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Texte zur Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Thomas Buchheim 1 Einteilung der Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Thomas Buchheim (1) Platonische Träume (2) Wer Platon war und was ihn umtrieb TUGEND (3) Herkömmlicher Begriff der Tugend und die Reflexion des Simonides (4) Protagoras, politische Tüchtigkeit und die Lehrbarkeit der Tugend (5) Dialektik und Einheit der Tugenden (6) Niemand handelt freiwillig schlecht: der richtige Begriff der Tugend WISSEN (7) Wissen und die Suche nach Gründen (8) Die anamnetische Struktur des menschlichen Wissens IDEE (9) Was Ideen sind und was nicht (10) Die Konstellation des Bildes SEELE (11) Idee und Seele (Phaidon) (12) Platons Seelendefinition und die drei eidê in der Seele IDEE DES GUTEN (13) Das Sonnengleichnis (14) Das Liniengleichnis

Texte zur Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Einteilung der ... · Texte zur Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Thomas Buchheim 3 Schon vor Gründung der Akademie und vor seiner ersten sizilischen

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Texte zur Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Thomas Buchheim

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Einteilung der Platonvorlesung im WiSe 2003/4 Thomas Buchheim

(1) Platonische Träume (2) Wer Platon war und was ihn umtrieb TUGEND (3) Herkömmlicher Begriff der Tugend und die Reflexion des Simonides (4) Protagoras, politische Tüchtigkeit und die Lehrbarkeit der Tugend (5) Dialektik und Einheit der Tugenden (6) Niemand handelt freiwillig schlecht: der richtige Begriff der Tugend WISSEN (7) Wissen und die Suche nach Gründen (8) Die anamnetische Struktur des menschlichen Wissens IDEE (9) Was Ideen sind und was nicht (10) Die Konstellation des Bildes SEELE (11) Idee und Seele (Phaidon) (12) Platons Seelendefinition und die drei eidê in der Seele IDEE DES GUTEN (13) Das Sonnengleichnis (14) Das Liniengleichnis

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PLATON 1. Allgemeines 428/7 geb. in Athen als Sohn von Ariston und Periktione; 348/7 gest. und wahr-scheinlich auf dem Gelände der von ihm gegründeten Akademie (außerhalb der Stadtmauern) beigesetzt. Während man über den Vater nichts weiter weiß, ist klar, daß seine Mutter aus vornehmstem athenischem Adel stammte, dem Geschlecht der Alkmeoniden, das sich bis auf den Umkreis des Solon zurückführte. Zu seiner Verwandtschaft gehör-ten mit Periktiones Neffe, Kritias dem Jüngeren, und ihrem Bruder, Charmides, führende Mitglieder der oligarchischen Tyrannis der 30 (404-403); andererseits verheiratete sich Periktione ein zweites Mal mit Pyrilampes, einem Gefolgsmann des Perikles und damit der demokratisch gesinnten Adelspartei. Geschwister Platons aus erster Ehe seiner Mutter waren Glaukon (der Jüngere), Adeimantos und die jüngere Schwester, Potone, die später Speusippos, Platons Nachfolger an der Akademie, heiratete. Obwohl ihm als Mitglied eines solchen Hauses eine politische Karriere vorgezeichnet schien, wandte Platon sich, entsetzt von der brutalen Bürgerverfolgung unter den 30 Tyrannen einerseits und von der durch die wiederetablierte Demokratie inszenierten Verurteilung des Sokrates an-dererseits, von dieser praktischen Möglichkeit ab, bleib ihr aber - als Ziel seiner theoretischen Reflexion und seiner zeitweise auch praktisch genährten Hoffnungen in Sizilien (am Hofe von Dionysios I und II) - doch in gewisser Weise ein Leben lang treu. Nach Aristoteles (Met. I 6. 987a 32 ff.) war Platon, bevor er mit 20 Jahren zum Anhänger des Sokrates (bis zu dessen Tod 399) wurde, bereits Schüler des ex-tremen ‚Herakliteers‘ Kratylos gewesen, an dessen Doktrin vom Fluß aller Dinge, er für die Wahrnehmungswelt auch späterhin festhielt. Bei Sokrates lernte er die Bedeutung von Definitionen insbesondere praktischer Gegenstände und Sachver-halte kennen (wie etwa der Tugenden, des Gerechten und des Lernens) und zog daraus den Schluß, daß solche Definitionen sich auf eine andere als die wahr-nehmbare Wirklichkeit beziehen müßten. Daraus könnte das dualistische Grund-konzept der platonischen Philosophie erwachsen sein. Etwa zehn Jahre nach Sokrates‘ Tod durch Hinrichtung mit dem Schierlingsbecher (in denen Platon schon schriftstellerisch tätig gewesen sein könnte) unternahm Platon 389-388 eine ausgedehnte Reise u.a. nach Ägypten, Unteritalien und Sizi-lien. In Unteritalien schloß der Freundschaft mit dem Pythagoreer Archytas von Tarent und lernte in Syrakus den mächtigen und prächtigen Tyrannen, Dionysios I, und dessen Schwager (und späteren Schwiegersohn), Dion, kennen; den letzteren auch lieben. Mit den syrakusanischen Verhältnissen verband sich seine über zwei weitere Reisen nach Sizilien (367 und 360) immer wieder aufkeimende Hoffnung, entweder den Tyrannen bzw. dessen Sohn zum Philoso-phen oder einen Philoso-phen (Dion) zum König machen zu können. Dies alles scheiterte 353 mit dem Tod Dions durch eine Intrige aus den eigenen Reihen, nachdem dieser für kurze Zeit (und mit militärischer Gewalt) tatsächlich zum Machthaber in Syrakus aufgestiegen war.

Nach Rückkehr von seiner ersten sizilischen Reise gründete Platon (mit einigen verwandten Zügen zum Modell des pythagoreischen Bundes) 387 oder 386 seine Philosophenschule im Hain des Heros ‚Hekademos‘ (= Akademie) vor den Toren von Athen. Sie bestand mit zwar wechselnden Lehraussagen, aber institutionell kaum unterbrochen bis zum Jahr 529 nach Christus, in dem sie als zentrale heidni-sche Bildungsstätte durch den christlich-römischen Kaiser Iustinianus verboten wurde.

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Schon vor Gründung der Akademie und vor seiner ersten sizilischen Reise scheint Platon Dialoge publiziert zu haben. Zu diesen frühen literarischen Werken könnte z.B. gut die ‚Apologie des Sokrates‘ gehören. Jedoch läßt sich die Abfassungszeit der in neun Tetralogien überlieferten Dialoge und Briefe Platons nicht absolut und auch nur grob in relativer Chronologie bestimmen. 26-28 der 34 unter Platons lau-fenden Dialoge sowie mindestens 3 der 13 Briefe (nämlich der 6., 7. und 8.) wer-den in weitgehender Übereinstimmung als echt angesehen. Am sichersten ist es, nur drei zeitlich unterschiedene Dialoggruppen anzunehmen: frühe, reife und späte Dialoge, und ihre Binneneinteilung eher nach thematischen statt zeitlichen Ge-sichtspunkten vorzunehmen.

I. Frühdialoge: Außer der Reihe (und vielleicht zuerst geschrieben):

Apologie (Selbstverteidigung des Sokrates gegen die Anklage der Asebie und Jugendverführung

(1) Freundschaftsdialoge: Kriton (Kriton will Sokrates zur Flucht aus dem Gefäng-nis überreden); Lysis (wer liebt wen in einer Freundschaft); Alkibiades I oder mai-or (Sokrates verhilft A. zur Selbsterkenntnis [gilt meist als unecht; echt z.B. nach Friedlaender]).

(2) Tugenddialoge: Laches (Tapferkeit); Euthyphron (Frömmigkeit); Charmides (Besonnenheit); Hippias I oder maior (über die Einheit des Schönen und Guten [gilt manchmal als unecht]).

(3) Technê- oder Wissensdialoge: Ion (Dichtkunst); Gorgias (Rhetorik und gerech-te Politik); Protagoras (sophistischer versus platonischer Tugend- und Wissens-begriff); Menon (Lehrbarkeit der Tugend, Anamnêsis).

(4) Sophistendialoge: Euthydemos (Parodie eristisch-sophistischer Dialektik); Menexenos (Parodie rhetorisch geschliffener Gefallenenrede); Hippias II oder minor (die Qualität absichtlichen Falschhandelns).

II. Reife Dialoge:

(5) psychologische Dialoge: Phaidon (Unsterblichkeitsbeweise, Ideenlehre); Sym-posion (Reden auf Eros, die Figur des Sokrates); Politeia (Wesen der Gerechtig-keit in Seele und Staat); Phaidros (wahre Redekunst als Seelenführung; Schriftkri-tik)

(6) logisch-dialektische Dialoge: Kratylos (Sprachphilosophie, Theorie der Wörter [wird oft zur Gruppe der früheren Dialoge gezählt]); Theaitetos (Definition des Wissens); Sophistes (Definition des Sophisten; anti-eleatische Reform des Seins-begriffs); Parmenides (Kritik des Ideenbegriffs; dialektische Kunst über Eines und Vieles).

III. Spätdialoge:

(7) kosmologische Dialoge: Politikos (Definition des wahren Staatsmannes); Phi-lebos (Leben der Lust versus Leben für die Erkenntnis); Timaios (platonische Naturphilosophie und Kosmologie); Kritias (mythologische Geschichte Athens und Atlantis-Legende; Nomoi (Gesetze des realistisch optimalen Staates; Organisation des Alls).

Nachplatonisch sind die sog. ‚Definitiones‘ und die ‚Epinomis‘, die wichtige Einbli-cke in die Lehren der früheren Akademie vermitteln. Daneben existieren eine Rei-

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he weitere Dialoge, die entweder heute fast allgemein (wie z.B. ‚Theages‘ und ‚Kleitophon‘) oder schon in der Antike als unecht galten (wie z.B. ‚Demodokos‘ und ‚Eryxias‘).

Literaturhinweise M. Bordt, Platon, Freiburg i. Br. 1999 M. Burnyeat (Hg.), Socratic Studies, Cambridge 1994 R.C. Cross und A.D. Woozley, “Knowledge, Belief and the Forms“, in

Plato. A Collection of Critical Essays, hrsg. von G. Vlastos, Bd. I: Metaphysics and Epistemology, Garden City, New York 1971, S. 70-96.

W.K.C. Guthrie, “Plato‘s Views on the Nature of the Soul“, in: Plato. A Collection of Critical Essays, hrsg. von G. Vlastos, Bd. II: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, Garden City, New York 1971, S. 230-243.

O. Höffe (Hg.), Platon, Politeia (Klassiker auslegen), Berlin 1997 Chr. Horn, “Platons epistêmê-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie“,

in: Platon, Politeia, hrsg. von O. Höffe, Berlin 1997, S. 291-312). T. Kobusch, B. Mojsisch (Hrsgg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer

Forschung, Darmstadt 1996 R. Kraut (Hrsg.), The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992 C.C. Meinwald, “Good-bye to the Third Man“, in The Cambridge

Companion to Plato, hrsg. von R. Kraut, Cambridge 1992, S. 365-396.

Patzer, “Sokrates als Philosoph“, in: Der historische Sokrates, hrsg. von A. Patzer, Darmstadt 1987; S. 434-452

T.M. Robinson, Plato’s Psychology, Toronto 21995 J. Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, Freiburg/München 1996 C.C.W. Taylor, Socrates (Past Masters), Oxford 1998, z.B. S. 42 ff.; 100 f. G. Vlastos, “The Socratic Elenchus: Method is All“, in ders., Socratic

Studies, hrsg. von M. Burnyeat, Cambridge 1994, S. 1-37. G. Vlastos (Hg.), Plato. A Collection of Critical Essays, Bd..I Metaphysics

and Epistemology; Bd. II: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, Garden City, New York 1971

G. Vlastos, Socrates: Ironist and Moral Philosopher, Cambridge 1991 Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982,

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PLATONISCHE TRÄUME Heraklit, Frg. 89: "Den Wachenden ist die Welt nur eine und gemeinsam, während sich jeder der Schlafenden in eine eigene abwendet".

Heraklit Frg. 80: "Man muß wissen, daß der Krieg eigentlich zusammen-bringend ist, und ein gebührendes Recht der Streit, und daß alle Dinge werdende sind im Streit und so in Mitleidenschaft gezogen werden".

Heraklit, Frg. 1: "[...] den anderen Menschen entgeht, was sie wach tun, wie sie auch, was sie schlafend taten, vergessen".

Platon, Politikos 277d: "Jeder von uns steht in der Gefahr, wie im Traume alles gewußt habend, doch wiederum, wie wach geworden, alles nicht zu wissen [...] Und in gar ungewöhnlicher Weise scheine ich damit das mit dem Wissen einhergehende Pathos in uns aufgerührt zu haben".

Platon, Gorgias 503a: "Durchwegs darum streiten (diamacesqai) [muß man], daß man jemand ist, der das Beste sagt".

Platon, Gorgias 505c: "Wir alle müssen siegesversessen (filonikw") sein in Bezug darauf zu wissen, was das Wahre ist in dem, wovon wir reden, und was das Falsche".

Platon, Politeia 450b: " Maß für das Hören auf solche [philosophisch streitende] Reden ist den Vernünftigen das ganze Leben".

Platon, Symposion 1 75e: "[Sokrates:] Meine Weisheit ist gering und zweifelhaft als wie ein Traum"

Platon, Parmenides 136e: "Die Menge der Leute verkennt, daß es ohne dieses durch alles reichende Durchgehen [im Logos] und ohne den Um-schweif unmöglich ist, eine die Wahrheit erreichende Einsicht zu besit-zen. [... 137a:] ein Meer von Logoi ist zu durchschwimmen".

Platon. Politeia 534 b-c: "Wer nicht in der Lage ist, die Idee des Guten durch den Logos zu begrenzen und von allem anderen abzusondern, und nicht wie in einem Kampfe durch alle Prüfung hindurchgehend be-reit ist, sie (nicht im Sinne der Meinung, sondern im Sinne des Seins) herauszustellen und nicht in all dem durch einen unbesiegten Logos be-steht – von dem wirst du nicht sagen, weder er wisse das Gute selbst noch irgendein anderes Gut, sondern, wenn er irgendein Schattenbild davon be-rührt, wirst du sagen, er berühre dies durch die Meinung, nicht aber durchs Wissen, und daß er sein jetziges Leben zubringe wie im Traume schlum-mernd und daß er, noch bevor er hier erwacht, in den Hades kommen wer-de, um endgültig zu entschlafen".

Platon, Kratylos 439a: "Erwäge, bester Kratylos, was mir oft im Traume vorkommt: ob wir behaupten sollen, daß das Schöne selbst und das Gute und ein jedes der so Seienden etwas sei - oder nicht?"

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Ebd. 440d: "Vielleicht verhält es sich so, vielleicht aber auch nicht - man muß es tapfer überlegen und nichts leichtfertig annehmen [...]; doch darf man sich selbst und seine Seele dabei nicht den bloßen Worten auslie-fern".

Platon, Protagoras 358a: "Soll uns der Logos gemeinsam sein oder nicht?* Vgl. Laches 197e: Es geht durchwegs darum, "die Gemeinschaft des Logos" (koinwnia tou÷ logou) aufrechtzuerhalten. Dasselbe ist das immer wieder in allen platonischen Dialogen angestrebte οµoλογei÷n, d.h. das "Überein-stimmen im Logos". Dazu vgl. auch:

Heraklit. Frg. 50: "Hört man nicht auf mich, sondern auf den Logos, so ist es weise, einzustimmen in den Logos (omologei÷n): eines ist alles".

Platon, 8. Brief 357 b-c: [Über seinen Rat an die Freunde Dions, die ehemali-gen Feinde zu Mitstreitern für eine gemeinsame Freiheit zu machen:] "Dies aber ist keineswegs unmöglich; denn was in zwei Seelen ein Dasein erlangt hat und für Denkende naheliegt, als das Beste befunden zu werden, dies hält für unmöglich wohl nur, wer nicht bei gutem Verstand ist. Mit den zwei Seelen meine ich die von Hipparinos, des Dionysios’ Sohn, und die meines eigenen (Dions): Wenn diese beiden übereinstimmend denken (sunomologei÷n), wer-den die anderen Syrakusaner, soweit ihnen die Stadt am Herzen liegt, ihre Ansicht teilen. [...] So ruhet nicht, bis ihr das nun von mir Gesagte - wie göttli-che Träume Wachen beigesellt - zu öffentlich sichtbarer und glücklicher Vollendung ins Werk gesetzt habt". Vgl. auch:

Heraklit, Frg, 112: "Heiler Verstand ist zugleich höchste Vortrefflichkeit (αρετή), und eigentliches Wissen (sofia) heißt, das Wahre zur Darlegung zu bringen und ins Werk zu setzen, indem man auf die Physis achtet."

Ebenso: Platon, Phaidon 115b: [Es kommt nicht nur darauf an. Erkenntnisse zu gewinnen, sondern darauf,] "wie einer Spur entlang, so den philosophi-schen Aussagen gemäß sein Leben zu führen". D.h. Platon trieb nicht nur Dia-lektik im akademischen Kreis der Gleichgesinnten, sondern war darüber hin-aus ein Genie der Bekehrung und mußte dies sein (vgl. Politeia 518c ff. den Begriff der periagwgh d.i. der "Umwendung" der gesamten Seele), um Leute erst für die Philosophie gewinnen zu können. Die wahre Philosophie muß also vor der Philosophie ansetzen. Vgl. z.B.

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Platon, Phaidros 271d-272b: [Es geht um die "Kunst der Bekehrung"] "Nachdem die Wirkkraft des Logos Seelenführung (Yucagwgia) ist, muß der, der ein Redner sein will, die Seele und ihre vielen Gestalten genau kennen. Da gibt es nun soundso viele von der und der Beschaffenheit, aufgrund deren die einen solche und die anderen solche Menschen werden. Sind diese so aufgeteilt, so muß er weiter wissen, was für Gestalten der Rede es gibt und wie eine jede beschaffen ist. Die einen, sobeschaffenen Menschen nun wer-den aus dem und dem Grund von solchen und solchen Reden zu dem und dem leicht bekehrt, sind aber da und dadurch kaum zu etwas zu bringen. Dies also muß er genügend erfaßt haben und danach diese Gestalten in den Hand-lungen und als Handelnde betrachten und ihnen scharf in seiner Wahrneh-mung zu folgen vermögen; - oder er wird ja keinerlei Gewinn haben aus den Reden, die er im Unterricht einmal gehört hat. Kann er aber nun genügend angeben, wer von welchen Reden zu was bekehrt wird, und ist er imstande, wenn ein solcher anwesend ist, ihn als solchen auch wahrzunehmen und sich selbst zu erklären, daß es sich um den und den Typ und diejenige Veranla-gung handelt, wovon damals in den Darlegungen [im Unterricht] die Rede ge-wesen und der ihm jetzt in der Tat gegenübersteht, und daß folglich die und die Reden anzuwenden sind, um den betreffenden zu etwas zu bekehren – , wenn er also all dies schon kann und er darüber hinaus noch begriffen hat, zu welchen Gelegenheiten (kairou") jeweils zu reden ist und wann Zurückhal-tung geübt werden muß, und wenn er auch die Formen der Kurzrednerei, Jammerrednerei und der Überwältigung (deiwsi") und deren passende oder unpassende Zeitpunkte erlernt und durchschaut hat, dann wird seine Kunst-fertigkeit schön und vollendet entwickelt sein".

WER PLATON WAR Platon. 7. Brief 324 c-e: "Als ich noch jung war, teilte ich mit vielen dieselbe Leidenschaft: nämlich, sobald Herr meiner selbst geworden, an die gemein-samen Geschäfte der Polis zu gehen. Dies auch zumal einige mich tangieren-den Schicksalsschläge die Zustände der Stadt erschütterten: Denn aufgrund der vielgeschmähten Verfassung kam es zum Umsturz in der Stadt, und in der Revolution brachten 51 Männer sich an ihre Spitze: 11 in der Stadt, 10 im Piräus [.,.] und 30 'autokratische Herrscher' als oberste Führung von allem [die sog. 30 Tyrannen]. Darunter befanden sich auch einige Verwandte und Bekannte von mir, die mich auch sogleich zur Mitwirkung aufforderten, weil es sich ja schließlich um mir zukommende Aufgaben ginge (perieka‰‰loun euqu" w" epi prosh‰konta pragmata me) [...] Ich nun be-fand mich natürlich in dem Glauben, daß diese die Stadt so einrichten wür-den, daß ihre ungerechte Daseinsform in eine gerechte überführt würde, und richtete infolgedessen mein Augenmerk stark darauf, was sie täten. Und da sah ich, wie diese Männer binnen kürzester Zeit die frühere Verfassung als Gold erscheinen ließen: Unter anderem schickten sie einen älteren Freund

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von mir, Sokrates - den ich mich nicht scheue als den gerechtesten Mann der damaligen Zeit zu bezeichnen -, damit er zusammen mit anderen einen Bür-ger [den Salaminier Leon: cf. Apol. 32c ff] abhole zur Hinrichtung, um ihn (Sokrates) so in ihre Händel zu verwickeln, ob er wolle oder nicht".

Platon, 7. Brief 325c-326b: "Als ich nun dies betrachtete und die Menschen, die Politik betrieben, die Gesetze und Sitten, so schien es mir, je länger ich mit fortschreitendem Alter zuschaute, um so schwieriger zu sein, die politi-schen Geschäfte richtig zu verwalten. [...] Bis mich schließlich ein richtiger Schwindel ergriff. Zwar nahm ich nicht davon Abstand, darüber Erwägungen anzustellen, wie es mit diesen Zuständen und überhaupt mit der ganzen poli-tischen Verfassung eine Wendung zum Besseren nehmen könne, wartete aber mit dem Handeln stets noch auf die richtige Gelegenheit. Endlich aber kam ich zu der Erkenntnis, daß die heutigen Staaten alle und ohne Ausnahme schlecht verwaltet werden, weil sich ihre Gesetzgebung in einem Zustand befindet, in dem nur durch eine mit Glück vollzogene und an Wunder gren-zende Zurüstung noch Heilung verspricht. So sah ich mich, die wahre Philo-sophie preisend, zu dem Bekenntnis gezwungen, daß es nur durch sie mög-lich ist, die Gerechtigkeit im Staat und Leben des Einzelnen ganz zu erken-nen. So daß des Unheils also kein Ende wäre für die Menschen, ehe nicht das Geschlecht der recht und wahrhaft Philosophierenden zur Herrschaft in der Politik kommt oder das der Machthaber im Staat durch ein göttliches Ge-schick wahre Philosophie treibt". Jedoch ist die Chance, durch Philosophie etwas auszurichten oder ihr auch nur treu bleiben zu können, äußerst gering: vgl.

Platon, Politeia 496b-497a (Paraphrase): "Nur sehr klein ist die Chance, die übrig bleibt für die, die sich würdig der Philosophie widmen: entweder, daß ein edler und wohlgebildeter Charakter in der Verbannung gefangen bleibt [...] oder daß in einer kleinen Stadt eine große Seele aufwächst und deren Angelegenheiten geringschätzt; oder daß womöglich von einer anderen Wis-senschaft ein Guter kommt, der genug hat davon; oder auch daß jemand durch eine kränkliche Statur vom öffentlichen Leben ausgeschlossen bleibt; um davon zu schweigen, daß jemand wie ich (Sokrates) ein daimonion hätte. Wenn nun so einer die Philosophie gekostet hat, dabei die chaotischen Zu-stände um sich herum bemerkt, an denen sozusagen überhaupt nichts Ge-sundes ist, und auch nirgends ein Mitstreiter in Sicht ist, mit dem zusammen man bei seiner Hilfe für das Gerechte nicht selbst zugrundeginge, sondern wenn man wie unter wildeTiere gefallen sich befindet und man, bevor man der Stadt oder seinen Freunden noch nützlich gewesen wäre, bereits am Boden zerstört wäre -. dann wird so jemand dieses alles erwägend einfach Ruhe halten und das Seine tun, wie vor Sturm und Hagel unter einen Mauervor-sprung tauchen und im Blick auf die herrschende Gesetzlosigkeit froh sein, daß er sein eigenes Leben rein von Ungerechtigkeit und Frevel zubringen kann bis zu einem gern und mit schöner Hoffnung entgegengenommenen

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Abschied von ihm. — Und damit wird er wohl nicht das geringste Leben und Handeln vollbracht haben! — Aber auch nicht das größte ( ‰jta megista)! Inso-fern er nicht die geeignete Verfassung angetroffen hat; denn in einer solchen wäre er selbst zu mehr gediehen und hätte außer sich selbst auch dem Ge-meinsamen Rettung gebracht (ta koina swzein)".

Platon, 7. Brief 327e-328c: [Dion bittet Platon, erneut nach Sizilien zu kom-men:) "Auf welche größere Gelegenheit wollen wir noch warten nach den jetzt durch ein göttliches Geschick eingetretenen Entwicklungen? [...Die Verhältnisse sind nun so, daß) wenn je dann jetzt die ganze Hoffnung sich erfüllen wird, daß dieselben Leute Philosophen und Herrscher großer Staats-wesen sind. [...] Darob erwog ich die Sache und schwankte hin und her, ob ich fahren solle oder nicht; dennoch überwog die Auffassung, ich müsse - wenn je einer darangehen solle, all das Durchdachte über die Gesetze und die politische Verfassung zu verwirklichen, und daß es jetzt zu versuchen sei: Denn wenn ich jetzt nur einen Menschen genug würde bekehrt haben, wür-de ich alles Gute ausgeführt haben".

Platon, Epigramm auf den toten Freund, Dion: "Tränen für Hekabe und alle von llions Frauen spannen die Moiren schon aus, gleich mit dem Tag der Geburt. Du aber, Dion, du prangtest im Kranz deiner leuchtenden Taten, als dir ein Dämon die Frucht glänzender Hoffnungen nahm. So liegst du nun, von den Bürgern geehrt, in der weiten Heimat, - o wie raste mein Herz, Dion, vor Liebe für dich!"

Platon, 7. Brief 328c: "Mit dieser Überlegung [daß man, wenn je, dann diese Gelegenheit zur Bekehrung eines Mächtigen ergreifen müsse] im Sinn und dem daraus rührenden Wagemut schied ich von zuhause; - nicht, wie viele meinten [aus Selbstüberschätzung], sondern am meisten aus Scham vor mir selbst, ich könnte mir einst irgend als ein bloßer Logos vorkommen, der frei-willig nie an eine Tat die Hand gelegt hätte". Denn dies könnte ihm als "Verrat an der Philosophie" (328e) ausgelegt werden.

Platon 7. Brief, 342a-343d: [Über eine missliche Eigenschaft aller Erkennt-nismedien:] "Für jegliches Seiende gilt, dass man dreierlei, durch das hin-durch seine Erkenntnis notwendigerweise veranstaltet wird, als viertes aber sie selbst und [erst] an fünfter Stelle das Erkennbare und wahrhaft Seiende ansetzen muß: erstens der Name, zweitens der Logos, drittens das Bild, viertens die Erkenntnis. [...] So wird z.B. etwas Kreis genannt, für das das eben Ausgesprochene der Name ist. Das zweite ist der Logos davon, der aus Nenn- und Aussageworten zusammengesetzt ist, nämlich: was vom äußersten Rand bis zur Mitte überall gleichen Abstand besitzt [...] Das Dritte aber ist das, was gezeichnet und wieder ausgewischt, gedrechselt und wie-der zerstört wird, was ja alles der Kreis selbst, worauf diese sich beziehen, nicht leidet, weil er vielmehr verschieden davon ist. Das Vierte aber ist Er-

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kenntnis und Denken und wahre Meinung darüber. Sie alle muß man aber-mals in gewisser Weise als eines ansetzen, das nun nicht in Lauten oder in körperlichen Umrissen, sondern in Seelen existiert und von dem offenbar sowohl die Natur des Kreises selbst als auch die vorher genannten drei ver-schieden sind. Unter ihnen aber steht das Denken in Verwandtschaft und Ähnlichkeit dem fünften am nächsten, während die anderen weiter weg da-von sind. [...] Wer jedoch von dem was ist nicht die vier anderen auf gewisse Weise erfasst hat, der wird niemals einer vollendeten Erkenntnis des fünften teilhaftig werden. Nun kommt aber noch hinzu, daß jedes von ihnen die Tendenz hat, nicht weniger irgendein Wie-Sein der Dinge deutlich zu ma-chen als das [eigentlich] Seiende von jeglichem – aufgrund der Schwäche des Logos. [...] In der Tat gibt es eine Vielzahl von Gründen dafür, dass je-des der vier zur Unklarheit führt, aber der wichtigste ist, wie vorher gesagt, dass jedes von ihnen, obwohl die Seele von den zwei Gegebenheiten: dem Seienden und dem Wie-Sein, nicht das Wie, sondern das Was zu wissen verlangt, dennoch das nicht-Verlangte der Seele vorstreckt in Rede und Sa-che, und so, indem das Gesagte und Vorgezeigte sich durch Wahrnehmun-gen als leicht widerlegbar erweist, jeden Menschen mit sozusagen jeder Art von Aporien und Ungewissheit erfüllt.

TUGEND Platon. Protagoras 348e u. Menon 77b: [die noch bei ihm kolportierte, alte Formel der ‚Tugend':] 'Kalokagathia' (Prot. 348e). Vgl. Men. 77b: "Streben nach dem Schönen (kalon d.i.: das Zustimmunggewinnende) und es ausfüh-ren können" - era÷n / epiqumei÷n kalw÷n kai dunasqai.

llias 6, 442-465: [Hektor zu Andromache] "Dies alles kümmert auch mich, doch empfinde ich schreckliche Scham vor Troern und Troerinnen, wenn ich wie ein Schlechter (kako") dem Kampf ausweichen wollte. Dazu drängt mich mein Herz nicht, da ich gelernt habe, immer ein Guter zu sein und unter den ersten Troern zu kämpfen, um den großen Ruhm des Vaters und meinen ei-genen zu wahren" [...] O ja, ich weiß, daß Troia bald in den Staub sinkt und du die Freiheit verlieren und als Sklavin nach Argos gehen mußt: "Dann wird wohl jemand dich sehen und sprechen: 'Schaut hier, des Hektors Weib, der als bester kämpfte unter den Troern (o" aristeueske macesqai Trwwn), als Troia umkämpft ward'. So wird man sprechen und dir den Schmerz wieder auffrischen aus Sehnsucht nach diesem Mann, daß er dir den Tag der Knechtschaft abwehre! - Aber dann wird den Toten schon ein Haufen Erde bedecken, eh' er noch etwas erfuhr von deinem Geschrei und der Verschlep-pung".

[ llias 22, 91-110: [Hektor folgt nicht der Bitte seiner Eltern, sich vor Achilleus

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hinter die Mauern der Stadt zu flüchten] "Doch bekehrten sie Hektor nicht in seinem Herzen, sondern der wartete auf den herbeistürzenden, riesigen Achilleus, sowie ein Drache im Gebirge vor seiner Höhle auf einen Mann war-tet: vollgefressen mit üblen Giften und getaucht in beißende Wut, gräßliche Blicke um sich werfend; [...] so auch Hektor: in unumstößlicher Kraft wich er nicht zurück. [...] Aber schwer bedrückt sprach er zu seinem Herzen: 'Weh mir, wenn ich hinter die Mauern flüchte, wird mir Polydamas sogleich eine Niederlage bereiten, der mich ja hieß, die Troer in die Stadt zurückzuführen im Schütze der Nacht, als Achilleus wieder zum Kampfe bereit war; doch ich folgte ihm nicht, obwohl es viel besser gewesen wäre. Nun aber, nachdem ich das Volk durch meine Unbesonnenheit ins Verderben geführt, schäme ich mich vor den Troern, daß nicht ein andrer, der schlechter ist, spräche: >Ha, Hektor, der im Vertrauen auf seine Kraft das Volk ins Verderben führte < - Dann wäre es besser für mich, von Angesicht entweder den Achilleus zu tö-ten und so nach Hause zu gehn oder ehrenvoll durch ihn vor der Stadt zug-rundezugehen'".

Hesiod, Erga 286-299: Was ich als gut für dich weiß, das will ich dir sagen, o unvernünftiger Perses: Schlechtigkeit ist auch zuhauf sehr leicht zu erwer-ben: leicht ist der Weg und direkt in der Nähe verläuft er. Vor die Vortrefflich-keit (areth) aber haben die Götter den Schweiß gesetzt! Lang und steil ist der Pfad zu ihr und rauh für das erste. Wenn man aber zum Gipfel gelangt ist. dann ist er wiederum leicht, so schwer er [insgesamt] fällt. - Der ist der aller-vortrefflichste. der durch sich selbst alles vernünftig erfaßt, indem er das Bessere in die spätere Zeit, bis hin zum Ende sich klarmacht; gut aber ist auch der, der einem, der wohl spricht, Folge leistet; wer aber weder durch sich es erfaßt noch es, auf andere hörend, ins Herz sich senkt, der ist ein unbrauchbarer Mensch. Du aber, stets eingedenk meiner Ermahnung, arbei-te, Perses, auf daß der Hunger dich haßt!" ]

Simonides Frg. 370 (Page): "Ein wahrhaft guter Mann zu werden ist schwer, nämlich an Händen und Füßen und Geist viereckig ohne Tadel gebaut. — Für mich liegt das Pittakeische Wort freilich nicht auf der Linie, obwohl es von einem weisen Manne gesprochen ward: 'schwierig', sagt er, sei es 'ein Guter zu sein'. - Gott allein wohl hat diese Begabung! Hingegen ist es nicht möglich, daß ein Mensch nicht schlecht sei, den ein auswegloses Geschick gefangen hält. Ja, wer guten Erfolg hat, der ist immer ein Guter, ein Schlech-ter aber der, dem es schlecht geht! Deswegen werde ich nicht auf der Suche nach dem, was nicht entstehen kann, einen leeren Teil meines Lebens für eine unerfüllbare Hoffnung verschwenden: nämlich dem ganz untadeligen Menschen, so viele wir sind, die wir die Frucht der weiten Erde genießen. - Finde ich ihn gleichwohl, dann will ich euch's melden. Vielmehr alle lobe ich und liebe ich, wer immer freiwillig nichts Schändliches tut. Gegen den Zwang kämpfen ja selbst Götter nicht an. — Mir genügt es, wenn einer als nicht allzu Untätiger weiß um die der Stadt nützende Gerechtigkeit: der ist ein

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integrer Mann, und ich tadle ihn nicht. Denn die Schar kompletter Toren ist grenzenlos. Alles ist Schönes, dem das Schändliche (aiscron) nicht beige-mischt ist."

Dissoi logoi 2,20: "Alles ist durch den Kairos schön, im unrechten Augenblick dagegen häßlich"

Gorgias v. Leontinoi Frg. 6: "Sie, die Gefallenen, besaßen göttliche Vortreff-lichkeit [...], weil sie vielfach das der Situation Angemessene dem eigensinni-gen Rechtsstandpunkt vorzogen [...], wobei sie dies für das göttlichste und allgemeinste Gesetz hielten: das Gebotene, wo es geboten ist, zu sagen und zu verschweigen und zu tun. [...] Sie unterstützen, wem zu Unrecht ein Mißgeschick, und straften, wem zu Unrecht ein Glück widerfuhr, waren ei-gensinnig auf das Nutzbringende und maßvoll auf das Schickliche aus und brachten mit dem Bedacht ihrer Einsicht das Unbedachte zum Einhalt; sie waren übermütig gegen Übermütige, korrekt gegenüber Korrekten, uner-schrocken gegen Unerschrockene und furchtbar in furchtbaren Situationen".

PROTAGORAS Platon, Protagoras 317b: "Ja, ich [Protagoras] Stimme freimütig zu, ein Sophist zu sein und Menschen zu erziehen".

ebd. 318e-319a: "Gegenstand meiner Lehre ist: Wohlberatenheit (euboulia) sowohl im eigenen Bereich – wie jemand sein Haus am besten verwaltet - als auch im Politischen - wie jemand in Angelegenheiten der Stadt am effektivsten wirkt durch Handeln und Reden. —— Oh, ein wahrhaft schönes Kunststück hast du da in deinem Repertoire - wenn du es hast! [.,,] Denn ich glaubte immer, das sei gar nicht lehrbar".

Platon, Menon 70a: "Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Vortrefflichkeit lehrbar ist oder nicht lehrbar, sondern einzuüben, oder weder zu üben noch zu lernen, sondern von Natur aus den Menschen zugefallen ist oder auf noch andere Weise?"

Platon, Apologie 29d-30b: "Solange ich atme und in der Lage bin, werde ich nicht aufhören zu philosophieren und euch zu ermahnen und Weisung zu geben, wem von euch ich auch begegne, indem ich wie gewohnt spreche: Ό mein Bester, schämst du dich denn nicht, Athener, der du bist, als aus der größten und für Weisheit und Stärke berühmtesten Stadt dein Trachten (epimelei÷sqai) aufs Geld zu richten, wie es möglichst viel werde, und auf Ansehen und Ehre, aber auf Einsicht und Wahrheit und auf deine Seele, wie sie am besten werde, weder Sorge (epimelei÷sqai) noch Gedanken zu wen-den?' Und wenn dies einer bestreitet und behauptet, wohl dafür Sorge zu tragen (epimelei÷sqai), werde ich ihn nicht so schnell loslassen und meiner-seits nicht fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und bloßstellen, und es

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ihm sagen, wenn er mir keine Vortrefflichkeit zu besitzen dünkt, und ihn ta-deln, daß er das, was am meisten wert ist, für das Geringste nimmt, das Schlechtere aber für mehr. [...] Denn zu nichts anderem gehe ich umher, als jung und alt von Euch dazu zu bekehren, auf keinen Fall um Körper und Geld sich so heftig zu sorgen (epimelei÷sqai) wie um die Seele, wie sie am besten sei. indem ich sage, daß nicht aus Geld Vortrefflichkeit, sondern aus Vortrefflichkeit Geld und alle arideren Güter für die Menschen erwachse".

Platon, Protagoras 328 d-e: [Sokrates nach den langen Ausführungen des Protagoras zu Hippokrates:] O Sohn des Apollodoros, wie bin ich dir dank-bar, daß du mich aufgefordert hast hierher zu kommen l Denn viel gebe ich dafür, das gehört zu haben, was ich jetzt von Protagoras gehört habe. In früherer Zeitnämlich war ich des Glaubens, daß es nicht eine Frage mensch-licher Sorgfalt (εpimeleia) sei, wie die Guten gut werden. Nun aber bin ich bekehrt. Nur eine Kleinigkeit hindert noch, die Protagoras selbstverständlich leicht noch dazulehren wird, nachdem er diese vielen Lehren entfaltet hat".

ebd. 329c: "Worüber ich mich nun noch wunderte bei deiner Rede, das fülle meiner Seele ein: Denn du sprachst davon, daß Zeus die Gerechtigkeit und Scheu den Menschen gesandt habe, und auch sonst überall in deinen Re-den wurden von dir die Gerechtigkeit und Selbstbescheidung (swfrosuvnh)und die Frömmigkeit und all dies, als sei es ein einziges Etwas - nämlich die αrετη (Vortrefflichkeit) -, angeführt. Dies nun gehe mir genau mit einer Klarlegung durch (diercesqai akribw÷" tw÷ logw): ob die Vortrefflichkeit ein einziges Etwas ist, ihre Teile aber Gerechtigkeit und Selbstbescheidung und Frömmigkeit, oder ob dies, was ich eben sagte, alles Namen desselben einen Dinges sind. Dies ist es, was ich noch begehre".

Platon, Philebos 15d. "Daß dasselbe Eines und Vieles wird unter dem Einfluß der Logoi, dies, sagen wir, begegne überall bei jeglichem, was lo-gisch dargelegt wird, immerdar und früher wie heute. Und es wird weder in Zukunft aufhören noch hat es heute erst angefangen, sondern dies ist, wie mir scheint, ein unsterbliches und altersloses Pathos der Logoi selbst in uns".

ebd. 16 c-d: "[...] eine Gabe der Götter an uns Menschen [.. ] von einem ge-wissen Prometheus aus dem Kreis der Götter entführt zusammen mit dem hellsten Feuer. Und die Alten, die uns überlegen waren und naher bei den Göttern wohnten, gaben an uns diese Sage weiter, daß, wenn etwas als Seiendes dargelegt wird, es immer aus Einem und Vielem bestehe, indem es Grenze und Grenzenlosigkeit zusammengewachsen in sich enthalte. Und wir müßten nun von dem so Geordneten immer eine Gestalt suchen (mian idean zhtei÷n), indem wir sie jedesmal über das ganze uns setzen - als da-rinseiend würde sie auch zu finden sein - und, wenn wir sie nun erfaßt ha-ben, dann nach der einzigen zwei erwägen, ob sie [das Betreffende] irgend-wie sind, wenn aber nicht, dann drei oder irgendeine andere Zahl, und jedes

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Eine von jenen wiederum genauso, bis man sähe, daß das anfangs Eine nicht nur überhaupt Eines und Vieles und Grenzenloses ist, sondern auch, wie vieles es ist".

Platon, Protagoras 329d: [Protagoras wählt von der oben gestellten Alterna-tive die eine aus:] "daß von der Vortrefflichkeit als eines diese genannten [Einzeltugenden wie 'Selbstbescheidung' etc.] Teile sind. — So wie die Teile eines Gesichts Teile sind: also Mund und Nase und Augen und Ohren, oder wie die Teile von Gold, wo sich die einen von den anderen untereinander und von dem Ganzen in nichts unterscheiden, außer in Größe und Winzig-keit?" [Protagoras muß hier die erste Möglichkeit wählen, um seiner These, daß nicht jede der genannten Einzeltugenden nur ein anderer Ausdruck für die gesamte sei, treu zu bleiben].

Ebd. 329e: "Besitzen die Menschen von diesen Teilen der Vortrefflichkeit die einen den einen, die anderen aber einen anderen, oder ist es notwendig, daß. wenn einer einen hat, er alle hat? — Keineswegs! Sondern viele sind ja tapfer, aber ungerecht, oder gerecht, aber nicht weise".

Ebd. 330a: "Sollte also jeder Teil auch ein eigenes Vermögen (dunamiς) be-sitzen, wie die Teile des Gesichts? Nicht ist ja das Auge wie die Ohren und auch sein Vermögen ist nicht dasselbe, und auch von den anderen Teilen ist keiner wie der andere sowohl in seinem Vermögen als auch in allem ande-ren, sind nun so auch die Teile der Vortrefflichkeit: keiner wie der andere weder selbst noch in seinem Vermögen'?" [Protagoras gibt dies zu.]

PHILOSOPHIE UND LOGOI Platon, Politikos 285e-286a: "Für die größten und ehrwürdigsten Dinge (megista kai timiwtata) gibt es kein Abbild in der Welt - wie z.B. das ge-zeichnete Dreieck für die mathematische Figur oder ein Tier für das, was Tier ist], das in Rücksicht auf den Menschen deutlich ausgearbeitet wäre, und worauf zeigend der, der die danach fragende Seele befriedigen möchte, sie tatsächlich, indem er es in irgendeine Wahrnehmung einbrächte, genug befriedigen würde. Deswegen muß man die Fähigkeit einüben, von jegli-chem Ding einen loqos zu geben und zu empfangen (meleta÷n logon dou÷nai kai dexasqai). Denn die unkörperlichen, schönsten und größten Dinge wer-den allein durch den Logos und durch nichts anderes sicher aufgezeigt (safw÷" deiknumena )".

NIEMAND HANDELT FREIWILLIG SCHLECHT Platon, Protagoras 345d/e: "Ich bin ziemlich davon überzeugt, daß kein Wei-ser dafürhält, daß irgendein Mensch freiwillig einen Fehler begeht oder frei-

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willig das Schändliche oder Schlechte ins Werk setzt, sondern sie wissen sehr gut, daß alle, die Schändliches oder Schlechtes tun, dies unfreiwillig tun".

Zu Platon, Protagoras 349d-351 b:

(1) Schluß des Sokrates: (a) Die Tapferen sind mutig. (b) Die Wissenden sind am mutigsten. (c) Manche Mutigen sind unwissend. (d) Die unwissend Mutigen sind nicht tapfer. Schluß: Tapfer sind nur Mutige, die zugleich Wissende sind.

(2) Schluß des Protagoras: (a) Die Starken sind machtvoll. (b) Die Wissenden sind am machtvollsten. (c) Manche Machtvollen sind unwissend. Schluß: Stark sind nur Machtvolle, die zugleich Wissende sind.

Es fehlt also Prämisse (d): Die unwissend Machtvollen sind nicht stark: d h. das Wissen ist keine notwendige Bedingung der Stärke wie jedoch im Falle der Tapferkeit.

Platon. Protagoras 351b: "Protagoras, sagst du, daß einige Menschen gut leben, andere aber schlecht?"

Ebd. 351d: [Protagoras] "Mir scheint es nicht nur für die jetzige Antwort, son-dern auch für mein ganzes übriges Leben gewisser zu antworten, daß es eini-ges Lustvolle gibt, das nicht gut ist. und auch einiges Unangenehme, das nicht schlecht, einiges hingegen von beidem Genannten, das gut bzw. schlecht, und schließlich solches, was keines von beiden, d.h. weder gut noch schlecht ist".

Ebd. 356c-357b: "Wenn für uns das gute Handeln darin bestünde, daß wir große Längen ausführten und ergriffen, kleine aber mieden und nicht ausführ-ten, was würde dann als Heil des Lebens erscheinen - die Meßkunst oder die Macht des Anscheins (h tou÷ fainomenou dunami")? Oder würde uns nicht die letztere irre führen und bewirken, daß wir oftmals in denselben Din-gen oben und unten verwechselten und umschwenken würden in der Ausfüh-rung und Wahl des Großen und Kleinen, während die Meßkunst diesen Trug unwirksam machte, indem sie uns das Wahre zeigte und die Seele dazu brächte, in Ruhe bei der Wahrheit zu bleiben, und uns so das l eben bewahr-te? [...] Nachdem uns aber das Heil des Lebens in der richtigen Wahl von Lust und Unlust zu bestehen schien - nämlich je nach dem der mehreren oder we-nigeren, größeren oder kleineren, entfernteren oder näheren -, tritt da nicht auch eine Meßkunst in Erscheinung als Abwägung von Übertreffen und Darun-

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terbleiben oder des Gleichgewichts miteinander? [...] Und ist diese dann nicht eine Kunst und ein Wissen?

Platon, Protagoras 357e: "So daß, der Lust zu unterliegen, die größte Unwis-senheit ist".

Ebd. 360 d-e: "'Folglich ist das Wissen vom Furchtbaren und nicht Furchtbaren eben doch - die Tapferkeit, als Gegenteil der Unwissenheit diesbezüglich'' — Daraufhin wollte Protagoras noch nicht einmal nicken und schwieg. Und ich sagte: 'Was nun, Protagoras, weder stimmst du zu noch verneinst du die Fra-ge?' — 'Mache selbst fertig', sagte der. — Ich darauf: 'Nur eines noch will ich dich dazu fragen: ob du noch wie vorher meinst, daß manche Menschen, ob-gleich sie sehr dumm, dennoch sehr tapfer sind?' — 'Du scheinst ja großen Ehrgeiz darein zu setzen, daß ich dir Antwort gebe; so tue ich es dir zuliebe und sage, daß mir das aus dem Eingeräumten unmöglich zu sein scheint'".

Ebd. 361a-d: "[Es spricht zunächst der personifizierte 'Logos', den beide ge-führt haben] 'Was seid ihr doch für seltsame Leute, Sokrates und Protagoras' Du nämlich, der du vorher sagtest, daß die Vortrefflichkeit nicht lehrbar sei, ereiferst dich nun für das Gegenteil zu dir selbst, indem du den Beweis führst, daß alle die Dinge Wissen seien: Gerechtigkeit sowohl wie Besonnenheit, so-wie auch Tapferkeit; auf welche Weise Vortrefflichkeit ja als lehrbar in beson-ders hohem Maße erschiene' [...] Protagoras hingegen, der damals davon ausging, daß sie etwas lehrbares sei, macht jetzt den Eindruck, sich dafür ein-zusetzen, daß diese Sache fast alles andere mehr zu sein scheint als ausge-rechnet Wissen; und so wäre sie denn wohl kaum etwas lehrbares.' Ich nun [so fährt Sokrates in Person fort], wenn ich betrachte, wie wir dies alles fürchterlich von oben nach unten gekehrt haben, bin voller Drang, daß es sich aufkläre, und möchte, daß wir es durchgehen und auch darauf zu sprechen kommen, was Vortrefflichkeit eigentlich selbst ist, und dann erneut betrachten, ob dieses Ding ein lehrbares ist oder nicht, auf daß nicht jener Epimetheus uns vielfach auch im Nachdenken täuscht und betrügt, wie er uns schon bei der Verteilung [der lebensbewahrenden Mittel] vernachlässigt hat, wie du erzählst. Mir also gefiel auch im Mythos der Prometheus besser als der Epimetheus, und ihn gebrauchend will ich, vordenkend für mein eigenes Leben im Ganzen, all dies durchführen und, wenn du einverstanden bist, dies, wie ich auch anfangs sag-te, am liebsten mit dir zusammen durchdenken."

WISSEN Platon, Apologie 21 b: [Zum Orakel, daß niemand ein 'wissenderer' sei als Sok-

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rates] "Als ich dies hörte, dachte ich bei mir selbst: 'Was meint der Gott nur, und was stellt er für ein Rätsel? Denn, daß ich weder ein im Großen noch im Kleinen Wissender bin, weiß ich bei mir selbst sicher. Was also meint er, wenn er sagt, ich sei der Wissendste? Lügen nämlich wird er ja nicht, das ist ihm nicht gestattet'".

Platon, Apologie 22e-23b: "Weil sie ihre Kunst so gut ausüben konnten, hielt sich jeder zugute, auch in anderen, sehr großen Dingen besonders weise zu sein, und diese ihre Unbedachtsamkeit verdeckte jene Weisheit wieder. So daß ich mich für das Orakel fragte, ob ich mich selbst eher so nehmen möch-te, wie ich bin, nämlich weder weise in der Weisheit jener noch behaftet mit ihrem Unverstände, oder so, daß ich beides hätte, was auch sie haben. Und ich antwortete mir und dem Orakel, daß es für mich so besser wäre: wie ich bin zu sein. Aus dieser Herausstellung (exetasi") sind mir viele Feinde er-wachsen [...] und zugleich diese Bezeichnung, daß ich eben weiser sei. Denn immer glauben die Anwesenden, daß ich selbst das wisse, worin ich den an-deren widerlege. So scheint denn in der Tat der Gott weise zu sein und in seinem Orakel eben dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit wenig wert ist, ja gar überhaupt nichts. Und er bezeichnet wohl den Sokrates und ge-braucht meinen Namen, um mich zum Musterfall (paradeigma) zu machen, als wolle er sagen: 'dieser ist von Euch der Weiseste, wer wie Sokrates erkennt, daß er in der Tat nichts wert ist in Anbetracht des Wissens'".

Platon, Alkibiades l 109 d-e: [Alkibiades behauptet zu wissen, was gerecht ist und was nicht] "Wie das, mein lieber Alkibiades? Merkst du etwa selbst nicht, daß du das nicht weißt, oder hast du es, von mir unbemerkt, gelernt und bist zu einem Lehrer gegangen, der dich lehrte, Das Gerechte und Ungerechte zu erkennen"? Wer war das? Sag es mir, damit du auch mich ihm als Schüler vorstellst' — Du machst Scherze, Sokrates1 [,..] Was ist denn, wenn ich kei-nen Lehrer habe? Glaubst du nicht, ich könne auf andere Weise Bescheid wissen über das Gerechte und Ungerechte? — Doch doch, wenn du es he-rausfinden würdest. — Aber du meinst nicht, ich könnte es herausfinden? — Unbedingt, wenn du es nämlich suchen würdest. — Und du glaubst, ich würde es nicht suchen? — Durchaus, wenn du geglaubt hättest, du wüßtest es nicht'"

Ebd. 106d: "Ist es möglich, daß du eine Lehre dir angeeignet oder sie heraus-gefunden hast, ohne daß du das Betreffende entweder einst hast lernen wol-len oder selbst suchen? — Das ist nicht möglich. — Wie aber, wolltest du et-wa suchen oder lernen, was du zu wissen glaubtest? — Keineswegs".

Platon, Menon 84 c: "Glaubst du, jemand würde vorher daran gehen, das zu suchen oder zu lernen, was er — obwohl nicht wissend — zu wissen glaubte, bevor er, in die Aporie geraten, nun überzeugt ist, es nicht zu wissen, und sich

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nach dem Wissen sehnt? — Ich glaube es nicht."

Platon, Theaitetos 185e-186b: "Manches betrachtet die Seele vermittels, ihrer selbst, manches dagegen vermittels der Vermögen des Körpers [...] In welche von beiden Rubriken setzt du nun das Sein (ousia)? Denn dies heftet sich ja besonders an alle Dinge. — Ich setze es unter die Dinge, welche die Seele an sich selbst erstrebt. — Auch das Ähnliche und Unähnliche, sowie das Selbe und Verschiedene? — Gewiß. — Wohl auch Schönes und Häßliches, Gutes und Schlechtes' — Auch diese scheinen mir besonders zu denen zu gehören, von welchen [die Seele] ihr Sein (ousija) zueinander in Betracht zieht, indem sie in sich selbst das Vergangene und das Gegenwärtige zum Zukünftigen ins Verhältnis setzt“.

Platon, Laches 198d-199a: "Mir scheint [...], daß, wovon immer es ein Wissen gibt, dies nicht ein anderes ist bezüglich des Vergangenen - also zu wissen, wie es geschah - und ein anderes bezüglich des gerade Geschehenden - wie dies geschieht - und wieder ein anderes bezüglich der Frage, wie etwas aufs Schönste geschehen solle, und wie geschehen wird, was noch nicht gesche-hen ist, sondern ein und dasselbe. Wie z.B. das Wissen bezüglich des Ge-sunden über alle Zeiten hin kein anderes ist als die medizinische Wissen-schaft [...| Darin wirst du uns wohl beipflichten, Nikias, daß dasselbe Wissen von denselben Dingen sowohl als künftigen als auch unmittelbar geschehen-den als auch vergangenen Verstand hat"

Platon, Gorgias 508e-509a: "Ich sage nein dazu, o Kallikles, daß zu Unrecht ins Gesicht geschlagen zu werden das Schändlichste sei, oder geschnitten zu werden in meinen Körper oder auch Geldbeutel, sondern vielmehr: mich zu schlagen und das Meinige zu Unrecht zu schneiden ist sowohl schändlicher als auch schlechter [...] Dies erschien uns auch oben in früheren Reden so, wie ich sage, und wird festgehalten und gebunden, um mich noch drastischer auszudrücken, durch eiserne und stählerne Logoi, wie sie eben so richtig er-schienen, und die, wenn nicht du sie auflöst oder ein noch draufgängerische-rer als du, es nicht erlauben, anders zu reden, als ich jetzt rede, und dennoch richtig zu reden. Denn auf mich trifft immer dieselbe ratio zu, daß ich nicht weiß, wie sich dies verhält, obgleich ich allerdings noch keinem begegnet bin, wie auch jetzt, der in der Lage gewesen wäre, anders zu sprechen, ohne sich lächerlich zu machen. Daher setze ich wiederum, daß es sich so verhält".

Platon, Phaidon 99e-100a: "Es schien mir geboten, zu den Logoi meine Zu-flucht zu nehmen, um in ihnen die Wahrheit der Dinge zu betrachten [...] Auf diese Weise mache ich meine Anstrengungen und lege jedesmal den Logos zugrunde, den ich als den stärksten beurteile, und was mir damit zusammen-zustimmen scheint, das setze ich als wahr Seiendes".

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Platon, Hippias II 371e-373a: [Sokrates zieht eine Folgerung aus dem bisheri-gen Gespräch] "So ist also, wie es scheint, Odysseus besser als Achilleus. — Das wohl am allerwenigsten, Sokrates! — Wie denn, erschienen uns nicht gerade diejenigen, die freiwillig Falsches sagen, besser als die, die es unfrei-willig tun? — Wie könnten doch, Sokrates, die, die freiwillig Unrecht tun [so wie Odysseus, der lügt und betrügt], [...] besser sein als die, die es unfreiwillig tun, mit denen man billigerweise viel Nachsicht hat, wenn doch jemand nicht weiß, daß er Unrecht tut oder Falsches sagt [...] Deshalb sind doch auch die Gesetze viel strenger gegenüber denen, die freiwillig Schlechtes tun und lü-gen, als gegen die Unfreiwilligen! — Siehst du nun, Hippias, daß ich die Wahrheit sage, wenn ich behaupte, eifrig zu sein in Beziehung auf das Aus-fragen der Weisen. Und ich habe wohl wirklich nur dies eine Gute, bin aber in allem anderen eine Niete. Denn darin, wie die Dinge sich verhalten, täusche ich mich und weiß nicht, wie sie sind. Ausreichendes Indiz dafür ist ja, daß, wenn ich mit irgendeinem von euch ob eures Wissens hochberühmten Leuten, denen alle Griechen ihre Weisheit bezeugen, zusammenkomme, ich [regel-mäßig] als Nichtwissender erscheine. Denn über sozusagen nichts scheint mir dasselbe richtig wie euch. Und was könnte es für ein größeres Indiz der Dummheit geben, als mit weisen Männern uneins zu sein? Allein dieses son-derbare Gut besitze ich doch, das mir Rettung bringt: Ich schäme mich näm-lich nicht, ein Lernender zu sein, sondern erkunde und frage und weiß dem, der Antwort gibt, reichen Dank und habe niemals jemandem diesen Dank vor-enthalten. Denn ich habe niemals geleugnet, einer zu sein, der etwas erst gelernt hat, indem ich die Lektion als einen Fund von mir selbst ausgab. Viel-mehr preise ich den, der mich etwas lehrte, als einen Wissenden und spreche aus, was ich von ihm gelernt habe. Und so stimme ich jetzt auch nicht mit dir überein, sondern bin völlig unterschiedlicher Auffassung. Doch weiß ich wohl, daß dies an mir liegt, weil ich so bin, wie ich bin, um nichts Größeres von mir zu sagen. Denn mir scheint, o Hippias, ganz das Gegenteil von dem, was du sagst, richtig: daß die Menschen, die Schaden anrichten und Unrecht tun und lügen und betrügen und Fehler begehen, wenn sie dies freiwillig tun und nicht unfreiwillig, besser sind (als die, die es unfreiwillig tun. Bisweilen freilich scheint mir auch das Gegenteil davon richtig zu sein, und ich bewege mich in der Irre darüber - offenkundig deshalb, weil ich nicht weiß. Jetzt im Augenblick freilich kam es wie ein Oberfall mich an und scheinen mir die freiwillig Fehlen-den besser zu sein als die Unfreiwilligen. Die Schuld für diesen gegenwärtigen Zustand gebe ich den voraufgegangenen Logoi; denn daher erscheinen mir jetzt die, die dies alles unfreiwillig tun, als schlechter wie die, die es freiwillig machen".

Platon, Menon 81 b-d: "[Eine alte Lehre von Priestern und Priesterinnen sagt], daß die Seele des Menschen unsterblich sei und zwar bald verscheide; - was man 'sterben' heißt -, aber bald auch wieder werde, jedoch niemals untergehe. Und deswegen müsse man ein Leben, so fromm möglich, führen, denn [wie

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Pindar schreibt, Frg. 133] 'die Seelen derer, denen Persephone ihre Buße für altes Unheil abnimmt, gibt sie im neunten Jahr der oberen Sonne wieder em-por, aus welchen edle Könige werden und Männer, hervorragend an Kraft, und Größen des Wissens. Die werden dann für die künftige Zeit als heilige Helden im Vergleich zu den Menschen gepriesen'. Da nun die Seele unsterb-lich ist und oftmals geboren wird, hat sie auch alle Dinge geschaut hier und im Hades, und es gibt nichts, was sie nicht schon gelernt hat. Daher ist auch nichts Wunderbares daran, daß sie in der Lage ist, sich an alles, was mit Vertrefflichkeit oder anderem zusammenhängt, zu erinnern, Denn weil die Physis insgesamt verwandt ist, und die Seele alles schon gelernt hat, hindert nichts, daß man, nachdem man nur eines wiedererinnerte, was nun also die Menschen 'lernen' nennen, alles Übrige selbst auffindet, wenn man wacker ist und nicht müde wird in seiner Suche".

Ebd. 97b-98b: „Solange jemand irgendwie eine richtige Meinung von dem hat, von dem der andere ein Wissen besitzt, wird jener kein schlechterer Führer [in praxi] sein, indem er glaubt, daß dies wahr sei, es aber nicht weiß, als der andere, der es weiß. — Nicht im mindesten schlechter! — Wahre Meinung ist also für die Richtigkeit des Handelns kein schlechterer Führer als Wissen (fronhsi") [...] — Vielleicht doch insoweit schlechter, als der, der Wissen be-sitzt, immer anlangt, während der, der richtige Meinung hat, manchmal, aber manchmal auch nicht. — Wie bitte? Der, der immer richtige Meinung hat, ge-langt nicht immer ans Ziel, solange er Richtiges meint? — Doch, das scheint notwendig, so daß ich mich frage, Sokrates, wenn es sich so verhält, was es dann noch ist, das das Wissen so viel ehrwürdiger macht als die richtige Mei-nung, und wodurch eins verschieden ist von dem anderen. — Weißt du, wa-rum du dich das fragst, oder soll ich es dir sagen? — Ja, sage es! — Weil du deine Aufmerksamkeit nicht auf die Kunstwerke des Dädalus gerichtet hast; oder vielleicht gibt es solche bei euch nicht? — Was willst du damit sagen? — Weil auch diese Kunstwerke, wenn sie nicht festgebunden sind, davonrennen und fortfliegen, aber bleiben nur dann, wenn sie festgebunden sind. — Was soll das? — So ein freischwebendes Werk von ihm zu besitzen ist nicht gera-de viel wert - so wie ein Luftikus; denn es bleibt ja nicht da. Gebunden aber ist es sehr viel wert, da diese Werke sehr schön sind. Warum aber sage ich das? Mit Blick auf die wahren Meinung! Denn auch die wahren Meinungen, wenn sie die Zeit über dableiben, sind eine schöne Sache und bewirken viel Gutes. Wenn sie aber nicht länger bleiben wollen, sondern aus der Seele des Men-schen entfleuchen, dann sind sie nicht viel wert, bevor sie einer nicht anbindet durch die Klarlegung eines Grundes (aitia). Dies aber ist, Freund Menon, eine Wiedererinnerung, wie wir vorher uns eingestanden haben. Sind sie aber gebunden, dann werden sie erst Wissen und somit auch bleibende. Und des-wegen ist das Wissen ehrwürdiger als richtige Meinung und also Wissen von richtiger Meinung unterschieden durch das Band".

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Heraklit Frg. 115: "Der Seele Art ist sich selbst mehrende Klarheit".

Platon, Protagoras 348 c-d: "Glaube nicht, Protagoras, daß ich mit dir aus einem anderen Wunsch heraus eine Unterredung führe (dialegesqai), als um das durchzuüberlegen, worüber ich selbst mich in Aporie befinde. Denn hier hat m.E. Homer recht, wenn er sagt (llias 10, 224): 'Wo zweie miteinanderge-hen, da bemerkt der eine was vor dem ändern'. So nämlich haben wir Men-schen alle leichtere Wege zu jedem Werk, Logos und Gedanken, Wenn aber einer allein etwas bemerkt, dann geht er umher und sucht solange jemanden, dem er es aufzeigen könnte und mit dem zusammen er es absichere (bebaiwsetai), bis er einen findet".

Platon, Politikos 277d-278d: "Schwierig ist es, mein Bester, ohne den Gebrauch von Paradeigmata irgendein Ding von größerer Wichtigkeit hinrei-chend aufzuklären. Denn jeder von uns steht in der Gefahr, wie im Traume alles gewußt habend, doch wiederum, wie erwacht, alles nicht zu wissen. — Wie meinst du dies? — In der Tat, in seiner vollen Aporie scheint mir im Au-genblick dies Pathos des Wissens bei uns in Gang gesetzt zu sein. — Wieso? — Eines Paradigmas scheint mir auch das Paradigma selbst wieder bedürftig zu sein. — Wie nun? Sprich und zögere nicht meinetwegen! — So ist es also darzulegen, und auch du sei nur bereit zu folgen. Denn bei den Kindern ken-nen wir den Sachverhalt, wenn sie gerade dabei sind, des Lesens kundig zu werden. — Was kennen wir da? — Daß sie einen jeden Buchstaben wohl in kurzen und leichten Silben distinkt wahrnehmen und von jedem von ihnen das Richtige angeben können. — Gewiß. — Daß sie aber dieselben [Buchstaben] in anderen [Silben] wiederum verkennen und sich in ihrer Meinung und Darle-gung darüber irren. — So ist es. — Wird man diese nun nicht folgendermaßen am leichtesten und schönsten zu dem hinführen, was sie noch nicht erken-nen? — Wie? — Indem man sie zunächst auf jenes zurückführt, wo sie die-selben richtig vermeinten, und ihnen, nachdem man sie zurückgeführt, daran-setzt, was sie noch nicht erkennen, und so durch den Vergleich dieselbe Ähn-lichkeit und Beschaffenheit als in beiden Verbindungen enthalten aufzeigt, bis für alle [noch] unbekannten Verbindungen das wahr Vermeinte als ein »Dar-angesetztes gezeigt« ist (paratiqemena deicqh÷ = para - deigma), die so Ge-zeigten aber - auf diese Weise zu »Sichdaranzeigenden« (Para-deigmata) werdend - machen, daß jeder von all den Buchstaben in allen Silben als ei-nerseits verschiedener, da er von den anderen verschieden ist, und anderer-seits als derselbe, da er immer derselbe mit sich selbst in jeder Beziehung ist, ausgesprochen wird. — Vollkommen richtig! — Dies also haben wir hinrei-chend begriffen, daß die Entstehung eines Paradigmas sich dann vollzieht, wenn ein identisch Seiendes in gespaltenem Verschiedenem richtig vermeint und zusammengeführt über jedes der Betreffenden als ein Zusammengehöri-ges eine einzige wahre Meinung erbringt. — So scheint es. — Sollen wir uns dann wundern, wenn unsere Seele von Natur aus dasselbe in Beziehung auf

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die 'Buchstaben' von allen Dingen erleidet und bald der Wahrheit gemäß über ein einzelnes in gewissen Dingen orientiert ist, dann aber in Bezug auf all dies wieder in andere Verhältnisse fortgetragen wird und so die einen davon unter irgendwelchen Vermischungen richtig auffaßt, sie alsdann aber als verteilt in die langen und komplizierten Silben der Dinge wiederum verkennt? — Nein, das ist kein Wunder!"

IDEE

Platon, Phaidros 265d-e: [Die zwei Hälften des dialektischen Verfahrens:] „Auf eine einzige Idee bringen, indem man das vielfältig Zerstreute zusammen-schaut, damit man jedes Ding klar definiert, über das man lehren möchte [...] und nach Ideen etwas zerschneiden können entsprechend der Gelenke (arqra), wie es sie von Natur aus hat.“

Platon, Sophistes 256e: "Im Umkreis einer jeden Idee ist das Seiende vieles und das Nichtseiende gar von unendlicher Mannigfaltigkeit".

Platon, Symposion 211 a/b: [eine Idee ist] "nicht irgendwie in was anderem beruhend [...], sondern als dasselbe an sich selbst orientiert mit sich selbst vereint, so als eingestaltig ewig seiend".

Platon, Politeia 523a-525a [Über die "Lehre von Zahl und Kalkül" als eine, die "besonders zum Sein (ousia) zieht“] "Wie ich jenen Unterschied verstehe von etwas, das dahin führt, wohin wir meinen [nämlich zum Sein], und dem, weis dies nicht tut, betrachte zuerst: [...] Ich verweise dich also in unseren Wahr-nehmungen zum einen auf solches, was den Geist nicht zur Betrachtung for-dert, da es von der Wahrnehmung selbst hinreichend unterschieden wird, zum anderen aber auf das, was ihn voll und ganz dazu aufruft, Erwägungen anzu-stellen, da die Wahrnehmung hier nichts Haltbares ausrichtet. [...) Nicht auf-fordernd nämlich ist das, was nicht zugleich in eine gegensätzliche Wahrneh-mung ausschlägt, was hingegen so zum Ausschlag kommt, setze ich als auf-fordernd, weil die Wahrnehmung es nicht als 'dieses' mehr denn als das Ent-gegengesetzte deutlich macht [...] Nimm folgendes zur Verdeutlichung: Diese drei Finger, nämlich der kleinste, der zweite und der Mittelfinger! [...]Ein Finger ist jeder von ihnen gleicherweise, und darin liegt keinerlei Unterschied, ob man auf die Mitte blickt oder zum Rand, ob er weiß ist oder schwarz, dick oder dünn und alles dergleichen. In alledem wird die Seele der Leute nicht ge-zwungen, den Geist zu fragen, was denn ein Finger sei; denn nirgends hat die Sehkraft ihr den Finger als zugleich das Gegenteil eines Fingers gezeigt. [...] So etwas also wirkt nicht fordernd oder wachrüttelnd auf den Geist. [...] Wie aber steht es mit ihrer Größe und Kleinheit? Sieht auch diese die Sehkraft in genügendem Maße, und macht es ihr keinen Unterschied, das Augenmerk auf

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die Mitte oder den Rand zu heften? Und ebenso die Betastung in Beziehung auf Dicke und Schmächtigkeit oder Nachgiebigkeit und Härte? Und verdeutli-chen nicht auch die anderen Wahrnehmungen dergleichen nur mangelhaft? Oder wirkt nicht jede von ihnen so - indem z.B. die auf das Harte hingeordnete Wahrnehmung zwangsläufig auch auf das Weiche hingeordnet ist -, daß sie der Seele das Harte und Weiche in ihrer Wahrnehmung als dasselbe meldet? [...] Also gerät die Seele bei solchen Dingen zwangsläufig in eine Aporie dar-über, was die Wahrnehmung eigentlich als das Harte bezeichnet, wenn sie dasselbe auch als weich darlegt [...] Verständlicherweise also versucht die Seele zuerst in solchen Fällen, indem sie Kalkül und Geist aufruft, zu betrach-ten, ob jedes der gemeldeten Dinge eines ist oder zwei. [...] Und wenn sie als zwei erscheinen, so scheint ein jedes davon eines zu sein. [...] Wenn somit jedes eines, beide aber zwei sind, dann wird sie die zwei als getrennte (kecwrismena) geistig erfassen; denn Ungetrennte erfaßt sie nicht als zwei, sondern als eines. [...] Hingegen hat die Sehkraft, wie wir sagen, ebenfalls Großes und Kleines gesehen, jedoch nicht als getrennt, sondern als etwas Konfuses (sugkecumenon). [...] Durch die Deutlichkeit (safhneia) davon wurde also der Geist gezwungen, das Große und Kleine in den Blick zu fassen (idei÷n — idea), aber nicht als konfuse, sondern als abgegrenzte, was im Gegensatz steht zu jener [der Wahrnehmung]. [...] Und von da kam es uns zuerst in den Sinn zu fragen, was das Große und das Kleine eigentlich sei. [...] Und so be-zeichneten wir das eine als geistig zu Erfassendes (nohton), das andere aber als Sichtbares (oraton). [...] Die Zahl nun und das Eine, in welche Klasse ge-hören sie? [...] Setze es in Analogie zu dem vorher Gesagten: Wenn nämlich das Eine selbst und an sich gesehen oder durch eine andere Wahrnehmung erfaßt würde, dann wäre es nicht eine Zugkraft zum Sein, wie wir es oben in Beziehung auf den Finger feststellten. Wenn hingegen immer etwas mit ihm [dem Einen] Gegensätzliches zugleich gesehen wird, so daß es nicht mehr als Eines denn als Gegenteil davon erscheint, dann bedürfte es wohl einer weite-ren Beurteilungsinstanz, und die Seele würde gezwungen, bezüglich seiner in Aporie zu geraten und zu suchen und, indem sie die geistige Einsicht in sich selbst bewegte, zu fragen, was denn das Eine selbst sei. Und folglich gehört die Lehre vom Einen zu den Dingen, welche hinwenden zur Betrachtung des Seienden. — In der Tat hat ja das Sehen in Beziehung auf das Eine dies ganz besonders an sich, daß wir dasselbe zugleich als Eines und als unendlich Mannigfaltigen sehen!"

Platon, Apologie 30 a-b: "Ich tue nichts anderes als umherzuziehen, um Euch - ob jung oder alt - dazu zu bekehren, nicht die Körper oder auch Geld zu ei-ner vordringlicheren Angelegenheit der Sorgfalt zu machen als die Seele, wie sie nämlich am besten besten sein könne, indem ich euch klar mache, daß nicht aus Geld die Vortrefflichkeit kommt, sondern aus Vortrefflichkeit Geld und alle anderen menschlichen Güter".

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Platon, Menon 88e-89a: "Dem Mensch hängt alles an seiner Seele, das der Seele aber hängt wiederum am Intellekt (fronhsi"), jedenfalls sofern es vor-trefflich sein soll".

Platon, Timaios 52 a-c: „So ist denn darin übereinzustimmen, daß eines die Idee ist, die sich immer auf dieselbe Weise verhält, ungeworden und unver-gänglich, die weder in sich aufnimmt ein anderes anderswoher noch selbst je in anderes geht, die unsichtbar und überhaupt nicht wahrnehmbar ist; diese also hat der Geist zur Betrachtung erhalten. Das Gleichnamige und Gleiche mit jener hingegen ist ein zweites, das wahrzunehmen und zu erzeugen ist, das immer in Bewegung begriffen ist und sowohl an einem Ort wird als auch wieder von dort verschwindet; das ist durch Vermeinen im verein mit Wahr-nehmung zu erfassen. Ein drittes aber ist dabei immer das Genus des Rau-mes, das kein Vergehen annimmt, sondern für alles Werden einen Sitz bereit-hält, selbst aber nur unter Verzicht auf Wahrnehmung durch eine zweifelhafte Überlegung zu fassen ist, kaum glaublich. Mit Blick darauf aber traumwandeln wir und behaupten, es müsse notwendig das Seiende insgesamt irgendwo an einem Ort sein und einen Raum einnehmen, und was weder auf Erden noch am Himmel irgendwo sei, das sei überhaupt nichts. Von diesem Traume be-fangen, werden wir auch im Wachzustand unfähig, in klarer Unterscheidung von diesem allem und anderem damit Verwandtem auch über die schlaflose und wahrhaft stattfindende Physis das Wahre zu sagen: nämlich daß es ei-nem Bilde zwar, weil es ja auch nicht dies, wozu es geworden ist, aus sich selbst heraus ist, sondern es stets als ein Anschein von etwas anderem ge-tragen wird, deswegen zukommt, in einem anderen zu werden - sich irgend-wie festhaltend am Sein -, oder aber überhaupt nicht zu sein, daß dem wirklich Seienden hingegen der durch seine Genauigkeit wahre Logos hilft, daß, so-lange etwas das eine, das andere aber ein anderes ist, keines von beiden, als in keinem von beiden je eins geworden, zugleich dasselbe und zwei sein wird".

Platon, Politeia 516b: Die Sonne erblicken: "nicht Erscheinungen von ihr in fremder Umgebung (allotria edra), sondern sie selbst an sich selbst in dem ihr eigenen Raum".

Ebd. 596d-597c: [Der Werkmeister, der mit einem Spiegel in der Hand durch die Welt geht und so alle Dinge in seinem Spiegel 'macht'] — "Ja, die erschei-nenden (fainomena) macht der Betreffende wohl, aber nicht die in Wahrheit seienden Dinge! — Schön und wie es sich gehört kommst du meiner Darle-gung entgegen! Von den angeführten Werkmeistern aber ist, denke ich, auch der Maler einer, oder nicht? — Freilich. — Aber, so wirst du sagen, nicht das Wahre macht auch dieser, wenn er etwas macht; obwohl auf gewisse Weise auch der Maler z.B. eine Liege macht, oder? — Gewiß, nämlich eine erschei-nende. — Wie nun aber der Liegen-Hersteller? Sagtest du nicht eben, daß

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auch dieser nicht die Idee hervorbringe, welche wir als das bezeichnen, was [eigentlich] Liege ist, sondern vielmehr nur eine gewisse Liege? — So sagte ich. — Nicht wahr, wenn jener nicht macht, was das Betreffende ist, dann macht er wohl auch nicht das Seiende, sondern nur etwas sobeschaffenes wie das Seiende, nicht jedoch das Seiende [...] So wäre es also nicht verwunder-lich, wenn auch dies [was der Liegen-Hersteller macht] etwas verschwommen Seiendes ist im Verhältnis zur Wahrheit? — Nein — [...] So kommt es also zu dreierlei Liegen: Nämlich eine, die in der Physis beschlossen liegt (en th fusei ousa), welche, wie wir sagen würden, ein Gott bewirkt hat [...] Sodann eine weitere, die der Tischler macht [...] Und schließlich eine [dritte], die der Maler macht? — So soll es sein. — [...] Der Gott nun, sei es, daß er nicht wollte, oder sei es, daß eine Art Notwendigkeit dafür bestand, nicht mehr als eine [Liege] in der Physis zu bewerkstelligen, machte also nur eine einzige, näm-lich jene 'Liege-was-sie-eigentlich-ist'. Jedoch zwei solche oder noch mehr erwuchsen weder durch den Gott noch werden sie je erwachsen. — Warum denn nicht? — Weil, wenn er auch nur zwei gemacht hätte, wiederum eine einzige aufscheinen würde (palin mia anafaneih), von der jene beiden ihr Gepräge (eido") hätten, und dann wäre jene das, was Liege ist, aber nicht diese zwei".

Platon, Parmenides 135b: "Wenn aber wiederum jemand keine Ideen der Din-ge zulassen will (mit Blick auf all die jetzt vorgebrachten Argumente und ande-res dieser Art), und er also kein Eidos abgrenzt von jeglichem, dann wird der nichts haben, wohin er das Nachdenken wendet (opoi treyei thn dianoian), und wird auf diese Weise - indem er keine Idee von jedem Seienden immer dieselbe sein läßt - die Möglichkeit des dialektischen Verfahrens vollkommen zerstören".

Platon, Politeia 511 a: Im mathematisch-folgernden Denken (dianoia) "ist die Seele gezwungen, bei der Untersuchung ihres Gegenstandes Hypothesen zu gebrauchen, wobei sie nicht zum Ursprung fortgeht, so als wäre sie nicht in der Lage, über die Hypothesen hinaus emporzusteigen".

Platon, Politeia 511b: "Mit dem anderen Linienabschnitt des 'Geistigen' meine ich das, woran der Logos selbst durch seine Fähigkeit zur Dialektik rührt (aptetai), indem er die Hypothesen nicht zu Prinzipien [oder Quellen des Ge-dankens] macht, sondern in der Tat zu Hypothesen - d.h. zu Trittstufen und Aufbruchspunkten - um bis zum Unhypothetischen auf den Ursprung des Alls zuzugehen und ihn berührt habend wieder zurück, im Anhalt an das, was sich an jenen reiht, so zum Abschluß hinabzusteigen, ohne irgendwo ein sinnlich Wahrnehmbares zu gebrauchen, sondern Ideen selbst, um durch sie hindurch und zu ihnen hin so auch bei Ideen zu Ende zu kommen".

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SEELE

Platon, Phaidon 115e: "Nicht schön zu reden [bedeutet in der Philosophie] nicht nur von der Linie abzukommen, sondern den Seelen ein Übel ein-zupflanzen".

Ebd. 77e: "Dies Kind in uns, o Sokrates [...], versuche umzustimmen, damit es den Tod nicht fürchte wie die Nachtgespenster".

Platon, Phaidon 115b: „wie auf einer Spur entlang gemäß dem jetzt und früher [als wahr] Ausgesprochenen auch zu leben.“

Ebd. 83c-d: "Das größte Übel überhaupt": "Die Seele [...] dem Zwang auszu-liefern, das, was sie besonders heftig mit Lust und Unlust erfüllt, auch für das am meisten Deutliche und Wahre zu halten. [...] Denn jede Lust und Unlust ist wie ein Nagel, der die Seele an den Körper nagelt, ihm verbunden und somit körperlich macht, indem sie der Meinung frönt, daß dies wahr sei, was auch der Körper als solches behauptet".

Ebd. 82d-83b: "Die, die dem Lernen aufgeschlossen sind, erkennen, wenn Philosophie von ihrer Seele Besitz ergreift, daß diese schier festgebunden an den Körper und - ihm verhaftet - gezwungen ist, das Seiende durch ihn wie durch einen Käfig zu betrachten, statt selbständig durch sich selbst, und daß sie sich daher in völligem Unverstände herumwirft. So durchschaut sie, wie die Furchtbarkeit dieses Käfigs durch die Begierde zustandekommt, indem der Gefesselte selbst am meisten seiner Fesselung Vorschub leistet. Wie gesagt, die dem Lernen Aufgeschlossenen erkennen, daß die Philosophie, sowie sie ihre so verfaßte Seele übernommen hat, ihr ruhig zuredet und darangeht, sie loszumachen, indem sie zeigt, wie voller Täuschung das Schauen durch die Augen, Ohren und anderen Sinneswahrnehmungen ist, und sie dazu bekehrt, darüber hinauszugehen, soweit keine Notwendigkeit besteht, sie zu gebrau-chen, und sie auffordert, sich zu sich selbst zusammenzunehmen und zu ver-sammeln und niemand anders zu vertrauen als nur sich selbst: dem, was sie, sich selbst folgend, gewahrt als dasselbe Seiende an sich selbst, während sie sonst nichts, was sie durch anderes als seiend in anderem betrachtet, für wahr hält - denn so ist das Wahrnehmbare und Sichtbare -, was sie selbst sieht dagegen, ist Denkbares und Unsichtbares".

Ebd. 67d: "Eben dies ist das Anliegen der Philosophen: die Losmachung und Trennung (cwrismo") der Seele vom Körper".

Ebd. 92d-e: "Die These über die Wiedererinnerung und das Lernen ist durch eine annehmenswerte Hypothese aufgestellt worden. Denn es wurde gesagt,

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daß die Seele in der Weise, auch bevor sie den Körper erreicht habe, existiere wie ihrer das Sein (ousia) ist, welches die Bezeichnung des 'was es eigentlich ist' (o estin) trägt".

Ebd. 73c-75b: "Zunächst gehen wir übereinstimmend davon aus, daß jemand das, woran er erinnert wird, früher einmal gewußt haben muß. Wenn nun einer etwas bestimmtes sieht, hört oder durch irgend eine andere Wahrnehmung erfaßt, aber nicht nur jenes erkennt, sondern auch eines anderen gewahr wird, dessen Erkenntnis nicht dieselbe ist, sondern eine andere: bezeichnen wir dann dies nicht zurecht als ein Erinnern dessen, wessen er gewahr wurde? [...] Wie z.B. das Erkennen eines Menschen und einer Lyra ja verschieden ist [...], aber Verliebten, wenn sie die Lyra oder ein Kleid oder sonst etwas sehen, das der Geliebte zu gebrauchen pflegte, es so ergeht, daß sie die Lyra erken-nen und zugleich im Geiste die Gestalt des Knaben erfassen, dem die Lyra gehörte. – Dies also ist eine Erinnerung. [...] Ebenso aber gibt es den Fall, daß jemand, der ein gemaltes Pferd sieht oder eine gemalte Lyra, an den Men-schen [dem dies gehört] erinnert wird oder, wenn er den Simmias sieht, an ein Bild des Kebes. [...] Auch den, daß jemand, der den gemalten Simmias er-blickt, an Simmias selbst erinnert wird. [...74a] Und aus all diesen Fällen ergibt sich also, daß die Erinnerung sowohl im Ausgang von ähnlichen als auch von unähnlichen Dingen stattfinden kann. [···] Wenn also jemand ausgehend vom Ähnlichen sich an etwas erinnert, wird ihm notwendig auch dies begegnen, daß er gewahr wird, ob dies [was ihn erinnert] in seiner Ähnlichkeit etwas zu-rückbleibt gegenüber jenem, woran er erinnert wird, oder nicht. [...] Betrachten Wir nun weiter folgenden Fall: Wir behaupten doch, daß 'das Gleiche' (to ison) etwas sei – ich meine nicht, daß ein Holz dem anderen oder ein Stein dem anderen oder derartiges gleich wäre, sondern etwas Verschiedenes ne-ben all diesen Fällen (para tau÷ta), nämlich das Gleiche selbst (auto to ison). [...74b] Und wir wissen doch eben dieses, was es ist. [...] Woher aber sind wir zu dem Wissen davon gelangt? Denn nicht aus den eben aufgezählten Bei-spielen, der Hölzer oder Steine oder anderem, was wir als 'gleich' betrachte-ten, haben wir jenes aufgefaßt, da es ja ein davon Verschiedenes ist. – Oder scheint es uns doch nicht verschieden zu sein? Betrachten wir es auf folgende Weise: Erscheinen nicht die gleichen Steine oder Hölzer bisweilen dem einen als gleiche, einem anderen aber als ungleich, obwohl sie dieselben sind? [...] Wie aber, die Gleichen selbst, gibt es für sie eine Möglichkeit, einem als un-gleich zu erscheinen, oder kann die Gleichheit als Ungleichheit erscheinen? [...] Wenn nicht, dann sind diese, die gleichen [Dinge], und das Gleiche selbst nicht dasselbe [...] Und doch hat man aus diesen, nämlich den gleichen [Din-gen], als etwas davon Verschiedenes, das Wissen von dem Gleichen selbst eingesehen und erfaßt. [...] Dabei ist es gleichgültig, ob es als ähnlich oder als unähnlich gilt: solange man nur, etwas sehend, von dieser Gesichtswahrneh-mung aus etwas anderes im Geist erfaßt, ob ähnlich oder unähnlich, muß dies jedenfalls eine Erinnerung sein. [...74d] Scheinen uns denn nun die Hölzer

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und derartiges solchermaßen Gleiche zu sein wie eben das, was das Gleiche ist, oder fehlt im Verhältnis zu jenem etwas dafür, daß es so beschaffen wie das Gleiche wäre [...]; so daß wir übereinstimmen, daß. gesetzt den Fall, je-mand sähe etwas und bemerkte: 'dies, was ich jetzt sehe, möchte zwar sein wie etwas anderes von dem Seienden, aber hat einen Mangel, so beschaffen zu sein wie jenes, und ist vielmehr geringer', daß also dann, wenn einer dies bemerkt, er notwendig jenes vorhergewußt haben muß, mit dem er dies ver-gleicht, das aber mangelhafter verfaßt ist? [...75a] Folglich müssen wir das Gleiche vorherwissen vor jener Zeit, als wir zum ersten Mal, die gleichen [Din-ge] sehend, realisierten, daß alles dieses zwar danach strebt (oregetai), wie das Gleiche zu sein, aber mangelhafter verfaßt ist".

Platon, Phaidon 75a-c: „Also muß man aus den Wahrnehmungen her einse-hen, dass alles in Wahrnehmungen Gegebene sowohl jenem nachstrebt – dem, was das Gleiche ist – als auch mangelhafter ist als dieses [...] So dass wir also, bevor wir anfingen zu sehen und zu hören und das übrige wahrzu-nehmen irgendwie Erkenntnis von dem Gleichen selbst und was es ist erlangt haben müssen, wenn wir das aus den Wahrnehmungen Gleiche dorthin wür-den beziehen sollen, dass alles solches nämlich wie jenes zu sein sich bemü-he, jedoch schlechter als dieses sei. [...75c] Und dies gilt nicht nur für das Gleiche, sondern auch das Größere und Kleinere und überhaupt alles derarti-ge; denn unser jetziger logos trifft nicht mehr auf das Gleiche wie auf Schöne selbst, das Gute selbst und das Gerechte und Fromme und, wie ich meine, auf überhaupt alles zu, dem wir in unseren Fragen und Antworten das Siegel des ‚was es selbst ist’ erteilen.“

Platon, Phaidon 65 b-c: „Wann einmal berührt die Seele die Wahrheit? Denn wenn sie sich anschickt, mit dem Körper etwas zu betrachten, ist klar, dass sie von ihm auf Abwege geführt wird. [...] Aber wird ihr nicht im logischen Denken (logizesthai), wenn irgendwo, etwas vom Seienden ganz deutlich? – Jawohl – Doch wird sie wohl dann am schönsten logisch denken, wenn sie von all die-sen nicht beeinträchtigt wird: dem Hören und Sehen, Schmerzen und Lust Empfinden, sondern am meisten für sich bleibt, den Körper sein lässt und, soviel sie kann, ohne Gemeinschaft und Berührung mit ihm nach dem Seien-den strebt.“

Vgl. Theaitetos 185a-186a (und ff.): „Du hast mir eine Menge Argumentieren erspart, wenn es dir richtig erscheint, dass die Seele manches durch sich selbst in Betracht zieht, anderes durch die Vermögen des Körpers. Denn das scheint auch mir so zu sein und ich wollte, dass es auch dir richtig vorkäme. – Nun, das tut es! – Auf welche Seite setzt du nun das Sein (ousia)? Denn ins-besondere es folgt mit allem mit. – Ich zähle es zu dem, was die Seele an sich selbst erstrebt.“

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Platon, Politeia 505de: "das Gute ist das [...] was überhaupt jede Seele ver-folgt und weswegen sie alles tut, indem sie ahnt, daß es etwas sei, aber dar-über in Aporie und nicht in der Lage ist, es genügend zu fassen".

Platon, Politeia 504a "Erinnerst du dich, daß wir dreierlei Eidê der Seele aus-einanderhielten, um so zusammenzuführen, was ein jedes wäre, was mit Ge-rechtigkeit und Besonnenheit und Tapferkeit gegeben ist?"

Ebd. 435 c-d: "Da sind wir auf eine schlimme Frage verfallen in Ansehung der Seele - ob sie diese drei Eidê in sich hat oder nicht' — M.E. nicht unbedingt in eine 'schlimme', außer daß vielleicht das Sprichwort wahr ist, daß das Schöne schwer ist. — So scheint es allerdings, Glaukon. Und wisse nur, daß wir mei-ner Meinung nach dieses aufgrund solcher Methoden, wie wir sie jetzt in unse-ren Reden gebrauchen, niemals bündig (akribw÷") erfassen können. Vielmehr ist es ein weiterer und mehr erfordernder Weg".

Ebd. 436a-b: „[Wenn wir einzelne Menschen die den möglichen Tugenden zugrundeliegenden Tätigkeiten tun], gewinnen wir dann Erkenntnisse mit dem einen, spornen uns an mit einem anderen in uns, und begehren wiederum mit einem dritten [...] oder sind wir mit ganzer Seele auf jede dieser Arten tätig, wenn wir entsprechendes unternehmen? – Das ist schwierig zu entscheiden durch ein taugliches Argument“.

Ebd. 504d: "Den weiteren Weg muß ein solcher [der zum Wächter des Ge-meinwesens bestellt werden soll] einschlagen und also nicht weniger im Ler-nen sich bemühen als im Sport, oder er wird, wie wir eben sagten, niemals zum Ziel des höchsten und am meisten zukommenden Mathema gelangen".

Ebd. 505a: „Dass die Idee des Guten das wichtigste Lehrstück ist, hast du schon oft gehört, indem durch sie das Gerechte und alles andere, was man außerdem gebraucht, erst brauchbar und nützlich wird“.

Platon, Gorgias 506e: „Gut zu sein kommt jedem Seienden zu, indem eine gewisse ihm eigene Ordnung (kosmos oikeios) darin realisiert wird“.

Platon, Politeia 518b: „Die jetzige Rede bedeutet, dass dieses in der Seele eines jeden enthaltene Vermögen und Organ, womit er erkennt, so wie wenn das Auge nicht fähig wäre, sich anders als mit dem ganzen Körper aus der Finsternis dem Hellen zuzuwenden, mit der ganzen Seele aus dem Werden-den weg und umzuwenden sei, bis es fähig wäre, in das Seiende und davon in das Leuchtendste mit Ausdauer zu schauen; dies aber ist, wie wir sagen, das Gute“.

Platon, Timaios 34c-35a: „Die Seele, nach Entstehung und Güte früher und ehrwürdiger als der Körper, stellte er als Herrin und Regentin über ihn aus

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folgendem und in folgender Weise her: Von dem teillosen und immer auf die-selbe Weise sich verhaltenden Sein und andererseits dem um die Körper ent-stehenden Sein mischte er aus beiden in der Mitte ein drittes eidos des Seins zusammen, und stellte es ebenso für die Natur des Identischen und des Ver-schiedenen aus dem Teillosen und körperhaft Teilbaren von ihnen in der Mitte zusammen; diese drei nahm er und mischte sie zu einer Idee zusammen, in-dem er die Natur des Verschiedenen, die mischungsfeindlich ist, mit Gewalt in das Identische einfügte.“

Platon, Tim. 90 c-d: „Die Therapie für jedes [Gestaltelement der Seele] ist in jeder Hinsicht nur die eine: jedem die eigenen Ernährungen und Bewegungen zuteil werden zu lassen. Die dem Göttlichen in uns verwandten Bewegungen sind aber die Gedanken und Umläufe des Alls; mit diesen also muß jeder mit-gehen, während er mit Ausrottung der Umwege des Werdens im Kopf die Harmonien und Umschwünge des Alls durch ihre Erkenntnis aufrichtet und das Erkennende dem Erkannten entsprechend seiner ursprünglichen Natur angleicht, damit er, so gleich geworden, das beste von den Göttern für Men-schen vorgesehene Leben zum Ziel erhält für jetzt und die künftige Zeit“.

Platon, Nomoi X, 895e-896a: „Dasjenige, dem die Bezeichnung ‚Seele’ zu-kommt, was ist dessen Definition (logos)? Haben wir eine andere als die eben ausgesprochene, nämlich die sich selbst zu bewegen fähige Bewegung? – Du meinst, ‚das sich selbst Bewegen’ liefere eine Definition für dasselbe Sein (ousia), was alle Leute als ‚Seele’ ansprechen? – Das meine ich. Wenn sich dies aber so verhält, brauchen wir dann noch etwas, um hinreichend gezeigt zu haben, dass Seele und primäre Entstehung und Bewegung des Seienden, einst Entstandenen und Künftigen sowie auch ihr Gegenteil dasselbe sind, nachdem sie sich doch für alle Dinge als Ursache der Veränderung und aller Bewegung überhaupt herausgestellt hat? – Nein, sondern völlig hinreichend ist gezeigt, das die Seele die älteste unter allen ist, indem sie als Ursprung der Bewegung entsteht.“

DAS GUTE

Platon, Nomoi 903 b-d: "Laßt uns den Jüngling durch Argumente davon über-zeugen, daß durch den, der Sorge trägt für das All, auf die Bewahrung und Vortrefflichkeit des Ganzen hin alle Dinge zu einem System geordnet sind

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(suntetagmena), wovon auch jeder einzelne Teil nach Möglichkeit das Zu-kommende erfährt und bewirkt. Diesen sind Prinzipien (arconte" = so etwas wie die Monaden des Leibniz) zugeordnet und zwar für jedes bis ins Kleinste der jeweiligen Affektion und Tätigkeit, welche im Detail das äußerste Ziel durchführen. Von diesen, du Schlingel, ist auch das Deine ein Teilchen, das – trotz seiner Winzigkeit – stets auf das ganze blickend sich ausrichtet, während dir diesbezüglich entgeht, daß alles Werden um dessentwillen wird, damit durch das Leben des Alls ein glückliches Sein bestehe, das freilich nicht dei-netwegen wird, sondern du wegen jenem. Denn jeder Arzt und jeder Techni-ker verrichtet alles Einzelne wegen des Ganzen, d.h. vollbringt den optimal auf das Gemeinsame ausgerichteten Teil für das Ganze und nicht es für den Teil. Du aber zeigst dich unwillig, weil du verkennst, auf welche Weise das dich Betreffende am besten ist für das Ganze und zugleich für dich gemäß der Kraft des gemeinsamen Werdens (kata dunamin thn th÷" koinh÷" genesew")“.

Ebd. 504e-505c: "Indessen, das größte Mathema und worum es sich dreht, wie du sagst: glaubst du, jemand werde dich loslassen, ohne gefragt zu ha-ben, was dies sei? — Nicht wohl, frage also nur auch du ι Aber jedenfalls hast du es oft vernommen, doch entweder nicht eingesehen oder du hast die Ab-sicht, mir Schwierigkeiten zu machen und mich festzunageln. Das will ich eher glauben. Denn daß die Idee des Guten das größte Mathema sei, hast du schon oft gehört, durch welche, wenn man Gerechtes und das andere im Gebrauch hinzunimmt, dieses zu Brauchbarem und Nützlichem wird. Und du weißt wohl auch weiterhin. daß ich eben dieses sagen werde, und zudem, daß wir diese [Idee] nicht genügend im Wissen erfaßt haben; wenn wir aber sie nicht wissen, so weißt du, daß wir, wenn wir auch sonst noch so viel wüßten, keinerlei Nutzen davon haben, wie auch nicht, wenn wir irgendetwas besitzen, ohne das Gute. Oder glaubst du. wir hätten etwas davon, allen Besitz zu be-sitzen, aber nicht als einen guten? Oder alles andere zu begreifen ohne das Gute, hingegen nichts Schönes und Gutes zu begreifen? [...]

Auch dieses weißt du ja wohl, daß der großen Menge die Lust das Gute zu sein scheint, den feineren Leuten aber die Einsicht (fronhsi") — Natürlich!—Und auch wohl, daß die, die dies letztere glauben, nicht in der Lage sind auf-zuzeigen, welche Einsicht es sei, sondern am Ende dazu gezwungen sind zu sagen: die Einsicht des Guten. — Das ist allerdings lachhaft' — Bestimmt, wo sie uns doch tadeln, wir wüßten das Gute nicht, und dann doch wieder zu uns sprechen, als wüßten wir es".

Ebd. 505d: "Auch ist offenbar, daß in Punkto Gerechtigkeit und Schönheit viele wählen, was ihnen so scheint, obwohl es dies gar nicht ist, um es den-noch zu tun und zu besitzen und diesen Anschein zu haben, daß aber beim Guten es keinem genügt, das Scheinbare zu besitzen, sondern man strebt nach dem, was so ist, und verachtet hierin den Schein vollkommen".

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Ebd. 505e: "Was also überhaupt jede Seele verfolgt und weswegen sie alles tut, indem sie ahnt, daß es etwas sei, aber darüber in Aporie und nicht in der Lage ist, es genügend zu fassen und einen bleibenden Glauben darüber zu haben, wie bei anderen Dingen, und sie deshalb auch andere Dinge, wenn etwas einen Nutzen verspricht, nicht erreicht, - sollen wir etwa über einen sol-chen und so wichtigen Gegenstand sogar jene Besten im Gemeinwesen, in deren Hände wir alles legen wollen, im Dunkeln lassen?"

Ebd. 506 b-c: "Aber du, Sokrates, sagst du, daß das Gute Wissen sei oder Lust - oder etwas anderes außer diesen? — Dieser Mensch' Aber das wußte ich, und es war schon lange klar, daß du nicht das aufgreifen würdest, was anderen Leuten darüber richtig scheint. — Das scheint ja auch nicht recht zu sein, daß man über etwas, womit man sich solange befaßt hat, nur fremde Ansichten wiederzugeben wüßte. — Wie denn, scheint dir das gerecht, über Dinge·, die man nicht weiß, zu reden wie ein Wissender? — Nein nein, nicht wie ein Wissender, sondern wie ein Glaubender zu sagen, was man glaubt, soll man willens sein. — Aha, du hast also nicht bemerkt, daß alle Meinungen ohne Wissen schändlich sind [...] Du willst dir wohl Schändliches betrachten und Stumpfsinniges und Verbogenes, wo es doch möglich wäre, von anderen Leuten Glänzendes und Schönes zu hören? — O Zeus, daß du uns nur nicht kurz vorm Ziele noch abbrichst'"

SONNENGLEICHNIS

Ebd. 506 d-e: "Was das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt sein lassen; denn mehr als mit dem jetzigen Anlauf zu erreichen ist, scheinen mir schon die An-sichten zu sein, die ich jetzt darüber hege. Was mir jedoch als ein Abkömm-ling (ekgono") des Guten erscheint, der ihm sehr ähnlich ist, bin ich bereit dar-zulegen, wenn es euch lieb ist; wenn nicht, lassen wir es".

Ebd. 507b: "[Auf der einen Seite:] vieles Schöne und vieles Gute und jedes Seiende so [als Vieles].

[Andererseits aber:] das Schöne selbst und das Gute selbst (auto kalon kai auto agaqon) und so in Beziehung auf alles, was wir eben als vieles setzten, indem wir es nun wieder unter einem Gesichtspunkt (katæ idean mian) eines jeden setzen als eben diese eine [Idee] seiend und dabei als 'was (es) ist’ bezeichnen. [...] Und das eine, sagen wir, werde gesehen, aber nicht geistig erfaßt (noei÷sqai), die Ideen hingegen geistig erfaßt, aber nicht gesehen".

Ebd. 507c: "Durch was von uns selbst sehen wir das Gesehene?"

Ebd. 507d-508a: "Gesetzt, in den Augen sei der Sehsinn vorhanden und der. der ihn hat, mache sich daran, ihn zu gebrauchen, und gesetzt auch, an den Dingen sei die Farbe, so weißt du doch, daß, wenn nicht ein dritter Faktor

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(triton geno") sich hinzugesellt, der eigens dafür durch Natur gewachsen ist, der Sehsinn dennoch nichts sieht und die Farben unsichtbar sind. — Von was sprichst du dabei? — Was du das Licht nennst. — Ja wirklich' — Durch keine geringe Idee also ward die Wahrnehmung des Sehens und die Möglichkeit des Gesehenwerdens aneinandergekoppelt - als durch eine ehrwürdigere Kopplung als alle ändern Verkopplungen sind -, wenn doch das Licht nicht gerade unwürdig ist!"

Ebd. 508 a-b: "Welchen der Götter am Himmel kannst du als Sachwalter von ihm [dem Licht] zur Ursache erklären, dessen Licht unseren Sehsinn aufs Schönste sehen und der außerdem macht, daß das Gesehene gesehen wird? — Den, den sowohl du als auch alle anderen namhaft machen: denn es ist offenbar die Sonne, nach der du fragst. — Der Sehsinn verhält sich nun fol-gendermaßen zu diesem Gott: [...] Nämlich der Sehsinn ist die Sonne nicht, weder selbst noch das, dem er innewohnt und was wir 'Auge' nennen. [...] Sondern vielmehr ist das Auge das sonnen-hafteste (hlioeidestaton) aller Wahrnehmungsorgane. [...] Und das Vermögen, das es hat. besitzt es als ein aus ihr heraus erteiltes, wie einen Zufluß. [...] Und so ist die Sonne zwar nicht der Sehsinn, aber als seine Ursache wird sie von eben diesem gesehen".

Ebd. 508 b-d: "Sage also, daß ich sie [die Sonne] als Abkömmling des Guten darlege, den das Gute erzeugte zum Analogen für sich selbst, so daß das. was es selbst [das Gute] im geistigen Bereich für den Geist und das geistig Erfaßte ist. diese [die Sonne] im Sichtbaren ist für den Sehsinn und das Ge-sehene. [...] Die Augen, wie du weißt, wenn sie jemand nicht mehr auf jenes wendet, auf dessen Farben das Tageslicht zuhält. sondern auf Dinge im nächtlichen Schimmer, werden stumpf und scheinen fast die von Blinden zu sein, so als steckte keine distinkte Sehkraft in ihnen. [...] Wenn aber auf Din-ge, die die Sonne bescheint, so sehen sie klar, und in diesen Augen scheint die [Sehkraft] darinnen zu sein. [...] So nun betrachte im Geist auch das, was die Seele betrifft: wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Sei-ende (to on) leuchten, erfaßt sie es geistig und erkennt es und scheint Geist zu besitzen. Wenn aber auf das, was dem Finstern gepaart ist - das Werden-de und Vergehende -. so hat sie nur Meinung und blickt stumpf auf das, was die Ansichten von oben nach unten kehrt, und gleicht wiederum einer, die keinen Geist besitzt".

Ebd. 508e-509a: "Das nun, was den Erkannten die Wahrheit gewährt und dem Erkennenden das Vermögen (dunami") gibt, dies sage, sei die Idee des Guten. Als Ursache aber von Wissenschaft und Wahrheit, als erkannter, er-schließe sie dir immerhin, aber gehe recht in der Annahme, daß dies, so schön jene beiden – Erkenntnis und Wahrheit – sind, doch ein anderes und noch schöneres sei: Wissen und Wahrheit aber – wie dort das Licht und den Sehsinn für 'sonnen-haft' zu halten richtig, aber für die Sonne zu nehmen nicht

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richtig ist - halte genauso hier mit Recht beide für 'gut-haft', jedoch [halte es] für unrichtig, eines von beiden für das Gute [selbst] zu nehmen; vielmehr ist die Verfassung des Guten noch höher zu achten! — Eine unfaßliche Schön-heit sprichst du aus, wenn dieses zwar Wissenschaft und Wahrheit gewährt, aber selbst über beides an Schönheit erhaben ist; - denn gewiß meinst du ja wohl nicht die Lust' — Kein Sakrileg bitte!, sondern betrachte das Gleichnis davon auf folgende Weise genauer"."

Ebd. 509 b-c: "Die Sonne, so wirst du wohl zugeben, gewährt dem Gesehe-nen nicht allein die Möglichkeit (dunami") gesehen zu werden, sondern auch sein Werden und Wachstum und Nahrung, obwohl sie selbst nicht Werden ist [...] Auch denen, die erkannt werden, ist fürwahr nicht nur das Erkanntwerden vom Guten gewährt, sondern auch das Sein und die Ousia ist ihnen zuge-schanzt durch es, obgleich das Gute nicht Ousia ist, sondern noch über die Ousia an Ehrwürdigkeit und Kraft hinausragt. — Darauf meinte Glaukon ziem-lich lächerlich: Appollon, das ist ja ein göttliches Übertreffen' — Du bist ja schuld daran, weil du mich gezwungen hast, darüber zu sagen, was mir der Fall scheint. — Und hör nur nicht auf, wenigstens das Gleichnis mit der Sonne weiter durchzugehen, wenn du noch irgend etwas übrig gelassen hast' — A-ber eine ganze Menge habe ich übrig gelassen".

LINIENGLEICHNIS

Ebd. 509d-510a: "Gerade so wie bei einer entzweigeteilten Linie nimm die ungleichen Abschnitte und zerschneide jeden Abschnitt wiederum im selben Verhältnis (ana ton auton logon): sowohl den des gesehenen Genus als auch den des geistig Erfaßten - und es werden dir durch Deutlichkeit (safhneia) und Undeutlichkeit (asafeia) im Vergleich zueinander im Sichtbaren der eine Abschnitt die Bilder sein. Unter den Bildern verstehe ich zunächst die Schat-ten, dann die Spiegelbilder (fantasmata) in Gewässern und in dem, was von dichter, glatter und glänzender Konstitution ist, und alles derartige. [...] Als den anderen Abschnitt setze das, dem dieses gleicht, also die Lebewesen um uns und alle Pflanzen und das gesamte Genus der Gerätschaften. — So setze ich es. — Bist du auch einverstanden damit, zu sagen, daß in Punkto Wahrheit und deren Gegenteil so wie das zu Vermeinende (doxaston) zum Erkennbaren (gnwstojn) sich auch das Verglichene zu dem verhält, wodurch es verglichen wird (= Bild)? — Unbedingt".

Ebd. 510b: "Betrachte nun auch den Abschnitt des geistig zu Erfassenden, wie er zu teilen ist: [...] So nämlich, daß die Seele in dem einen Teil von ihm. indem sie die damals [im sichtbaren Bereich] nachgeahmten Dinge als Bilder gebraucht, gezwungen wird, aus Voraussetzungen her zu forschen: nicht zum Anfang (arch) fortschreitend, sondern vielmehr zum Schlusse (teleuthj), den anderen Teil hingegen, wo sie aus einer Voraussetzung zum unhypotheti-

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schen Anfang geht und - ohne alle die Bilder in jenem Teil - mit den Ideen selbst und durch dieselben hindurch ihren Weg (meqodo") beschreibt".

Ebd. 510 d-e: "Nichtwahr, auch daß sie [die Mathematiker] sichtbare Gestal-ten hinzuverwenden und anhand ihrer die Argumentationen vorbringen, weißt du, obwohl ihre Reflexionen gar nicht sie betreffen, sondern jene, denen sie gleichen: denn ihre Argumente betreffen das Rechteck selbst oder die Diago-nale selbst, nicht die, die sie gezeichnet haben, und in allem anderen genau-so: eben das, was sie formen und zeichnen, worunter auch die Schatten und Bilder in Gewässern zählen, das verwenden sie als Bilder, während sie jene Dinge selbst in den Blick zu fassen suchen, die man nicht anders als durch die Reflexion (dianoia) erblicken kann".

Ebd. 510c: "Ich nehme an du weißt, daß die, die sich mit Geometrie und Schlußfolgerungen und solchen Dingen befassen, Voraussetzungen machen: etwa das Ungerade und Gerade und die Figuren und die drei Winkelformen und anderes damit Verwandtes je nach Vorhaben; so als wüßten sie um diese Dinge, machen sie sie zu Voraussetzungen, und fangen so an - ohne daß sie es noch für der Mühe wert halten, sich und anderen davon Rechenschaft zu geben, gleich als wären sie für jedermann offenbar -, aus ihnen heraus schon das Übrige durchzugehen und im Einklang damit zu dem Schlüsse zu gelan-gen, auf dessen Betrachtung sie ausgingen".

Ebd. 511b: "Fasse nun auch, daß ich mit dem anderen Teil des Noetischen dasjenige meine, was der Logos selbst durch seine Fähigkeit zur Dialektik berührt (aptetai), indem er die Hypothesen nicht zu Prinzipien macht, son-dern in der Tat zu Hypothesen - wie zu Trittstufen (epibasei") und Aufbruchs-punkten (ορµαι) -, um bis zum Unhypothetischen auf den Ursprung des Alls zuzugehen und ihn berührt habend wieder zurück, im Anhalt an das was je-nem zunächst ist, bis zum Schlusse (teleuth) hinabzusteigen, nirgends ein sinnlich Wahrnehmbares gebrauchend, sondern um mit Ideen, durch sie und zu ihnen auch in Ideen zum Schluß zu kommen".

HÖHLENGLEICHNIS

Ebd. 514a-51 5b: "Nächstdem nun vergleiche unsere Beschaffenheit (fusi") in Sachen Erziehung und Unbildung (paideia kai apaideusia) mit folgendem Zustande: Stelle dir nämlich Menschen vor Augen, wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung, die einen zum Licht hin geöffneten Zugang besitzt, der sich weit über die ganze Höhle hin erstreckt, die dann von Kindesbeinen an in Fesseln liegen an Schenkeln und Nacken, so daß sie dort bleiben und allein nach vorne blicken, aber wegen der Fesseln unvermögend sind, ihre Häupter zu wenden (periagein); aber auch, wie ihnen ein Licht entzündet ist von einem Feuer weiter oben und hinter ihnen; zwischen dem Feuer jedoch

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und den Gefesselten am Weg nach oben, da sieh eine gemauerte Brüstung, wie sie die Gaukler als Abschirmung vor dem Publikum haben, über die hin-weg sie ihre Zauberkunststücke zeigen. [...] Und bei dem Mäuerchen sieh ferner Leute, die vielerlei Gerätschaften, die die Mauer überragen, sowie Figu-ren, steinerne und hölzerne Tiere und allerlei Nippes vorbeitragen, wobei manche natürlich Laute erzeugen und andere schweigen. — Ein wunderliches Bild legst du da vor und wunderliche Gefesselte! l — Aber uns sind sie gleich; denn glaubst du, daß solche je etwas anderes von sich selbst und voneinan-der gesehen haben als die Schatten, die vom Feuer auf die ihnen gegenüber-liegende Höhlenwand geworfen werden? [...] Und wenn sie imstande wären, sich miteinander zu unterreden, denkst du nicht, daß sie glauben das Seiende zu bezeichnen, wenn sie bezeichnen, was sie sehen?"

Ebd. 515 c-d: "Betrachte nun auch ihre Lösung (lusi") und Heilung von der Fesselung und ihrem Unverstände, wie sie verliefe, wenn ihnen seiner Art nach das Folgende zustieße: wenn einer gelöst würde und gezwungen, plötz-lich aufzustehen und den Hals herumzudrehen (periagein), zugehen und zum Feuer emporzublicken, - dann würde er bei all diesen Tätigkeiten Schmerzen haben und wäre wegen des Flimmerns unvermögend, jene Dinge zu sehen von denen er vorher die Schatten sah; und was, glaubst du. würde er sagen, wenn einer ihm darlegte, daß er vorher nur nichtiges Zeug gesehen habe, nun aber - als ein etwas näher zum Seienden und auf mehr Seiendes Hingewen-deter -richtiger sähe, und wenn, nachdem er ihm jedes der vorbeigehenden Dinge gezeigt hätte, er ihn mit Fragen zwänge zu antworten, was dieses sei - meinst du nicht, daß der in Ratlosigkeit verfiele und glauben würde, daß das damals Gesehene wahrer sei als das nun Gezeigte?“

Ebd. 516 b-c: "[Schließlich aber wird der betreffende] die Sonne selbst an sich selbst an dem ihr eigenen Ort sehen können, nicht Erscheinungen von ihr in Gewässern oder in sonst einer fremden Umgebung. [...] Danach dürfte er wohl bezüglich der Sonne zu dem Schlüsse gelangen, daß sie es ist, die· die Jah-reszeiten gewährt und den Jahreslauf und alles in ihrer Obhut hat, was im Reich des Sichtbaren ist. und auch von all jenem, was sie [früher] gesehen haben, auf gewisse Weise die Ursache ist".

Ebd. 516e: "Wenn ein solcher wieder herabstiege (palin katabainein) und sich auf seinen alten Platz setzte, müßten dann dem nicht die Augen sich mit Finsternis füllen, wenn er plötzlich aus der Sonne käme?"