaffen imAnschlag. In nächster Nähe stehen Soldaten mit G3-Gewehren,deren kurze Schulterstütze sofort auffällt.

»Kommen Sie bloß nicht ins Haus«, ruft Mutter Sivi wage-mutig, »wir feiern hier Hochzeit! Heute trifft die Braut ein.« Hilf-los müssen Abdurrahmans Vater und Brüder zusehen, wie Sividaraufhin mit dem Schaft des kurzen G3 geschlagen wird. IhrEingreifen hätte tödlich enden können. Selbst als die Frau amBoden liegt und sich nicht mehr schützen kann, stoßen die Regie-rungssoldaten gnadenlos auf sie ein, vor allem auf die linkeSchulter und die Brust. Danach stürmen die Uniformierten in denLagerraum und werfen die Getreidesäcke um, die gegen dieFeuchtigkeit in den Regalen gestapelt sind.

»Da ist nur unser Weizen drin«, wimmert Sivi.»Weiter! Durchsucht jeden Sack!« befiehlt Regep seinen

Männern, das G3 im Anschlag. Nach der Aktion sind die Getrei-dekörner im ganzen Raum verteilt, ohne dass die Soldaten etwasgefunden hätten. Im nächsten Haus setzen sie ihre Suche fort.

Nachdem die Sonne aufgegangen ist, erkennen die Dorfbe-wohner, dass rund fünfhundert Soldaten Tîyaks umstellt haben.Ihre G3-Gewehre, die russischen und ostdeutschen Kalaschni-kows sowie Feuerwerfer verheißen nichts Gutes.

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Trotz alledem findet die Hochzeit an diesem Sonntag statt. DieMusiker allerdings werden nach Hause geschickt, von Feiernkann keine Rede sein. Abdurrahmans Mutter Sivi leidet seit die-sem Tag an einer Lähmung der linken Hand.

Nach diesem Überfall reicht es den Barans. In ihrer Not ver-kauft die Familie ihre Kühe, Schafe und Hühner weit unter Preisund verlässt Tîyaks. Nur der Kühlschrank und einige Erinne-rungsstücke sind ihnen geblieben. Das Geld aus dem Vieh- undMöbelverkauf reicht gerade aus, um in Diyarbakir für einigeWochen eine Wohnung anzumieten, danach fängt ihr Leben inder Bezirkshauptstadt bei Null an. Immerhin haben sie alle über-lebt.

Das Schnellfeuergewehr G3 –Perfekt für den Einsatz in Türkisch-KurdistanDie G3-Lizenzvergabe an die Türkei war bereits 1967 durch CDU-Regierungspolitiker erfolgt. Mit ihrer Zustimmung ermöglichtender damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (1904–1988)und sein Verteidigungsminister Gerhard Schröder (1910–1989)den islamischen Generälen, die Schnellfeuergewehre im eigenenLand zu fertigen, ohne weiterhin auf Waffenimporte aus der Pro-duktion in Oberndorf angewiesen zu sein.Bei ihren Kampfeinsätzen in Türkisch-Kurdistan wurde das G3 inden Versionen G3 A3 (Standardausführung mit fester Schulter-stütze) und G3 A4 (einklappbare Schulterstütze für den Nah-kampf) mit dem 20-Schuss-Stahlmagazin zur Standardwaffe dertürkischen Sicherheitskräfte. Den Militärs gefiel besonders diehohe Treffgenauigkeit bis 600 Meter Entfernung bei Verwendungeines Zielfernrohrs. Die maximale Reichweite des G3 beträgt 3,7Kilometer.

Im April 1992, ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen, fährtHayrettins Schwägerin Hulika in die Bezirkshauptstadt, wo sie

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ihren Sohn Baris zur Welt bringt. Nach der Entbindung im Kran-kenhaus von Diyarbakir kehrt sie nach Tîyaks zurück, was siebesser nicht getan hätte. In diesen Tagen fackeln Gruppen von jezehn bis zwanzig Soldaten Haus um Haus ab. Die folgendenMonate zählen zu den schrecklichsten ihres Lebens.

Im Juli 1992 liefern sich Regierungssoldaten und Kämpfer derPartîya Karkerên Kurdistan (PKK) kleinere Scharmützel südöst-lich von Tîyaks, dort wo das flache Tal in eine Hügellandschaftübergeht und man bestens zwischen Steinen, großen Felsen undBaumgruppen Schutz suchen kann.

Die Einheimischen beobachten die Ereignisse rund ums Dorfsehr genau, vor allem die Vorgänge auf der Straße. »Von dortkommen die Soldaten. Sobald sie auftauchen, müssen die jungenMänner wegrennen. Aus Erfahrung wissen wir, dass sie auf diePolizeistation geschleppt und gefoltert werden«, erzählt FehmiAltun.

Eines Tages rollen wieder einige Panzer vorbei. Fehmi sagt»Panzer«, wie im Deutschen. Hayrettins Bruder, der gerade einFeld außerhalb des Dorfes wässert, sieht zwei Guerillakämpferzwischen den Büschen umherhuschen. In diesem Augenblicktauchen Helikopter auf, deren Piloten die beiden PKK-Kämpferentdecken und von der Luft aus beschießen.

»Ihre Waffen kenne ich gut, besonders das G3, denn ich habemeinen Militärdienst in der türkischen Armee abgeleistet. DieSoldaten sind mit G3 und MG3 in unser Dorf gekommen, dieGuerilla kämpft im Gebirge mit Kalaschnikows«, sagt Fehmi.

Und er weiß, dass sie jeden töten, den sie treffen können. Halsüber Kopf flieht er in Richtung des Dorfes und versteckt sich ineinem nahe gelegenen Wäldchen. Als die Gefahr vorüber ist, gehter zum Feld zurück, wo er Munitionshülsen findet, die größer alsdie des G3 sind. »Vielleicht von einer MG3?« fragt er sich.

Zu Hause erfährt Fehmi, dass die beiden Guerillakämpfer imKugelhagel umgekommen sind.

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Anfang Juli sind Hayrettin, Raziye und die vier Kinder Rojhat,Jehat, Gülistan und Firat sowie Mehmet, ein Bekannter aus Ha-tay, in Tîyaks eingetroffen. Seit Monaten hat sich Saniye aufden Besuch ihrer Kinder und Enkel während der Sommerferiengefreut.

»Auch wenn in den Bergen gekämpft wird, werdet ihr euchhier im Dorf wohl fühlen«, meint Hayrettins Mutter. Saniye er-zählt, früher hätten alte Streitigkeiten für Unfrieden gesorgt, dochjetzt herrsche Friede im Dorf.

»Niemand versucht zu provozieren, alle halten sich an dieRegeln«, freut sie sich. Seit drei Jahren habe es keine schwer-wiegenden Fälle mehr vor Gericht gegeben, sagt Saniye. »Dennneuerdings regelt die Dorfgemeinschaft das Zusammenleben undlöst die Probleme.«

An diesem Abend laden die Altuns viele Gäste ein. Die Stim-mung ist ausgelassen, alle feiern die Heimkehr Hayrettins, manhat sich viel zu erzählen: von der Schule in Hatay, wo Hayrettinnun schon seit sechs Jahren unterrichtet, und den freundlichenMitmenschen.

Aber die Ruhe ist trügerisch, denn in der Region tobt der Bür-gerkrieg. Zuerst zünden Soldaten Leuchtbomben, um die Szene-rie zu erhellen, danach beginnt der Beschuss. Als die erstenKugeln über das Haus fliegen, löschen sie sämtliche Lichterund legen sich auf den Boden. In Sekundenschnelle ist aus derausgelassenen Gesellschaft ein Haufen verängstigter Menschengeworden.

»Wer beschießt unser Dorf?« flüstert Hayrettin.»Du musst auf den Klang hören«, rät ihm der Nachbar, der

die typischen Geräusche der Kalaschnikow- und der G3-Salvenbestens unterscheiden kann. »Die AK-47 der PKK ist schrill –etwa wie piu-piu, eher noch höher. Das G3 der Regierung klingtwie ein summendes Hhhm-hhhm. Oder wie ein Bass – etwa buw-buw, jedenfalls viel tiefer als eine Kalaschnikow.«

In dieser Nacht lernt Hayrettin den Klang der Gewehre ken-nen. Und er lernt, dass die Guerilla ihre Munition ökonomisch

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verwendet. »Sie müssen sparsam mit den Patronen umgehen.Tak-tak, ein-zwei Schüsse, dann ist Ruhe. Den Regierungssolda-ten steht weit mehr Munition zur Verfügung«, sagt sein Nach-bar, »das heißt, sie schießen häufiger und mehrfach.« LangeSchusssalven und ein durchdringendes Buw-buw lassen keineZweifel aufkommen, wer hier am Werk ist und das Dorf be-schießt.

Als es endlich wieder ruhig geworden ist, erhebt sich einernach dem anderen. Die Gäste übernachten bei den Altuns, imganzen Dorf traut sich keiner mehr aus dem Haus. Vielleicht gibtes deshalb keine Toten in dieser Nacht.

Bis zu diesem Tag glaubte Mehmet an die Notwendigkeit dermilitärischen Zerschlagung der PKK. Damit war er politischanderer Auffassung als sein Freund. Denn für Hayrettin, derGewalt generell in Frage stellt, steht die Situation des kurdischenVolkes im Vordergrund.

»Lass uns nach Hatay zurückgehen«, bittet Mehmet am nächs-ten Morgen mit bleichem Gesicht.

Hayrettin hält dagegen: »Lass uns bleiben. Ich will, dass du daswahre Gesicht dieses Staates kennenlernst. Und dass du erlebst,wie schön hier alles sein könnte, gäbe es nicht die Angriffe derRegierung.«

Mehmet bleibt – seiner Meinung über das türkische Militärbekommt das nicht. »Nach den Erfahrungen in Tîyaks hat Mehmetseine Ansichten um hundert Prozent geändert«, meint Hayrettin.

Im Herbst erhält Fehmi erwarteten, aber unerwünschten Besuch.»Du wirst jetzt Dorfschützer!« fordert ihn »die Regierung« auf:Regierungssoldaten verlangen von ihm, gegen ein geringes Ent-geld die Dorfbewohner zu bespitzeln.

»Auf keinen Fall. Ich will kein Dorfschützer werden!« entgeg-net Fehmi.

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»Wenn du unser Angebot nicht akzeptierst, musst du das Dorfverlassen – oder es passiert etwas!« Die Altuns wissen, dass inden umliegenden Dörfern immer wieder Menschen getötet undihre Häuser abgebrannt worden sind. Den Klang der G3-Gewehrekennen sie nur allzu gut.

Fehmi und seine Frau Hulika diskutieren bis tief in die Nachtund treffen die einzig richtige Entscheidung. Schweren Herzensverlässt Fehmi Altun sein Heimatdorf und zieht nach Diyarbakir,seine Frau Hulika und die beiden kleinen Kinder Zafer und Barislässt er in Tîyaks zurück.

Das System der Dorfschützer – Kurden töten KurdenAuf der Basis des Dorfschützergesetzes sowie von Zusatzerlassenbaute die türkische Spezialkriegsabteilung Özel Harp Dairesi(ÖHD) in den Jahren nach 1985 das System der Dorfschützer auf.Damit gelang es den türkischen Sicherheitskräften, einen Keil indie kurdische Gesellschaft zu treiben und sie in Anhänger derRegierungsarmee und der PKK zu spalten. Das Ergebnis: Kurdenverrieten Kurden und töteten sich sogar gegenseitig.Bei der Rekrutierung von Dorfschützern griff die ÖHD auf diebestehenden Stammesstrukturen zurück; angeheuert wurde jeder,der mitmachte, gleichgültig ob es sich um Straßenräuber undSchmuggler handelte oder um Bauern. Mit Privilegien und Anrei-zen (Sold, Versicherungen, Renten) und häufig unter Anwendungvon Gewalt wurden Dorfbewohner zu Dorfschützern gemacht.Auf der Basis staatlicher Gesetze mussten sich die Vorsteher derDörfer verpflichten, mindestens zehn Bewohner als Dorfschützerauszuweisen. Im Gegenzug erhielten sie Geld für jeden, derzustimmte. Die Chefs der Dorfschützer regierten wie Könige überihr eng begrenztes Reich, verlangten Wegezölle, überfielen undverbrannten Dörfer, vergewaltigten Frauen und ermordeten miss-liebige Menschen. Nur in Ausnahmefällen kam es zu gerichtlichenVerurteilungen, häufiger zu Beförderungen.Die Zahl der Dorfschützer stieg Jahr für Jahr an. 1994 sollen sich

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die Ausgaben für Waffen und den Sold der 56 000 Dorfschützerauf 200 Trillionen Lira summiert haben.1996 waren es schon 65 000 Dorfschützer, laut Aussage vonStaatsminister Prof. Dr. Salih Yildirim gab es im April 199895 000 Dorfschützer, von denen 62 000 »als solche eingestellt«und 33 000 informell tätig waren.

DEUTSCHES WIEDERSEHEN INTÜRKISCH-KURDISTAN

»Geliefert haben die Westdeutschen –gute Zusammenarbeit.«Vahit Çakar, Guerillakämpfer

Täglich passieren Militärfahrzeuge das Dorf, manchmal ratternPanzer die Straße hinauf. Tîyaks liegt in einem Tal, das nachIslamköy führt. Dort endet die Straße, nur noch schmale Pfadeführen von hier aus ins unwegsame Hochgebirge mit den Dreitau-sendern. Wenn die Soldaten mit ihren Militärlastern zurück-kehren, bringen sie die Körper getöteter Kämpfer mit. »In diesenTagen müssen wir viele Leichen sehen«, sagt Hayrettins Schwes-ter Hayriye.

»Ihr müsst Dorfschützer werden!« brüllt einer der Soldaten,die sich auf dem Dorfplatz eingefunden haben. »Wenn ihr nichtzustimmt, gehört ihr automatisch zur PKK. Werdet Dorfschützer,noch habt ihr die Wahl. Wenn ihr unser Angebot nicht akzeptiert,unterstützt ihr die Terroristen. Dann werden eure Häuser abge-brannt.«

Hayriye ist entsetzt. Sie sieht sich vor die gleiche Frage gestelltwie zuvor viele ihrer Bekannten und Verwandten: Sollen sie inihrem Heimatdorf bleiben und ihr Leben riskieren oder Tîyaks inRichtung Diyarbakir verlassen? Hayriye und ihr Mann Hikmet

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entschließen sich zu bleiben. Warum sollen sie gehen? Sie habenschließlich nichts Böses getan.

Am frühen Morgen sind sie da. Rund ums Dorf haben sich so vie-le Regierungssoldaten versammelt, dass Hayriye sie nicht zählenkann. Zusammen mit Hikmet, ihrem ältesten Sohn Abdi und ihrerältesten Tochter Gülizer holt sie die acht anderen Kinder aus demBett, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.

Die Tür wird aufgebrochen, Soldaten packen sie an den Ar-men und stoßen sie mit den Schulterstützen ihrer Gewehre insFreie. Aus einem Kanister schüttet der Kommandeur reichlichBenzin gegen das Mauerwerk, die Holzbalken sowie in die offen-stehende Haustür.

»Warum macht ihr das? Ich möchte meine Wertsachen holenund die Bilder und die Teppiche und unsere Betten! Lasst michrein!« bittet Hayrettins Schwester. Aber vergeblich. Gewaltsamwird die Familie weggezerrt. Sie sehen noch, wie Soldaten ihrHaus beschießen, das innerhalb von Minuten ein Raub der Flam-men wird.

»Warum lasst ihr mich nichts mitnehmen? Warum verbrenntihr alles?« schreit Hayriye, aber keiner der Sicherheitskräftekümmert sich um sie oder die zehn weinenden Kinder.

Ein- bis zweimal die Woche kommt Haci Turgut aus Özbek insnahe gelegene Tîyaks, um seine Schafe und Kühe zu verkaufen.Am liebsten würde er Özbek mit seinen rund zweihundert Häusernganz verlassen. Dort sind mehr als siebzig Dorfschützer aktiv, dieihm und den anderen Familien das Leben schwer machen.

Vor zwei Jahren, im Herbst 1990, hat einer von ihnen seineSchwester Riskiye auf offener Straße erschossen. »Halit Sekerist unser Nachbar. Nach einem Streit hat der Dorfschützer sein G3-Gewehr genommen und zweimal auf sie geschossen«, erinnert sichTurgut traurig. Seitdem hasst er seinen Nachbarn, aber machen

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kann er nichts. Dorfschützer werden nicht belangt, selbst wenn sieihre Gewehre gegen unschuldige Zivilisten einsetzen.

Als Haci Turgut im Spätsommer 1992 nach Tîyaks kam, wardie Welt noch in Ordnung. Auch wenn Panzer an der Straßestanden und überall Dorfschützer mit G3 und Kalaschnikowsgewacht haben. Vor allem deren Gruppenführer verfügen überG3, weil das Gewehr als treffsichere Waffe gilt. Schon damalsaber berichteten Dorfbewohner von den ÖZEL TIM, wegen ihresgrausamen Vorgehens gefürchtete türkische Spezialeinheiten.

Jetzt, im Herbst 1992, ist Turgut in Diyarbakir, wo ihn Freundebesuchen und von Tîyaks erzählen. Ein Teil des Dorfes sei überNacht abgebrannt worden, vier Bewohner seien umgekommen:Ibrahim Kanik, Niyazi Tanrikulu, einer aus der Familie Aziz undein ihm unbekannter Mann.

Überall seien Soldaten und Jandarmas stationiert, die mit ihrenG3-Gewehren und darauf befestigten Bajonetten drohen. Nichtsist geblieben von der zumeist schönen Stimmung des Sommers.Statt dessen überall Menschen, die ihr Hab und Gut auf Karrenoder kleine Lastwagen laden und nach Diyarbakir aufbrechen.

Die Nachricht passt zu den Ereignissen der letzten Zeit, die ausder Region nördlich von Kulp berichtet werden. Denn die um-liegenden Dörfer von Tîyaks sind längst weitgehend abgefackeltworden.

»Ich weiß, dass das G3 in Deutschland entwickelt worden ist.Nahezu jeder Soldat und viele der Dorfschützer verfügen überG3-Gewehre«, meint der Mann mit dem schmalen Schnauzbart.»Außerdem benutzen die türkischen Soldaten deutsche Militär-fahrzeuge und Panzer. Die deutschen Waffen sind sehr kriegs-tauglich im kurdischen Bergland und leider äußerst erfolgreichim Kampf«, urteilt Haci Turgut. »Seit ihrer Waffenhilfe gibt eskeinen Unterschied mehr zwischen der deutschen und der türki-schen Regierung. Dabei habe ich gedacht, die Deutschen seienunsere Freunde.«

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Hayrettin ist ein ruhiger und sanfter Mensch, der gerne lacht undlebt und Gewalt verabscheut. Die zahllosen Repressionen des tür-kischen Staats, das Morden und die Zerstörungsaktionen in seinerHeimat lassen ihn reagieren. Nicht defensiv, nicht zurückhaltend,nicht verschüchtert, sondern mit dem festen Willen, die Gesell-schaft mit friedlichen Mitteln zu verändern. Aus diesem Grundwird er 1992 Mitglied der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen. Ihmist klar, dass er damit – mehr noch als bisher – das Interesse dertürkischen Sicherheitsorgane auf sich ziehen wird.

Durch seinen jahrelangen Kriegseinsatz kennt Vahit Çakar dieBerge wie seine Westentasche. »Ich kämpfe überall, bis in dieGegend des Van-Sees. Natürlich auch in den Bergen bei Tîyaks.Ich muss meine Heimat gegen die Besatzertruppen verteidigen«,sagt der kleingewachsene, erschreckend hagere PKK-Kämpfer.

Çakar ist der lebende Beweis dafür, wie bleihaltig die Luft imGebirge nördlich und östlich von Hayrettins Geburtsort ist. »Nurein Streifschuss«, sagt der Guerillakämpfer und zeigt seine langeNarbe am Oberarm, als seien Kriegsverletzungen und eiterndeWunden das normalste der Welt. Dabei hat er noch Glück gehabt.

»G3 und M16 sind die widerlichsten Waffen. Wenn du getrof-fen bist, schneiden dir die Ärzte das zerfranste Fleisch heraus.Damit alles gut verheilt.« In all den Jahren ist ihm das Heck-ler&Koch-Gewehr viel zu oft begegnet – jedesmal, wenn sie aufStreitkräfte der türkischen Armee gestoßen sind. »Reguläre Ein-heiten der Regierungstruppen haben immer das G3, das ist ihreStandardwaffe. Jeder von uns, der bedroht worden ist, hat in denLauf eines G3 geschaut. Der Tod ist unser Wegbegleiter. Wer einJahr im Krieg erlebt, der altert fünf Jahre.« Sein Gesicht ist vomrauhen Klima und den Kämpfen gezeichnet, faltenreich und aus-gemergelt, die Haut fleckig. Sein Alter ist schwer zu schätzen, erkann Ende Vierzig oder auch Mitte Fünfzig sein.

»Das G3 der Regierung ist ein äußerst wirkungsvolles Schnell-feuergewehr, das Magazin kannst du mit einem Durchdrücken

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leerjagen. Das Gewehr ist wesentlich treffgenauer als unsereKalaschnikows, und wenn es eine gute Qualität hat, dann ist dieLadehemmung gering.« Trotzdem will Vahit Çakar kein G3 mitsich tragen. »Besser du verkaufst es weiter, für viele Araber istdiese Waffe ein Statussymbol, für dein G3 zahlen sie bis zu fünf-hundert Dollar. Das Problem ist das Gewicht, du kannst die Knar-re nicht wochenlang mit dir herumschleppen.«

Es gibt noch eine weitere Waffe, der Vahit Çakar nur ungerngegenübersteht: »An strategischen Punkten setzt die türkischeArmee auch Maschinengewehre ein. Das MG3 hörst du schonauf weite Entfernung. Durch die größere Treibladung ist dasGeräusch lauter und schriller, wenn sie den ganzen Munitionsgurtdurchjagen, die Reichweite ist größer. Aber das MG3 ist irreschwer, ungeeignet für den Kampf in den Bergen, aber tödlich beifesten Stellungen oder auf Militärfahrzeugen.«

Das Maschinengewehr MG3 –Einsatz an strategisch wichtigen PunktenDie Vorläufer des heutigen MG3 gehen auf das Standardmaschi-nengewehr MG34 der deutschen Wehrmacht zurück. Mit demNato-Beitritt der Bundesrepublik wurde die Waffe auf das Nato-Kaliber 7.62 mm x 51 modifiziert und 1959 von der DüsseldorferRheinmetall produziert. Die Bundeswehr führte das MG3 (1968)in der Truppe ein. Zur Effizienzsteigerung entwickelte Heckler &Koch eine MG3-Gürteltrommel für die Bundeswehr.MG3-Lizenzen wurden an Griechenland, Iran, Italien, Pakistan,Spanien und 1967 an die Türkei vergeben. Offiziell eingesetztwerden die Maschinengewehre neben der Bundeswehr bei denStreitkräften von Chile, Dänemark, Griechenland, Iran, Italien,Norwegen, Österreich, Pakistan, Portugal, Spanien, Sudan undder Türkei. Der türkische Lizenznehmer MKE produziert die MG3bis heute, auch für den Export. Über Direktexporte und Lieferun-gen der Lizenznehmer sind MG3 in die Hände menschenrechtsver-letzender und krieg- bzw. bürgerkriegführender Regime gelangt.

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Die in der Türkei gefertigten MG3 sind baugleich mit denen derBundeswehr. Über eine Reichweite von maximal 4000 Meternkönnen rund 1150 Schuss pro Minute abgefeuert werden. Wegendes hohen Gewichts von 11,5 Kilogramm (ohne Munition) mon-tierten die türkischen Streitkräfte die Maschinengewehre auf Mili-tärfahrzeuge oder nutzten die Waffe im Bürgerkrieg, auf Bipods(Zweibein) stehend, an strategisch wichtigen Fixpunkten. Wieder-holt bezeugten kurdische Dorfbewohner den Einsatz des MG3 beider Zerstörung ihrer Häuser durch türkische Sicherheitskräfte.

Eine brauchbare Alternative sieht Çakar in einer anderen türki-schen Lizenzfertigung einer Heckler&Koch-Waffe. »Vor allemunsere Kommandeure benutzen die MP5. Nicht als Statussymbolwie die wohlhabenden Araber, die sich die Maschinenpistolesogar verzieren lassen«, sagt er verächtlich.

»Die MP5 ist leicht, keine Maschinenpistole für die normalenKämpfer. Unsere Führer müssen viel laufen, und wer viel läuft,hat das Vorrecht auf eine leichte Waffe. Das ist wie mit den Schu-hen. Mit Turnschuhen kannst du dreißig Kilometer besser bewäl-tigen als in Stiefeln, die sich mit Wasser vollsaugen. In denBergen haben wir zu wenig zu essen, viele von uns leiden anVitaminmangel, da ist so eine schwere Waffe hinderlich. Wennwir einen Nachzügler haben, trägt er ein G3. Das G3 ist danngeeignet, wenn du eine Stellung verteidigen musst.«

Ganz oben in Çakars Beliebtheitsskala rangiert ein ganz an-derer Waffentyp: die Kalaschnikow aus Russland und der DDR.»Gute Wertarbeit, viel besser als die AK-47 aus anderen Staa-ten des Warschauer Pakts oder aus Jugoslawien. Diese habeneine deutlich geringere Treffgenauigkeit. Ich kämpfe mit einerKalaschnikow aus Suhl in der DDR«, erklärt der kurdischeKämpfer.

»Meine AK habe ich einem Dorfschützer abgenommen. DieDorfschützer besitzen häufig DDR-Kalaschnikows, die sind wahn-sinnig beliebt.« Die Legierung seiner Kalaschnikow ist dunkel,der Plastikschaft wegklappbar. »Hochwertiges Material, optimal

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geeignet für die widrigsten Verhältnisse«, lobt der Mann mit deneingefallenen Gesichtszügen und lacht zum ersten Mal.

»Diese Kalaschnikow kannst du gegen die Wand schlagen, dieschießt immer noch. Wir sagen ›Traktor‹ zu ihr. Die Nummerhaben die Türken herausgefeilt, damit man nicht herausfindet,dass sie die ostdeutschen Waffen gegen uns einsetzen. Gelieferthaben die Westdeutschen – gute Zusammenarbeit«, spottet er.

NVA-Kalaschnikows für die Militärs des Nato-Partners TürkeiUnter großer Geheimhaltung wurden zu DDR-Zeiten u.a. im thü-ringischen Suhl Kalaschnikows in Lizenz gefertigt und danach alsStandardwaffe bei der Nationalen Volksarmee (NVA) eingeführt.Gegen hohe Lizenzgebühren produzierten die Suhler seit den fünf-ziger Jahren Einzelteile für rund drei Millionen Kalaschnikows,deren Montage in Wiesa im Erzgebirge erfolgte.Mit der deutsch-deutschen Vereinigung gingen die AK der NVA indie Bestände von Truppenteilen des Bundeswehrkommandos Ostüber. Intensive Schussreihen des Bundesamts für Wehrtechnik undBeschaffung ergaben hervorragende Testergebnisse.Durch die Auflösung des Warschauer Pakts und die Verringerungder Bundeswehrstärke von 495 000 auf 370 000 Mann wurden dieostdeutschen AK-47 (wie auch die Nachfolgegeneration AK-74)zu Überschusswaffen. In der Folge verschenkte die christlich-liberale Regierung unter Helmut Kohl 303 934 DDR-Kalasch-nikows sowie mehrere Millionen Schuss Munition an den Nato-Partner Türkei. Diese wurden im Bürgerkrieg gegen die Kurdeneingesetzt. Hilfsorganisationen berichteten zudem, die an dieTürkei verschenkten NVA-Kalaschnikows seien im Irak aufge-taucht.

Erstaunlich freimütig spricht Vahit Çakar über die Herkunft derWaffen der PKK: »Es gibt viele Quellen. Manche Gewehreerbeuten wir bei Kampfhandlungen, außerdem steigen immerwieder Dorfschützer aus und übergeben uns ihre Waffen. Viele

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haben wir auch auf dem Schwarzmarkt gekauft. Zweihundert-fünfzig Dollar ist der Preis, für einen Stammesangehörigen hun-dert Dollar. In Hinterzimmern gibt es hier alles. Zehn Handgrana-ten kosten ein, zwei, drei Dollar – je nach der Menge, die dukaufst. Der Waffenhandel ist für viele unserer Stammesführer eineinträgliches Geschäft.«

Was der heimische Markt nicht hergibt, wird im Libanongekauft. »Dort bekommst du, was du willst.« Wieder grinst erbreit. »Soviel ich weiß, produziert Colt Industries in den USAsogar neue Gewehre extra für den Schwarzmarkt. Auch nagel-neue Brownings können von Regimen wie dem im Iran oder imIrak zum halben Preis gekauft werden. Das dient der Destabilisie-rung und nutzt damit den USA.«

»Außerdem ist der Schwarzmarkt in Hawler«, gemeint ist Arbilim irakischen Teil Kurdistans, »sehr ergiebig. Manchmal verkau-fen uns Regierungssoldaten ihre G3-Gewehre. Wenn ein TürkeGeld verdienen will, spielen ideologische Grenzen keine Rolle.Hinterher erschießen sie meine Freunde mit einer neuen Waffe.«

Von einer Sekunde zur anderen verfinstert sich Vahit ÇakarsMiene. »Die Regierung kennt keine Skrupel. Ich habe schon soviele Menschen sterben sehen. Sie sind rücksichtslos. Sie tötennach Belieben, nur um abzuschrecken. Türkische Soldaten sindkeine Menschen: Sie foltern, sie morden, sie verstümmeln dieLeichen.« Aus Çakar spricht kein Hass, aber eine tiefe Traurig-keit. Seine Augen gleichen dunklen Höhlen, in die man schwerhineinsehen kann.

»Wenn ihnen das nicht reicht, nehmen sie Dumdum-Ge-schosse. Illegal hergestellt, manchmal direkt vom Werk, manch-mal von den Soldaten«, erklärt der PKK-Krieger. »Bei Dumdum-Patronen wird die Spitze mit einem scharfen Messer ausgezackt.Statt dem üblichen kreisrunden Drall erhält das Geschoss gleich-zeitig eine Art Gegendrall. Die Kugel dreht sich in Ellipsenform,dadurch kommen schreckliche Austrittsöffnungen zustande. Ichhabe Verletzte gesehen, die ich nicht beschreiben möchte. DeineÜberlebenschance ist gering.«

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Das Kürzel der Herstellerfirma ist normalerweise auf den Ge-schossen aufgedruckt. »Üblicherweise steht da MKE«, sagt derPKK-Mann. Das Staatsunternehmen Makina ve Kimya Endü-strisi Kurumu ist Lizenznehmer und damit Massenproduzent fastaller türkischen G3-Gewehre.

»Aber nicht bei den Dumdum-Geschossen, da lassen sie denHinweis weg, weil diese Methode völkerrechtlich geächtet ist«,sagt Çakar. »Aber die Türken denken sich wohl, das ist keinKampf gegen einen anderen Staat, sondern nur ein Bürgerkrieggegen uns Kurden.«

MKE –Deutsche Handfeuerwaffen für türkische Sicherheitskräfte»Die Spuren der Mechanical and Chemical Industries Corporationreichen ins 15. Jahrhundert zurück«, verkündet der Werbepros-pekt. Stolz wird darauf verwiesen, dass das heutige UnternehmenMakina ve Kimya Endüstrisi Kurumu (MKE) unter verschiedenenNamen traditionell eng mit den türkischen Streitkräften zusam-menarbeitet. Sitz des Unternehmens ist Ankara.Seit 1950 verstaatlicht, stellt MKE in zwölf modernen FabrikenProdukte »für lokale Bedürfnisse und ausländische Anforderun-gen« her: Munition, Waffen, Raketensysteme sowie Explosivstoffeund Treibstoffe.In Lizenz werden bei MKE auch deutsche Handfeuerwaffen wieG3-Schnellfeuergewehre, vornehmlich für die türkische Armee,und MP5-Maschinenpistolen für die türkische Polizei und Son-dereinheiten gefertigt. Als Standardausrüstung der staatlichenSicherheitskräfte wurden und werden diese Waffen in Türkisch-Kurdistan gegen Einheiten der PKK sowie gegen Zivilisten ein-gesetzt.Mit dem Ziel der Ausweitung der Waffenexporte wirbt MKE aufRüstungsmessen in aller Welt für ihre Kriegswaffen.

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Hayriyes Sohn Ali fasst einen folgenschweren Entschluss undschließt sich der PKK an. Ein Fehler, wie sich schnell zeigt, dennbei einem Militäreinsatz wird er gefasst und in Diyarbakir insGefängnis gesperrt. Dort und später in Elazig verbüßt er seinevierjährige Haftstrafe.

IN SCHUTT UND ASCHE

»Das ist abgebrannt bis auf die Grundmauern.«Fehmi Altun

Seit dreizehn Jahren arbeitet Ihsan Ayyildiz als Lastwagenfahrerund bringt Ladungen in den Iran, den Irak oder nach Syrien. Voreinem Jahr, 1991, hatte er endlich so viel Geld beisammen,dass er sich seinen ersten Bus leisten konnte, mit dem er jetzttäglich die Strecke Diyarbakir – Kulp – Tîyaks hin und zurückfährt.

Ihsan Ayyildiz hat nicht oft das Vergnügen, Hayrettin, seinenentfernten Verwandten, durch die Gegend zu kutschieren. »Hay-rettin wird häufig schlecht, wenn er mit dem Bus fahren muss.Aber seitdem er bei dem Unfall dabei gewesen ist, macht er einengroßen Bogen um mich.«

Mittlerweile kann Ihsan darüber lachen, wie er eines Tagesrückwärts von einer Rampe gefahren ist, so dass der Bus umstürz-te. Der Fahrer kann dem Unglück inzwischen sogar noch etwasabgewinnen. »Normalerweise hält Hayrettin so hochgestocheneReden, an dem Tag aber ist er kreidebleich und ganz still gewe-sen«, grinst Ihsan.

Doch der kleine Unfall ist harmlos im Vergleich zu dem, wasihm als Busfahrer alles widerfährt. Weil er immer wieder Lebens-mittel, Schuhe, Kleidung oder Batterien nach Tîyaks bringt, ist erhochgradig gefährdet. Im letzten Jahr haben ihn Sicherheitskräfte

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erstmals unter dem Vorwurf inhaftiert, dass er die PKK unter-stützt habe. Seither steht er auf der Observationsliste der Soldatenganz oben.

Das G3 hat Ihsan beim Militärdienst vor zwölf Jahren kennen-gelernt. »In den achtzehn Monaten meines Wehrdienstes wurdendie alten G3 gegen neue ausgetauscht. Diese sind leichter hand-habbar und vor allem wesentlich treffgenauer als die alten.«Unvergessen sind die Drohungen seiner türkischen Vorgesetzten:»Wenn du dein Gewehr verlierst, bist du verloren!« Zu eineinhalbJahren Haft sollen diejenigen verurteilt worden sein, denen dasSchnellfeuergewehr abhanden gekommen ist.

Im Herbst 1992 lernt er die Waffe von der anderen Seite ken-nen: Als Hunderte von Soldaten in der morgendlichen Dunkelheitin Tîyaks eindringen, fordern sie seine Familie auf, die beidenHäuser zu verlassen.

»Ihr habt eine Woche Zeit!« teilt ein Offizier seinem Vater mit,den G3-Karabiner im Anschlag. »Dann muss alles leergeräumtsein.« Ihsan verfolgt das Gespräch aus einem Versteck, da erfürchtet, erneut eingesperrt zu werden.

Nach einer langen Diskussion entschließen sich seine Eltern,ein Haus zu räumen und die Möbel in das andere zu bringen. Siebeten zu Allah, dass ihnen nicht alles genommen wird. Wo sollensie auch hingehen? In Diyarbakir kennen sie niemanden.

In der siebten Nacht flüchtet Ihsan in die nahe gelegenen Berge,von wo aus er das Geschehen in sicherer Entfernung beobachtenkann. Am Nachmittag weiß er, dass sie vergebens gehofft ha-ben: Beide Häuser brennen, die Rauchfahnen sind kilometerweitsichtbar. Vergeblich haben seine Eltern die Soldaten angefleht,wenigstens das zweite Haus zu verschonen.

Das Schicksal der Familie Ayyildiz ist eines von vielen. Hausfür Haus wird in diesem Herbst ein Raub der Flammen.

Ihsan gibt nicht auf. Er zählt zu den Vermögenden im Dorf,investiert sein Geld aber nicht in Häuser, sondern kauft sich inIstanbul einen neuen Mercedes-Bus. Doch im Frühjahr 1993 zer-platzt auch diese Hoffnung wie eine Seifenblase: »Mit einem

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deutschen Radpanzer haben sie meinen Bus zusammengefahren.Sie machen alles kaputt, was wir Kurden besitzen«, resigniert derDreiunddreißigjährige.

Deutsche Waffenhilfe für den VölkermordAm 6. September 1992 wurde der Kurde Mesat Dündar nahe derStadt Sirnak von einem ostdeutschen Radpanzer vom Typ BTR-60zu Tode geschleift. Der Fall wurde nur deshalb internationalbekannt, weil den Medien eine Fotoserie des Vorfalls zugespieltwurde. Die BTR-60 aus den Beständen der DDR waren vonDeutschland im Rahmen der Nato-Ausrüstungshilfe an die Türkeigeliefert worden. Gemäß Artikel 6 des Nato-Vertrags hätten dieseWaffen nur zu Nato-Zwecken verwendet werden dürfen, der FallMesat Dündar bewies das Gegenteil.Dennoch hob der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundes-tags das Rüstungsexportverbot gegen die Türkei am 23. Septem-ber 1992 wieder auf, das nach dem Beschuss von fünf kurdischenStädten im Frühjahr 1992 verhängt worden war. Nunmehr durf-ten 46 RF-4E-Phantom-Flugzeuge aus Bundeswehrbeständen andie Türkei geliefert werden, nachdem diese vor dem Export für50,4 Millionen DM bei dem Daimler-Benz-TochterunternehmenDasa in Manching instandgesetzt worden waren.Der Jurist Holger Rothbauer kritisierte im Namen des Dachver-bands der Kritischen Aktionäre Daimler-Benz, des RüstungsInfor-mationsBüros RIB und der Kampagne »Produzieren für das Leben– Rüstungsexporte stoppen« die Waffenlieferungen an die Türkei.Rothbauer warf den verantwortlichen Politikern und Rüstungsma-nagern vor, sie würden »Waffen exportieren – Profite maximieren– Menschenrechte demontieren – Flüchtlinge kreieren – Grenzenzementieren«.

Durch seine berufliche Tätigkeit ist Ihsan weit herumgekommen.Das G3 hat er täglich an Kontrollstationen der Jandarmas getrof-

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fen, die seinen Bus durchsuchten und das Gewehr dabei schuss-bereit in der Hand gehalten haben. Doch solche Schikanen sindnichts im Vergleich zu dem, was er bei der Zerstörung von Kulperlebt hat, als Regierungssoldaten fliehende Zivilisten erschos-sen. Oder die Fahrt nach Diyarbakir, als türkische Militärs einenAutofahrer »zum Spaß« abgeknallt haben. Die Aufzählung ließesich beliebig fortsetzen. »Ich habe mehr als zweihundert Er-schießungen gesehen«, sagt Ihsan. »Immer haben sie G3 einge-setzt.«

Nachdem er zum vierten Mal inhaftiert worden ist, wiederumwegen des Vorwurfs, die politischen Ziele der PKK unterstützt zuhaben, drohen die Soldaten mit seiner Ermordung. Ihsan Ayyildizflieht daraufhin 1994 mit seiner Familie nach Deutschland – indas Land, aus dem das Know-how für die Waffen kommt, dieseine Heimat zerstört haben.

»Warum nur haben sich die Deutschen in den Bürgerkrieg ein-gemischt und Waffen geschickt? Hier in Deutschland sind sie alleso demokratisch, aber im Ausland machen deutsche Politikeralles für Geld«, wirft er den Verantwortlichen vor. »Ich glaube,die deutsche Bevölkerung hat keine Ahnung von der Außen-politik ihrer eigenen Regierung.«

Im August 1992 wird Hayrettin wieder einmal versetzt, diesmalnach Dikilitas, einem Dörfchen in der Region Mersin westlich derMittelmeerstadt Adana. Hayrettin und Raziye müssen mit ihrenvier Kindern im Alter von sechs bis vierzehn Jahren erneutumziehen, die Abordnung ist reine Schikane.

In der Dorfschule betreut er zweiunddreißig Schüler. Mit denmeisten Menschen in Dikilitas kommt Hayrettin bestens aus, derBürgermeister allerdings verbreitet seiner Ansicht nach »nationa-listisches und faschistisches Gedankentum«.

In Dikilitas erfährt Hayrettin Nachrichten aus der Heimat, dieso schrecklich sind, dass er erst nicht glauben will, was ihm seinBruder Fehmi telefonisch mitteilt: »Soldaten haben ganz viele

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der Häuser in Tîyaks Schutt und Asche gelegt, Hunderte vonMenschen sind geflüchtet.«

»Was ist mit unserem Elternhaus?« fragt Hayrettin.»Das ist abgebrannt, bis auf die Grundmauern«, bestätigt Feh-

mi die schlimmsten Befürchtungen. Die türkischen Sicherheits-kräfte haben ganze Arbeit geleistet. »Das Dach ist eingestürzt.Alles haben sie zusammengeschossen.«

»Und was macht ihr? Wollt ihr zu mir nach Mersin kommen?«bietet Hayrettin seinem Bruder an. »Mersin? Was sollen wir inMersin, mehr als fünfhundert Kilometer weg von Tîyaks?« fragtFehmi verbittert.

»Hier wirst du immerhin nicht umgebracht«, antwortet Hay-rettin.

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Hayrettin alsLehrer in Dikilitas.(April 1993)

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Völkermordanzeige gegen deutsche staatliche StellenAm 14. Januar 1993 stellten Rainer Ahues (RepublikanischerAnwältInnen-Verein), Angelika Beer (Bundesvorstand Die Grü-nen), Hans Branscheidt (medico international), Jürgen Grässlin(RüstungsInformationsBüro RIB), Ulla Jelpke (PDS), HolgerRothbauer (Dachverband Kritischer Aktionäre Daimler-Benz),Christine Urban (BUKO), mehrere kritische Rechtsanwaltsver-einigungen (Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V., Ini-tiative Bremer StrafverteidigerInnen, Strafverteidigervereinigun-gen-Organisationsbüro) sowie das Kurdistan-Komitee in der BRDe.V. u.a. Strafanzeige.Für medico international wies Hans Branscheidt darauf hin, dasses einen »ungewöhnlichen Grund« geben müsse, »wenn eine denMenschenrechten verpflichtete medizinische HilfsorganisationStrafanzeige wegen Beihilfe zum Völkermord gegen die Regierungdes eigenen Landes« stelle. Als einen der Gründe führte Bran-scheidt an, dass »medizinische Hilfe immer schwieriger und ten-denziell sinnloser werde, wenn immer neue Opfer, Verwundete undVerletzte in staatlicher Systematik stets aufs neue produziert«werden.Ziel der Strafanzeige war die »Einleitung eines Ermittlungs-verfahrens gegen bundesdeutsche staatliche Stellen und Verant-wortliche, insbesondere im Wirtschafts-, Außen- und Verteidi-gungsministerium, Rüstungsbetriebe und Einzelpersonen wegender Unterstützung des Völkermordes und Aggressionskrieges dertürkischen Regierung an dem kurdischen Volk«.Die Anzeige basierte auf der 1948 verabschiedeten »Konventionzur Verhütung und Bestrafung des Völkermords«. Demnach »be-deutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in derAbsicht begangen sind, eine nationale, rassische oder religiöseGruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem

Schaden an Mitgliedern der Gruppe;c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die

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Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganzoder teilweise herbeizuführen; …«

Die Generalbundesanwaltschaft lehnte die Einleitung eines Er-mittlungsverfahren allerdings ab, da es aus ihrer Sicht keinerleiAnzeichen dafür gab, dass die Angezeigten vorsätzlich und rechts-widrig gehandelt hätten. Der für die Aufnahme eines Ermittlungs-verfahrens notwendige Anfangsverdacht war aus Sicht des Gene-ralbundesanwalts nicht gegeben.Trotzdem war aus Sicht der Antragsteller zweierlei positiv: Zumeinen war es gelungen, in der Anti-Rüstungsexport- und in derMenschenrechtsarbeit eine ansehnliche Zahl von Nichtregierungs-organisationen zusammenzubringen, zum anderen hat die Bericht-erstattung über die Strafanzeige eine beachtliche Öffentlichkeitfür das Thema hergestellt.

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13 Jahre der Jagd

HELFER DER GUERILLA

»Die Periode von 1992 bis 1994ist die dunkelste Zeit gewesen.«Hayrettin Altun

Militärfahrzeuge der Regierungsarmee erreichen Tîyaks, sie brin-gen die Leichen zweier PKK-Kämpfer mit.

»Sind das eure Söhne?« ruft einer der Soldaten den Dorfbe-wohnern zu. »Wir sind den beiden im Gebirge begegnet.«

Auch die Altuns schauen sich die Toten an. Voller Grauenwendet sich Hayrettins Schwägerin Hulika ab. In zwei Familienmacht sich helles Entsetzen breit. Einige der Angehörigen bre-chen in lautes Geschrei aus, andere schluchzen leise. Die Körperihrer Söhne Servet Çakir und Sabri Ayyildiz gleichen einem Sieb.Die Köpfe sind verstümmelt, die Ohren abgeschnitten, die Augenherausgebohrt. Eine Maßnahme, die die Regierungsarmee in die-sen Jahren noch häufiger zur Demoralisierung der Bevölkerungeinsetzen wird.

Was für die meisten Zivilisten in den Dörfern neu ist, kennt Beh-zat Kadir Koyun nur zu gut.

»Am späten Nachmittag sind sie gekommen«, berichtet derPKK-Kämpfer. Koyun trägt ein grauschwarzes, unauffälligesJackett. Er ist unruhig. »Der Angriff ist zugleich von regulärenTruppen, Dorfschützern und den Spezialeinheiten durchgeführtworden. Die haben alles – MP5-Maschinenpistolen, Kalaschni-kows, G3.«

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Gleich bei der ersten Angriffswelle explodierte die Raketeeines Kampfhubschraubers in nächster Nähe. Wenn der PKK-Kämpfer nicht reaktionsschnell hinter einem Stein in Deckunggegangen wäre, hätte er den Einsatz mit seinem Leben be-zahlt. Im gleichen Moment verspürte Koyun »einen furchtbarenSchmerz«. Beinahe stolz zeigt er die Prothese am rechten Bein.»Mein Bein haben sie nicht mehr retten können.« Beim Laufenkaschiert er sein Humpeln recht geschickt, Hose und Schuheverdecken die Gehhilfe.

»Je länger sich ein Krieg hinzieht, desto brutaler werden dieKämpfe. In den neunziger Jahren hat die Regierung die Gewalteskalieren lassen: Unsere weiblichen Kombattanten sind syste-matisch vergewaltigt, den Leichen sind die Brüste abgeschnittenworden. Außerdem kennt doch fast jeder die Fotos, wie Soldatentriumphierend die Köpfe kurdischer Kämpfer in die Höhe hal-ten.« Es fällt ihm nicht leicht, über das Kriegsgeschehen zuberichten.

»Das Ziel der türkischen Armee ist eindeutig die Entwürdi-

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Zu Tode Gefolterte am Straßenrand, bewacht von einem Soldaten mitG3.

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gung. Dadurch sollen unüberlegte Handlungen beim Gegner pro-voziert werden. Wer emotional handelt, hat im Krieg verloren,das sagt die Wissenschaft des Todes.« Aus seiner Sicht hat diePKK längst nicht so brutal agiert wie die türkische Armee. »Aufunserer Seite hat es nur in absoluten Ausnahmefällen Verstüm-melungen von Leichen gegeben.«

Hayrettin bestätigt, dass es solche Grausamkeiten gegeben hat.»Soldaten haben den Menschen in meiner Heimat die Kleiderkurdischer Guerillakämpferinnen gezeigt, die von ihnen verge-waltigt worden sind. Mir sind Fälle bekannt, wo sie FrauenGewehrläufe in die Vagina gestoßen haben. Viele der Frauen sindanschließend getötet worden. Manchmal haben sie den weibli-chen Leichen tatsächlich die Brüste abgeschnitten«, sagt er mitrauher Stimme.

Menschenrechtsverstöße – auch durch die PKKMit Angriffen auf türkische Militärkasernen im August 1984 hat-te der militärische Arm der PKK den Bürgerkrieg begonnen. PKK-Kämpfer und -Sympathisanten haben wiederholt behauptet, diePartîya Karkerên Kurdistan habe – im Gegensatz zu den türki-schen Sicherheitskräften – kaum Menschenrechtsverletzungenbegangen, sondern einen Krieg für die eigene Freiheit geführt.Amnesty international stellte rückblickend fest, dass sich im Bür-gerkrieg »beide Seiten Menschenrechtsverstöße schuldig gemachthaben«. In Einzelfällen gab es auch Verstümmelungen von Lei-chen durch die PKK. Die PKK hat durchaus auch Folterungen ver-übt und Abtrünnige hingerichtet. Türkische Soldaten berichtetenvon Exzessen, bei denen PKK-Kämpfer martialische Methodenanwandten.Wahr ist jedoch, dass die überwiegende Zahl schwerer Menschen-rechtsverletzungen von türkischen Sicherheitskräften begangenworden ist.

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Früh am Morgen, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, wirdHulikas Haus zum Ziel der Regierungssoldaten. Zwischen fünfund sechs Uhr zertrümmern sie die Haustür mit ihren Gewehr-kolben. Während die Soldaten jedes einzelne Zimmer durch-suchen, bringt Hulika die Kinder zur Großmutter. Ihr MannFehmi trägt einige Matratzen, Kleider und Nahrungsmittel nachdraußen.

Immerhin darf Fehmi jetzt ein letztes Mal in die Wohnungstürmen und zumindest den Kühlschrank heraustragen. Danachwerden alle ihre Bemühungen abgeblockt, weitere Gegenständeaus dem Haus zu retten.

»Ich will noch mehr Sachen mitnehmen!« schreit Hulika.Aber die Soldaten bedrohen sie mit ihren Gewehren, auf dieBajonette aufgepflanzt sind. Mit den Kolben der Gewehre wer-den sie auf den Hof gestoßen. Im gleichen Augenblick schießenandere Soldaten mit dem »Lava-Gewehr«, wie Hulika es nennt,und setzen das Haus aus ungebrannten Ziegeln und Holz inBrand. Das Gebäude flammt lichterloh auf – ein Anblick, denHulika niemals vergessen wird. »So etwas möchte ich nie wie-der sehen!«

Fehmi leiht sich einen Transporter im Dorf und belädt ihn mitdem wenigen Hab und Gut, das sie retten konnten. Anschließendfährt er Hulika und seine beiden Kindern erst nach Diyarbakirund dann Hunderte von Kilometern zu seinem Bruder Hayrettinnach Mersin.

»Wir haben eine Regierung des Terrors«, sagt Fehmi wütend.»Die Regierung hat viele Menschen getötet und schiebt die Mor-de der PKK unter. Erst haben sie unsere Häuser zerstört, danachhaben sie versprochen: Wenn ihr behauptet, die PKK habe dieZerstörungen durchgeführt, dann helfen wir euch.«

Ein Angebot, auf das keiner von ihnen eingegangen ist.

Hayriye und Hikmet bleiben mit ihren Kindern in Tîyaks. Dochihnen ist kein Glück beschieden: Am 23. April 1993 stirbt Hikmet

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überraschend an Herzversagen. Erst jetzt entschließt sich Hay-riye, mit den jüngeren Kindern nach Diyarbakir umzuziehen.

Zu allem Unglück steht Hayriyes Sohn Nurettin auf der Listeder türkischen Armee. Im September erhält er die unmissver-ständliche Botschaft: »Du fehlst uns als Dorfschützer.« Nurettinlässt keinen Zweifel an seiner Einstellung. Nein, Kurdenkontrol-leur will er nicht werden. Das war die falsche Antwort. Kurzer-hand wird er brutal zusammengeschlagen.

»Falls du überleben willst, überleg dir gut, was du uns dasnächste Mal antwortest. Wenn du dich wieder für den falschenWeg entscheidest, werden wir dich beseitigen«, drohen ihm dieRegierungssoldaten. Nurettin weiß, dass die Drohung ernst ge-meint ist. Er wäre nicht der erste, der seine Weigerung zurZusammenarbeit mit dem Leben bezahlt.

Von Selbstzweifeln geplagt, fragt sich Nurettin, ob die Tätig-keit als Dorfschützer nicht vielleicht das kleinere Übel ist. AlsHayriye in Diyarbakir von den Drohungen der Soldaten und demSchwanken ihres Sohnes hört, macht sie sich auf den Weg nachTîyaks.

»Nein! Nein! Sag nein! Du darfst keiner von ihnen werden!«Eindringlich redet sie auf ihn ein und versucht zugleich, ihm indieser schweren Stunde beizustehen.

Am Ende aber ist selbst seine Mutter machtlos. Als die Solda-ten erneut bei Nurettin auftauchen, hält er ihrem Druck nichtstand und willigt aus Furcht ein. Für Hayriye bricht eine Weltzusammen.

Das Jahr 1994 beginnt mit einer weiteren Tragödie. Am 28. Febru-ar wird Hayriyes Sohn Abdi in Diyarbakir mit einem gezieltenKopfschuss getötet. Die Familie findet den Körper des Vierund-dreißigjährigen mit einem Loch in der Schläfe in einer Blutlacheliegend.

»Abdis Tod hat mich viel zu sehr berührt. Ich bin nicht in derLage, frei über all die Geschehnisse zu sprechen«, sagt Hayrettin.

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Um überhaupt schlafen zu können, greift er in diesen Tagen zumersten Mal zum Alkohol. Hayriye kann den Tod ihres ältestenSohnes nie überwinden. Seit damals bricht sie jedesmal in Tränenaus, wenn sie im Fernsehen eine Frau weinen sieht, und Hayrettinweint mit ihr.

Im September muss Hayriye erneut nach Tîyaks reisen, dennsie hat erfahren, dass Nurettin auf der Fahrt von Tîyaks nachIslamköy erschossen worden ist. Er saß mit anderen Dorfschüt-zern auf einem Lastwagen, als ihn die Kugel eines Scharfschüt-zen aus großer Entfernung traf.

Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht aufgeklärt.Viele im Dorf schenken der offiziellen Version der Sicherheits-kräfte keinen Glauben, wonach der Mord auf das Konto der PKKgehen soll. Kurz bevor Nurettin erschossen wurde, hatten sichDorfschützer und Soldaten über ihn unterhalten. »Er arbeitetnicht voll für uns. Ich glaube, er sympathisiert mehr mit der PKKals mit der Regierung«, bezeugt einer der Dorfbewohner einGespräch, das er mit angehört hat.

Auch Hayrettin hat Zweifel: »In der Nähe befindet sich einHelikopterlandeplatz. Wären die Mörder wirklich Guerillakämp-fer gewesen, hätten sie auf keinen Fall entkommen können.«Hayriye ist sich sicher, wer für Nurettins Tod verantwortlich ist:»Die Regierung hat ihn erschossen. Erst haben Soldaten das Dorfabgebrannt, dann ist mein Mann an der Aufregung gestorben,danach haben sie meinen Sohn Abdi erschossen, und jetzt istNurettin von Dorfschützern ermordet worden«, klagt die amBoden zerstörte Hayriye. »Ich hasse die Soldaten.«

Dass sie Nurettin im Familiengrab in Tîyaks beerdigen, ist eherungewöhnlich. Denn obwohl in diesen Tagen viel gestorbenwird, wächst der Friedhof in Tîyaks kaum, die meisten Totenwerden in der Bezirkshauptstadt begraben.

»Die jungen Leute im arbeitsfähigen Alter sind längst nachDiyarbakir abgewandert. Wenn sie hierbleiben, müssen sie alsDorfschützer arbeiten – oder sie werden zu Helfern der Guerillaabgestempelt«, sagt Hayriye. »Dabei spielt es keine Rolle, ob sie

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der PKK geholfen haben oder nicht. Keiner bleibt verschont.Keiner ist sich seines Lebens sicher.«

So leben fast nur noch ältere Menschen und Kinder im Dorf.»Wer wird jemals hierher zurückkehren?« fragt sich Hayriye ver-zweifelt.

Als der alte Mann von Dorfschützern mit einem Gewehr erschla-gen wird, ist Tîyaks nur noch eine Ansammlung abgebrannterHäuser, Ställe und Felder. Der Mord an Halil Çan spricht sichdennoch herum in den Flüchtlingsfamilien, die zu Hunderten inDiyarbakir und anderen Städten auf bessere Zeiten warten undbegierig sind auf jede Nachricht aus der Heimat.

Wo einst zweitausend Dorfbewohner in Frieden gelebt, ihreFelder bearbeitet und ihre Früchte auf dem Markt verkauft haben,hausen heute noch fünfundsiebzig Frauen und Männer, fast alleim Greisenalter. Auch die warnenden Worte ihrer Angehörigenhaben sie nicht davon abbringen können, die Heimat zu verlas-sen. Viele von ihnen werden in den kommenden Jahren sterben,ohne dass irgend jemand bei ihnen ist. Für die türkische Armeestellen sie keine Gefahr dar, und so werden sie in den Ruinenihres Geisterdorfs weitgehend in Ruhe gelassen.

JAGDSZENEN AM MITTELMEER

»Raziye ist ein herzensguter Mensch gewesen,eine wunderbare Frau.«Hayrettin Altun

Hayrettins Kinder Rojhat, Jehat, Gülistan und Firat wachsen inMersin auf. Vier Kinder, deren Namen ihre Herkunft verraten.

An der sonnigen Mittelmeerküste der Türkei werden sie wie

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Parias behandelt. Obwohl hier eine Menge kurdischer Studentenvon kurdischen Lehrkräften unterrichtet werden, fühlen sich dieAltuns von den Einheimischen geächtet – »vor allem wegender kurdischen Sprache und der Namen meiner Kinder«, erklärtHayrettin.

Das Kurdische (2) – Eine unterdrückte Sprache und KulturIm Gesetz Nr. 2932 war 1982 das Verbot der kurdischen Spracheim Mündlichen und Schriftlichen festgelegt worden. Damit unter-sagte die Türkei als einziger Staat der Welt die Sprache einesanderen Volkes. Formal wurde dieses Verbot 1991 aufgehoben, inder Praxis jedoch weiterhin aufrechterhalten. Kurden wurdeninhaftiert, wenn sie als Busfahrer oder Teehausbesitzer kurdi-sche Musikkassetten spielten oder bei Festen kurdische Musikhörten.Mit ihrem Geheimdekret vom 18. Juni 1993 untersagte die Abtei-lung »Beziehungen zur Gesellschaft« des Nationalen Sicherheits-rats das Zeigen der Farbenkombination Rot-Gelb-Grün, die an diekurdische Flagge erinnert. Im Parlament wurde sogar über denAntrag eines Abgeordneten debattiert, die in »kurdischen Farben«gehaltene Bepflanzung im Parlamentsgarten zu entfernen. In ver-schiedenen Städten mit überwiegend kurdischer Bevölkerung, z.B.in Batman, wurden die grünen Leuchtsignale der Verkehrsampelndurch blaue ersetzt. Welat (»Heimatland«), die letzte kulturelleWochenzeitung in kurdischer Sprache, wurde nach einer Prozess-lawine 1993 verboten.Als Folge dieser jahrzehntelangen Sprachunterdrückung könnenheute nicht mehr alle kurdischen Kinder ihre Muttersprache spre-chen und unterhalten sich häufig in Türkisch.

Auch Fehmi und Hulika, die mit ihren beiden Kindern aus Tîyaksgeflohen und zu Hayrettins Familie gezogen sind, leiden unter derangespannten Lage. Nicht nur, weil die gemeinsame Wohnungviel zu klein und wenig ansprechend ist. Wie viele andere emi-

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grierte Kurden spüren sie die Repressionsmaßnahmen der Poli-zei, fühlt sich Fehmi verfolgt. Hayrettins Bruder empfindet denDruck in der Diaspora in Mersin sogar noch höher als in Diyarba-kir. Viele Nächte liegen sie deshalb wach und finden keinenSchlaf, viele Tage verbringen sie voller Unruhe.

Mitte Juli 1994 wird die örtliche Polizei von Soldaten über denVerdacht unterrichtet, Hayrettin unterstütze den Kampf der PKK,zumindest indirekt. Beweise sollen beschafft werden.

Gegen zwei Uhr nachts reißt ein lauter Knall die Familienaus dem Schlaf. Raziye und Hayrettin benötigen einige Zeit, bissie erfassen, dass Sicherheitskräfte die Wohnungstür eingeschla-gen und direkt auf ihr Bett gekippt haben. Rund zwanzig, zumTeil maskierte Polizisten mit Kalaschnikows und M16-Gewehrendringen in das Zimmer ein. Einer der Polizisten stürzt sich aufden völlig verstörten Fehmi und verpasst ihm mehrere Faust-schläge.

»Du betreibst Propaganda für die Kurden!« wird Hayrettinbeschuldigt. »Außerdem hast du PKK-Mitglieder in deiner Woh-nung empfangen.«

»Aber ich bin Kurde!« hält Hayrettin dagegen, »das ist dochkeine Propaganda. Und wenn wirklich PKK-Mitglieder zu mirgekommen sein sollten, warum haben Sie sie dann nicht gleichfestgenommen?«

Die Polizisten fühlen sich provoziert.»Auf den Boden, die Hände auf den Rücken!« befiehlt einer

von ihnen.»Hurensohn, hast du nicht gehört?« schreit ein anderer, als

Hayrettin nicht schnell genug reagiert.Ihnen bleibt keine Wahl. Widerstandslos legen sie sich hin.

Einer der Polizisten macht sich einen Spaß daraus, mit seinenStiefeln auf Hayrettins Rücken herumzutrampeln. Mehrere Mas-kierte durchsuchen derweil den Wohnraum, reißen Schubladenheraus, werfen Kleidungsstücke in die Luft und schleudern Hay-rettins Schulunterlagen wahllos in der Gegend herum. Als sienichts finden, was ihren Verdacht untermauern könnte, treten sie

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mit ihren Absätzen wütend gegen die Tür und eines der Betten.Das Holz zersplittert. Dann verbinden sie Hayrettin und Fehmidie Augen, stoßen Raziye und Hulika zur Seite und nehmen diebeiden Männer mit.

»Wer ist der da?« will ein Polizist auf der Wache wissen.»Das ist mein Bruder«, erklärt Hayrettin wahrheitsgemäß, wo-

für er sich mehrere Schläge einhandelt. Die Beamten glaubenihm nicht und vermuten in Fehmi einen untergetauchten PKK-Kämpfer.

»Wir sollten ihn besser säubern!« meint einer der Polizisten,der eine Heckler-&-Koch-Maschinenpistole vom Typ MP5 trägt.Hayrettin erschrickt zutiefst, zumal sich die Sicherheitskräftelautstark über verschiedene Foltermethoden und die Ermordungder beiden unterhalten.

»Nimm sie mit und leg die zwei um«, sagt der diensthöchstePolizist abfällig zu einem Untergebenen. Der bringt die Brüderdann aber doch in eine Zelle, wo sie den Rest der Nacht ver-bringen.

Am nächsten Morgen werden sie freigelassen. Allerdings soll-te dieser Vorfall nicht der einzige bleiben, nächtliche Haus-stürmungen werden die Altuns noch häufiger ertragen müssen.

Die Polizeiaktion spricht sich herum, mit der Folge, dasssie die Wohnung schnellstmöglich verlassen müssen. Unter die-sen Umständen ist niemand bereit, an die Altuns zu vermie-ten. Erst zweieinhalb Monate später finden sie ein anderesHaus, allerdings nur deshalb, weil der neue Vermieter sie nichtkennt.

Knapp zwei Wochen nach der Polizeirazzia und der nächtlichenVerhaftung von Hayrettin und Fehmi ist Raziye noch immeräußerst verstört.

»Sie fürchtet sich, hat Angst. Seit Tagen ist sie völlig zerstreutund manchmal sogar apathisch«, sorgt sich Hayrettin um denGesundheitszustand seiner Frau.

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Am 27. Juli 1994, einem Mittwoch, wird Raziye von einemAuto überfahren und stirbt an den Folgen des Unfalls. Ihr Mannund die vier Kinder wollen nicht glauben, was passiert ist. Für dieFamilie bricht eine Welt zusammen, alle weinen, kreischen, brül-len. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie tief ihr Schmerzüber den Verlust ist.

In den kommenden Wochen ist Hayrettin kaum bei Verstand.»Raziye, wo bist du? Raziye, ich warte auf dich! Raziye,

komm zu mir zurück!« Er will seine Frau herbeischreien undweiß doch ganz genau, dass nichts und niemand sie je wieder zumLeben erwecken wird. »Meine Frau hat in diesen Tagen nur anmich gedacht und an die Polizei und an meine Verhaftung. Wäreich nicht gewesen, würde sie noch leben.« Verzweifelt macht sichHayrettin Vorwürfe.

Die Schulbehörde akzeptiert, dass Hayrettin nicht unterrichtenkann, und schreibt ihn fürs erste dienstuntauglich. Zu Hauseschottet er sich völlig ab und greift zum Alkohol. In der Dunkel-heit kann er kein Auge zumachen, hängt der Vergangenheit nach,

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Hayrettin undRaziye, seine Frau(1986).

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ruft nach Raziye, trinkt Nacht für Nacht fünfzehn bis zwanzigFlaschen Bier.

Irgendwann kann Gülistan das Elend nicht länger ertragen.»Wenn deine Sauferei Raziye zurückbringt, dann bring mir Bier,und wir trinken zusammen«, sagt sie. Die beiden diskutieren bisin den Morgen hinein, umarmen sich, weinen miteinander. Dankseiner Tochter besinnt sich Hayrettin, reißt sich zusammen undhört mit dem Trinken auf. Zwei lange Monate hat er seine Trauerin Alkohol ertränkt, jetzt versucht er wieder Fuß zu fassen undkümmert sich endlich um die Kinder, die seinen Zuspruch so sehrbrauchen.

Mag sein, dass Raziye Opfer eines Unfalls geworden ist. Magaber auch sein, dass sie gezielt angefahren wurde, um die Altunspsychisch zu zerstören – die Hintergründe werden sie nie erfah-ren. Was bleibt, sind eine ungeheure innere Leere und die Zweifelan der offiziellen Darstellung von Raziyes Tod. Hayrettin kommtes sehr verdächtig vor, dass die näheren Umstände des Unfallher-gangs nie genauer untersucht worden sind.

Von der DEP zur HADEP – Parteienverbote statt DemokratieIm Sommer 1993 hatte die türkische Regierung die kurdischePartei Halkin Emek Partisi (HEP, Partei der Arbeit des Volkes)aufgelöst. Auch die Nachfolgepartei Demokrasi Partisi (DEP,Demokratiepartei) wurde verfolgt und letztlich verboten. Sowohldie Zentrale als auch Regionalbüros wurden zerstört, führendeParteimitglieder von Todesschwadronen hingerichtet oder verhaf-tet. Seit März 1994 befinden sich Leyla Zana, ausgezeichnet mitdem Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments, und weitereParlamentsabgeordnete in Ankara in Haft.Im Mai 1994 gründeten kurdische Oppositionelle Halkin Demo-krasi Partisi (HADEP, die Demokratiepartei des Volkes), dieDEP wurde danach verboten.Obgleich sich HADEP in den kommenden Jahren massiven Re-pressionen und Wahlbehinderungen ausgesetzt sah und permanent

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mit Parteiverbot bedroht wurde, wurde sie bei den Parlaments-wahlen am 18. April 1999 von 1,5 Millionen Menschen gewähltund erreichte in den Kommunen und in Diyarbakir häufig 60 bis 65Prozent der Stimmen.

In den Sommerferien meidet Hayrettin bewusst den Weg nachTîyaks. Als Mitglied der Lehrergewerkschaft und der neuge-gründeten Partei HADEP muss er vorsichtig sein. Statt dessentrifft er sich in Diyarbakir mit seinen Verwandten und Bekannten.Hier sucht ihn Tante Melek aus seinem Heimatdorf auf. Sie ist dieFrau seines Onkels Heybet Azer, ein Bruder seiner Mutter.

»Hayrettin, bitte hilf mir. Sie haben Heybet gezwungen, Dorf-schützer zu werden. Jetzt soll er herausfinden, wer die PKKunterstützt. Aber ich will das nicht, und er will das auch nicht«,sagt sie unter Tränen. »Die Regierung benutzt die Dorfschützerdoch nur, um uns gegeneinander auszuspielen.«

Hayrettin gibt ihr recht. »Das System der Dorfschützer ist per-fide. Kurden spionieren Kurden aus, wir töten uns gegenseitig.Die Regierung setzt unsere Leute so unter Druck, dass sie garnicht anders können.«

Melek ist froh, dass Hayrettin sie unterstützt.»Sprich mit meinem Mann. Heybet hat soviel Angst, dass er

auf mich nicht hört. Er soll seine Waffen zurückgeben und mitmir und unseren Kindern nach Diyarbakir ziehen«, bittet sie ihrenNeffen.

Hayrettin verspricht, sein Bestes zu geben, und ruft seinenOnkel an. »Heybet, komm nach Diyarbakir, ich will mich mit dirtreffen.«

Aber nur wegen eines Gesprächs mag Heybet nicht in die Stadtkommen. Er ist auf dem Land aufgewachsen und kann dem Stadt-leben nichts abgewinnen. Um so überraschter ist Hayrettin, alsHeybet sagt: »Ich brauche mich nicht mit dir zu treffen, Hayret-tin. Natürlich gebe ich meine Waffe ab, du musst mir nur Arbeitbesorgen. Dann ziehen wir sofort um.« Er ist sowieso einer der

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letzten Bewohner von Tîyaks und kann als Bauer dort nicht mehrbleiben.

Zufrieden beendet Hayrettin das Telefonat. Doch was so ein-fach geklungen hat, entpuppt sich als unmögliches Unterfangen.Trotz tagelanger Bemühungen kann er für Heybet keine Arbeitfinden. Die Stadt ist voller Menschen aus Türkisch-Kurdistan, diewegen des Kriegs aus den Dörfern geflohen sind. In Diyarbakirwürden Hunderttausende jede Arbeit annehmen, wenn es bloßArbeit gäbe.

Ein zweites Mal setzt sich Hayrettin mit Heybet in Verbin-dung. »Ich teile meinen Lohn mit dir, Onkel. Du kannst die Hälftemeines Einkommens haben, das ist deutlich mehr als du jetzt ver-dienst. Du musst nur hierher kommen«, bietet Hayrettin ihm an.

»Überleg dir, was du sagst, Hayrettin. Ich bin verheiratet, wirhaben drei Söhne und fünf Töchter. Wie lange soll dein Angebotgelten? Du hast eine eigene Familie, die du ernähren musst. DasVersprechen ist gut gemeint, aber du wirst das nicht lange durch-stehen«, entgegnet Heybet. Er bleibt in Tîyaks.

Hayrettin sieht seinen Onkel nie wieder. Im Winter 1994 wer-den Heybet, Melek und eines ihrer acht Kinder von Unbekanntenin ihrem Haus umgebracht. Niemand weiß, ob die Mörder aus denReihen türkischer Sicherheitskräfte gekommen sind, die HeybetKontakte zur PKK unterstellt haben, oder ob es PKK-Kämpfergewesen sind, die ihn des Verrats verdächtigt haben.

Fehmi und seine Familie werden mit der Situation nicht fertig.Unter der doppelten Belastung von Hayrettins Depressionen unddem permanenten Druck, dem sie sich ausgesetzt sehen, ist einZusammenleben unmöglich.

»Die jagen uns. In Mersin macht die Polizei Jagd auf Kurden.«Fehmi will weg, auch wenn ihn die Entscheidung große Überwin-dung kostet. Schließlich lässt er nicht nur seinen Bruder, sondernauch dessen vier Kinder allein in einer feindlich gesinnten Umge-bung zurück. Trotzdem flieht Fehmi im September 1994, einein-

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halb Jahre nach der Flucht, nach Türkisch-Kurdistan zurück undsucht sich eine Wohnung in Diyarbakir.

Am 17. September wird Hayrettin vierzig Jahre alt. EinenGrund zum Feiern hat er nicht.

Made in Germany –Milliardenschwere Unterstützung für türkische MilitärsBis Januar 1995 erhielt die Türkei 30 F4E-Phantomflugzeuge,131 gepanzerte Haubitzen, 100 Leopard-1-Panzer, 187 M113-und 300 BTR-60-Schützenpanzer. Neben diesen Großwaffensys-temen wurden Kleinwaffen an die türkische Armee geliefert: 5000Maschinengewehre, 100 000 Panzerfäuste, über 300 000 Kal-aschnikows, 440 Millionen Stück Munition sowie eine halbe Milli-on NVA-Helme. Von 1964 bis 1995 lieferte die BundesrepublikWaffen im Wert von mehr als 6 Milliarden DM. Zugleich kauftendie türkischen Militärs bei ihren deutschen Geschäftspartnern fürweitere 10 Milliarden DM Waffen ein.1995 beendete Deutschland die Nato- und die Rüstungssonderhil-fe, weil die Türkei inzwischen zur kommerziellen Kooperation beider Rüstungsproduktion in der Lage sei. Mit anderen Worten:Was bislang importiert wurde, konnte von nun an weitgehend mitdeutschem Know-how vor Ort hergestellt werden: Made in Turkey.

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Hayrettin (r.) undsein Bruder Fehmi.

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DURCHWACHTE NÄCHTE

»Vielleicht bringen sie mich das nächste Mal um?«Hayrettin Altun

Die nächsten beiden Jahre im Exil in Dikilitas vergehen, ohnedass sich die Situation auch nur ansatzweise verbessert. Im Januar1997 wird Hayrettin dann in die Nähe der syrischen Grenze ver-setzt, bleibt aber im Bezirk Mersin. An der Grundschule in Ayinsertritt er seine mittlerweile zehnte Lehrerstelle an. Immer wiedergerät er ins Blickfeld der Polizei, die ihn in bekannter Manier schi-kaniert und erniedrigt.

Eines Nachts poltert es wieder heftig an der Tür. Verängstigtfragt Gülistan: »Wer sind Sie?«

»Polizei! Aufmachen!«»Einen Augenblick, bitte, ich hole meinen Vater«, entgegnet

Gülistan verschüchtert. Aber sie hat keine Chance. Mit einemSchlag drücken die Sicherheitskräfte die Haustür nach innen undstürmen herein.

»Was ist denn hier los?« ruft Hayrettin entsetzt und springt ausdem Bett auf.

»Wir holen deinen Sohn Rojhat. Er arbeitet für die PKK. Woist er?« wollen die Polizisten wissen.

Zum Glück schläft Rojhat in dieser Nacht außer Haus, und sokönnen sie ihn nicht mitnehmen. Erregt reißen die Eindring-linge Postkarten von der Wand, auf denen sozialistische Gedichtestehen. Gülistan muss ihren Schulranzen ausräumen. »Warumschreibst du Arbeiten über den Kommunismus?« blafft ein Unifor-mierter, der ihre Schulhefte durchschaut, die Fünfzehnjährige an.

»Das wird euch teuer zu stehen kommen!« schreit ein anderer,während seine Kollegen die Wohnung auf den Kopf stellen undschließlich ein Buch und mehrere Musikkassetten konfiszieren.

Gülistan hat furchtbare Angst, dass sie ihren Vater mitnehmen.Da Raziye tot ist, wären dann nur noch ihre Brüder für sie da.

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Die Wohnung ist völlig verwüstet, als die Polizisten gegenhalb drei Uhr nachts wieder abziehen. Schlaf findet jetzt keinermehr von ihnen.

Am 21. März feiern die kurdischen Exilanten in Mersin mit demNewroz-Fest den Frühlingsanfang und den Beginn des kurdi-schen Jahres. Die Frauen tragen bunte Kleider in den National-farben Grün, Gelb und Rot. Ausgelassen tanzt Gülistan mit Hay-rettin inmitten vieler gut gelaunter Menschen. Plötzlich sind sievon Polizisten umzingelt, die wie wild an den Kleidern der Frau-en zerren und ihnen die Tücher wegreißen. Geistesgegenwärtigwird Gülistan von ihrem Vater an der Hand gepackt und in Rich-tung des Büros der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen gezogen, dasallerdings weit weg ist.

Polizisten rennen ihnen hinterher und dreschen brutal auf jedenein, den sie erwischen können. Einige Straßenzüge weiter istHayrettin plötzlich verschwunden, und Gülistan bricht in Tränenaus. Glücklicherweise entdeckt ein befreundeter Gewerkschafts-kollege das verängstigte Mädchen und nimmt sie mit sich. ImVorbeihetzen kann sie erkennen, wie Polizisten aus ihren Ver-stecken stürmen, alle Frauen ergreifen, die Kleidungsstücke inkurdischen Farben tragen, und sie in den nächstgelegenen Haus-eingang hineinzerren. Gnadenlos schlagen die Uniformierten mitihren Schlagstöcken auf die wehrlosen Kurdinnen ein.

Im Gewerkschaftshaus trifft Gülistan ihren Vater wieder, er-leichtert fallen sich die beiden in die Arme. Hayrettin will sichlieber nicht ausmalen, was seiner Tochter hätte passieren können.Und welche Grausamkeiten sie Hayrettin antun können, das hatGülistan oft genug von ihm gehört.

Hier im Egitim-Sen-Büro begehen sie den zweiten Teil derNewroz-Zeremonie, aber zum Feiern aufgelegt ist keiner mehr.»Wir verspüren alle nur noch Hass«, sagt Gülistan verbittert.

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Die kommenden Monate verlaufen nicht besser. Wiederholt wirdHayrettin auf die Polizeiwache gebracht, wo er manchmal einen,manchmal mehrere Tage ausharren muss.

Die Nächte fürchten sie am meisten. Als er eines Nachts hört,wie heftige Fußtritte gegen die Haustür donnern, steht HayrettinTodesängste aus. Nur einen kleinen Spaltweit öffnet er und zucktzusammen, als direkt vor ihm ein Schuss knallt. Reflexartigschlägt er die Tür zu. Ein zweiter Schuss fällt, ein dritter, dann istder Spuk so schnell vorbei, wie er gekommen ist.

Ihre Wirkung hat die Einschüchterungsaktion nicht verfehlt.»Hast du einen von ihnen erkannt?« wollen die Kinder wis-

sen.»Wie sollte ich? Draußen ist alles rabenschwarz.« Hayrettin ist

verstört, weil ihm der Grund für diese massive Bedrohung nichtklar ist. Zur Zeit befindet er sich im Exil, ist zwar Mitglied derLehrergewerkschaft Egitim-Sen und dennoch fernab jeglicherEinflussmöglichkeit auf das politische Geschehen.

»Ich glaube nicht, dass sie dich töten wollten«, versuchen sieihn zu beruhigen.

»Aber ich habe Angst«, gesteht Hayrettin. »Wer weiß, viel-leicht bringen sie mich das nächste Mal um?«

Fünfeinhalb lange Jahre verbringen Hayrettin und seine Kinderim Exil in Mersin, erst in Dikilitas, dann in Ayinser.

1996 erschießen anonyme Täter einen seiner Cousins in Diyar-bakir, die Schuldigen werden nie ermittelt. Hayrettin überlebt,vielleicht gerade deshalb, weil er im Exil und nicht in Türkisch-Kurdistan unterrichtet; das ist das einzig Gute, das er den perma-nenten Strafversetzungen abringen kann. In den Kurdengebietenim Südosten der Türkei ist das Lehrerdasein in den Bürgerkriegs-jahren lebensgefährlich. In diesen Jahren erreicht Hayrettin einums andere Mal die Nachricht, dass ein Pädagoge erschossenworden ist, häufig auf dem Weg zur Schule oder auf dem Nach-hauseweg. Ihr Verbrechen: Die Lehrer haben es gewagt, über die

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Probleme der Kurden zu sprechen oder über die Frage der Demo-kratisierung – wie Hayrettin auch.

Erst mit dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen 1997ändert sich die Situation. »Jetzt werden regierungskritische Leh-rer strafversetzt und damit oftmals von ihren Familien getrennt«,erklärt Hayrettin – aber eben nicht mehr per Kopfschuss be-seitigt.

Kurdische Lehrer (2) – Särge mit MengenrabattMit Siddik Bilgin wurden in den Jahren von 1990 bis 1995 mehrals dreißig Lehrerinnen und Lehrer in Batman, Bingöl, Çinar,Diyarbakir, Kiziltepe, Kurtalan, Mersin-Tarsus, Midyat, Mus undSilvan von Sicherheitskräften oder »Unbekannten« ermordet.Anderen wurden z.T. schwerste Verletzungen zugefügt, die sielebenslang zu Behinderten werden ließen. Nahezu alle Betroffenenwaren Kurden.Eine Vielzahl von Stellen blieb unbesetzt, weil die Lehrer Angsthatten, viele Familien ließen ihre Kinder lieber zu Hause. Gemäßoffiziellen Angaben des Erziehungsministeriums der Türkei wur-den 2202 Schulen wegen fehlender Lehrkräfte und 1839 Schulenaus Sicherheitsgründen geschlossen, 92 Schulen auf Grund vonDorfräumungen, 89 wegen Schülermangels und 71 sollen von derPKK in Brand gesetzt worden sein. Im Jahr 1994 blieben insge-samt 4293 Dorfschulen geschlossen, rund 60 Prozent aller Volks-schulen. Häufig quartierten sich Einheiten des türkischen Militärsin den Gebäuden ein.Angesichts der hohen Quote getöteter Lehrer soll Hasan Bozoglu,Direktor des Erziehungsministeriums in Diyarbakir, vorsorglichzwanzig Särge angefordert haben. »Als Lehrer sind wir hier inLebensgefahr«, begründete Bozoglu seine Order; es käme »billi-ger, wenn wir die Särge in großen Mengen bestellen«.

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Im August 1998 erreicht Hayrettin endlich die lang ersehnteNachricht aus dem Bildungsministerium. Drei Monate muss ernoch in Mersin unterrichten, dann darf er nach Diyarbakir zu-rückkehren. Dort allerdings herrschen weiterhin die OHAL-Aus-nahmegesetze, was bedeutet, dass der Provinzgouverneur seinEinverständnis zu dem Schulwechsel geben muss.

Drei Monate lang wird Hayrettins Verhalten begutachtet, erstdann erhält er die gewünschte Genehmigung. Gerade mal zweiWochen bleiben ihm für den Umzug, ehe er im Dezember seineStelle in der Bezirkshauptstadt antreten kann.

Die Zeit in Mersin ist »extrem hart gewesen. Ich möchte michnie wieder an diese Tage erinnern müssen.« Tiefe Trauer sprichtaus ihm, wenn er sich an die Zerstörung seines Heimatdorfs, dieErmordung ihm nahestehender Menschen, den Tod seiner FrauRaziye, den Wegzug seines Bruders Fehmi und die Jagd auf ihnund andere Kurden erinnert. Hayrettins Lachen, der Folterkam-mer des DETC-Gefängnisses entflohen, ist in Mersin nie ange-kommen. Dafür wartet es in Diyarbakir auf ihn.

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14 Jahre der Schmetterlinge

DAS ENDE SEINER ODYSSEE

»Entschuldige, ich kann nichts für dich tun.«Mustafa Basol, Schulleiter

Nicht ohne Hintergedanken hat Tahsin seinen Freund auf die sie-benundzwanzigjährige Leyla aufmerksam gemacht. Kurz darauftreffen sich Leyla und Hayrettin in einer Patisserie. Viele Stundendiskutieren sie miteinander, und es entsteht eine tiefe Zuneigungzwischen ihnen. Vielleicht geht alles deshalb so schnell, weilbeide in ihrem Leben viele Rückschläge erlitten haben und denSchritt in eine neue Zukunft wagen wollen.

Im Dezember 1998 führt Hayrettins Odyssee durch die Türkeiendlich zurück nach Diyarbakir, der Hauptstadt seiner HeimatTürkisch-Kurdistan. Auf der Suche nach dem Rektor der Hürri-yet-Schule kommt er ins Lehrerzimmer, wo er glattweg ignoriertwird. Keiner im Kollegium will ihn wahrnehmen. Keiner geht aufihn zu, keiner schüttelt ihm die Hand, keiner grüßt ihn.

»Herzlich willkommen, Hayrettin Altun!« ruft er ironisch indie Runde. Erst jetzt schenken ihm seine Kollegen die gewünsch-te Aufmerksamkeit.

»Wir haben gedacht, du seist der Vater eines Schülers und imfalschen Raum gelandet. Deshalb haben wir nicht reagiert«, recht-fertigt sich einer der Lehrer.

»Wenn ich wirklich der Vater eines Schülers wäre, dann hätteich an eurer Stelle auch diesen Besucher begrüßt und ihm weiter-geholfen«, entgegnet Hayrettin.

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Glücklicherweise sollte diese erste Begegnung nicht sympto-matisch sein. Zwar bekommt Hayrettin in den ersten drei Mona-ten keine Klasse zugewiesen, aber er fühlt sich halbwegs wohl inder Hürriyet-Schule, der Schule der »Freiheit«.

Als Schwangerschaftsvertretung übernimmt Hayrettin im März1999 eine zweite Klasse. Unter den sechsundsiebzig Schülernsind lediglich zweiundzwanzig Mädchen, obwohl es eigentlichviel mehr sein müssten.

»Auch wenn wir Schulpflicht haben, überprüft niemand, oballe Kinder kommen. Wenn die Polizei kontrollieren und die Kin-der in die Schule schicken würde, müssten neue Gebäude gebautwerden – und das kostet Geld«, sagt Hayrettin. »Bei uns setzt sichdie Polizei eben nicht für das Wohlergehen der Menschen ein.Wie das Militär dient auch die Polizei zur Unterdrückung derMenschen. Meiner Meinung nach will die Regierung nicht, dassKurden gut gebildet sind und wir die Folgen des Bürgerkriegsüberwinden.«

Gerade in den Köpfen der Kinder hat der Krieg seine Spurenhinterlassen. Als Hayrettin die achtjährigen Schüler Bilder malenlässt, sind auf dreiundzwanzig der sechsundsiebzig ZeichnungenTiere mit roten Augen zu sehen.

»Aber die sehen ja alle gleich aus!« wundert er sich.Eines der Mädchen erklärt es ihm: »Das ist unser Haus in der

Nacht. Als mein Haus abgebrannt ist, haben die Augen der Tiererot geleuchtet. Das kommt von den Flammen.«

Bis heute leiden Hunderttausende von Flüchtlingskindern un-ter Traumata aus der Zeit des Bürgerkriegs. »Sie haben miterlebt,wie sich Vater und Mutter gegen die Soldaten gewehrt haben.Wie ihre Eltern denken sie fortwährend an die Vertreibung. Inihren Angstträumen tauchen die Soldaten wieder auf«, erklärtHayrettin Altun.

»Den meisten Erwachsenen geht es genauso schlecht wie ihrenKindern, auch wenn der Krieg endlich beendet ist.«

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Die »Siegesbilanz« des Bürgerkriegs in der Türkei (1984–1999)Am 1. Dezember 1998 verkündete PKK-Führer Abdullah Öçalaneinen einseitigen Waffenstillstand und beendete damit die kriege-rischen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften.Auf einer Pressekonferenz zog Staatspräsident Süleyman Demirelim Dezember 1998 eine Bilanz des seit August 1984 tobendenBürgerkriegs. Demnach waren zu diesem Zeitpunkt »bei 32 853Vorkommnissen 5555 Angehörige der Sicherheitskräfte gefallen,und 11 168 wurden verwundet. Bei Angriffen gegen die Zivilbevöl-kerung wurden 5302 Zivilisten getötet und 5877 verletzt. Insge-samt betragen die Verluste bei den Terroristen 35 384«, gemeintwaren PKK-Kämpfer oder deren Sympathisanten. »Von ihnen sind23 938 tot, 749 verwundet, 8693 wurden lebend gefasst, und2304 haben sich ergeben.«Das sind präzise Zahlen, doch sie sind mit Vorsicht zu genießen.Oberst Bülent Dagsali erklärte bereits im Mai 1998, beim Kampf,»den die Türkischen Streitkräfte im Namen des Großen General-stabs« führten, seien mehr als 40 107 »Terroristen unschädlichgemacht« worden. Gemäß seiner »Siegesbilanz« seien dagegenlediglich 5172 Soldaten, Polizisten und Dorfschützer als »Märty-rer« gefallen. Außerdem seien 5238 Zivilisten umgekommen.Schenkt man diesen Zahlen Glauben, dann sind mehr als 50 000Menschen im türkisch-kurdischen Bürgerkrieg umgekommen. Vonrund 9000 Dörfern wurden 3500 zerstört.Im Februar 1999 wurde Öçalan in Kenia festgenommen undwegen Hochverrats in der Türkei angeklagt. Ende des Jahreserklärte die PKK einseitig den Verzicht auf Gewalt. Trotz desWaffenstillstands seitens der PKK setzte der türkische Staat seineRepressionen gegen die Zivilbevölkerung im Südosten fort.

Die Probleme in seiner neuen Klasse sind keineswegs ungewöhn-lich. Seine Vorgängerin hatte es noch mit hundertzehn Schulan-fängern zu tun und sich verständlicherweise schwer damit getan,so vielen Kindern auch nur die einfachsten Lerninhalte zu ver-

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mitteln. Ständig war sie mit Ordnungsmaßnahmen beschäftigtgewesen. Am Ende des ersten Schuljahrs konnten vierunddreißigSchüler auf Grund ihrer Defizite nicht in die zweite Klasse ver-setzt werden. Aber selbst von den verbliebenen sechsundsiebzigSchülern kann nur ein Drittel zufriedenstellend lesen und schrei-ben.

»Ich werde mich bemühen, sie wenigstens auf das gleicheNiveau anzuheben«, nimmt sich Hayrettin vor. »Zum Ende desJahres sollen möglichst alle das Lesen und Schreiben beherr-schen. Und ich werde versuchen, ihnen Mut zu machen und ihnendie Freude am Leben wiederzugeben.«

Mit dem Ende des Bürgerkriegs geht es auch bei den Altuns auf-wärts. Zur Freude aller bringt Leyla im Februar 1999 Darjin zurWelt, ihr erstes Kind, Hayrettins vierter Sohn. Am 13. Mai hei-raten sie – eher zufällig am Muttertag.

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Der stolze Vater mitseinem dreijährigenSohn Darjin.

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»Ich mag keine großen Familientreffen«, erklärt Leyla mitsanfter Stimme, weshalb die beiden im kleinsten Familienkreisfeiern und alles ganz schnell über die Bühne bringen: Der Hod-scha kommt ins Haus, vollzieht die religiöse Zeremonie undschon sind sie Mann und Frau, ohne dass irgendein Papier unter-zeichnet worden wäre. Hayrettin staunt über sich selbst. »Ichhätte nie gedacht, dass ich nach dem Unfalltod meiner geliebtenRaziye jemals wieder heiraten würde.«

Im Sommer des Jahres berät er mit Leyla über eine wichtigeEntscheidung. Seine Gewerkschaftskollegen haben ihm die Kan-didatur zum Baskani, dem Vorsitzenden der örtlichen Lehrer-gewerkschaft Egitim-Sen in der sube, der Ortsgruppe Diyarbakirnahegelegt. Auch wenn ihn die Aufgabe reizt, spricht vielesdagegen.

Seitdem dreihundert Lehrer vor acht Jahren die Egitim-Sen-Ortsgruppe gegründet haben, ist von türkischen Sicherheitskräf-ten wiederholt, jedoch ohne Erfolg versucht worden, das Büro inder kurdischen Bezirkshauptstadt zu schließen. Der Grund desaggressiven Einschreitens der Polizei liegt nicht zuletzt in demerklärten Ziel der Gewerkschaft, den Unterricht in der eigenenMuttersprache führen zu dürfen – Repressionsmaßnahmen gegenEgitim-Sen-Mitglieder und die Gewerkschaftsführung sind dieFolge.

In ihrem Programm fordert die Gewerkschaft nicht nur Fort-bildungsmaßnahmen für Pädagogen, sondern auch das Streik-recht, Reformen im Bildungsbereich, Verbesserungen der Le-bensbedingungen für Lehrer sowie kostenlose Erziehung für alleKinder. Eine Maßnahme, die viel Geld kosten würde – Geld, dasbislang in den Krieg um Kurdistan geflossen ist und unter an-derem im Bildungsbereich gefehlt hat.

Der Krieg um Kurdistan – Eine Kosten-Nutzen-AbwägungDie Kosten des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs gegen die PKKbeliefen sich auf rund 100 Milliarden Dollar. Jeder Tag kostete

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etwa 1,25 Millionen Dollar, die im Sozial-, Bildungs- und Gesund-heitsbereich fehlten.Im November 1998 waren laut Hürriyet 6153 Dörfer und Weilerunbewohnt und 2322 Schulen geschlossen. »Viehzucht und Land-wirtschaft sind fast nicht mehr möglich«, schrieb die türkischeTageszeitung.Angesichts so horrender Kosten stellt sich die Frage, warum dietürkischen Regierungen in den achtziger und neunziger Jahrenderart brutal jede Form separatistischer Bestrebungen seitens derKurden niedergeschlagen und jeden Wunsch nach Eigenverant-wortung unterdrückt haben. Das hat nicht nur historische undmachtpolitische Gründe. Ein mitentscheidender, wenn auch gernverschwiegener Grund liegt in den immensen RohstoffvorkommenKurdistans.Neben den reichen landwirtschaftlichen Erzeugnissen (75 Prozentder Linsen, 95 Prozent der Pistazien u.v.a.m.) aus dem kurdischenSüdosten wurde dort vor allem 100 Prozent des türkischen Erdölsgefördert. 1997 konnten damit 200 Trillionen Türkische Liraerwirtschaftet werden. Zudem floss in Euphrat und Tigris ein Drit-tel des türkischen Wassers.Durch zwanzig Staudammprojekte des Südostanatolien-Projekts(GAP) soll in Zukunft eine Fläche von 1,7 Millionen Hektarbewässert werden. Türkisch-Kurdistan ist ein reiches Land unddamit attraktiv für diejenigen, die seine Rohstoffe nutzen kön-nen.usatz

Hayrettin ist sich der Gefahr bewusst, in die er sich mit seinemAmt begeben würde. »Zübeyir Akkoç, der Vorsitzende meinerLehrergewerkschaft, ist Lehrer an der Hürriyet-Schule gewesen,so wie ich. Wie viele unserer Kollegen hat er auf den Listen derTodeskommandos gestanden.« Dann haben Unbekannte Akkoçin der Nähe des Schulgeländes aufgelauert, ihm in den Rückengeschossen und ihn mit gezielten Kopfschüssen umgebracht. Dasalles ist gerade mal sechs Jahre her. »Soll ich das Angebot den-noch annehmen?« fragt Hayrettin seine Frau. »Du weißt, was das

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für uns bedeutet: permanente Gefahr, vielleicht Verhaftungen,vielleicht eben noch Schlimmeres.«

Leyla lässt sich Zeit, überlegt und trifft einen mutigen Ent-schluss. »Ich trage deine Entscheidung mit, was immer auchkommen mag.«

Am 26. September, wenige Tage nach seinem fünfundvier-zigsten Geburtstag, wird Hayrettin zum Vorsitzenden der ört-lichen Lehrergewerkschaft Egitim-Sen gewählt.

Im Mai 2000 erhält Hayrettin einen Anruf seines Chefs MustafaBasol, er möge sofort in die Hürriyet-Schule kommen. Als er imRektorat eintrifft, betreten zugleich zwei zivil gekleidete Sicher-heitsbeamte den Raum.

»Wer sind die beiden?« erkundigt sich Hayrettin leise beimSchulleiter, wie er Vorstandsmitglied von Egitim-Sen. Auf politi-scher Ebene arbeiten die beiden Gewerkschafter eng zusammen.Basol muss vorsichtig sein, sein Gesicht ist vor Nervosität ge-rötet. Offensichtlich fürchtet er die beiden Unbekannten.

»Entschuldige, ich kann nichts für dich tun«, flüstert der Rek-tor und verkündet mit lauter Stimme: »Herr Altun, Sie müssenIhren Dienst in einer anderen Dorfschule antreten, sechzig Kilo-meter von Karaman entfernt.«

Hayrettin fällt aus allen Wolken. Ihm ist klar, dass die Anord-nung auf der Grundlage der Artikel 285 und 430 des OHAL-Gesetzes erfolgt. Und er weiß, dass er sich im Moment besser aufkeinerlei Diskussion einlässt. Schweigend nimmt er das Verset-zungsdokument entgegen.

»Dürfte ich Sie bitten, mir noch zwei Tage in Diyarbakir einzu-räumen?« fragt er. Basol bemüht sich um Unterstützung und tele-foniert sofort. Die Antwort fällt jedoch ernüchternd aus.

»Morgen müssen Sie gehen!« sagt der Schulleiter steif.Frustriert fährt Hayrettin nach Hause. Natürlich hat er als Vor-

sitzender von Egitim-Sen damit rechnen müssen, verbannt zuwerden. Zwangsversetzungen sind in den vergangenen Jahren

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gezielt zur Schwächung der Lehrergewerkschaft eingesetzt wor-den. Dennoch trifft ihn die Strafaktion wie ein Blitz aus heiteremHimmel. Von einem Tag zum anderen soll er die Koffer packenund seine zwölfte Stelle antreten, sechshundertsiebzig Kilometerwestlich von Diyarbakir.

Zu Hause lässt er seiner Wut freien Lauf. »Dieser ewigeDruck, der auf uns lastet! Wenn wir die Wahrheit über unserSchulsystem sagen, werden wir ins Exil verbannt!« wettert Hay-rettin. »Unser Schulsystem ist auf der Basis des türkischen Ras-sismus und Nationalismus gegründet!« Schweigend hört ihmLeyla zu. Er weiß, dass sie seine Meinung teilt.

»Nichts steht über uns in den türkischen Schulbüchern, nichtsüber die kurdische Minderheit. Nichts von Kurdistan. KurdischeBücher sind verboten. Kurdische Lehrer müssen lehren, was in dentürkischen Lehrbüchern steht. Wenn ich das Wort ›Kurde‹ oder›Kurdistan‹ schreibe, begehe ich ein Verbrechen. Leute, die alsheikel eingestuft werden, müssen mit ihrer Verbannung rechnen.Ich kenne mehr als hundertsechzig Kollegen, die strafversetzt wor-den sind. Und jetzt glaubt die Regierung, ich sei gefährlich!«

Wie sollen sich die beiden entscheiden? Wenn Hayrettin derAnordnung Folge leistet, landen sie im türkischen Teil des Lan-des, irgendwo am Nordrand des Mittleren Taurus. Leyla fürchtetdie Ausgrenzung in der türkischen Gesellschaft und Hayrettin dieIsolierung ohne jede Möglichkeit, sich politisch zu engagieren.

Am schwersten aber wiegt die Tatsache, dass ihre Familie aus-einandergerissen würde. Leyla käme mit Darjin sicher mit undvielleicht auch Gülistan, aber die drei älteren Söhne würden ihnenaus den unterschiedlichsten Gründen nicht folgen können oderwollen: Rojhat, der wegen des Vorwurfs der weit zurückliegen-den PKK-Unterstützung verurteilt worden ist, muss für zwölfJahre in Haft. Besuche bei ihm wären auf Grund der Entfernungkaum möglich. Jehat wird nach dem Militärdienst seinem Berufals Elektriker in Diyarbakir nachgehen. Firat besucht noch dasGymnasium und will sich danach zum Musiklehrer ausbildenlassen. Auch Hayrettins Geschwister Hayriye und Fehmi und die

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anderen Familienmitglieder werden Diyarbakir nicht verlassen –es sei denn, sie können eines Tages alle gemeinsam in ihr Heimat-dorf zurückkehren.

Hayrettin steht vor einer folgenschweren Entscheidung, dennwenn er die Versetzungsanweisung ablehnt, wird er vom Dienstsuspendiert. Einmal mehr diskutieren die Eheleute bis tief in dieNacht miteinander, am nächsten Morgen steht ihr gemeinsamerBeschluss fest: Schweren Herzens reicht Hayrettin seinen Rück-tritt ein und gibt damit die Tätigkeit als Lehrer auf, die er in all denJahren mehr als innere Berufung denn als Beruf empfunden hat.

»Ohne meine Familie schaffe ich das nicht.« Hayrettin istverzweifelt. Finanziell blickt er in eine ungewisse Zukunft. AlsVorsitzender der Lehrergewerkschaft erhält er keinen Lohn, dazufehlen Egitim-Sen schlichtweg die finanziellen Mittel. Zukünftigwerden die Altuns von seiner schmalen Pension leben, die rundsechzig Prozent dessen beträgt, was er als Lehrer bekäme – eineenorme Belastung für eine siebenköpfige Familie, zumal in

Zeiten einer immens hohenInflationsrate und einerharten Rezession.

Hayrettins Wiederwahlzum Vorsitzenden der Leh-rergewerkschaft im Juni2000 ist reine Formsache.Auf dem Wahlkongress inDiyarbakir hält er eineRede über die Situation desBildungswesens in derTürkei und die ungelösteKurdenfrage. Damit han-delt er sich das nächsteStrafverfahren ein, aber dasist er mittlerweile schon ge-wohnt.

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Auf dem Kongress der Gewerk-schaft Egitim-Sen im Juni 2000wird Hayrettin als Vorsitzender derOrtsgruppe Diyarbakir bestätigt.

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Diyarbakir – Sammelbecken der ArmenDurch die maßgeblich vom Bürgerkrieg verursachte Landfluchtwuchs die Zahl der Einwohner in den größeren Städten in Tür-kisch-Kurdistan seit Anfang der neunziger Jahre explosionsartigan. Allein in der Bezirkshauptstadt Diyarbakir vervierfachte sichdie Einwohnerzahl nahezu von 380 000 (1990) auf offiziell 1,4Millionen (2000). Die reale Zahl dürfte noch höher liegen.Im Jahr 1997 verfügten rund 85 Prozent der Menschen in Diyar-bakir über ein Einkommen unterhalb der von den Vereinten Natio-nen definierten Armutsgrenze. Laut Auskunft von Dr. Ahmet Özervon der Universität Mersin lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei bei rund 2500 Dollar im Jahr, in Diyar-bakir bei 283 Dollar. Im Gegensatz zu offiziellen Angaben hattedie Arbeitslosenquote 70 Prozent erreicht.Für eine normale Ernährung benötigt ein erwachsener Menschlaut Aussage des Staatlichen Planungsamts der Türkei 3000Kalorien. Legt man diesen Wert zugrunde, dann leben 14,2 Pro-zent der Türken unter der Armutsgrenze, in Diyarbakir sind es39,7 Prozent.

LEYLAS LIEBE

»Falls Hayrettin etwas zustößt,werde ich seinen Weg gehen.«Leyla Altun

Der furchtlose Hayrettin Altun – im Gefängnis haben sie sich anihm die Zähne ausgebissen, aber wenn er fliegen soll, schlotternihm die Knie! Manchmal muss Hayrettin lachen, wenn er denkt,dass es Menschen gibt, die ihn bewundern. Wenn die wüssten,was für Sorgen ihn zuweilen plagen. Im August 2000 beispiels-weise soll er an einer Versammlung in Istanbul teilnehmen, und

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weil er mächtig unter Zeitdruck steht, fährt er zum Flughafen, woihm allein der Anblick des Fliegers Schweißperlen auf die Stirntreibt. Dennoch gibt sich Hayrettin einen Ruck, nimmt all seinenMut zusammen und besteigt die Höllenmaschine.

Im Flugzeug packt ihn die nackte Angst. Beim Start krallt ersich krampfhaft am Sitz fest. Vergeblich versucht eine Stewar-dess, ihn während des Fluges zu beruhigen. Die Landung wirdzum Horrorszenario. Mit wackligen Beinen verlässt Hayrettin dieMaschine und schwört sich, in Zukunft einen riesigen Bogen umalle Flugplätze dieser Welt zu machen.

»Die eineinhalb Stunden im Flugzeug sind schwerer zu ertra-gen als die zweiundzwanzig Stunden, die ich mit dem Bus nachIstanbul benötige«, gesteht der ansonsten so selbstbewusste Chefder Lehrergewerkschaft ein wenig kleinlaut. Und das, obwohlihm beim Busfahren mitunter schlecht wird.

In seinem Büro hinter dem wuchtigen Schreibtisch ist der Egitim-Sen-Vorsitzende ganz in seinem Element. Seine Vorstandskolle-gin Zemzen Fedai hat auf der Couch Platz genommen.

»Was ist mit dem Geld, das wir von der Regierung für unsereSchüler erhalten? Das Schulgeld wird weiterhin auf der Basisder Einwohnerzahl vor dem Krieg berechnet.« Hayrettin sprichtgenauso engagiert, wie er es in einem Saal vor Hunderten vonZuhörern täte. Für ihn macht das keinen Unterschied. Nach Kräf-ten kümmert er sich um die Menschen, die unter den politischmotivierten Entscheidungen des Staates leiden.

»Die durchschnittliche Klassenstärke liegt in Diyarbakir bei82,5 Schülern, viele Klassen bestehen aus mehr als hundert Kin-dern«, berichtet er. »Unter diesen Rahmenbedingungen könnenwir Lehrer nicht erfolgreich unterrichten. Regulärer Unterricht istschwer möglich, höchstens eine Art persönlicher Betreuung eini-ger weniger. Die Kinder haben verständlicherweise große Proble-me, in solch riesigen Gruppen zurechtzukommen.

»Vor allem die Mädchen«, wirft Zemzen ein, »die in die Schu-

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le geschickt werden. Aber das Problem beginnt bereits zu Hause:Rund fünfunddreißig Prozent der Kinder gehen gar nicht erst zurSchule, denn viele Familien schicken nur ihre Söhne hin. Gerademal zehn Prozent der Mädchen besuchen eine Schule, rund neun-zig Prozent bleiben zu Hause. Sie müssen bei der Hausarbeit hel-fen, viele von ihnen werden mit siebzehn Jahren verheiratet.«

Trotz aller Demokratiebekundungen türkischer Regierungspoliti-ker bleibt die Türkei auch im Sommer 2001 ein heißes Pflaster.Am 31. August, dem Vortag des weltweit gefeierten Antikriegs-tags, machen sich in Diyarbakir Abertausende festlich gekleide-ter Kurdinnen und Kurden auf den Weg zum Abfahrtsplatz derBusse, die sie zur zentralen Kundgebung nach Ankara bringensollen.

Dabei werden sie von einer unglaublichen Anzahl bewaffneterSicherheitskräfte kontrolliert und überwacht. An den Verkehrs-knotenpunkten stehen gepanzerte Fahrzeuge bereit, um gegebe-nenfalls sofort mit Waffengewalt einzuschreiten.

In der ganzen Stadt drohen Soldaten und Polizisten mit G3-Gewehren und MP5-Maschinenpistolen, versteckt zwischen denHäusern oder in den Eingängen der Kasernen.

Am 1. September kommt es in Istanbul, Ankara und anderenStädten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden undden Sicherheitskräften, die erst Schlagstöcke, später auch ihreSchusswaffen einsetzen. Neutrale Beobachter gewinnen den Ein-druck, dass die Provokationen von den Soldaten und Jandarmasausgehen, nicht aber von den friedlichen Demonstranten.

Als Hayrettin am Antikriegstag vom Büro der Lehrergewerk-schaft nach Hause fährt, stoppt die Polizei seinen Wagen undzwingt ihn, mitzukommen. Stundenlang muss er auf der Polizei-wache mit dem Gesicht zur Wand stehen und dabei die übelstenDrohungen über sich ergehen lassen.

»Wir töten alle Kurden! Wir werden die kurdische Kultur zer-stören!« wird er attackiert.

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»Warum sind sie so aggressiv? Wahrscheinlich werden siemich wieder ins Gefängnis werfen«, vermutet Hayrettin. Abernach zehn Stunden darf er dann doch nach Hause gehen.

Nur einen Monat später wird er erneut mit der Gewalt derSicherheitskräfte konfrontiert. Bei den politischen Kundgebun-gen zum internationalen Lehrertag am 5. Oktober marschierenPolizisten vor dem Gewerkschaftsgebäude in Diyarbakir auf unddringen mit Maschinenpistolen in die Räume von Egitim-Sen ein.

»Immerhin sind sie in diesem Jahr nicht so gewalttätig wie inden beiden Vorjahren gewesen.« Hayrettin ist ganz zufrieden,denn das zuständige Gericht hat ihre in Kurdisch verfasste Ein-ladung zur Lehrerversammlung erstmals nicht als Propagandabewertet. Als Egitim-Sen-Vorsitzender wird Hayrettin bedroht,mehr passiert aber nicht.

Rosige Zeiten für weitere WaffengeschäfteNach Taiwan, China und Saudi-Arabien ist die Türkei der viert-größte Rüstungsimporteur der Welt. Laut Angaben des Friedens-forschungsinstituts SIPRI (Stockholm International Peace Re-search Institute) erhielten die türkischen Militärs Waffen im Wertvon 955 (1997), 1767 (1998), 1180 (1999), 684 (2000) und442 (2001) Millionen Dollar.Die von SPD und Grünen geführte Bundesregierung lieferte 1999,im Jahr der offiziellen Beendigung der kriegerischen Auseinander-setzungen, Rüstungsgüter im Wert von 1,91 Milliarden DM an dieTürkei. Regierungspolitiker verwiesen darauf, dass neben neuer-lichen Genehmigungen auch Verträge der CDU/CSU-FDP-Vor-gängerregierung zu erfüllen gewesen seien. Damit war die Türkeimit riesigem Abstand das Empfängerland Nr. 1 deutscher Waffen.Im Jahr 2000 erhielt das türkische Militär aus Deutschlandu.a. Herstellungsausrüstung für Rüstungsgüter, Teile für Kampf-schiffe und Luftfahrzeuge im Wert von 510,1 Millionen DM. Nachden USA blieb die Türkei damit das bedeutendste Empfänger-land deutscher Waffen. Für 2001 bestätigte die Bundesregierung

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in ihrem Rüstungsexportbericht 253 Exportgenehmigungen fürWaffen im Wert von 327,3 Millionen DM, vor allem Kleinwaffenund Militärfahrzeuge.Der Grund für die insgesamt rückläufigen Waffentransfers anAnkara lag einerseits an der dramatischen Wirtschaftskrise derTürkei. Andererseits konnte der Generalstab auf den erfolgreichenAufbau einer Rüstungsindustrie zur eigenständigen Waffenpro-duktion auf Lizenzbasis verweisen.Wenn es nach dem Willen der Militärs in Ankara geht, dann wer-den bis zum Jahr 2025 für das geplante Modernisierungspro-gramm 150 Milliarden Dollar investiert. Größter Einzelposten istdie Beschaffung von 1000 Kampfpanzern, wobei dem deutschenLeopard-2 große Chancen eingeräumt werden.

Am Morgen des 30. Oktober kocht Leyla noch in der Küche,wenige Stunden später wird sie von ihrem Mann in die Klinikgefahren. Mit Arjin bringt sie ihren zweiten Jungen zur Welt,Hayrettins fünften Sohn. Die Familie gönnt sich nur eine kurzeAtempause. Dann ist Leyla wieder auf den Beinen und Hayrettinam Rednerpult.

»Ich bemühe mich um die Lösung sämtlicher Probleme, diemeine Kollegen haben, und um die Verbesserung der Schul-situation aller Kinder. Dazu brauchen wir mehr Rechte, aber auchmehr Geld für wesentlich kleinere Klassen«, fordert Hayrettin,der ganz in seinem Element ist, wenn es um die Behebung desBildungsnotstands geht. »Eigentlich bräuchten wir viel mehrMenschen von Hayrettins Art«, kommentiert Fehmi das politi-sche Engagement seines Bruders.

Auch Leyla unterstützt ihren Mann nach Kräften. »Ich finde esgut, dass er den Job als Vorsitzender der Lehrergewerkschaftangenommen hat«, sagt sie, »auch wenn das ein gefährlicherBeruf ist. Natürlich mache ich mir manchmal Sorgen um ihn.Wenn er außer Haus geht, bin ich mit meinen Gedanken bei ihm.Aber Hayrettin kämpft für die Zukunft der Kinder – und die liegt

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mir auch sehr am Herzen. Ich unterstütze Hayrettins Einsatz fürmehr Gerechtigkeit. Gerade in diesen harten Zeiten braucht ermeinen Rückhalt. Wir beide wissen, dass sie ihn jederzeit wiederverhaften können.«

»Eigentlich haben wir uns daran gewöhnt«, wirft Sohn Jehatein, »Papa sitzt eben oft in Untersuchungshaft.«

Leyla weiß natürlich, dass ihr Mann im Gefängnis gewesenund gefoltert worden ist, auch wenn sie nie mit ihm über die Fol-termethoden gesprochen hat. »Ich liebe ihn, deshalb habe ich ihngeheiratet. Nur in meiner Kindheit bin ich so glücklich gewesenwie heute. Selbst wenn unsere Lage nicht leicht ist, sind dasdie glücklichsten Jahre meines Lebens«, sagt sie und lächelt char-mant.

Hayrettin schenkt ihr ein Lachen, das seinen Dank nicht besserausdrücken könnte. »Die Gesellschaft verändert sich eben nichtdurch Zuschauen, Abwarten ist sogar schädlich«, sagt er kämpfe-risch. »Wenn du deine Vorstellungen entwickelt hast und dieKraft zur Umsetzung in dir verspürst, dann musst du handeln.«

Gehandelt hat Hayrettin zeitlebens, das hat ihm eine Odysseevon Strafversetzungen quer durch die Türkei, letztlich den Aus-stieg aus dem Lehrerberuf und die Arbeitslosigkeit eingebracht.Und immer noch wirkt er wie ein stürmischer junger Welterobe-rer, wenn er voller Energie verkündet, er werde seinen friedlichenKampf für Reformen, für Menschenrechte und die Veränderungder Gesellschaft fortsetzen, solange er lebt.

»Und falls Hayrettin etwas zustößt, werde ich seinen Weggehen«, verkündet die ansonsten so zurückhaltende Leyla liebe-voll und selbstbewusst zugleich.

Reformbeschlüsse 2002 –Ist die Türkei reif für die Europäische Union?Mit dem einseitigen Gewaltverzicht der PKK und dem Ende desBürgerkriegs erhielt die Türkei im Dezember 1999 den Statuseines EU-Beitrittskandidaten. Konkrete Verhandlungen sind an

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die Erfüllung der Vorgaben der »Kopenhagener Kriterien« ge-knüpft. Sie umfassen politische Kriterien (institutionelle Stabili-tät, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung derMenschenrechte, Schutz von Minderheiten etc.), wirtschaftlicheKriterien (funktionsfähige Marktwirtschaft, die Fähigkeit, demEU-Wettbewerbsdruck standzuhalten etc.) und weitere Verpflich-tungen.Einer Meinungsumfrage in der Türkei zufolge begrüßten imFebruar 2002 68 Prozent der Bevölkerung den Beitritt ihres Lan-des zur EU. Anfang August 2002 hat das türkische Parlamentweitgehende Reformgesetze verabschiedet, die dem Land die EU-Mitgliedschaft ermöglichen sollen. Wichtige Verbesserungen sinddie Stärkung grundlegender Bürgerrechte (Rede- und Presse-freiheit, Versammlungsrecht etc.), die begrenzte Erlaubnis zurAusstrahlung von Radio- und Fernsehprogrammen und der Privat-schulunterricht in nichttürkischen Sprachen sowie die Abschaf-fung der Todesstrafe in Friedenszeiten.Entscheidend wird die praktische Umsetzung der Reformen durchdie konservativ-islamische Regierung unter MinisterpräsidentAbdullah Gül sein, dessen Partei für Gerechtigkeit und Entwick-lung (AKP) am 3. November 2002 die Parlamentswahlen gewon-nen hat und auf einen schnellstmöglichen EU-Beitritt drängt.Doch nach wie vor stellen eine Reihe von ungelösten Problemenden EU-Beitritt massiv in Frage. Dazu gehören u.a. die nochimmer katastrophale Menschenrechtslage und die dramatischeSituation in den Gefängnissen (Folter, Vergewaltigungen, Verle-gung von Gefangenen in Einzelzellen etc.) ebenso wie die Konsoli-dierung der maroden Wirtschaft, die Beschränkung der politi-schen Einflussnahme des Militärs, die Lösung der Zypernfrage unddie Regelung des friedlichen Zusammenlebens von Türken undKurden.

Seit die Türkei in die Europäische Union drängt, führt die Regie-rung ständig die Demokratisierung im Munde. Hayrettin hat

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jedoch große Zweifel an der Umsetzung der versprochenen Re-formen. Nach wie vor gibt es schwerste Menschenrechtsverlet-zungen und auch Repressionen gegen die Partei HADEP, derenMitglied er seit den Gründungstagen ist.

Allein im Jahr 2001, so eine Studie der Menschenrechts-stiftung Türkiye Insan Haklari Vakfi (TIHV), sind fünfundfünf-zig HADEP-Parteibüros durchsucht und fast dreieinhalbtau-send Funktionäre der Partei festgenommen worden. »Die Re-formen sind gut für die Regierung«, urteilt er nüchtern, »abernoch weit weg von dem, was uns Kurden im praktischen Lebennutzt.«

Nicht anders sieht das Osman Baydemir, der Vorsitzende derMenschenrechtsorganisation Insan Haklari Dernegi (IHD) inDiyarbakir. Hayrettin Altun, der Mitglied des IHD ist, trifft denRechtsanwalt häufig bei Verbandstreffen oder den Zusammen-künften der Demokratieplattform, einem Verband von mehr alsdreißig Gruppen in Diyarbakir.

Formal seien viele EU-Kriterien verabschiedet, in der Praxisaber sind sie nach Baydemirs Einschätzung alle unerfüllt. »DieTürkei hat ihre Hausaufgaben noch nicht erledigt, weil sie miteiner Phobie an die Aufnahmebedingungen herangeht.« Einender maßgeblichen Gründe dafür sieht der IHD-Vorsitzende »inder Angst der Türkei, Kurdistan könne sich im Rahmen derNeuorientierung von der Türkei lösen«. Das jedoch sei nichtdas eigentliche Problem. Vielmehr sei die wirtschaftliche Lagedesaströs, »so dass Millionen von Türken und Kurden lieberheute als morgen abwandern würden. Genau aus diesem Grundmuss die Türkei attraktiv werden«, fordert er. Dazu gehören fürBaydemir vor allem »massive Fortschritte in der Menschen-rechtsfrage«.

Darin stimmt Hayrettin durchaus mit ihm überein. »Doch derWeg zur Wahrung von Menschenrechten und der Verwirkli-chung von Demokratie ist eben lang und weit.«

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IHD – lebensgefährlicher Einsatz für die MenschenrechteAm 17. Juli 1986 gründeten Menschenrechtler den Insan HaklariDernegi (IHD). Seit seiner Gründung sahen sich die Repräsentan-ten und Mitglieder des Menschenrechtsverbands massiver staat-licher Repression ausgesetzt, unzählige Male wurden sie mit An-klagen und Prozessen überhäuft. Im Jahr 2000 zählte der Vereinbeachtliche 19 000 Mitglieder und Förderer und rund 50 Zweig-stellen.Am 12. Mai 1998 wurde der IHD-Vorsitzende Akin Birdal durchzwölf Schüsse lebensgefährlich verletzt. Im folgenden wurde ihmder Prozess gemacht, während die Drahtzieher des Attentats inFreiheit blieben. Wegen seiner Kritik am Bürgerkrieg wurde Bir-dal Mitte 2000 für mehrere Monate inhaftiert. Bis zu diesem Zeit-punkt hatte der IHD vierzehn Mitglieder verloren.Im Mai 2000 wurde das IHD-Büro in Diyarbakir zum wieder-holten Male für mehrere Monate geschlossen, sieben IHD-Büroswurden gänzlich verboten. Am 25. Januar 2001 besetzte die Poli-zei mehrere IHD-Büros, zum ersten Mal auch die Zentrale inAnkara.Im November 2002 wurde die türkische Rechtsanwältin ErenKeskin, stellvertretende IHD-Vorsitzende von Istanbul, mit einemeinjährigen Berufsverbot belegt. Die Menschenrechtlerin war be-reits 1995 wegen »Verleumdung des Militärs« für sechs Monate inHaft. 1997 wurde sie zu 13 Monaten Haft verurteilt, da sie dasWort »Kurdistan« in einem Interview verwendet hatte. Die Strafewurde zur Bewährung ausgesetzt. Im gleichen Jahr gründete sie inIstanbul ein Rechtshilfeprojekt zum Schutz inhaftierter, vergewal-tigter und sexuell gefolterter Frauen. Derzeit laufen mehr als 100Strafverfahren gegen Keskin.

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DIE MAUERN NIEDERREISSEN

»Ich würde genau an dieser Stelle einen Park bauen,in dem Mädchen und Jungen herumtollenund Schmetterlinge frei fliegen.«Hayrettin Altun

Ihre letzten Lebensjahre hat Saniye Altun in Hayrettins Apparte-ment im fünften Stock des siebenstöckigen Wohnblocks ver-bracht, in dem auch Hayriye wohnt. Die Zimmer sind hell undvergleichsweise geräumig.

»Alte Menschen überleben nicht in der Stadt.« Hayrettin kannmitempfinden, wie sich seine Mutter in Diyarbakir fühlt, weitabvon der vertrauten und liebgewonnenen Dorfgemeinschaft, wosie geboren wurde und aufgewachsen ist, wo sie die schönstenJahre ihres Lebens verbracht hat.

»Hayrettin, bitte lass uns zurückkehren, nach Hause, nach Tîy-aks«, hat Saniye ihren Sohn angefleht. »Für mich ist es nichtschlimm, in einer einfachen Hütte zu schlafen. Ich brauche dieseWohnung nicht. Das ist doch kein Leben in Diyarbakir. DieNachbarn fragen mich nicht einmal, wie es mir geht oder was ichheute gemacht habe.«

Nur zu gerne hätte Hayrettin ihrem Drängen nachgegeben.Aber er musste Geld verdienen und seine Familie ernähren.Außerdem war die Region um Tîyaks noch immer OHAL-Aus-nahmegebiet, Teile des Dorfes zerstört, ein vollständiger Wieder-aufbau noch in weiter Ferne. Stellen für Lehrer gab es in derGegend kaum – und für ihn, den Dissidenten, schon gar nicht.

Die letzten Tage vor ihrem Tod hat Hayrettins Mutter zu phan-tasieren begonnen, hat erzählt vom Leben in Tîyaks, von ihrenFreundinnen und Bekannten, von Geburten und Hochzeiten, vontraditionellen und familiären Festen. Am 3. Juli 2000 ist Saniyeim Alter von fünfundsiebzig Jahren gestorben.

»Sie hat auf dem Feld gearbeitet und sich um uns Kinder

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gekümmert. Von meiner Mutter habe ich gelernt, die Menschenzu lieben. Von ihr habe ich erfahren, was Humanität bedeutet.«Mit ihrem freundlichen Wesen, ihrer Friedensliebe und ihrerLebensfreude hat sie Hayrettin entscheidend geprägt. Allerdingswar ihr die Lebensfreude abhanden gekommen, seit türkischeSoldaten ihr Heimatdorf zusammengeschossen hatten.

Die letzten acht Jahre ihres Lebens hat sie sich an einen Traumgeklammert, der nie in Erfüllung gehen sollte: die Rückkehr nachTîyaks. Die Vernichtung eines Dorfes bedeutet mehr als Rauchund Ruinen. Mit den Mauern werden Familienstrukturen zer-schlagen, wird Lebensglück ausgelöscht, gehen Menschen zu-grunde. Was die Überlebenden verloren haben, lebt in ihren Erin-nerungen fort. Auch noch so solide gebaute neue Häuser könnendiesen Verlust nicht ersetzen. Saniye Altun ist zur Leidtragendeneiner Politik der verbrannten Erde geworden, die die Dorfbewoh-ner kollektiv zu Opfern gemacht und die Existenzgrundlage –gerade alter Menschen – unwiederbringlich zerstört hat.

Von der Wohnung sind es nur wenige Fahrminuten zum Fried-hof Iskanevleri Mezarligi, auf dem viele Familienangehörige undBekannte der Altuns begraben liegen. Zum Schutz vor Grab-schändern sind Stahlkäfige um die meisten Anlagen herum er-richtet.

Hayrettins Mutter liegt im schönsten Teil des Friedhofs, dortwo die großen Grabsteine wuchtig und stilvoll geformt sind. DieGrabinschrift verrät ihre Lebensdaten: D.T. 1925, das Jahr derGeburt, Ö.T. 3.7.2000, der Tag des Todes. Kunstvoll gestalteteRundungen, Blumen und die typische hellgrüne Bemalung ver-leihen Saniyes Grab etwas Freundliches.

Hayrettin geht weiter. An einem wuchtigen Grab mit einer röt-lich bemalten Betoneinfassung bleibt er stehen. Hier liegt seineerste Frau begraben. Raziye Altun: D.T. 1958, Ö.T. 26.7.1994.

»Heute wäre sie Mitte Vierzig. Die Periode von 1992 bis 1994ist die dunkelste Zeit gewesen. Alles war so schrecklich.« Mehrsagt Hayrettin nicht, steht schweigend da. Will nicht mehr sagen,kann nicht mehr sagen. In seinem Kopf läuft ein Film ab, der ihm

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die schlimmsten Ereignisse seines Lebens vorführt. Damals ist erzum Alkoholiker geworden. Ein Wunder, dass er überlebt hat.

Stumm schreitet er zum nächsten Feld, steigt vorsichtig überdie Erdhaufen der Säuglinge und Kleinkinder, die namenlos quer-beet beerdigt liegen. Einzig zwei Backsteine kennzeichnen dieLage der Kinderkörper.

1993, 1993, 1993, 1992, 1994, 1992. In den Jahren des Bürger-kriegs ist der Friedhof gewaltig gewachsen, Woche für Wochesind aus den Dörfern des Bezirks Diyarbakir immer weitere Särgemit den sterblichen Überresten der Opfer angeliefert worden. Diemeisten Grabsteine tragen Daten aus der ersten Hälfte der neunzi-ger Jahre, als türkische Soldaten dreieinhalbtausend Dörfer demErdboden gleichgemacht haben – Tîyaks ist nur eines von ihnen.

»Von den ehemals zweitausend Einwohnern unseres Dorfesleben die meisten heute in Diyarbakir, rund sechshundert. AndereFamilien sind nach Istanbul, Izmir oder Mersin geflohen.« Hay-rettin hat seine Stimme wiedergefunden.

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Auf diesem Friedhof fern der Heimat Tîaks sind Hayrettins Mutter,seine erste Frau Raziye, sein ermordeter Neffe Abdi und viele weitereVerwandte und Bekannte begraben.

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Abdi Altun, D.T. 1960, Ö.T. 2.28.1994. Was die Inschriftnicht verrät, ist die Todesursache: Mord per Kopfschuss. WenigeSchritte weiter Sabri Ayyildiz: D.T. 1.2.1966, darunter das Da-tum seines Todes: 19.8.1993. Ein breiter Sockel, eine gewichtigeEinfassung, ein Grabstein mit schräggestellter Platte.

»Hier liegt der Mann mit den abgeschnittenen Ohren und denherausgebohrten Augen. Seine Leiche haben Regierungssoldatenden Bewohnern Tîyaks zur Identifizierung vorgeführt.« Hayret-tin ringt mit den Tränen. Er schneuzt sich, fragt, ob wir weiterge-hen können. Jede weitere Frage wäre eine zuviel, dann abererzählt er doch.

»Ziel der Soldaten ist es gewesen, uns zu verängstigen. In man-chen Fällen haben sie die Ohren in Säure geworfen.« Unwill-kürlich zieht Hayrettin den Bund seines Autoschlüssels aus derHosentasche. »Nachdem das Fleisch abgelöst worden ist, sinddie Knorpel von Regierungssoldaten zu Schlüsselanhängern um-funktioniert worden. Manchmal haben sie auch Fingerknochengetöteter Kurden dran-gehängt.«

Mit einem Taschen-tuch wischt er sich dasGesicht trocken. »Histo-risch gesehen, ist dieRegierung immer grau-sam gegen uns Kurdengewesen. Ich glaubeaber nicht, dass siedamit gerechnet hat,dass der Widerstand inso kurzer Zeit so starkwachsen würde.«

Wahrscheinlich aberhaben auch die Dorf-bewohner nicht damitgerechnet, dass so viele

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Der Grabstein von Abdi Altun.Hayrettins Neffe wurde durch einengezielten Kopfschuss getötet.

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von ihnen in so jungen Jahren auf dem Friedhof IskanevleriMezarligi begraben würden.

Auf dem Rückweg fährt Hayrettin wie jeden Tag an dem Gebäu-de vorbei, das seine schlimmsten Erinnerungen hinter hohenMauern bewahrt. Das Wohnhaus der Altuns liegt nur rund fünf-hundert Meter vom DETC-Gefängnis entfernt.

»Nein, ich verspüre keine Rache- oder Hassgefühle. Aber jen-seits dieser Empfindungen weiß ich, dass wir die Strukturenändern müssen, wenn wir die Demokratie leben wollen«, sagtHayrettin. Hinter dem Stacheldraht in vier, fünf Metern Höhe pat-rouillieren wie damals Soldaten mit G3-Gewehren im Anschlagund beobachten mit Argusaugen aus ihren Wachtürmen, ob einerder Gefangenen einen Fluchtversuch unternehmen oder ein Pas-sant verbotenerweise ein Foto machen will.

Noch immer werden hier politische Häftlinge gefangengehal-ten. »Als sie mich eingesperrt haben, sind wir etwa dreitausend-fünfhundert Gefangene gewesen, jetzt leben hier rund zweitau-send Menschen. Die Zahl ist unvorstellbar hoch, zumal das Ge-fängnis groß, aber nicht riesig ist.«

»Ich will es vernichten«, sagt Hayrettin, ansonsten die Fried-fertigkeit in Person, mit fester Stimme, »das wäre so wundervoll,sollte ich diese Entscheidung zu treffen haben. Ich würde eigen-händig die Mauern niederreißen und genau an dieser Stelle ei-nen Park bauen, in dem Mädchen und Jungen herumtollen undSchmetterlinge frei fliegen.«

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HAYRETTINS TRAUM

»Wir werden all das unternehmen, was ich in meiner Jugendunternommen habe.«Hayrettin Altun

Bis heute führen einige versprengte Guerillagruppen in den Ber-gen einen aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht der türki-schen Streitkräfte.

Was am 9. Oktober 2001 in Tîyaks geschieht, hat mit dem ver-sprochenen Frieden wenig gemein: Gegen fünf Uhr morgensdringen etwa tausend Soldaten mit G3-Gewehren aus den umlie-genden Städten Kulp, Lice und Mus in das Dorf ein und treibendie dreihundert Einwohner vor dem großen Teppichhaus zusam-men, die jüngsten etwa zwei Jahre alt, die ältesten gut siebzig.Getrennt nach Geschlechtern lassen sie die Menschen stunden-lang stehen, später auf dem Boden sitzen. Immer wieder werdendie Bewohner herzitiert, damit sie ihre Häuser für die Durchsu-chungsaktionen aufschließen.

Mit der Zeit verspüren sie Hunger und Durst und werdenimmer wütender.

»Lasst uns Wasser holen! Oder bringt uns Wasser!« rufenmehrere Menschen.

Die Soldaten zeigen sich unerbittlich. »Dazu haben wir keineErlaubnis«, lautet die knappe Antwort. Statt dessen werden dieWartenden eingeschüchtert. Drohend richten Soldaten G3-Ge-wehre mit Bajonetten auf die Menschenmenge. Die Situationspitzt sich bedrohlich zu.

Hayriye hält sich zufällig an diesem Tag zu Besuch in Tîyaksauf, jetzt ist sie unter den Eingekesselten. Sie hat nicht die Kraft,diese Strapazen auszuhalten. Mit einem Mal fällt sie zu Boden,wo sie liegen bleibt.

Obwohl mehrere Soldaten ihre Bajonette auf den G3-Gewehrengegen Neval richten, nimmt Hayriyes Tochter all ihren Mut zusam-

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men. »Meine Mutter ist krank. Sie hat Probleme mit dem Herzenund den Knochen. Sie muss sich hinlegen! Holt einen Arzt, bitte!«ruft Neval. Aber vergeblich, nichts passiert. Stundenlang lassen dieSoldaten Hayrettins Schwester in der Sonne darben.

»Mein Blutdruck! Hilft mir denn keiner?« fleht die Zweiund-sechzigjährige. Endlich bequemen sich ein paar Soldaten zu ihr.

»Mitkommen!« fordert einer der Uniformierten Hayriye, ihrenBruder Fehmi, ihre Tochter Neval und einen Nachbarn auf.

»Wir suchen nach Beweismaterial«, so die Standardbegrün-dung, bevor die Militärs damit beginnen, Kleider aus dem Schrankzu schleudern und das Bettzeug auf den Boden zu werfen. Hayriyeist so erschöpft, dass sie sich nicht wehren kann.

»Was suchen Sie?« fragt Neval mutig.»Waffen!« entgegnet einer der Uniformierten unwillig.»Wer sagt, dass wir hier Waffen haben?« hakt die junge Frau

mit den langen Haaren nach.»Einer der Dorfbewohner hat uns informiert. Und jetzt ist

Ruhe, oder –«Sie wissen, dass Schweigen besser ist als alles, was gleich

kommen kann. Einmal mehr müssen sie eine Hausdurchsuchungohnmächtig über sich ergehen lassen. Gegen drei Uhr nach-mittags ist der Spuk vorbei. So schnell wie möglich verlassenHayriye und Neval das Dorf, in dem sie so gerne wieder lebenwürden.

Als Hayriye in Diyarbakir erzählt, was geschehen ist, bricht sieerneut in Tränen aus. »Jedesmal wenn die Soldaten auftauchen,bekomme ich furchtbare Angst. Die Regierung hat mir sovielgenommen. Sie hat meinen Sohn Nurettin getötet. Dann habensie behauptet, die PKK hätte ihn erschossen. Aber eine Augen-zeugin ist von Dorfschützern bedroht worden, damit sie nichtsagt, dass Dorfschützer selbst meinen Nurettin getötet haben. Erstim letzten Jahr hat sie ihrer Familie die Wahrheit erzählt.«

Anklagend hält sie Nurettins übergroßes Porträtfoto in dieHöhe und schluchzt erbärmlich. Hayriye braucht einige Zeit,bevor sie weiterreden kann. »Erst haben sie Nurettin erschos-

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sen, dann Abdi. Unbekannte haben meinen anderen Sohn umge-bracht, sagen sie. Und die Regierung hat unsere Häuser zusam-mengeschossen und abgebrannt. Ich sehe das alles ganz genauvor meinen Augen. Immer muss ich daran denken. Mein Herz-leiden kommt von der Angst«, stimmt sie ihr nimmer endenwollendes Klagelied an. »Was habe ich nur getan, dass ich sobestraft werde?«

»Gundî« und »Bajarî« beschimpfen sich die Bewohner Türkisch-Kurdistans gegenseitig. Die einen kommen aus der Stadt, allenvoran der Provinzhauptstadt Diyarbakir mit ihren eineinhalb Mil-lionen Einwohnern. Die anderen stammen aus ländlichen Regio-nen, immerhin die große Mehrheit der Bevölkerung.

»Du bist ein Gundî«, heißt es immer dann, wenn einer vomLande zu ungeschickt an einer Maschine herumwerkelt. Die soGescholtenen aber wissen sich zu wehren. »Du Bajarî«, spottendie Leute vom Land über die Städter, die zu fett und zu faul zumArbeiten sind. Hayrettin lacht und ergänzt: »Hayriye und ich

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Hayriyes zerstörtes Haus in Tîyaks.

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sind hundertprozentige Gundîs.« Er meint das ganz und garpositiv.

Bei seiner Schwester kehrt Hayrettin nicht zuletzt deshalb sogerne ein, weil sie eine exzellente Köchin ist. »Wenn ich sienur sehe, werde ich schon hungrig«, verrät Hayrettin, der ihrEssen wahnsinnig gern mag. »Kein Mensch der Welt kann besserkochen als Hayriye. Ihr Essen schmeckt so köstlich, dass ich allesverschlinge, selbst wenn sie mit den Füßen kocht«, lacht Hay-rettin.

Aber ihn treibt mehr an als nur die Lust nach einer liebevollzubereiteten und exzellent gewürzten Mahlzeit. »Vielleicht magich ihr Essen so gerne, weil es nach Tîyaks schmeckt«, verrät erden wahren Grund seiner Besuche in der Nachbarwohnung.

Tîyaks ist ihre Herkunft und ihre Hoffnung. An dem Ort, woihre Lebensreise begonnen hat, soll sie wieder enden. Materiellgesehen haben die Altuns alles, was sie zum Leben brauchen, aberdas ist es nicht, was sie hier glücklich macht. In diesem Punktgleichen die Gedanken und Gefühle von Hayrettins Schwesterdenen seiner Mutter.

Für Hayriye ist das Leben in ihrer Heimat viel besser. Wenn siesagt: »Tîyaks ist so schön gewesen«, hat sie das Dorf von damalsund nicht von heute vor Augen. Auch wenn inzwischen einzelne

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Hayrettin (l.) mitseiner SchwesterHayriye.

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Familien zurückgekehrt sind, zwischen Ruinen die ersten neuenHäuser stehen und die Natur sich langsam von den Wunden desBürgerkriegs erholt: Für sie wird das neue Tîyaks nie wieder sosein, wie sie es gekannt und geliebt hat. Zu viele ihrer Ange-hörigen und Freunde aus den Tagen vor dem Terror des Kriegesliegen in Iskanevleri Mezarligi begraben.

Dennoch kennt Hayrettins Schwester nur das eine Ziel. »Ichwill nach Hause, trotz der Zerstörungen. Sobald die Soldaten mitden Gewehren und den Panzern weg sind, werden wir gehen.«

Zwar ist die Militärstation in Tîyaks aufgelöst, und die Einhei-ten sind in den Nachbarstädten stationiert, doch noch immer drohtein Panzer kurz nach dem Ortseingang von Tîyaks. Häufig fahrenMilitärfahrzeuge mit Soldaten durch das Dorf, um ins Gebirge zuziehen. Jederzeit müssen die Bewohner mit Hausdurchsuchungenrechnen – für die herzkranke Hayriye ist das kein erträglicherZustand.

Doch ihr Bruder ist optimistisch. Dazu hat er durchaus Grund,denn im November 2002 ist endlich der Ausnahmezustand in derProvinz Diyarbakir und damit auch in Tîyaks aufgehoben worden– ein entscheidender Schritt in Richtung Rückkehr. »Sobald unsdie Regierung die Erlaubnis erteilt, werden wir heimkehren. Ley-la mit Arjin und Darjin, Gülistan und sogar Jehat werden mitkom-men. Denn die Tomaten in Diyarbakir kann ich nicht essen, undselbst die Eier schmecken hier absolut nach nichts.« Es sind dieeinfachen und mit Symbolik doch so aufgeladenen Dinge, dieHayrettin geradezu magnetisch zurück nach Hause ziehen. Er istnun mal auf dem Land geboren, ist dort aufgewachsen und hatzweiundzwanzig Jahre als Grundschullehrer in Dörfern zuge-bracht. Hayrettin ist ein Landmensch geblieben und nie ein Städ-ter geworden.

»Ich habe einen Traum, und den will ich verwirklichen«, sagter so sanft, als könne seine Vision zerbrechen. »Wir werden einHaus bauen, mit einem wunderschönen Garten. Wir werden zumBach gehen und Fische fangen. Wir werden Kühe haben und sieauf die Weide schicken. Wir werden Bienen züchten und Honig

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machen. Wir werden Gemüse anpflanzen und Früchte ernten.Denn ich liebe alles, was wir auf unserem Feld ausgesät haben.Wir werden all das unternehmen, was ich in meiner Jugend unter-nommen habe.«

Hayrettin ist sich seiner Sache sicher, dabei verleugnet er garnicht die Widerstände. »Ich weiß, dass die größten Steine nochaus dem Weg geräumt werden müssen. Aber unseren Traum vonder Rückkehr nach Tîyaks werden wir verwirklichen. Und wirsind nicht allein, viele von uns werden nach Hause gehen.«

Traurig und freudig zugleich klingt dieser Traum. Aus ihmspricht die Verzweiflung über das triste Leben in der grauenGroßstadt und über die Arbeitslosigkeit ebenso wie das Verlan-gen nach dem Duft der Frühlingsblüten, der Heuernte, der Veil-chen, nach Natur. Nach einem Leben, das die Altuns noch nichthaben und auf das Hunderttausende von Kurdinnen und Kurdensehnsüchtig warten.

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Im Kreis der Familie (v.l.n.r.): Hayrettin mit Darjin auf dem Arm,seine Frau Leyla, Hayriye mit ihren Töchtern Nezahat und Gülizar(2.v.r.), Gülistan (3.v.r.) und ihr Bruder Jehat.

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In diesen Tagen weht der Wind des Wechsels, des politischen,sozialen und kulturellen Aufbruchs in ein neues Jahrtausend –und in einen Frieden, den sie sich alle so sehnsüchtig herbeiwün-schen.

»Inshallah, Inshallah, Inshallah«, hofft Hayriye, dass Hayret-tins Traum wahr werde.

»Ganz bestimmt, der Tag wird kommen«, sagt ihr Bruder undlacht. Ein Lachen, das stärker ist als die Gewalt aller G3-Gewehreder Türkei. Das Lachen der Freiheit der Menschen in Türkisch-Kurdistan.

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15 Jahre des Verschweigens

DAS SCHNELLFEUERGEDICHT

»Das G3 ist eure Frau, das Bajonett eure Schwägerin.«Ibrahim Demir, Feldwebel der türkischen Streitkräfte

Hier in Izmir, dem früheren Smyrna, soll Homer seine Iliasgeschrieben haben, das Buch vom Kampf um Troja. Nach demBesuch des beeindruckenden Basars oder des ArchäologischenMuseums ist Izmir für Hunderttausende von Urlaubern vor allemDurchreisestation an andere Orte der türkischen West- und Süd-küste.

Überhaupt ist der Tourismus zur Haupteinnahmequelle derTürkei geworden. Bis zum Jahr 2020 sollen jährlich sechzig Mil-lionen Besucher siebenundfünfzig Milliarden Euro ins Land brin-gen, so jedenfalls die Vorstellung von Tourismusminister Musta-fa Tasar. Das Ziel ist ehrgeizig, jedoch nicht unerreichbar, denndie Türkei ist ein Land voller kultureller Schätze und zumindestbislang unverschmutzter Strände. Vor allem aber sind die Türkenein gastfreundliches Volk, das die Reisenden offenherzig emp-fängt.

Dennoch lassen die weitgehend hausgemachten ProblemeTasars Ziel in weite Ferne rücken. Wie die anderen türkischenMetropolen breitet sich Izmir in endlosen Vorstädten aus, indenen Bauern vom Land und kurdische Vertriebene ihr elen-des Dasein fristen. Drei bis vier Millionen Menschen lebenmittlerweile in der drittgrößten Stadt der Türkei, die vor demBürgerkrieg gerade mal neunhunderttausend Einwohner gezählthat. Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise rutschen nicht nurRandgruppen in die Armut ab.

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Von alldem erfahren Urlauber jedoch wenig, wenn sie in Izmirihren Zwischenstop einlegen und sich dann an die sonnigenStrände karren lassen.

Göç-Der – Hilfe für VertriebeneDer am 12. April 1997 gegründete kurdische Verein der Vertrie-benen (Göç-Der) leistet vor allem in den Großstädten Diyarbakir,Istanbul, Izmir u.a. wertvolle Betreuungsarbeit für Menschen undFamilien, die in der Zeit des Bürgerkriegs aus ihren Dörfern ver-trieben worden sind.Im Dezember 2001 beklagte Rechtsanwalt Serdar Talay, Vor-sitzender der Göç-Der-Ortsgruppe Diyarbakir, gegenüber der Re-gierung in Ankara, dass einem großen Teil der kurdischen Bevöl-kerung noch immer die Rückkehr in ihre angestammte Heimatversagt bleibe. Die Rückkehrprojekte der Regierung bezeichneteer als »unrealistisch und anti-demokratisch«. Diese habe die Be-dingung gestellt, dass die Rückkehrer »sauber« sein müssten undmit »keiner demokratischen Massenorganisation in Verbindunggetreten sein« dürften.Neben der Zur-Verfügung-Stellung von Treffräumen hilft Göç-DerVertriebenen mit Beratungsgesprächen, persönlicher und me-dizinischer Betreuung. Ohne die Unterstützung dieser Hilfsor-ganisation würden Abertausende von Binnenflüchtlingen in denstädtischen Zentren dahinvegetieren, da der türkische Staat kei-nen Bedarf zu umfassender Unterstützung sieht.Wegen der Herausgabe eines Flüchtlingsberichts wurde im Juni2002 ein Untersuchungsverfahren gegen den Göç-Der-Vorsitzen-den eingeleitet. Sowohl die Vereinszentrale als auch die Zweig-stellen sahen sich wiederholt Repressalien ausgesetzt.

Ibrahim Demir stammt aus Izmir. Der Mann ist Mitte Zwanzig,von schlanker Statur und ausgesprochen intelligent. Er redetruhig, fast sanft, eher untypisch für einen Unteroffizier. Geduldig

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erzählt Ibrahim, dass er auf Grund seiner höheren Bildung nichtdie normale Laufbahn eines Wehrpflichtigen absolvieren musste,sondern lediglich zu einem achtmonatigen Dienst verpflichtetwurde. Als gehobener Dienstgrad hatte er mehr Rechte als dieMehmets, wie die einfachen Soldaten genannt werden.

An seine eigene Ausbildung kann sich Ibrahim nur zu gut erin-nern, vor allem das monotone Geschrei ist ihm in Erinnerunggeblieben. »Jeder Türke wird als Soldat geboren!« – »Alles fürsVaterland!« – »Vaterland, ich opfere dir mein Leben!« – Täglichzehnmal, zwölfmal, fünfzehnmal mussten sie das brüllen. Jederwurde kontrolliert, ob er auch gehorsam mitbrüllte. »Wie sollendie Stimmen eurer Rekruten laut genug sein, wenn ihr als Führerzu leise seid?« wurde Ibrahim Demir und seinen Kameraden vor-gehalten. Strafen wurden ihnen angedroht, falls sie weiterhin zuleise schreien würden.

Mit Abschluss seiner Grundausbildung hatte der Feldwebeldas Gelernte umzusetzen. Viermal täglich mussten seine Solda-ten durchzählen, zuletzt wenn sie sich abgelegt hatten, mangelsPlatz oft zu zweit in einem Bett. »Wir waren eben nicht bei einerEliteeinheit.« Der Zweck der Übung lag auf der Hand. »Auf dieseWeise fanden wir ziemlich schnell heraus, wenn einer desertiertwar.« Tagsüber wurden auch die Waffen einmal gezählt. Einzweites Mal nachts, wenn sie die Gewehre alle im selben Raumdeponierten.

»Auf unseren G3 war die türkische Herstellerfirma MKE ein-gestanzt, dazu das Produktionsjahr sowie eine sechsstellige Num-mer. Während wir die Läufe und andere Teile kontrollierten, dieauf einem langen Tuch ausgebreitet lagen, hatten meine Rekrutenihr Bajonett in die Höhe zu halten. Sie mussten ihren Namen unddie in das Gewehr eingestanzte Nummer schreien«, schildert derUnteroffizier das Prozedere der Waffenreinigung.

Alle Soldaten mussten das G3-Gedicht auswendig lernen undso oft aufsagen, dass es ihnen mit der Zeit in Fleisch und Blutüberging.

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»Nutze deine linke Hand!Nutze deine rechte Hand!Umschließe den Griff!Lehne den Kolben an deine Schulter!Verschmelze damit!Ziele!Atemkontrolle!Betätige den Abzug!«

Beim Rezitieren des Gewehrgedichts mussten die Rekruten dieHandfeuerwaffe erst am Lauf, danach am Griff packen. Anschlie-ßend galt es, das Gewehr richtig an die Wange zu halten.

»Der Rückstoß kann dir die Knochen brechen, wenn du dieWaffe falsch anlegst. Die Atemkontrolle ist notwendig, um denGegner zu treffen«, erklärt der Feldwebel. »Die Schießübungenhatten vor allem den Zweck, unsere Hemmungen gegen dasTöten abzubauen. Deshalb wurde derjenige geprügelt, der dasG3-Gedicht vergaß.«

Mit der Zeit sollte jeder Soldat eine möglichst enge Verbin-dung mit dem Schnellfeuergewehr eingehen, so als sei die Waffeein Mitglied der Familie. »Das G3 ist eure Frau, das Bajonett eureSchwägerin, so müsst ihr das Gewehr auch behandeln«, wurdeihnen beigebracht. »Wieder und wieder wurde uns eingetrich-tert, wie wichtig das G3 ist. Wir alle mussten das Gewehr zehnStunden lang bei uns tragen, aber es durfte keinesfalls beschädigtwerden.« Wies die Waffe einen Schaden auf, wurde der Besitzerinhaftiert.

»Warum sperren wir diejenigen ein, die nicht auf ihre eigeneFrau aufpassen?« fragte ihr Vorgesetzter. »Ganz einfach: Dubrauchst eine funktionsfähige Waffe im Krieg. Sie muss ihrenZweck erfüllen.«

Ob sie eine Kalaschnikow oder ein G3 mit sich führten, hingvom Befehl ab. »Je nach Ziel der Operation nehmt ihr eine andereWaffe mit. Wenn es darum geht, den Feind zu schwächen oderKriegsgefangene zu machen, dann schießt ihr mit der Kalasch-

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nikow. Verletzte bringen den Vorteil mit sich, dass sich die Gue-rilla um ihre Männer kümmern muss«, gab ein ranghoher Offizierden Soldaten mit auf den Weg ins Gebirge. »Denn in den Bergenwird der Kampf in Kleingruppen geführt, bestehend aus fünfzehnoder zwanzig Mann, nicht mehr. Jeder Verletzte lähmt den Feind,dafür ist die Kalaschnikow die geeignete Waffe.«

Einsätze mit der Heckler&Koch-Waffe verfolgten einen ande-ren Zweck: »Das G3 ist dazu da, möglichst viele Terroristen zutöten.«

Obwohl Ibrahim vom Einsatz im Bürgerkrieg verschont geblie-ben ist, denkt er ungern an diese Zeit zurück. Nie wieder will erzum Militär. »Soweit ich von Freunden weiß, hat sich an der Aus-bildung nichts geändert. Bis heute werden türkische Soldatenschikaniert und so auf Kampfeinsätze vorbereitet. Und bis heuteist Kriegsdienstverweigerung verboten.« So beschreibt er dasZwangssystem, das unzählige junge Soldaten in den Bürgerkrieggetrieben hat, obwohl sie von ihrer Einstellung her die Jagd aufkurdische Kämpfer und die Dorfzerstörungen abgelehnt haben.

»Mich überrascht es nicht, dass viele unserer Männer denDruck nicht ausgehalten haben. Sie sind verzweifelt und de-pressiv geworden«, meint Ibrahim Demir. »In ihrer inneren Notverdrückten sich manche, noch bevor sie in das Kriegsgebietgeschickt wurden. Von hundertfünfzig Soldaten desertierten beiuns drei. Sie haben die Einheit regulär verlassen und sind einfachnicht wiedergekommen.«

Gleich nach ihrer Grundausbildung mussten die Rekruten indie Berge. Zumindest diejenigen, die keine Beziehungen zu ei-nem Offizier hatten oder sich nicht wie die Reichen freikaufenkonnten. Das Geld der Freigekauften, so sagte man ihnen, werdefür Erdbebenopfer verwandt. »Ich weiß, dass diese Behauptungfalsch war. Das Geld wanderte in die Militärkasse.«

Ibrahims Selbstsicherheit verrät, dass ihm trotz der Schikanendas Schlimmste erspart geblieben ist. »Ich habe das Militär aus

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gesundheitlichen Gründen verlassen können. Mein Weg war derbessere. Denn unheimlich viele von denen, die aus dem Südostenzurückgekommen sind, leiden seither an ihren Traumata. Siemussten Befehle ausführen, die ihnen zuwider waren. Das türki-sche Militär verschweigt die Wahrheit – bis zum heutigen Tag.«

SPEZIALKOMMANDOS IN DEN DÖRFERN

»Mehr als achtzig Prozent der Kurdensind mit dem G3 getötet worden.«Dogan Galip, Kommandeur einer türkischen Militäreinheit

Dogan Galip war im Krieg. Das sieht man ihm an, und das hörtman. Seine Körpersprache ist die eines gebrochenen Mannes.Seine Stimme zittert, selbst kurze Sätze muss er manchmal wie-derholen. Immer wieder verliert er den Gesprächsfaden. MitSicherheit war der Mann mit der gedrungenen Gestalt und denauffallend schwarzen Haaren einst voll durchtrainiert. Heute ister ein physisches und psychisches Wrack.

Seine Grundausbildung absolvierte Dogan in Mittelanatolien,eineinhalb Monate später wurde er nach Foça abkommandiert,weithin bekannt für seine alten griechischen Steinhäuser und dievielen Fischerboote. Hier, fünfzig Kilometer nordwestlich vonIzmir, erfuhr der türkische Soldat, worum es ging.

»Erst in Foça ist mir klargeworden, dass sie mich in den Kriegschicken.« Wenige Wochen später wurde er nach Cizre nahe dersyrischen Grenze versetzt, später an andere Orte in Türkisch-Kurdistan.

»Wir bekamen das G3 mit dem einführbaren Kolben. Dasbrauchst du bei einer Eliteeinheit. Und eine Pistole vom TypColt.« Mit dem G3 übte er gezielte Todesschüsse. »Aus fünfund-zwanzig Metern mussten wir die Köpfe treffen. Und die Brust.

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Wir schossen auf Zielscheiben, menschliche Silhouetten. Meistnur Oberkörper.« Für den Krieg in den Bergen »erhielt ich einespezielle Ausbildung im Guerillakampf«, erklärt Dogan Galip,der schnell zum Feldwebel und später sogar zum Kommandanteneiner Einheit befördert wurde – was er sich bis heute nicht er-klären kann. Denn bevor sie ihn gefunden hatten, lebte er imUntergrund, um dem Kriegsdienst zu entgehen. »Ich hätte denKriegsdienst verweigert. Aber sie haben mich mit Gewalt ge-holt.«

Kein Recht auf KriegsdienstverweigerungIn der Türkei besteht kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung(KDV), ebensowenig gibt es für KDV eine strafrechtliche Defini-tion. Die Verweigerung des Kriegsdienstes verbietet sich auto-matisch durch das Wehrdienstgesetz 1111. Demzufolge sind alleMänner, die nicht aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden, abihrem 20. Lebensjahr gezwungen, Wehrdienst abzuleisten.Eine KDV-Erklärung kann gemäß dem Türkischen Strafgesetz,Art. 155, zu einem Verfahren wegen »Distanzierung des Volkesvom Militär« und zu einer Haftstrafe zwischen zwei Monatenund zwei Jahren in einem Militärgefängnis und Kasernen führen.Rekrutierte Kriegsdienstverweigerer werden wegen »wiederholterBefehlsverweigerung« (Türkisches Militärstrafgesetz, Art. 87)angeklagt und bis zu zwei Jahre inhaftiert. Damit nicht genug,erwartet die Kriegsdienstverweigerer im Anschluss an die Gefäng-nisstrafe eine erneute Inhaftierung und damit Mehrfachbestra-fung, da sich die Befehlsverweigerung nach jeder Entlassung ausdem Militärgefängnis wiederholt. Der KDV-ler Osman Murat Ülkez.B. wurde in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren siebenmalwegen Befehlsverweigerung angeklagt.Obwohl Gerichte, Militär und Polizei öffentliche KDV-Erklä-rungen vorzugsweise ignorieren, steigt die Zahl der KDV-ler nurlangsam, denn ein Ende der gerichtlichen und behördlichen Verfol-gung ist nicht abzusehen und eine Anerkennung der KDV derzeit

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rechtlich nicht möglich. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, ineinem Militärgefängnis gefoltert zu werden, hoch.Seit 1990 haben in der Türkei rund 40 Männer ihre KDV erklärt;sie haben sich in kleinen antimilitaristischen Gruppen in Izmir undIstanbul organisiert.

Das wusste die Führungsebene natürlich, und genau deshalb wardie Angst sein ständiger Begleiter. »Alle sahen mich als Kano-nenfutter an. Sie schickten mich direkt an die Front. Dabei warich mir nie sicher, ob mich der Feind abknallen würde. Oder eineraus den eigenen Reihen.«

Im Gebirge musste er kämpfen, wenn er überleben wollte.»Einmal kamen wir in einen Hinterhalt. Wir waren zwanzig, alsdie Guerilla auf uns losging. Acht von uns kamen zurück. Vierschwer verletzt. Die restlichen haben sie abgeknallt. Hätten sieuns nicht mit den Hubschraubern rausgeholt, mit unseren ameri-kanischen Cobra- und Sikorski-Hubschraubern, alle wären wirumgekommen, alle.«

Am gleichen Abend erlitt Dogan einen Nervenzusammen-bruch und wurde in die Psychiatrie des Militärhospitals von Di-yarbakir eingeliefert. Bald darauf kam der Befehl, zu seiner Ein-heit zurückzukehren. »Sie ließen mich nicht im Krankenhausliegen«, klagt der türkische Kommandeur. Statt dessen gaben sieihm Antidepressiva mit und schickten ihn wieder ins Gebirge.

»Mit unseren Granatwerfern haben wir die Felder abfackelnmüssen, manchmal haben wir Landminen gelegt«, erklärt Doganeine der vielen Maßnahmen, die die Existenzgrundlage der kur-dischen Bauern zerstört haben. »Währenddessen veranstalteteunser Kommandeur mit seinem Jeep Treibjagd auf das Vieh. Erstfuhr er eine Kuh an. Dann knallte er sie ab. Später hat ihn derBesitzer der Kuh aus einem Hinterhalt erschossen.«

Ein einziges Mal widersetzte sich Dogan einem Befehl. »Legdiesen Dorfdeppen um!« ordnete sein Vorgesetzter an. Er sollteeinen geistig behinderten Kurden ermorden, der verwirrt auf demSchießplatz umherirrte. Dogan weigerte sich, nahm den Behin-

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derten am Arm und führte ihn aus der militärischen Sperrzone.Wegen Befehlsverweigerung musste er einen Monat in einerGefängniszelle zubringen.

»Bitte. Ich brauche eine Pause«, sagt er in diesem Augenblick,wendet sich ab und verlässt den Raum.

Zehn Minuten später erzählt Dogan Galip weiter. »Neben den G3hatten wir Kalaschnikows aus Bulgarien und aus Russland. Diehaben wir der PKK abgenommen. Nach der deutschen Wieder-vereinigung bekamen wir Kalaschnikows aus Deutschland. Au-ßerdem verfügten wir über MG3. Gute Waffe. Mit Schießgurt.«

Militärisches Inventar der türkischen SicherheitskräfteJahrzehntelang importierten die türkischen Streitkräfte ihre Waf-fen vornehmlich aus Deutschland und den USA. Erst mit demAufbau einer eigenen Rüstungsindustrie und Lizenzfertigungenmachte sich die Türkei weitgehend unabhängig von ausländischenZulieferungen.Die Übersicht des militärischen Inventars zeigt die typischen Lie-ferländer und Kooperationspartner.

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Militärisches Inventar: Türkei (Auszug)

Waffen- Typ Firma Landart (ohne Lizenzen)

Pistolen 9 mm MKE MKE Türkei

Maschinen- 9 mm H&K MP5 Heckler & Koch/MKE Deutschland/pistolen Türkei

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Je länger Dogan erzählt, desto mehr verdrängte Erinnerungensteigen in ihm hoch. »Einer meiner Mitstreiter hat drei Dorfschüt-zer erschossen. Haben ihn auch in die Armee gezwungen. Er warKurde. Hat einen Hass auf die Dorfschützer gehabt. Das war sei-ne Rache. Ich habe nicht eingegriffen. Die Gewehre und Pistolenhaben wir mitgenommen.«

Die Beutewaffen schickten sie nach Ankara, wo in einem Bal-listiklaboratorium der Gendarmerie Schussversuche vorgenom-men worden sein sollen. »Offiziell sind die dem Innenministe-rium unterstellt gewesen. Dabei haben sie unabhängig von derRegierung gehandelt. Wenn einer unserer Soldaten erschossenwurde, haben sie die Munition untersucht. Die Hülsen sind auf-schlussreich. Alles wurde archiviert. Alles im Computer gespei-chert.« Dogan glaubt, dass es reichhaltige Archive gibt, in denen

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Gewehre 5.56 mm M16A2 Colt’s M. Company USA7.62 mm G3 Heckler & Koch/MKE Deutschland/

Türkei7.62 mm AKM Staatliche Werke Russland/ DDR5.56 mm HK33 Heckler & Koch/ MKE Deutschland

Maschinen- 7.62 mm MG3 Rheinmetall Ind./ MKE Deutschland/Türkei

gewehre 7.62 mm FN MAG FN Herstal Belgien0.50 Browning Saco Defence USAM2HB

Anti- 66 mm LAW M72 Hunting Eng. Ltd GroßbritannienPanzer- 106 mm RCL M40 Watervliet Arsenal USAWaffen MILAN ATGW Dasa, Aerospatiale Deutschland,

FrankreichTOW ATGW Hughes Missile Syst. USA

Quelle: Jane’s Infantry Weapons 2002–2003, National Inventories, S. 858

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sich die Dorfvernichtungen nachvollziehen ließen. »Aber daranhat die Armee kein Interesse.«

Dogan trinkt viel Wasser. »Die haben alles untersucht. AuchFrakturen des G3. Was passiert, wenn die Kugel ins Fleisch ein-dringt? Wie ändert sich die Geschossbahn, wenn der Knochengetroffen wird? Tierversuche hatten die nicht nötig. Die habenLeichen untersucht. Leichen von Menschen, die getroffen wor-den sind.«

Er erzählt, was ihm gerade einfällt. Vordergründig ist keinroter Faden zu erkennen, und doch ist alles, was er sagt, ver-bunden durch die Schrecken des Krieges. »Auch wenn unsereOffiziere keine Abzeichen trugen, die PKK hat erkannt, wer dieFührer sind. Die trugen die besseren Uniformen. Die warenälter.«

Mit einem Mal spricht Dogan so leise, dass man ihn kaum nochverstehen kann. »Ich wollte nicht kämpfen. Aber es gab keinenAusweg. Keinen Ausweg.« Nach einigen Sekunden des Schwei-gens erzählt er weiter.

Je länger Dogan spricht, desto offensichtlicher wird seinKriegstrauma. »Anfangs protzten die meisten unserer Soldaten.›Wir werden die Schweine umnieten‹, haben sie gesagt. Bei derMehrzahl war die Arroganz bald verschwunden. Nur die Ultra-rechten von der MHP machten weiter. ›In dieser Woche habeich fünfzehn Ohren gesammelt‹, prahlte einer von den Rechts-extremen.

Die schlimmsten waren die Grauen Wölfe, die im Auftrag derMHP die Stimmung im Land anheizen sollten. Sie standen inVerbindung mit der Militärführung. Die Grauen Wölfe benutztenM16. Die Mitglieder der Grauen Wölfe erkennst du gleich amSchnurbart. Links und rechts der Lippen sind die Barthaare nachunten gezogen.«

Dogans Blick geht ins Leere. Sein Körper sitzt in einem Sesselin Izmir, sein Geist kämpft mit der Vergangenheit.

»Ein einziges Mal habe ich die Leiche eines türkischen Sol-daten gesehen, dem die Guerilla einen Stock in den Hintern

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gesteckt hat. Ansonsten hat die PKK kaum Verstümmelungenvorgenommen. Ich habe jedenfalls keine weiteren entdeckt. Ob-wohl ich darauf geachtet habe«, nimmt Dogan den Feind inSchutz – keine Selbstverständlichkeit für einen Mann, der jedenTag damit rechnen musste, selbst ein Opfer der Guerilla zuwerden.

Obwohl die türkische Armee den PKK-Kämpfern zahlenmä-ßig und in ihrer Bewaffnung weit überlegen war, kommt derFeldwebel zu einem anderen Schluss. »Wir waren unterlegen.Wir wanderten mit Landkarten umher. Die kannten jeden Stein.Wir verfolgten sie. Aber sie waren irgendwie immer weg.«

»Wir alle haben unsere Drogen genommen. Alkohol undHaschisch. Ich habe Wodka getrunken, der stinkt nicht so. ImWesten der Türkei wärst du eingesperrt worden. Hier haben dieOffiziere weggesehen. Fast alle Offiziere waren Säufer. MancheRekruten waren schon beim Morgengebet besoffen.«

Zur Ablenkung wurden Pornofilme gezeigt. »Fast jedenAbend. Für uns Soldaten haben sie Striptease-Shows veranstaltet.Hier aus Izmir sind Zigeunerinnen ins Kriegsgebiet gebrachtworden. Bezahlte Frauen. Nach den Shows waren wir aufge-geilt.«

Dogan weint und erzählt dennoch weiter. »Ich habe selbst mitangesehen, wie sie eine PKK-Kämpferin vergewaltigt haben. Ichwar im Raum. Der Reihe nach haben sie die Frau vergewaltigt.Mehrere von uns.«

Obwohl er nicht mitgemacht hat, gleicht er einem HäufchenElend. »Unsere Einheit hat systematisch vergewaltigt. Auch Kur-dinnen, die aus dem Irak in die Türkei geflohen sind. Einmalhaben sie eine kleine Kurdin vergewaltigt. Die ist sechzehn Jahrealt gewesen. Oder jünger. Das war wie im Blutrausch. Ich möchtedas nicht erzählen.«

Erneut steht er auf und verlässt den Raum. Dogan will nicht,dass man sieht, wieviel Tabletten er schluckt.

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Ein paar Minuten später kommt er zurück, setzt sich und erzähltvon sich aus weiter.

»Wir führten Großrazzien durch. Wir behaupteten jedesmal,die PKK sei im Dorf oder Waffen seien in den Häusern versteckt.Ich war dafür verantwortlich, dass der Außengürtel dicht war. Ichhatte die Befehlsgewalt über rund zweihundert Männer. Fast alletrugen G3-Gewehre. Einige hatten MG3. Außerdem verfügtenwir über gepanzerte Fahrzeuge. Und Flugabwehrgeschütze. Wirsagten, das Dorf müsse vor der Guerilla geschützt werden.«Dogan lässt keine Zweifel am eigentlichen Sinn solcher Aktionenaufkommen, die er teilweise selbst geleitet hat. »Natürlich ver-hinderten wir mit unseren Waffen, dass irgend jemand aus demDorf fliehen konnte.«

Neben den G3-Lizenzgewehren waren deutsche Waffen imEinsatz. »Nein, keine Leopard-1-Panzer. Die hatten wir an derGrenze zum Irak stationiert. Aber die BTR-60-Panzer der NVAwurden von uns in Südost eingesetzt. Nicht in Einzelfällen, son-dern massenhaft. Ich habe ihn zum ersten Mal bei einer Razzia inCizre gesehen, als wir den NVA-Panzer dabeihatten.«

Eines Tages im Mai 1991 übertrug er die Leitung an einenanderen Offizier und begab sich ins Dorf Köseli. Was er dortgesehen hat, wird er nie vergessen können. »Ich habe nicht wirk-lich gewusst, was die Spezialeinheiten machen, während wir denAußenring abschotten. Normalerweise bin ich nicht ins Dorfgegangen. Ich wollte das auch nicht wissen«, gesteht der ehe-malige Kommandeur. »Als ich diesmal das Dorf betreten habe,ist mir übel geworden.«

Als Dogan eintraf, ließen Sondereinheiten die Menschen gera-de auf dem Marktplatz antreten, den männlichen Dorfbewohnernwurde befohlen, sich nackt auszuziehen. Rundum standen dieLandrover der Spezialkräfte.

»Frauen mussten ihren Männern Schnüre um den Penis bin-den. Dann mussten sie ihre Männer durchs Dorf ziehen. ZurErniedrigung.« Wieder springen seine Gedanken. »War das ge-gen die Genfer Konvention? Offiziell führten wir keinen Krieg,

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es handelte sich um eine Auseinandersetzung im Land. Es gibtProtokolle. Die Informationsabteilung der Armee war an diesemTag dabei. Ich glaube, Militäraufnahmen existieren nicht. Wo-möglich aber Privatfotos.«

Die Gedanken fliegen zurück zum Geschehen im Dorf. »Ein-zelne Frauen haben sie herausgepickt. ›Führt uns in euer Haus!‹befahl ein Führer des ÖZEL TIM. ›Wir suchen Waffen!‹ Beieiner Hausdurchsuchung muss einer der Besitzer dabei sein.Natürlich haben sie bewusst Frauen mitgenommen. Die wurdendann im Haus vergewaltigt. Ich habe noch viel mehr gesehen«,gesteht Dogan, möchte davon aber nicht berichten.

Die Spezialeinheiten – Terror der ÖZEL TIMSeit 1985 wurden »Spezialoperationsteams« für den Guerilla-krieg ausgebildet. Gesetzlich der Sicherheitsbehörde und demInnenministerium angegliedert, galten sie als Polizisten. Als Vor-bild dienten Spezialeinheiten wie die deutsche GSG 9, die ameri-kanische Delta Force, die britische Special Air Service (SAS) und

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Ein im Bürgerkrieg zerstörtes Dorf an der Straße nach Mardin.

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die italienische Special Forces Section. Rekrutiert wurden Mit-glieder der ÖZEL TIM vor allem unter religiösen Fanatikern,Arbeitslosen, Gewalttätern und Rechtsextremen.Das zentrale Ausbildungslager lag in Gölbasi, wenige Kilometersüdlich von Ankara. In einer neunmonatigen Ausbildung wurdenKampfeinsätze mit G3, M16, Kalaschnikow und anderen Waffensowie Folter- und Verhörmethoden, Attentate und Sabotage trai-niert. Das bei den ideologischen Schulungen vermittelte Feindbildrichtete sich insbesondere gegen Kurden. Spezialoperationsteamswurden sowohl in den Städten als auch in den Dörfern in Südost-anatolien eingesetzt. Bei Militäraktionen fiel den einfachen Solda-ten die Aufgabe der Einkesselung des Ortes zu. Folter, Vernich-tung und Ermordung übernahmen häufig die ÖZEL TIM.Verschiedene Spezialteams erhielten Kampfausbildungen in ande-ren Nato-Staaten, in der wichtigen Aufbauphase auch in Deutsch-land. »1986 wurden in dem GSG-9-Camp in St. Augustin in derNähe von Bonn zwei Gruppen türkischer Spezialteams ausgebil-det«, sagte Hauptmann Weygold, Offizier der GSG 9.

Wieder weint Dogan. »Dieser Überfall war keine Ausnahme. Daswar einer von vielen. Erst im nachhinein ist mir alles bewusstgeworden. Das G3 war immer dabei. Die Gewehre wurden inallen Kriegssituationen eingesetzt. Mehr als achtzig Prozent derKurden sind mit dem G3 getötet worden.«

Die Verzweiflung frisst Dogan schier auf. »Warum habe ich dieBefehle ausgeführt? Ich hätte mich wehren müssen. Ich habe ver-sagt.« Weinend vergräbt er sein Gesicht in den Händen. »DieserKrieg ist so ungerecht gewesen. Aber die Angst vor dem Mili-tärgericht hat mich gelähmt. Außerdem gab es keinen Zusammen-halt. Statt einander zu helfen, bekriegten wir uns in unserer Gruppe.«

Als Kommandeur einer türkischen Militäreinheit hat DoganGalip die Flucht der Dorfbewohner verhindert – damals war erTäter. Als traumatisierter Soldat leidet er unter dem Erlebten –

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heute ist er Opfer. Sein Trauma wird er wohl niemals loswerden,so wenig wie Hunderttausende ehemaliger türkischer Soldaten,deren Schicksal totgeschwiegen wird.

Was würde Dogan tun, wenn er heute nochmals den Befehlbekäme, im Südosten zu kämpfen? Zum ersten und einzigen Malantwortet er mit fester Stimme. »Dann würde ich Selbstmordbegehen. Ich würde mir das alles ersparen.«

NIE WIEDER

»Die einfachen Soldaten sind unfreiwillig in den Südostengeschickt worden.«Mehmet Coskun, Hauptmann der türkischen Armee

Drei Jahre kämpfte Mehmet Coskun mit seinen Männern für dietürkische Armee in Türkisch-Kurdistan. Mal in den Bergen nörd-lich von Diyarbakir, mal an der Grenze zum Irak, mal auf iraki-schem Territorium. Mehmet trägt eine Sportkappe, die überhauptnicht zu seinem Äußeren passen will. Er hat Krebs, hat fast drei-ßig Kilogramm abgenommen und ist mehrfach operiert worden.Zur Zeit unterzieht er sich einer chemotherapeutischen Behand-lung. Die einzige Chance zum Überleben, meinen seine Ärzte.Immerhin sind erste Erfolge sichtbar.

»Wer kann schon sagen, woher der Krebs kommt? Über Jahrehinweg ist meine Ernährung katastrophal gewesen. Fortwährendhabe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie dieser verdammteKrieg beendet werden kann. Ich musste töten, obwohl ich nichttöten wollte. Das alles macht dich ganz schön fertig. In meinerEinheit haben wir keine biologischen oder chemischen Kampf-stoffe eingesetzt. Aber wir haben die PKK über die Grenze in denIrak verfolgt. Dort setzten Saddams Sicherheitskräfte Jahre zuvorchemische Mittel ein.«

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Anders als Dogan Galip kann Mehmet Coskun auch von Ver-brechen der Guerilla erzählen. »Unter Drogen haben Kriegerschlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen – türkischewie kurdische Kämpfer«, berichtet der Hauptmann. »Ich habeverschiedene Vorfälle erlebt, bei denen PKK-Kämpfer auf bestia-lische Art und Weise gemordet haben. Sie töteten Regierungs-soldaten. Mit Gewehren öffneten sie deren Schädel und schriebenmit einem Filzstift darauf: ›Die PKK ist in deinem Gehirn.‹«

Mehmet Coskun kann zwar nachvollziehen, dass die TürkeiSoldaten gegen die kurdischen Separatisten ins Feld geschickthat, aber der Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans hat ihnnachdenklich gemacht. Jetzt überlegt der Hauptmann, ob er seinemilitärische Laufbahn vorzeitig beendigen soll. »Unsere Militär-führung hätte diesen Krieg ohne ein derartiges Blutvergießenbeenden können, wenn sie nur willens gewesen wäre. Statt dessensind wir 1992 und in den Folgejahren brutal vorgegangen undhaben Zivilisten und Guerillakämpfer gleichermaßen bekämpft.«Starke Worte für den Offizier einer Armee, die »alle Kurden pau-schal zu PKK-Kriegern erklärt hat«.

Was Coskun widerfahren ist, kann er nicht in wenigen Wortenwiedergeben. Ausführlich berichtet er von der Zerstörung un-zähliger Häuser, vieler Dörfer und von Kampfeinsätzen in denStädten. »Fast überall hatten wir deutsche BTR-60-Panzer dabei,von Tunceli bis Sirnak. Das waren keine russischen BTR.« Zwei-hundertvierzig Kilometer Luftlinie liegen zwischen Tunceli, imGebirge nordwestlich von Tîyaks, und Sirnak im Südosten, naheder türkisch-irakischen Grenze. Ein riesiges Gebiet.

»Bei der Infanterie haben wir die ostdeutschen Radpanzer ofteingesetzt: zur Verteidigung der Straßen, zur Kontrolle der Pässeoder zum Schutz unserer Soldaten im Kampf. Die BTR-Panzersind äußerst effektive Waffen, vor allem wenn man ein Maschi-nengewehr wie das MG3 darauf montiert«, erzählt Coskun.

»Auch die PKK hat ostdeutsche Gewehre, vor allem Kal-aschnikow. Außerdem besitzt sie G3 aus dem Iran. Diese sind alsBeutewaffen im Irak gelandet und im Norden des Landes ver-

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kauft worden. Am Einsatz der iranischen G3-Gewehre gibt eskeinen Zweifel«, erklärt der türkische Offizier, »denn ich habedie Inschrift gelesen.«

Für Mehmet Coskun war das eine äußerst unangenehme Er-kenntnis. »Das Gefühl ist seltsam, wenn man einem Feind gegen-übersteht, der über die gleichen Waffen verfügt. Unser Basis-gewehr ist das G3, und das schießt sehr präzise.«

Das Erlebte hat Coskun geprägt. »Jeden Tag wollte ich raus ausdiesem Krieg, niemand war freiwillig hier. Aber meine ökonomi-sche Lage war so schlecht, dass ich dabeiblieb. Auch wenn ich,wie die anderen, schreckliche Angst hatte.«

Der Offizier musste mehrfach miterleben, wie Kameraden vonder PKK überfallen und ermordet wurden. »Sie kamen mitten inder Nacht. Vier, fünf von ihnen krochen ganz langsam über denBoden. Gesehen hatten wir keinen von ihnen. Aus nächster Ent-fernung jagten sie meinen Männern Kugeln in den Kopf odererstachen sie mit Messern.«

So kann er stundenlang weitererzählen. »Ein andermal locktensie uns in einen Hinterhalt. In dreitausend Metern Höhe erschos-sen sie einen nach dem anderen aus unserer Einheit. Vor allemwenn es dunkel war und wir vor Erschöpfung einschliefen. Aufein Zeichen schossen sie mehreren meiner Männer die Kugelngleichzeitig ins Herz oder ins Gehirn. Sekunden später waren siewie vom Erdboden verschwunden.«

»In unseren kämpfenden Einheiten hat jeder Dritte ein Trau-ma, in den untersten Rängen ist der Anteil am höchsten.« Coskunbegründet das damit, dass »die einfachen Soldaten unfreiwillig inden Südosten geschickt worden sind. Die waren viel zu jung undunerfahren. Heute schweigen sie aus Angst oder Scham.«

Aber auch Offizieren, die wie Mehmet Coskun in Militärschu-len auf die Schrecken des Krieges vorbereitet worden sind, machtdas alles schwer zu schaffen. »Bis zum heutigen Tag.« Coskunverschweigt nicht, dass er aus Furcht vor Angriffen nach seiner

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Rückkehr in den Westen der Türkei ein ganzes Jahr lang einePistole bei sich getragen hat.

Im Touristenparadies Bodrum südlich von Izmir hat MehmetCoskun Erholung vom Krieg gesucht und das Panorama der tür-kischen Ägäis, die Aussicht über die weite Bucht mit den Segel-booten genossen. Einmal, als der Hauptmann mit anderen Offi-zieren und ihren Frauen in einem Armeekomplex bei Bodrumgemeinsam zu Mittag aß, knallte der Barkeeper die Tür des Kühl-schranks zu. Vor Schreck ließ sich der Soldat zu Boden fallen –und da fand er sich nicht alleine wieder: Drei weitere Offizierehatten wie er reagiert und sich panikartig unter dem Tisch ver-krochen. »Wir alle kämpften im Südosten«, erklärt er.

Eines hat Mehmet Coskun aus den Morden gelernt. »Nie wie-der werde ich auf einen Menschen oder ein Tier schießen. Niewieder – höchstens mit der Kamera.« Zum ersten Mal grinst er.

Traumatisierte Soldaten – Ignorierte Opfer des KriegsIn der klinischen Psychiatrie werden die sogenannten Posttrau-matischen Belastungssyndrome (PBS) eng mit Kriegen in Ver-bindung gebracht. Intensiv untersucht wurden US-Soldaten, diewährend des dreizehnjährigen Vietnamkriegs ein PBS erlitten hat-ten. Nach Untersuchungen wiesen 38,5 Prozent US-Soldaten undmehr als 50 Prozent libanesischer Soldaten das PBS auf.Auslöser eines PBS kann eine Vielzahl traumatischer Erlebnissesein, die nicht mit einem Kriegseinsatz oder -erlebnis in Verbin-dung stehen müssen (Naturkatastrophen, Unfälle etc). Bewussteingesetzte Mittel sind neben dem Krieg auch kriegstypischeMethoden wie die Inhaftierung in Konzentrationslagern im zwei-ten Weltkrieg, Folter und Vergewaltigung.All das kann psychische und physische Folgen haben, u.a. die Angstvor dem Zerstörtwerden, das Gefühl der Hoffnungs- und Aussichts-losigkeit, der Verlust von Selbstkontrolle. Das Krankheitsbild weistSchlafstörungen, das wiederholte Durchleben der schrecklichen Er-eignisse, Albträume, Depressionen und Amnesie auf.

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Die Wirkung der Kriegstraumata beschränkt sich nicht auf diedirekt betroffenen Kämpfer und Zivilisten. Von einer traumatisier-ten Person können wellenartige Ausdehnungen (»ripple effect«)auf Freundinnen, Ehefrauen und andere Familienangehörige aus-gehen, die sich sogar gesamtgesellschaftlich negativ auswirkenkönnen. In der Türkei stellen traumatisierte Bürgerkriegsopfer –Zivilisten und Soldaten – ein weitgehend ungelöstes Problem dar.

Ibrahim Demir, Dogan Galip und Mehmet Coskun sind keineEinzelfälle. Sie stehen exemplarisch für eine ganze Generationtürkischer Soldaten oder ehemaliger Kämpfer, die heute zwi-schen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt sind und unter mehroder minder schweren Traumata leiden.

Ihnen geht es nicht besser als Millionen von Kurden, die ausihrer Heimat geflohen sind und heute in Barackenbauten und inden Slums der Metropolen dahinvegetieren. In ihren Köpfen tobtnoch immer der Krieg, er verfolgt und quält sie tags und nachts.Die türkische Regierung ignoriert die einen wie die anderen: dietraumatisierten kurdischen Flüchtlinge ebenso wie die trauma-tisierten Armeeangehörigen. Das Thema ist genauso tabu wie diemassenhaften Verbrechen der türkischen Armee.

Was überrascht, sind die Vorwürfe der türkischen Soldaten,die sich weniger gegen die Guerilla als gegen die eigene Militär-führung richten – und das erstaunlich vehement. Inoffiziell spre-chen die Soldaten aus, dass sie nicht töten wollten, aber mussten.Offen kann keiner agieren, man würde sie mit härtesten Repres-salien zum Schweigen bringen. Deshalb sind die Namen der dreiKombattanten in diesem Kapitel verändert worden. Hoffentlichkommt der Tag bald, an dem die Abertausenden von Ibrahims,Dogans und Mehmets die Wahrheit laut aussprechen können

Derweil bemüht sich vor allem eine kleine Gruppe türkischerAntimilitaristen in Izmir, Ankara und Istanbul um Aufklärung. Wiealle Regierungs- und Militärkritiker, Friedensbewegte und Men-schenrechtler werden sie bestenfalls totgeschwiegen, häufig verfolgt.

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16 Jahre der Kooperation

BESTE BEZIEHUNGEN

»Zwischen Heckler & Koch und der MKEbesteht ein sehr gutes Verhältnis.«Süphan Gaffaroglu, stellvertretender Direktorder MKE-Marketingabteilung

Ein roter Teppich führt durch die riesige Empfangshalle mitden wuchtigen Marmorsäulen. Käufer aus aller Herren Länderhaben sich hier eingefunden. Die reichhaltige Produktpalettedes renommierten türkischen Waffenherstellers wird auf Sieger-podesten präsentiert, auf denen sich Projektile unterschiedlichs-ter Kaliber in die Höhe recken: kleine 60-mm- und 81-mm-Mörsermunition, durchschlagskräftigere 155-mm-Gun&Howit-zer- und M483-A1-ICM-Projektile, dahinter die schwarz- undgoldglänzenden mannsgroßen UT-1- und HY-12-Mörser, mitdenen bis zu 120-mm-Geschosse in die Reihen des Feindes gejagtwerden können.

An den Säulen hängen große Farbfotos, die Soldaten mit derzweiläufigen Infantry Support Gun und anderen Waffen in Ak-tion zeigen. Daneben ragen die Rohre riesiger schwarzer Kano-nen in die Luft, zielen blaulackierte zweieinhalb Meter langeGeschosse auf den imaginären Gegner. Das Firmenkürzel MKEverweist auf die Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu, die Top-adresse der türkischen Rüstungsindustrie.

Geradeaus führt der rote Teppich zu einem weißen Waffen-schrank, in dem all die Produkte präsentiert werden, die denBesuchern aus Deutschland so vertraut vorkommen. Hier trifftsich die Oberndorfer Waffenfamilie mit alten Vertrauten aus

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Ulm und Düsseldorf. Rechts die Mutter aller Heckler&Koch-Gewehre, das G3 mit einfahrbarer Schulterstütze, das Standard-G3 mit festem Schaft und die Version mit dem 40-mm-Granat-werfer. In der Mitte die Reihe der MKE-Pistolen, teilweise denTypen der Ulmer Handfeuerwaffenfirma Walther nachempfun-den. Links glänzt die G3-Tochter: verschiedene MP5-Variantenmit dem dreißig Patronen fassenden Kurvenmagazin sowie diehandliche Kurzversion der Maschinenpistole. Im unteren Teildes Glasschranks drohen die MG3-Maschinengewehre, die aufLizenzbasis der Düsseldorfer Rheinmetall bei MKE gefertigtwerden.

Dieses Waffenarsenal ist ein Traum für jeden, der den Kriegals Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln ansieht. Esist die Hölle für jeden, der die Zerstörungskraft dieser Waffen im

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Der Empfangssaal der Rüstungsfirma MKE mit den dort ausgestelltenWaffen.

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Bürgerkrieg miterlebt hat. Deshalb soll vor der Öffentlichkeitverborgen bleiben, wie im Hause MKE gedacht und gehandeltwird.

In der fünften Etage arbeitet Süphan Gaffaroglu. Nach dem Studi-um ist er hierher in die vierzehnstöckige MKE-Zentrale in Anka-ra gekommen und hat sich zum stellvertretenden Direktor derMarketingabteilung hochgedient. Der Raum ist karg eingerichtet,zahlreiche Ordner stehen hier, außerdem ein kleiner Gästetischmit Militaria.

Auf den ersten Blick wirkt der Mann mit der roten Krawatteeher reserviert, doch hin und wieder lässt er einen hintergründi-gen Humor aufblitzen: So handelt er einerseits mit Waffen, freutsich aber andererseits, dass er diese nur erprobt hat. Mitte dersiebziger Jahre profitierte Gaffaroglu nämlich von einer Regie-rungsentscheidung, die die Verkürzung der Wehrdienstzeit aufnur vier Monate ermöglichte. »Das war ein feines Gefühl«, ge-steht er und scherzt: »Ich lernte mit unserem G3 schießen, abergenaugenommen war ich kein richtiger Soldat.«

Über Persönliches spricht er offen, doch sobald es um die har-ten Fakten geht, zeigt sich Gaffaroglu erst einmal zugeknöpft.»Ich darf lediglich zu grundlegenden Sachverhalten des Ablaufsvon Exportgeschäften Stellung beziehen. Alle anderen Fragenmüssen im voraus schriftlich eingebracht und von verschiedenenMinisterien abgesegnet werden. Vor einem Gespräch muss dieGenehmigung eingeholt werden.«

Hätte sich der MKE-Manager selbst ernst genommen, wäredas Gespräch beendet gewesen, bevor es begonnen hatte. Dannaber taut Gaffaroglu doch auf und plaudert aus dem Nähkäst-chen.usatz

»Die Produktion der Heckler&Koch-Waffe G3 erfolgt in Kirik-kale«, sechzig Kilometer östlich der Hauptstadt Ankara. Hier ist

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das MKE-Werk Silahsan AS. »Im Werk Kirikkale stellen wirauch das Maschinengewehr MG3 her«, erklärt der Marketing-direktor. Beide Waffentypen werden auf Basis der 1967 ausDeutschland erteilten Lizenzen gefertigt. »Mittlerweile sind dieAnfragen zum G3 spärlich geworden«, meint Gaffaroglu, »des-halb haben wir die Fertigung weitgehend gestoppt. Heute werdenallenfalls noch Einzelstücke für die Armee hergestellt. Wo wirbisher G3 hergestellt haben, fertigen wir seit 2001 die halb- undvollautomatischen HK33.«

Intensiv hatten sich die türkischen Militärs um eine geeigneteNachfolgewaffe bemüht und entschieden, bei einem bewährtenProdukt aus dem Hause Heckler & Koch zu bleiben. Als eineihrer letzten Amtshandlungen genehmigte die Bundesregierungunter Helmut Kohl eine Lizenz zur Fertigung von 500 000 HK33-Gewehren.

Der MKE-Manager ist von den Vorzügen des neuen Gewehr-typs überzeugt. »Wie beim G3 kann man mit der neuen Waffeganz genau zielen, ansonsten ist das HK33 dem G3 in allenBelangen überlegen.« Das HK33 ist kürzer und leichter, damithandlicher, verfügt über einen geringen Rückstoß und kann proMagazin dreißig statt der bisherigen zwanzig Schuss abfeuern,erklärt Süphan Gaffaroglu. Vor allem aber ist die Trefferquotedeutlich erhöht.

»Viele Jahre lang haben wir bis zu zwanzigtausend G3-Ge-wehre pro Jahr produziert. Im Werk können sie zwischen denProduktionen der MP5, G3 oder HK33 wechseln und die jewei-ligen Anteile erhöhen oder senken. Die meisten der Maschinenfür das G3 und das HK33 sind identisch, einige zusätzlichehaben wir im Ausland hinzugekauft«, erklärt der Marketing-manager.

»Inzwischen läuft die HK33-Fertigung auf Hochtouren, dennjeder türkische Soldat soll die neue Waffe schnellstmöglich ein-setzen können.« Bis es soweit ist, werden allerdings noch mehrals zehn Jahre vergehen und eine Menge technischer Probleme zubewältigen sein. »Kein Problem«, sagt Süphan Gaffaroglu fröh-

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Technischer Vergleich des G3 und der HK33 der Firma MKE (Türkei)

G3 A3, G3 A4 MKE HK33 MKE

Kaliber 7.62 mm x 51 NATO 5.56 mm x 45 NATO

Länge G3 A3 1020 mm 920 mm(mit festerSchulterstütze)

Länge G3 A4 840 mm 740 mm(mit eingeklappterSchulterstütze)

Magazinkapazität 20 Patronen 30 PatronenStahlmagazin

Gewicht 4400 g G3 A 3390 gfeste Schulterstütze

4700 g G3 A4 4000 g einklappbareSchulterstütze

Magazin (leer) 280 g 270 g

Magazin (voll) 750 g ohne Angabe

Mündungs-geschwindigkeit 800 m/sec 885 m/sec

Kadenz 600/min 750/min

MaximaleReichweite 3700 m 3800 m

EffizienteReichweite 600 m 600 m

(mit Teleskop) (mit Teleskop)

Quelle: Firmenprospekt MKE

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lich. »Bei Bedarf besuchen uns Heckler & Koch-Fachleute zurSchulung unserer Ingenieure, das haben wir vereinbart.« Bereitsin den vergangenen Jahrzehnten wurden die türkischen Geschäfts-partner bestens betreut. »Manchmal sind fünf oder sechs H&K-Experten gekommen, manchmal haben wir etwa zehn unsererLeute für drei oder vier Wochen nach Deutschland geschickt.Zwischen Heckler & Koch und der MKE besteht ein sehr gutesVerhältnis«, lobt Gaffaroglu die Beziehungen zu den Oberndor-fern.

Das automatische Gewehr HK33 – Die neue Standardwaffe dertürkischen StreitkräfteNoch kurz vor der Bundestagswahl im September 1998 genehmig-te die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung die Massenferti-gung von 500 000 HK33-Gewehren in der Türkei. Nach demRegierungswechsel bestätigte Siegmar Mosdorf (SPD), Parla-mentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,»die Ausfuhr von Ausrüstungen, Einzelteilen, Technologieunter-lagen und Software zur Herstellung des automatischen GewehrsHK33 in die Türkei«.Das HK33 stellt eine verkleinerte und optimierte Version des G3dar. Es wird in fünf Varianten gefertigt: in der Standardversionmit fester bzw. einschiebbarer Schulterstütze (HK33A2 bzw.HK33A3), als Gewehr mit zweiteiligem Standbein (Bipod), alsScharfschützengewehr mit Teleskop (HK33SG1) und in der Kara-binerversion (HK33K).Die Oberndorfer Produktion lief bereits 1968 an, zu einem Zeit-punkt, als die europäischen Armeen noch mit der 7.62-mm-Munition schossen. Mit dem kleineren Kaliber 5.56 mm hatten dieschwäbischen Waffenproduzenten den weltweiten Waffenmarktim Visier, da auch die USA mit der in Vietnam und späteren Krie-gen eingesetzten M16 das kleinere Kaliber bevorzugten.Das HK33 steht mittlerweile im Dienst der brasilianischen Luft-waffe, der Streitkräfte von Chile, Malaysia und Thailand, wurde

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in weitere Staaten Südostasiens, Afrikas und Südamerikas ex-portiert und wird in Oberndorf, Großbritannien und in Thailandgefertigt. In Kirikkale (MKE Türkei) ist die Produktion der500 000 HK33 in den Versionen HK33A2 (identisch mit derHK33E – Export) und HK33A3 im Jahr 2001 angelaufen.

LACHNUMMER ENDVERBLEIB

»Entsprechend den Vorgaben der ›Politischen Grundsätze‹wurden der Türkei keine Exportrechte zugestanden.«Dr. Heinrich L. Kolb, Parlamentarischer Staatssekretär

»Wir verkaufen das ans Ausland, was wir produzieren.«Süphan Gaffaroglu, stellvertretender MKE-Direktor

In den siebziger Jahren arbeiteten siebzehntausend Menschen inneunzehn Werken der MKE, heute zählt das Unternehmen nurnoch neuntausend Beschäftigte und zwölf Werke.

»Wenn hundert Arbeitnehmer ausgeschieden sind, haben wirnur fünfzig neue einstellen können«, beklagt Süphan Gaffarogluden massiven Arbeitsplatzabbau, der mit Rationalisierungsmaß-nahmen und dem Einzug von Computern einhergegangen ist.Um so offensiver vertritt das Unternehmen seine Waffen aufden nationalen wie internationalen Rüstungs- und PolizeimessenIDEX, IDEF, Defence Services Asia, Eurosatory, IDET undIDEAS. Rüstungsexporte sind ein lukratives Geschäft.

Die Auftragsbücher sind voll, größere Mengen können nichtvon einem Tag zum anderen geliefert werden. »Tausend Maschi-nenpistolen vom Typ MP5 sind schon ganz schön viel. Beisolchen Stückzahlen muss ich erst bei unserem Werk anrufenund nachfragen, bis wann diese produziert werden können. Dasdauert bis zu einem halben Jahr.«

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Dennoch warten viele Staaten lieber auf die qualitativ hoch-wertigen und vergleichsweise preisgünstigen MKE-Waffen.»Die Pakistanis liefern eher schlechte Qualität«, sagt SüphanGaffaroglu, »dementsprechend unterschiedlich sind natürlich diePreise.«

Beim Preis-Leistungs-Verhältnis sieht der MKE-Marketing-direktor seine Firma ganz vorne: »Zahlt man für eine MP5 derPakistan Ordnance Factory etwa fünfhundert Dollar, dann kosteteine Maschinenpistole direkt von Heckler & Koch vielleichtzwölfhundert Dollar. In der Qualität liegen wir mit den Deut-schen gleichauf, unsere MP5 kostet jedoch nur neunhundertDollar. Wir können klar behaupten, dass es keinen Qualitätsun-terschied zwischen deutschen und türkischen Gewehren gibt.Befreundete Länder sind immer mit der Wertarbeit unserer Waf-fen zufrieden!«

Als Beispiel nennt der MKE-Manager die internationale Aus-schreibung einer Lieferung von MG3-Maschinengewehren, diezwischen 1992 und 1996 nach Norwegen gehen sollten. »DieNorweger waren von unserer Qualität so begeistert, dass wirden Auftrag bekamen.« Doch nicht nur die norwegischen Streit-kräfte stehen auf den Empfängerlisten. »MKE exportiert an mehrals vierzig Staaten«, verrät der Marketingmanager. »Die USA,Jordanien, Tunesien und viele weitere.«

Natürlich redet Süphan Gaffaroglu nicht gerne über die Emp-fängerländer der Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu. Schon1995 hatten Dänemark, Italien, Jordanien, Norwegen, Pakistanund Syrien Waffen und Munition von MKE erhalten. Im Jahrdarauf exportierte das türkische Staatsunternehmen militärischesGerät nach Botswana und auf die zu Portugal gehörenden MakaoInseln vor der südchinesischen Küste.

In der MKE-Länderliste stehen zudem Brasilien, Ecuador,Hongkong (damals noch nicht zu China gehörend), Irak, Kuwait,Libyen, Niederlande, Peru, Schweden, Singapur und Tunesien –also mehrere Staaten mit katastrophaler Menschenrechts- undSicherheitslage. Bei der Militaria-Messe IDEF ist die Maschinen-

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pistole MP5 denn auch eines der »populärsten Produkte« unterden Exportartikeln der MKE.

Über das lukrative, aber politisch brisante Geschäft vomNovember 1998 schweigt Gaffaroglu. Damals lieferte MKEWaffen im Wert von 2,44 Millionen Dollar an Bosnien-Herze-gowina.

Noch fertigt das Staatsunternehmen vornehmlich für den hei-mischen Markt, doch seine Zukunft sehen die Rüstungsmanagerim Export, der mit zum Teil beträchtlichen Preisnachlässen ange-kurbelt wird. Bei einer Bestellung von mehr als hundert Geweh-ren fängt es an, interessant zu werden. »Da ist eine Reduzierungdes Preises von zwei bis drei Prozent machbar, bei tausendGewehren sind zehn Prozent möglich.« Mehr Spielraum bietenMunitionslieferungen. »Wird eine große Menge bestellt«, kannsich Süphan Gaffaroglu sogar »Nachlässe bis fünfzehn Prozent«vorstellen. Schließlich liegt die Gewinnmarge bei fünfundzwan-zig Prozent, »so wie in Europa«.

Um den üblichen Exportweg zu verdeutlichen, zeigt Gaffa-roglu einige Beispiele aus der Großbritannien-Akte. Ein vielbenutz-ter Schnellhefter, zwei Zentimeter dick, pinkfarben. Der Kundeschickt per Fax oder Internet eine Anfrage an Gaffaroglus Abtei-lung, der daraufhin die Zustimmung des »eigenen Ministeriums«einholt. Die Entscheidung über den Exportauftrag liegt beimVerteidigungsministerium, da die MKE zu hundert Prozent einstaatseigenes Unternehmen ist. In problematischen Fällen wirdauch beim Außenministerium nachgefragt, dessen Entscheidungnicht näher begründet wird.

Trotz dieses Instanzwegs scheint das Vornehmliche Kriteriumdie Liquidität der Kunden zu sein. »Sie müssen bezahlen, bevorwir liefern. Wir senden keine Waffen, wenn die Rechnung nichtbeglichen ist«, erklärt Süphan Gaffaroglu. »Wir« meint in diesemFall die Regierung und nicht das Unternehmen, wie der Marke-tingmanager pflichtbewusst betont. Doch wer ordert, bekommtfast immer, was er will, denn MKE verkauft »das ans Ausland,was wir produzieren«.

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MKE-Endverbleibserklärungen (1) – der Schein der LegalitätMit der Neufassung der »Politischen Grundsätze für den Exportvon Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern« vom 28. April1982 hat die Bundesrepublik Endverbleibserklärungen bei derVergabe von Lizenzen, bei Exporten von Fertigungsunterlagenund Anlagen zur Herstellung von Kriegswaffen eingeführt. Da dieG3- und MG3-Lizenzvergaben bereits 1967 erfolgten, kann dieTürkei ohne Rücksprache mit dem deutschen Lizenzgeber die beiMKE gefertigten G3-Gewehre nach Belieben exportieren.Im Gegensatz dazu unterliegen Exporte der bei MKE hergestell-ten Maschinenpistolen MP5 einer Endverbleibskontrolle. Denn»nach dem von der Firma Heckler & Koch 1983 mit der Türkeiabgeschlossenen Vertrag zur Lizenzfertigung der MP5 wurdenentsprechend der Vorgaben der Politischen Grundsätze der Tür-kei keine Exportrechte zugestanden«, so der ParlamentarischeStaatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Dr. HeinrichL. Kolb im Juli 1995. Dasselbe gilt auch für die 1998 vergebeneHK33-Lizenz.

Die Offenheit verblüfft. Denn für die deutschen Lizenzgeber istdie Frage des Endverbleibs der Waffen von entscheidender Be-deutung – vor allem wenn der Empfänger der Lizenzen Türkeiheißt und den Ruf hat, es mit den Menschenrechten nicht sogenau zu nehmen.

Unterzeichnet das Empfängerland wie im Fall der MP5- undder HK33-Lizenz eine Endverbleibserklärung, verpflichtet essich, die Waffen ausschließlich den eigenen Sicherheitskräftenzukommen zu lassen. Auf diesem Weg soll verhindert werden,dass in Lizenz gefertigte Waffen beispielsweise in die Hände vonDiktatoren anderer Staaten gelangen. Aber was ist, wenn sich derLizenznehmer nicht an die vereinbarten Regeln hält?

Bezüglich der MP5-Lizenz wurde »zwischen der Firma Heck-ler & Koch und dem türkischen Lizenznehmer eine privatrechtli-che Vereinbarung getroffen«. Und obwohl »die Genehmigungzur Lizenzvergabe durch die Bundesregierung erfolgt ist«, stellt

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diese klar: »Die Bundesregierung verfügt über keine rechtlichenMöglichkeiten, die Rücknahme der Lizenz zu erzwingen.«

Theoretisch müsste demnach Heckler & Koch, das über diebesten Kontakte zu MKE verfügt, gegen MKE rechtliche Schritteeinleiten. Doch das kann nicht im Interesse der Oberndorfer sein,die sich damit alle Folgeaufträge verbauen würden.

Bei MKE scheint man vieles nicht ganz so eng zu sehen.»Unser Job ist die Produktion, wir fragen nur nach dem offi-ziellen Endverbraucher. Wenn wir eine Lizenz erhalten haben,können wir auch verkaufen. Von unserer Seite aus läuft alleslegal. Natürlich musst du der Regierung Glauben schenken, diedie Waffen erhält«, beteuert Süphan Gaffaroglu auf seine bedäch-tige Art. »Denn niemand kann nachverfolgen, ob die Waffen aneine andere Quelle gehen oder nicht. Im Zweifelsfall stellt unserVerteidigungsministerium Nachforschungen über die Botschaftan.« Gaffaroglu zögert kurz. »Vielleicht können sie einige Nach-forschungen anstellen«, relativiert er und grinst.

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Ein mit einer MP5 bewaffneter Angehöriger einer türkischen Sicher-heitseinheit führt einen Gefangenen ab.

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MKE-Endverbleibserklärungen (2) –Die Wirklichkeit der ReexportpraxisWie ernsthaft die deutschen Kontrollen zur Einhaltung des End-verbleibs türkischer Lizenzwaffen zu nehmen sind, zeigt der all-jährliche Hinweis in Jane’s Infantry Weapons dass die MP5 vonMKE nicht nur in Diensten der türkischen Armee steht, sondernauch für den Export (»offered for export«) produziert wird.In mindestens zwei Fällen hat die Makina ve Kimya EndüstrisiKurumu die deutsche MP5-Endverbleibserklärung missachtet. Alsdas Unternehmen in den neunziger Jahren ums Überleben kämpf-te, sollten mit Waffentransfers neue Umsätze erschlossen und dieProduktionskapazitäten gesichert werden. Allein in Länder desMittleren Ostens wurden 1994 Waffen im Wert von 8 MillionenDollar geliefert – darunter auch MP5-Maschinenpistolen.Der zweite Sündenfall erfolgte mit den im August und September1999 nach Indonesien gelieferten MP5. Wegen der Menschen-rechtsverletzungen in Ost-Timor hatte die EU ein Waffenembargogegen Indonesien veranlasst. Damit konnten weder H&K in Obern-dorf noch das seinerzeitige Mutterunternehmen Royal Ordnance inNottingham Gewehre nach Indonesien liefern – im Gegensatz zuden türkischen Lizenznehmern.In Deutschland existiert keine Institution, die die Einhaltung derEndverbleibsvereinbarung kontrolliert. Sehenden Auges tolerie-ren die Bundesregierungen gleich welcher parteipolitischen Cou-leur die vertragswidrigen Reexporte in Spannungs- und Bürger-kriegsgebiete. Statt der Türkei die MP5-Lizenz zu entziehen,konnte das Land 1998 und 2000 weitere Lizenzen erwerben. Sobelohnten die Bundesregierungen unter Helmut Kohl und GerhardSchröder die Rechtsbrecher in der Türkei.

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SCHRÖDERS MUNITION FÜR KOHLS WAFFEN

»Auf jeden Fall werden wir die altenG1- und G3-Gewehre loswerden müssen.«Alinur Araz, MKE-Marketingdirektor

Das Büro von Alinur Araz kann Geschichten erzählen. Über demwuchtigen, dunkelbraunen Schreibtisch thront der ernst drein-blickende Staatsgründer Atatürk. Darunter hängen allerlei Aus-zeichnungen, die der MKE-Marketingdirektor im Lauf seinesLebens erworben hat. Rechts davon finden sich fast fünfzig klein-und mittelkalibrige Geschosse, der Stolz des Unternehmens.Interessanter sind die Bilder auf der gegenüberliegenden Seite,die Araz zusammen mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichtezeigen.

Bei seinem Werksbesuch wollte Michail Timofejewitsch Ka-laschnikow »zweihundertfünfzig Dollar für ein gemeinsamesFoto«, erzählt Araz, der mit seinem grünen Hemd und der brau-nen Hose eher wie ein Jäger als wie ein Bürohengst aussieht. DerErfinder des berühmt-berüchtigten Sturmgewehrs hat nie einenRubel am Verkauf der rund siebzig Millionen AK verdient, denner hat seine Erfindung nie patentieren lassen.

Stolz erzählt Araz vom Treffen mit dem pakistanischen Präsi-denten General Pervez Musharraf, der bei einer Rüstungsmessean den MKE-Waffenstand gekommen war. Musharraf, im Okto-ber 1999 durch einen Militärputsch an die Macht gelangt, istein interessanter Mann für türkische Waffenhändler, denn beideStaaten stellen das G3 in Lizenz her und arbeiten bei Ersatzteil-lieferungen für die Heckler&Koch-Waffe sowie Munitionsliefe-rungen zusammen.

Araz’ Wände kennen viel mehr solcher Begegnungen, heuteaber will der Marketingmann von Erfolgen berichten. Über sei-nen Tisch laufen die entscheidenden Papiere der Waffenschmie-de. »Für die neue Munitionsfabrik mussten wir drei Verträge

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abschließen.« Im Gegensatz zu seinem eher reservierten Stellver-treter Süphan Gaffaroglu sprüht Alinur Araz vor Energie.

»Wir haben den Kontrakt mit Fritz Werner unterzeichnet,einen zweiten mit Santa Barbara in Madrid und einen dritten mitFabrique Nationale im belgischen Herstal. Außerdem importie-ren wir Maschinen von Manurhin in Frankreich«, erklärt derMann mit der hohen Stirn und dem graumelierten Haar. »DieFranzosen liefern, was wir wollen. Mit Fabrique Nationale habenwir den Lizenzkontrakt über die technischen Daten der Patronenunterzeichnet, mit Santa Barbara den über das Patronenpulver«,von dem pro Jahr siebenhundertfünfzig Tonnen gefertigt werdensollen. »Manurhin liefert die meisten Maschinen zu«, sagt Araz.»Den Lizenzvertrag über die Waffen haben wir mit Fritz Wernerabgeschlossen.« Damit führt die deutsche Firma das Konsortiuman.

Fritz Werner – Munition für die türkischen SicherheitskräfteDie Fritz Werner Industrie-Ausrüstungen GmbH (FW), einehundertprozentige Tochter der zum MAN-Konzern gehörendenFerrostaahl AG, hat ihren Sitz im Städtchen Geisenheim amRhein, 22 Kilometer westlich von Wiesbaden. Fritz Werner plant,liefert und erstellt schlüsselfertige Produktionsanlagen für Kun-den in aller Welt. Dazu zählen auch dubiose Geschäftspartner wiedie menschenrechtsverletzenden Regierungen in Burma und imIran. Für sie erstellte FW Produktionsanlagen zur Fabrikationvon G3-Gewehren.Bis 1989 vollständig in bundeseigenem Besitz, galt das Unterneh-men Anfang der neunziger Jahre als Musterbeispiel gelungenerUmstellung von militärischer auf zivile Fertigung (Rüstungskon-version). Die Konkurrenz auf dem freien Markt ist jedoch immens,zudem lassen sich im Rüstungsbereich größere Profite erwirt-schaften – u.a. bei der Errichtung der Fabrikationsanlagen für die5.56-mm-Munition bei MKE in der Türkei.

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Mit dem Fritz-Werner-Deal zum Bau der Munitionsfabrik istMKE ein erstaunlicher Coup gelungen. Nachdem die von Kon-servativen und Liberalen geführte Bundesregierung im Sommer1998 die Fertigung einer halben Million HK33 genehmigt hatte,galt es die Widerstände bei der Nachfolgeregierung zu brechen.Rot-Grün sollte die Zustimmung zum Bau einer Fabrik für diedazugehörige 5.56-mm-Munition erteilen. Allerdings hatte MKEmit der Regierung von Kanzler Helmut Kohl lediglich Vorver-träge abgeschlossen, so dass nach der zwischenzeitlich erfolgtenVerschärfung der Politischen Grundsätze zum Rüstungsexportund dem Regierungswechsel ein Ausstieg jederzeit möglich ge-wesen wäre.

Überraschend stimmte der geheim tagende Bundessicherheits-rat dem Waffendeal dennoch zu: Bundeskanzler Gerhard Schrö-der, Bundeswirtschaftsminister Werner Müller und Bundesver-teidigungsminister Rudolf Scharping votierten für, Außen-minister Joschka Fischer und BundesentwicklungshilfeministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul gegen das Exportgeschäft. Kaum andie Hebel der Macht gelangt, gab Rot-Grün damit die kritischeHaltung gegen Waffen- und Know-how-Transfers an das men-schenrechtsverletzende Militär in der Türkei auf. Der Vertrag fürdas rund fünfundvierzig Millionen Euro teure Rüstungsprojektwurde am 23. August 2000 in Ankara mit dem türkischen Vertei-digungsministerium als Vertragspartner unterzeichnet.

Zur Rechtfertigung behaupteten deutsche Ministeriumsver-treter, auf Grund der positiv beschiedenen Voranfragen hätten»rechtliche Verpflichtungen« zur Zustimmung bestanden. Derehemalige Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP)wies jedoch darauf hin, dass die Voranfragen »ein politischesSignal, aber nicht rechtsverbindlich« gewesen seien, und urteilte:»Sich hinter der alten Bundesregierung zu verschanzen ist eineUnglaubwürdigkeit ersten Ranges.«

Die Bilanz fällt ernüchternd aus: Gewehre von der schwarz-gelben Bundesregierung unter Kanzler Kohl, Munition vonder rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder – die

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Geschäftsführung der türkischen Waffenschmiede kann mit derdeutschen Allparteienkoalition zufrieden sein.

Munition für den Folterstaat TürkeiIm Sommer 2000 erteilte die rot-grüne Bundesregierung ihreZustimmung zum Bau einer Munitionsfabrik in der Türkei. Aus-zugsweise werden im folgenden einige Informationen zur Men-schenrechtslage des Jahres 2000 aus dem Jahresbericht vonamnesty international (ai) zitiert:● »Die Folter war weit verbreitet. Vor allem aus den Städten im

Westen der Türkei, aus dem Südosten des Landes und aus derGegend um Adana im Süden trafen zahlreiche Berichte über dieFolterung und Misshandlung von Männern, Frauen und Kindernein.«

● »Am häufigsten fanden Folterungen und Misshandlungen imGewahrsam der Polizei oder der Gendarmerie in den erstenTagen nach der Festnahme statt.«

● »Während ihrer Haft ohne Kontakt zur Außenwelt im Gewahr-sam der Polizei beziehungsweise der Gendarmerie wurden Be-richten zufolge Männer und Frauen nackt ausgezogen und sexu-ell missbraucht. Zu den angewandten Methoden gehörten nebender Vergewaltigung unter anderem Elektroschocks und Schlägeauf die Genitalien sowie bei Frauen auf die Brüste.«

● »Bis November hatten sich insgesamt 132 Frauen – darunter97 Kurdinnen – bemüht, von einem in Istanbul gegründetenRechtshilfeprojekt Hilfe zu erhalten, um die Männer, die siemissbraucht hatten, vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen.45 der Frauen gaben an, vergewaltigt worden zu sein, und97 berichteten von anderen Formen sexuellen Missbrauchs.Nur wenige der mutmaßlichen Täter – in der überwältigendenMehrheit Polizisten, aber auch Gendarmen, Soldaten und Dorf-wachen – wurden vor Gericht gestellt.«

● »Die Büros des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD in Van,Malataya und Gaziantep wurden auf unbegrenzte Zeit geschlos-

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sen, die in Diyarbakir und Konya mussten vorübergehend ihreArbeit einstellen. Ärzte und andere Mitarbeiter der TürkischenMenschenrechtsstiftung TIHV in Izmir, die die Anwendung derFolter dokumentierten und Folteropfer betreuten, wurden imBerichtsjahr vor Gericht gestellt.«

● »Vertreter der pro-kurdischen Demokratiepartei des Volkes(HADEP) wurden festgenommen und vor Gericht gestellt.«

● »Es trafen Berichte über eine Reihe von extralegalen (wider-rechtlichen, Anm. d. Verf. Hinrichtungen ein.«

Die Zufriedenheit steht Alinur Araz ins Gesicht geschrieben,denn nach Jahren der Stagnation füllen sich die Auftragsbücherseines Unternehmens wieder.

»2001 haben wir die HK33-Fertigung mit zwanzigtausendStück pro Jahr aufgenommen und mittlerweile auf dreißigtausendhochgefahren.« Was in Deutschland möglichst lange verschwie-gen werden sollte, lässt Araz in der ihm eigenen Dynamik imSekundentakt heraus: Eigentlich bräuchte die Armee mehr alsfünfhunderttausend G5, meint der MKE-Marketingchef, »derBedarf entspricht dem des G3«.

Die Vertragsabschlüsse zur HK33-Fertigung und der Errich-tung der Munitionsfabrik genügen Araz nicht. Ihm ist es zumühsam, mit den Deutschen immer erst diskutieren zu müssen,bevor man die gewünschte Ware erhält. »Die Deutschen denken,wir töten die PKK, so wie diese Menschenrechtskomitees. Darü-ber können wir ganz schön wütend werden, zumal sie das nichtmal offen aussprechen. Niemand sagt uns das ins Gesicht. Hof-fentlich wird in Deutschland die alte Regierung wiedergewählt«,wünscht sich Alinur Araz, doch statt ihm den Wunsch zu erfül-len, schicken die deutschen Wähler Rot-Grün in eine zweiteAmtszeit.

»Bis zum zweiten Weltkrieg haben uns die Deutschen vollunterstützt«, klagt Araz, »man denke nur an die Mauser-Waf-fen.«

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Die deutsch-türkische Brüderschaft im Handfeuerwaffenbe-reich reicht tatsächlich bis ins 19. Jahrhundert zurück. Der ersteVertrag über die Lieferung von fünfhunderttausend Gewehrenund fünfzigtausend Karabinern der Waffenfirma Gebrüder W. &P. Mauser – wie Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar an-sässig – wurde 1887 mit dem türkischen Kriegsministerium abge-schlossen. Sechs Jahre später bestellte die Türkei zweihundert-tausend Gewehre.

Heute schießt die türkische Armee vornehmlich mit deutschenund amerikanischen Waffen. Araz nennt allerdings auch andereStaaten, »mit denen eine gute Beziehung besteht: Neben Frank-reich unterstützen uns die Spanier und die Israelis. Mit denenhaben wir keine Probleme. Die verhängen auch keine Embargosgegen uns.«

Der MKE-Marketingmanager hätte sich auch das israelischeSturmgewehr vom Typ Galil vorstellen können, das ebenfallsmit 7.62- und 5.56-Millimeter-Munition schießt. »An die Lizenzwären wir leicht herangekommen. Israel und die Türkei haben diegleichen Feinde an den Grenzen und die gleichen Probleme imeigenen Land. Außerdem wird auch die Galil an den gefährlichs-ten Flecken der Welt eingesetzt.«

»Wenn alle HK33 produziert sind, dann haben wir einen Über-hang von achthunderttausend G3-Gewehren.« Bisher stand nahe-zu für jeden der sechshundertvierzehntausend Soldaten und zwei-hundertachtzigtausend Gendarmen ein G3 zur Verfügung. Mitder geplanten Reduzierung der Armeestärke auf vierhundertfünf-undzwanzigtausend Mann würde die große Mehrheit der Sicher-heitskräfte über ein HK33 verfügen. Was passiert dann mit denübriggebliebenen achthunderttausend G3?

»Etwa 2012 wollen wir die alten G1 verkaufen, danach die G3-Gewehre. Wir beabsichtigen, sie alle auf einmal zu verkaufen,nicht in Raten. Vielleicht in die USA für die dortigen Jäger. Oderwir fertigen Kulis daraus«, grinst Araz und zeigt zum Spaß seinen

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Kugelschreiber, der aus einer Patronenhülse hergestellt wordenist. Bleibt nur zu hoffen, dass die Überschusswaffen nicht ineinem afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Span-nungsgebiet landen. Ihre Zahl reicht aus, gleich mehrere blutigeBürgerkriege zu führen.

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