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  • Bildwissenschaft

    Gesche Joost Bild-Sprache

    Die Audio-visuelle Rhetorik des Films

    Folie 1:

    Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,Bei mir geht es um eine neue Theorie, die die Audio-visuelle Rhetorik genannt wird. Hier ist der Hauptbegriff Rhetorik. Bekannterweise ist dieser Begriff nicht neu. Zwar nennt man heutzutage als neu-Rhetorik, aber gibt es lediglich als Konzept. Dieser Werk durch diesen alten Begriff Rhetorik versucht die vielfachen Facetten der rhetorischen Kommunikationslehre zu beleuchten und darzustellen, welche Rolle sie fr den Film spielen. Bevor ich zu diesem Thema Stellung nehme, mchte ich die Autorin des Werkes vorzustellen.Folie 2:

    Gesche Joost (* 1974 in Kiel) ist eine deutsche Designforscherin.

    Prof. Dr. Gesche Joost ist Professorin fr Designforschung an der Universitt der Knste Berlin. Seit 2005 leitet sie das Design Research Lab an den Deutschen Telekom Laboratories, An-Institut der TU Berlin. Gemeinsam mit internationalen Partnern entwickelt sie Forschungs- und Lehrprojekte zu den Themen Human-Computer-Interaction, zu Gender- und Diversity Aspekten in der Technologie-Entwicklung sowie zur audio-visuellen Rhetorik der Medien. Bis 2010 war sie als Juniorprofessorin fr Interaction Design & Media an der TU Berlin, als Gastprofessorin lehrte sie 2008 das Thema Gender und Design an der HAWK Hildesheim. Krzlich verffentlichte sie die Publikationen Bild-Sprache. Die audio-visuelle Rhetorik des Films sowie Design als Rhetorik. 2008 erhielt sie den Nachwuchs-Wissenschaftspreis des Regierenden Brgermeisters von Berlin. Sie ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft fr Designtheorie und -forschung e.V.

    Folie 3:

    Im Zentrum diesem Werk steht das Modell der rhetorischen Kommunikation, Herzstck einer Rhetorik der audio-visuellen Medien. Um diesem Zentrum herum gruppieren sich die Wissensgebiete zu den Kommunikationstechniken: die fr den Film spezifische Art der Affekterregung, der Argumentation, die visuelle Topik als instrumentelle Grundlage sowie die rhetorischen Figuren des Films. Ebenfalls aus der Werk ist die Methode verzeichnet, mit der filmrhetorische Strukturen analysiert werden. Die Methode stellt eine interdisziplinre Schnittstelle zu den Wissensgebieten der Designforschung her.

    Folie 4:

    Die Forschungsfragen sind wie folgt: Wie werden rhetorische Gestaltungsmittel im Film eingesetzt? Welche Regeln folgt ihr Einsatz? Und wie kann ihre Komposition im Film sichtbar gemacht werden? De Beantwortung dieser Fragen ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Es geht nicht um eine Rhetorik des Wortes, sondern eine Rhotorik des Bildes und Tons. Rhetorik ist eine auf Wirkungbedachte Art der Kommunikation, die sich als kommunikativer Regelkreislauf defienieren lsst. Gleichzeitig ist sie ein umfassendes Lehrgebude, das systematisiert, wie jene kommunikative

  • Wirkung hergestellt werden kann - gleichsam die Anleitung zum Betrieb der rhtorischen Maschine. Die Rhetorik vermittelt systematische Kenntnisse ber kommunikative Musterlsungen, die je nach Kontext, kommunikativem Ziel und Adressat zu einer erfolgreichen Kommunikation verhelfen knnen. Ein Teil davon sind die rhetorischen Figuren, die als Redeschmuck (ornatus) in der Phase der Textproduktion (elocutio) eingesetzt werden. Darber hinaus benennt die Rhetorik jedoch auch Argumentationsschemata, Gliederungsvorlagen fr ganze Texte oder Muster der krperlichen Beredsamkeit fr Vortrag und Prsentation, die ebenso zum Repertoire der rhetorischen Patterns gehren. Das Grundprinzip rhetorischer Kommunikation ist es, unter Einsatz von Medien ein Publikum von einer Botschaft zu berzeugen. Das kann zum Beispiel bedeuten, es in eine bestimmte emotionale Stimmung zu versetzen (Ethos und Pathos) oder aber es mit rationalen Argumenten zu berzeugen (Logos). Wir haben es also mit der ganzen Bandbreite der Persuasion zu tun. Folie 5:

    Das rhetorische Wissen wird in zwei Schritten fr die audio-visuellen Medien nutzbar gemacht: (a) Zunchst wird der rhetoriktheoretische Rahmen fr die Medien-Analyse auf- bereitet, und dann werden (b) die rhetorischen Strukturen und audio-visuellen Patterns des Mediums in einem Notationssystem visualisiert. Ziel ist es, eine Methode zu entwickeln, die auf die Systematik der AVPs zurckgreift, um die Analysen zu erleichtern und zu strukturieren. Diese Art der Analyse ermglicht darber hinaus, die potenzielle Intensitt der emotionalen Erregung des Publikums abzuschtzen, da in der rhetorischen Lehre bestimmte Muster an eine ihnen zugehrige Wirkungsabsicht gekoppelt sind. Hier spricht man von der rhetorischen Stilhhe des schlichten, mittleren und hohen Stils einer Kommunikation auf den drei Ebenen der Wirkungsfunktion: Logos, die unterste Ebene der emotionalen Erregung ber rationale Argumente fr die berzeugungsarbeit; Ethos, als mittlere Ebene der Erregung auf der Grundlage von Unterhaltung und moderat emotionalen Werten der Unterhaltung, und Pathos mit dem hchsten Niveau der emotionalen Erregung, wodurch entweder sehr negative oder sehr positive Reaktionen hervorgerufen werden.

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    Notationssystem

    Zur Veranschaulichung der interagierenden Patterns wurde ein Notationssystem entwickelt, dessen Zeichen in ein interaktives Diagramm eingesetzt werden. Das Diagramm ist in mehrere Ebenen gegliedert, die den einzelnen audiovisuellen Dimensionen entsprechen abgesehen von rein filmtechnischen Attributen. Der Ablauf wird auf eine Zeitlinie projiziert. Das analysierte Material vorzugsweise in Form eines Clips oder Vorspanns eines Films oder einer CD lsst sich per Click abspielen und jederzeit stoppen. Ein ber das Diagramm wandernder Balken zeigt die jeweilige Position der Filmsequenz an. Legenden wrden das Diagramm berladen und knnen deshalb bei Bedarf in Form eines Overlays eingeblendet werden1.

    Das Notationssystem selbst besteht aus einer Reihe von visuellen Icons. Mit Hilfe dieses Zeichensystems knnen die technischen wie rhetorischen Parameter des Films in kognitiv effizienter Weise abgebildet werden, beispielsweise hat jede filmische Einstellung, Kameraperspektive oder Montageform eine eigene ikonographische Reprsentation. Diese Icons sind Teil einer Notationssprache im Sinne Nelson Goodmans: sie beschreiben filmische Phnomene, ohne sie mit Worten reprsentieren zu mssen. Sie werden im Rahmen eines Notationsfeldes abgebildet, das auf einem 2-Achsen-Modell basiert: mit einer paradigmatischen und einer syntagmatischen Achse. Christian Metz bertrgt dieses

    1 Buchmller, Sandra und Joost, Gesche (2001): Entwicklung eines visuellen Analyse-Instrumentariums multimedialer Rhetorik. Diplomarbeit am Fachbereich Design. Fachhochschule Kln, Lehrgebiet Interface Design.

  • ursprnglich linguistische Modell auf den Film und beschreibt daran die grundstzlichen Zeichenoperationen, die zum Filmverstehen insgesamt notwendig sind. Das Syntagma beschreibt die Abfolge und Kombination unter- schiedlicher Einstellungen entlang der Zeitachse, whrend das Paradigma die Menge aller Einstellungen umfasst, die an einer Position in der Abfolge mglich sind, und aus denen jeweils eine selektiert wird. Beispielsweise finden sich in der paradigmatischen Selektion der vertikalen Achse des Modells unterschiedliche Kameraperspektiven, in denen eine Einstellung realisiert werden kann, von der Frosch- zur Vogelperspektive. Entlang des Syntagmas, das im Modell die horizontale Achse darstellt, wird im Gegensatz dazu festgelegt, welche Einstellung auf die gewhlte folgt. Diese beiden Achsen bilden den theoretischen Rahmen fr das Notationssystem auf der Grundlage der Semiotik und klren zeichentheoretisch, wie die rhetorischen Muster des Films Bedeutung generieren und letztlich Wirkung beim Publikum erzeugen.

    Folie 7:

    Das Notationsfeld besteht insgesamt aus drei Spuren: der auditiven, der visuellen und der Korrelationsspur. In der ersten Spur werden alle auditiven Parameter als Sound, Dialog oder Musik beschrieben. Die zweite enthlt alle visuellen Parameter wie Einstellungsgren und Montageformen, Perspektive, Kamerabewegung, Farben und hnliches. Die Korrelationsspur legt fest, wie sich die auditiven und visuellen Spuren aufeinander beziehen, und zwar entweder konvergent (auditive und visuelle Zeichen stimmen ber- ein), divergent (auditive und visuelle Zeichen widersprechen einander) oder komplementr (auditive und visuelle Zeichen verstrken einander). Aus diesen drei grundstzlichen Patterns ergibt sich schon eine erste Interpretation, denn ein divergentes AVP beispielsweise ist ein oft artifiziell wirkendes Stilmittel, das im Widerspruch zur Erwartungshaltung des Publikums steht. Die Divergenz wird daher hufig eingesetzt, um starke Emotionen im Publikum zu wecken, wie berraschung, Verwirrung, oder Ironie.

    Folie 8:

    Sie entwickelt fr die rhetorische Filmtheorie vier zentrale Forschungsthesen:

    1: Die Gestaltung des Films unterliegt kommunikativen wie medienspezifischen Techniken und Regeln, die als eine Rhetorik des Films ausgewiesen werden knnen.

    2: Die Rhetorik beschreibt medial vermittellte Kommunikation nach Kriterien der Wirkungsintentionalitt.

    3: Die Rhetorik kann als Kommunikationstheorie Film spezifisch beschreiben, und Film ist in seiner Praxis rhetorisch verfasst. Darin spiegelt sich die Verschrnkung von Theorie und Praxis, von rhetorica untens wider.

    4: Die Rhetorik beschreibt den systemischen Zusammenhang zwischen Rhetor, Medium und Adressat in Kommunikationsprozess.

    Folie 9:

    Welche Vorteile kann eine Form der Visualisierung bringen? Sie lassen sich folgendermaen zusammenfassen:

  • 1. Strukturen und dynamische Entwicklungen werden sichtbar gemacht.

    2. Die Transformation des Films in Text wird vermieden.

    3. Dem transitorischen Charakter des Films wird durch ein dynamisches Diagramm Rechnung getragen.

    4. Die Beschreibung filmtechnischer Parameter wie beispielweise Einstellungsgre, Perspektive, montageform wird durch Notationszeichen in kognitiv effizienter Form gestaltet.

    Folie 10:

    Sie knnen mit drei mageblichen Bezugsgren der rhetorischen Kommunikation in Verbindung gebracht werden, die Aristoteles in der Rhetorik klar definiert: Dreierlei brauch man fr eine Rede: einen Redner, einen Gegenstand und eine Zuhrerschaft, und dieser letze, der Zuhrer, ist richtunggebend.

    Folie 11:

    Eine bekannte These dafr von Marshall Mcluhans: The Medium ist the Message. An eine Beispiel wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. 1938 wurde im Radio das Hrspiel War of the Worlds gesendet. Das Hrspiel fhrte Zeitungsberichten zufolge zu heftigen Irritationen bei der Bevlkerung von New York und New Jersey, die teilweise das Hrspiel fr eine authentische Reportage hielt und einen tatschlichen Angriff Auerirdischer befrchtete. Die Berichterstattung ber diese Vorflle machte die Sendung und damit auch den jungen Orson Welles weltberhmt. Einige Beschreibungen einer landesweiten Massenpanik sind jedoch mit Vorsicht zu genieen. Die kommunikations- und literaturwissenschaftliche Forschungsliteratur, allen voran eine Feld-Untersuchung von Hadley Cantril aus dem Jahr 1940, stellen die allzu gerne geuerte kopflose Hysterie in Frage. Heute wird davon ausgegangen, dass die immer wieder kolportierte Massenpanik ausschlielich medial existierte. Allenfalls einige wenige Zuhrer sollen auf das Hrspiel hereingefallen sein. Auch das Anrufaufkommen im Sender CBS war lediglich etwas hher als sonst.

    Wenn man Welles in seiner Funktion als Rhetor betarchtet, so zeigt sich seine Wahl des Mediums als sehr erfolgreich, da die mitreiende und erschreckende Wirkung seiner Inszenierung in vollem Mae eingetreten ist.

    Die Entscheidung, welches Medium fr eine optimale Wirkung auf den Adressaten zu whlen ist, liegt beim Rhetor. So wird er beispielweise das angemessene Format eines Films whlen, ob Kurzfilm, Dokumentar- oder Spielfilm, wird sich Gedanken ber das Filmmaterial machen, Schwarz-Wei oder Farbe, 16 mm oder 35 mm, und wird so eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, die auf die Wirkung Einfluss haben.

    Fr die Filmrhetorik ist zu klren, ob erstens Film selbst zur Argumentation eingesetzt werden kann, ob es zweitens eine spezifische Bildargumentation gibt, und drittens, welche Techniken und mittel dazu genutzt werden.

  • Folie 12:

    Das Ethos

    In der antiken Rhetoriktheorie bezieht sich das ethos auf diejenigen berzeugungsgrnde, die auf dem Charakter des Redners basieren. Er berzeugt mit seiner Person, mit der Krperlichen Performanz von Stimme, Mimik, Gestik, um auf das Publikum sympathisch zu wirken. So geht diese Theorie zunchst von der Situation des mndlich gehaltenen Vortrags aus, und daraus folgt, dass die Funktion des Rhetors mit der Person des Redners zusammenfllt.

    Fr die Wirkung des ethos, so lsst sich folgern, ist bereits die Nachvollziehbarkeit und moralische Zustimmung ausreichend, ein empathisches Eintauchen in die Perspektive des Protagonisten2 verstrkt die Wirkung lediglich.

    Folie 13:

    Pathos

    Pathos bedeutet von seinem griechischen Ursprung her zunchst allgemein Affekt, Gemtsbewegung, Leidenschaft oder berschwang. Klasische Genres des pathos sind der Horror- und Pornofilm, daneben auch Melodram und Propagandafilm.

    Folie 14:

    Die Topik

    ist ein rhetorisches Verfahren, das allgemein bekannte Motive als Material fr die Argumentation und Affekterregung zur Verfgung stellt.

    Aus den bisherigen berlegungen lassen sich vier Gesichtspunkte ableiten, die den visuellen Topos beschreiben:

    1. Der visuelle Topos ist ein Bildformel, die durch visuelle Bildzeichen definiert ist.

    2. Die Darstellung knpft an bildliche Vorlufer an und zieht alternative Darstellungen, Zitate, Ironisierungen, nach sich, so dass sie in ein topisches Bildernetz eingegliedert ist.

    3. Der visuelle Topos ist in seinem Elementarcharakter wiederholbar und memorierbar.

    4. Er ist in seiner Gestalt einer topischen Genese unterworfen, die ihn mit der Zeit verndern kann

    2 Erst-Handelnder

  • Folie 15:

    Das Gesicht

    Ein hufig im Film verwendeter visueller Topos ist das Gesicht in Groaufnahme, das insbesondere in der Zeit des Stummfilms die Leinwand ausfllte. das Gesicht als attraktion im frhen Film, als index der menschlichen Psyche und als Affekttrger. Das Gesicht ist der Angelpunkt zwischen individualitt und Typologie, zwischen Ausdruck und Schicksal, Krper und Seele. Das Gesicht in Groaufnahme auf der Leinwand, an sich bereits attraktives Ereignis, wird zur Stimmulierung des Publikums eingesetzt. Die Bilder der Stars des frhen Stummfilms sind ein anschauliches Beispiel fr die Massenwirksamkeit des Topos.

    Ein Affektbild ist eine Groaufnahme ist ein Gesicht. Deleuze betont damit, ganz im rhtorischen Sinne, die starke affektive Wirkung des Gesichts und beschreibt sie als ein formal definiertes Element der Filmgestaltung.

    Folie 16:

    Eine Fallstudie zum Werk Sergei Eisensteins

    Gegenstand der Untersuchung ist das Werk Sergej Eisensteins, das in einer doppelten Perspektive in den Blich genommen wird. Zunchst folgt einExkurs zum filmteoretischen Werk Eisensteeins, anhand dessen seine Konzeption des Films auf rhetorische Einflsse hin untersucht wird. In einem zweiten Zugang geht es um die Analyse ausgewhlter Stummfilme Eisensteins im Hinblick auf ihre rhetorische Struktur. Anhand exemplarischer Szenen und Sequenzen werden Aspekte der Topik, der Argumentation und Affekterregung so wie der Stilistik analysiert. Fr die Analysen werden werden jeweils Notationsprotokolle erstellt, die die rhetorische Struktur des Films visualisieren.

    Sie formuliert vier Verbindungspunkte zwischen Eisensteins Theorie und der Rhetorik als Ausgangsthesen:

    1. Seine Kunstauffassung ist rhetorisch geprgt, da er sein Werk an der Wirkungsdimension orientiert. Zielsetzung ist die Persuasion eines Massenpublikums.

    2. Der rhetorische Grundsatz, dass das Publikum richtungsweisend fr die Kommunikation sei, gilt ebenso fr Eisenstein. Er stellt zur Rolle des Publikums und zu den Mglichkeiten seiner Adressierung umfangreiche berlegungen an.

    3. Seiner Montagetheorie besteht zum einen aus formalen berlegungen zu den gestalterischen Mitteln des Films, zum anderen ist sie in einen bergeordneten Wirkungszusammenhang eingebettet. Dieser Zusammenhang beschreibt die Beziehung zwischen der Kommunikativen Zielsetzung, dem Einsatz der Mittel und der Adressierung des Zuschauers auf der rationalen und emotionalen Ebene. Damit formuliert Eisenstein den Ansatz einer Figurentheorie des Films, wobei er gleichzeitig den Wirkungszusammenhang der rhetorischen Kommunikation reflektiert.

  • 4. Eisensteins Konzeption zu pathos und Ekstase umfasst affektrhetorische berlegungen zur Wirkungsfunktion des movere. Dabei beschftigt er sich mit der Frage, mit welchenMittelndie maximale affektive Wirkung auf das Publikum erzielt werden kann, um die Kommunikation am effektivsten zu gestalten.

    Folie 17:

    Sergei Michailowitsch Eisenstein war ein sowjetischer Regisseur. Sein bekanntestes Werk ist der Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin. 22. Januar 1898 in Riga, heute Lettland; 11. Februar 1948 in Moskau.

    Eisenstein Kunstauffassung, wie er sie prgnant 1929 formuliert, ist von den sozialistischen Idealen der russischen Avantgarde der 1920er Jahre geprgt. Laut Eisenstein, die Kunst ist nicht Ausdruckmedium des Knstlers als Individuum, sondern sie bernimmt eine Aufgabe im gesellschaftspolitischen Kontext. Zielsetzung ist die berzeugung des Massenpublikums von festgesetzen politischen Idealen und revolutionren Ideen. Kunst wird zur massenwirksamen Persuasion eingesetzt, sie soll den Alltag der Massen durchdringen und als effizientes Kommunikationsmittel funktionieren. Das heisst; knstlerische Schaffen stellt sich dadurch in den Dienst einer ideologischen Prgung, durch die das alltgliche Leben der Massenrevolutioniert werden soll.

    Das Publikum ist fr Eisenstein das zentrale Eichma: an ihm richtet sich die Kommunikation aus. Ziel der filmischen Kommunikation ist es demnach, das Publikum durch ein kalkuliertes Einwirken auf seine Psyche in bestimmter Richtung zu beeinflussen.

    Eisenstein definiert pathos auf diese Art:

    Pathos hat eine Wirkung, durch die der Zuschauer quasi gewaltsam dazu gebracht wird, auf eine Darstellung zu reagieren. Die Formen der Reaktion sind unterschiedlich: Der Zuschauer springt aus dem Sitz auf, flieht, er klatscht Beifall oder weint ekstatisch so beschreibt Eisenstein.

    Folie 18:

    Filmanalysen: Die stummen Bildwerke Eisensteins

    Die exemplarische Untersuchung umfasst ausgewhlte filmische werke des Regisseurs, und zwar die frhen Stummfilme Streik, Panzerkreuzer Potemkin, Die Generallinie und Oktober. Aufgrund der eingeschrnkte Zeit kann ich leider alle Beispiele zeigen, deswegen whlte ich ein Muster der Filme, die Die Metamorphose des Diebs in Streik von Eisenstein, aus. Bevor ich zu dieser Analyse Stellung nehme, mchte ich auf Animalische Typisierungen zu sprechen kommen.

    Affe, Eule, Bulldogge: Animalische Typisierungen

    Diese Art der visuellen Argumentation, die nicht verbal expliziert wird, sondern mit den Mitteln der visuellen Evidenz arbeitet, findet sich erneut in Eisensteins ersten Film Streik. Das Vergleich geht davon aus, dass jede Tierart entsprechend bestimmter Eigenschaften ihre Gestalt ausbilde, dass sich somit die charakteristischen Eigenschaften in der Physiognomie widerspiegeln. Der Vergleich basiert auf folgendem Prinzip: Die Charaktereigenschaften, die einer bestimmten Tierart

  • zugeschrieben werden, werden durch die Mittel des Vergleichs auf eine Person bertragen. Die bestimmte Person ist somit wie Tier X.

    Das rhetorische Mittel des Tier-Mensch-Vergleichs findet sich auch im nationalsozialistischen Propagandafilm Ohm Krger, der 16 Jahre spter gedreht wurde.

    Folie 19:

    Die Metamorphose des Diebs in StreikIn den Filmen Eisensteins werden immer wieder auch religise Topoi eingesetzt, um ihre rhetorische Wirkung zu nutzen. In Eisensteins erstem Film Streik ist ein Beispiel fr den Einsatz von Topoi der christlichen Ikonografie zu beobachten.

    Zunchst zur Sequenz selbst und zu ihrem argumentativen Gehalt: Der Film vermittelt hier innerhalb von krzester Zeit (etwa 3 min.) ein klares Wertesystem. Dem ungerecht beschuldigten Arbeiter werden durch seine Handlungsweise die Attribute von Ehrlichkeit und Anstand zugeordnet - beispielsweise meldet er sofort pflichtgem den Diebstahl eines Werkzeugs bei seinem Vorarbeiter Auf diese Meldung folgt die ungerechtfertigte Beschuldigung, er selbst habe das Werkzeug entwendet und msse es nun ersetzen. Da der Preis aber zu hoch fr sein niedriges Einkommen ist, sieht er sich in einer ausweglosen Lage. Er wird in einer chancenlosen Position gegenber der Machtinstanz gezeigt, die durch den Direktor und die beiden Vorarbeiter verkrpert wird. Die drei Figuren in der Machtposition werden im Gegenzug als unehrlich und gewissenlos charakterisiert - sie machen sich ber den verzweifelten Arbeiter lustig und treiben ihn durch ihre Anschuldigung, so die Darstellung in den Tod. Aus diesem impliziten Argumentation heraus wird die Notwendigkeit des Aufstandes zur Revolution des Systems hergeleitet - ein wichtiger Begrndungszusammenhang fr den ideologischen Kontext des Films. Die Rhetorische Wirkungsfuktion der Sequenz insgesamt ist die aufrttelnde und erschtternde Affektwirkung des movere. Ihre rhetorische Komposition gliedert sich dazu in drei Teile: die Vorgeschichte des Diebstahls, die Konfrontation mit der Fabrikleitung und der Tod des unschuldigen Diebs. Der Affektgehalt steigt im Verlauf der Sequenz an: von der schmucklosen Darstellung des Diebstahls ber den schnellen Wechsel der Groaufnahmen bei der Konfrontation der beiden Parteien bis zum hohen pathos der Darstellung des Selbstmords.Hier kommen nun die visuellen Topoi zum Einsatz, durch die eine bergeordnete Bedeutungsebene eingefhrt wird: Der Dieb wird auf der topischen Ebene zum Mrtyrer sitilisiert. Rhetorisch wird diese Metamorphose des Arbeiters zum Mrtyrer als eine ikonograUische Paralelle zweier Motive aufgebaut, und zwar einer paralelle zum Motiv der Kreuzabnahme und zur Beweinung Christi.