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Thomas Binder Franz Brentano und sein philosophischer Nachlass

Thomas Binder Franz Brentano und sein philosophischer Nachlass · hat Brentano selbst vergleichsweisewenig publiziert,wenngleich auch dieses Wenigevon großem Einfluss war.Neben den

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  • Thomas BinderFranz Brentano und sein philosophischer Nachlass

  • Textologie

    Herausgegeben von Martin Endres, Axel Pichler und Claus Zittel

    Wissenschaftlicher Beirat: Alexander Becker, Christian Benne, Lutz Danneberg, Sabine Döring, Petra Gehring, Thomas Leinkauf, Enrico Müller, Dirk Oschmann, Alois Pichler, Anita Traninger, Martin Saar, Ruth Sonderegger, Violetta Waibel

    Band 4

  • Thomas Binder

    Franz Brentano und sein philosophischer Nachlass

  • Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB 557-Z32.

    ISBN 978-3-11-059579-6e-ISBN (PDF) 978-3-11-059592-5e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059368-6

    Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0).

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2019 Thomas Binder,publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/BostonDieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.comDruck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

    www.degruyter.com

  • Für Irene, Iris und Judith

  • Inhalt

    . Einleitung 1. Franz Brentanos Stellung in der Philosophiegeschichte 1. Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos

    Werk 2. Kurzer Überblick über den Inhalt der einzelnen Kapitel 12. Die Quellen 15

    Teil I Franz Brentano (1838– 1917)

    . Franz Brentanos Leben 23.. Zum Stand der biographischen Forschung 23. Die Aschaffenburger Brentanos 28. Jugendjahre in Aschaffenburg: „Im Banne der katholischen

    Weltanschauung“ 36. Studium und Habilitation 39. Würzburg: Zwischen zwei feindlichen Mühlsteinen

    zerrieben 64. Die frühen Wiener Jahre: „Augenblicklich bin ich sehr von den

    Studien abgezogen. Mein großes Anliegen nähert sich derKrise“ 99

    . Die späteren Wiener Jahre: „Capitis Deminutio“ 119. Halb in Italien, halb in Österreich lebend: Florenz und

    Schönbühel 133. Zürich: Die letzten Jahre 147. „Bei mir scheinen äußere Ereignisse es dahin kommen zu lassen,

    dass gar manches, was ich meinen Mitbrüdern Gutes hätte gebenkönnen, verloren geht“ 150

    . Die Psychologie vom empirischen Standpunkte: Ein „gescheiterter“Klassiker? 156

    . Die PeS als „Gelegenheitswerk“ 158. Die PeS als Torso 161. Gibt es systematische Gründe für den Abbruch der Arbeit an der

    PeS? 172. Auf dem Weg zur deskriptiven Psychologie 226

  • Teil II Der Nachlass und seine Geschichte

    . Die Erben: Gio Brentano, Oskar Kraus und Alfred Kastil 235

    . Kraus und Kastil als Editoren der Schriften Brentanos 256

    . Die Prager Brentano-Gesellschaft 265

    . Das Brentano Institute in Oxford 281

    . Franziska Mayer-Hillebrand: Herausgeberin und BiographinBrentanos 293

    . Roderick M. Chisholm: Brentano als analytischer Philosoph 309

    . Der gegenwärtige Stand und was zu tun bleibt 319

    Teil III Anhang

    Anhang : Zeittafel Franz Brentano 327Anhang : Zeittafel Nachlass 332Anhang : Uneingelöste Publikationsankündigungen Brentanos 340Anhang : Verzeichnis der benutzten unveröffentlichten

    Archivdokumente 344Anhang : Werkmanuskripte aus dem Nachlass Brentanos 352Anhang : Historische Verzeichnisse 371Anhang : Sonstige unveröffentlichte Dokumente zum Nachlass 445Anhang : Standorte der einzelnen Teilnachlässe heute 468

    Literaturverzeichnis 471

    Personenregister 487

    Sachregister 496

    Danksagung 504

    VIII Inhalt

  • 1. Einleitung

    1.1 Franz Brentanos Stellung in der Philosophiegeschichte

    Die Beurteilung der Stellung Franz Brentanos in der Philosophiegeschichts-schreibung ist schwankend. Kaum zu überschätzen ist die Bedeutung Brentanosund seiner Philosophie naturgemäß in den Augen seiner orthodoxen Schüler. Soschreibt Oskar Kraus, einer der glühendsten Anhänger, im Vorwort zu dem vonihm 1924 neu herausgegebenen Hauptwerk Brentanos, der Psychologie vom em-pirischen Standpunkt:

    Die zunehmende Beachtung, die Brentanos Schriften auf sich ziehen, hat ihren Grund abernicht etwa nur in ihrer historischen Bedeutung; es ist vielmehr ihr innerer Wert, der sie indem wissenschaftlichen Daseinskampfe den Sieg über Lehrmeinungen davon tragen läßt,von denen sie vorlängst als ,überwunden‘ und ,veraltet‘ ausgegeben worden sind.¹

    Das gegenteilige Extrem stellt etwa Herbert Schnädelbachs Geschichte der Philo-sophie in Deutschland von 1831 bis 1933 dar, in der Brentanos Name erst gar nichtauftaucht.² Ein differenzierteres Urteil findet sich dagegen bei Wolfgang Steg-müller. In seinen weitverbreiteten Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophieschreibt er über Brentano:

    Die Bedeutung der Brentanoschen Untersuchungen für die Philosophie der Gegenwart wirdimmer noch außerordentlich unterschätzt; es besteht ein merkwürdiges Mißverhältnis zwi-schen der großen tatsächlichen Auswirkung Brentanos auf die heutige Philosophie und derverhältnismäßig geringen Beachtung, die seine Theorien im gegenwärtigen Lehr- und For-schungsbetrieb finden. Und doch laufen bei Brentano die Fäden zusammen, die zu denverschiedenartigsten Richtungen führen […]³.

    Erst unlängst haben Mauro Antonelli und Werner Sauer diese Einschätzung be-stätigt: „Für [Brentanos] Philosophie gilt immer noch, wenngleich nicht mehr indemselben Ausmaß,Wolfgang Stegmüllers vor 60 Jahren getroffene Feststellung,

    Kraus 1924, XII. Brentanos Psychologie wird in der Folge als PeS zitiert. Vgl. Schnädelbach 1983/2008. Es ließen sich noch einige weitere Philosophiegeschichten an-führen, die diese „Unsichtbarkeit“ Brentanos belegen. Stegmüller 1978, 1. Die wichtige Position, die Stegmüller Brentano zuweist, zeigt sich auchdarin, dass er das Brentano-Kapitel ganz an den Anfang seiner Darstellung der Gegenwartsphi-losophie stellt. Als Schüler von Franziska Mayer-Hillebrand könnte man Stegmüller selbst zurvierten Generation der Brentano-Schule zählen. Zu Mayer-Hillebrand siehe unten ausführlich267–280.

    https://doi.org/10.1515/9783110595925-002

  • nicht die ihr gebührende Achtung zu finden.“⁴ Diese Relativierung „wenngleichnicht mehr in demselben Ausmaß“ ließe sich vielleicht auf die Tatsache beziehen,dass die Brentano-Forschung zwar nicht jene Ausmaße angenommen hat wieetwa die Husserl- oder Wittgenstein-Industrien, dass sie aber durchaus als le-bendig zu bezeichnen ist⁵ – was zu einem kleineren Teil damit zusammenhängenmag, dass sich 2017 Brentanos Todestag zum hundertsten Male gejährt hat⁶.

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit vonBrentanos Werk

    Diese schwankende Einschätzung von Brentanos philosophiegeschichtlicherRelevanz hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Rezeption seines Werkesein ganz spezifisches Hindernis entgegensteht, nämlich dessen beschränkte Zu-gänglichkeit in seiner authentischen Form.Wie hinlänglich bekannt sein dürfte,hat Brentano selbst vergleichsweise wenig publiziert, wenngleich auch diesesWenige von großem Einfluss war. Neben den Schriften zu Aristoteles⁷ wären hiervor allem die Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) und Vom Ursprung

    Antonelli/Sauer 2014, XII. Eine Variante, die die Bewertung von Kraus und Stegmüller ver-bindet, findet sich bei Dale Jacquette: „Brentano is among the most important yet under-appre-ciated philosophers of the late nineteenth and early twentieth centuries“. (Jacquette (2004b), 1.Und, ganz aktuell, Uriah Kriegel: „Brentano’s thought is historically rich and yet bears strikingrelevance tomany current day debates – and the ambit of his influence, sometimes overt but oftensubterranean, is striking.“ Kriegel 2017, 1. Für die Zeitspanne seit dem Jahrtausendwechsel wären hier etwa die ausschließlich Brentanogewidmeten Sammelbände Jacquette 2004a,Tanasescu 2012 und Fisette/Fréchette 2013 sowie dieMonographien von Antonelli 2001, Chrudzimski 2004/2012, Albertazzi 2006 und Tassone 2012 zunennen. Die Aufsätze zu Brentano sind natürlich zu zahlreich,um hier angeführt zuwerden. Nichtzu vergessen sind natürlich die von Wilhelm Baumgartner und Guillaume Fréchette herausge-gebenen Brentano-Studien, deren XV. Band 2018 erschienen ist. Pünktlich zum Jubiläum gab z.B. Uriah Kriegel bei Routledge ein Brentano-Handbook heraus,das mit annähernd vierzig Beiträgen fast alle Bereiche von Brentanos Denken abdeckt (vgl. Kriegl2017). Sowohl Die mannigfache Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Brentanos Dissertation von1862, als auch Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos, seine1867 publizierte Habilitationsschrift, sind bedeutende, auch heute noch anerkannte Beiträge zurAristoteles-Forschung; umstrittener sind hingegen seine beiden Aristoteles-Publikationen von1911, Aristoteles und seine Weltanschauung und Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichenGeistes. Erst kürzlich hat sich Janina Drucks in einer Monographie ausführlich mit BrentanosInterpretation der aristotelischen Seelenlehre befasst (vgl. Drucks 2016).

    2 1. Einleitung

  • sittlicher Erkenntnis (1889)⁸ zu nennen, die beide zu Klassikern der philosophi-schen Literatur avanciert sind. Nach dem Erscheinen seiner PeS hat Brentano zweiJahrzehnte hindurch seine philosophischen Überlegungen mit Ausnahme einigerveröffentlichter Vorträge nur noch in seinen Vorlesungen publik gemacht; nachseinem Abgang von der Universität Wien 1894 veröffentlichte er zwar noch einigekleinere Arbeiten zur Sinnespsychologie und vor allem zu Aristoteles,⁹ darüberhinaus beschränkte er sich aber auf die mündliche und briefliche Mitteilungseiner sich immer wieder wandelnden Ansichten an einen kleinen auserwähltenKreis von Anhängern und Schülern. Diese publizistische Zurückhaltung führteschon unter der ersten Generation von Brentanos Schülern, die immerhin selbstZeugen seiner Vorlesungen gewesen waren und eigenhändige Mitschriften davonbesaßen, zu Kontroversen über die richtige Interpretation seiner Theorien undschließlich zum Zerfall seiner Schule in einen „orthodoxen“ und einen „nicht-orthodoxen“ Flügel.¹⁰ Carl Stumpf, einer der frühesten Schüler Brentanos nochaus seiner Würzburger Zeit, der sich später zwar ebenfalls philosophisch vonseinem Lehrer entfernte, aber trotz etlicher heftiger Krisen nie persönlich mit ihmgebrochen hatte, bringt diese Problematik auf den Punkt. In einem langen Briefan Stumpf hatte Brentano sich im August 1899 darüber beklagt, dass dieser die

    In der Folge zitiert als UsE. Zwischenzeitlich waren sogar die in Meiners Philosophischer Bi-bliothek publizierten Neuauflagen seiner veröffentlichtenWerke fast vollständig vergriffen. Diesermissliche Umstand wurde zumindest teilweise durch eine Neuedition der von Brentano selbstpublizierten Schriften beseitigt: Brentanos von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski her-ausgegebene Sämtliche veröffentliche Schriften erscheinen seit 2008 bei ontos, seit 2014 bei deGruyter. Von den zehn geplanten Bänden sind bisher fünf erschienen, nämlich zwei Bände mitpsychologischen Schriften, ein Band mit Abhandlungen zur Ethik und Ästhetik, und zwei Bändeder Schriften zu Aristoteles (die Dissertation und Aristoteles und seine Weltanschauung); einweiterer Band mit Brentanos philosophischen Aufsätzen und Vorträgen ist in Vorbereitung. (Seit2013 sind auch wieder Neuauflagen der Meiner-Bände verfügbar, deren problematischer Cha-rakter noch ausführlich zur Sprache kommen wird.) Vgl. Brentano 1907 und Brentano 1911a bis 1911c. Zu erwähnenwäre natürlich auch noch 1911d,Von der Klassifikation der psychischen Phänomene,wobei es sich allerdings in der Hauptsache umeine Neuauflage von Teilen der PeS handelt. Als die bedeutendsten Vertreter der ersten Generation der Brentano-Schule wären CarlStumpf, AntonMarty, AlexiusMeinong,Thomas G. Masaryk, Alois Höfler, Christian von Ehrenfels,Edmund Husserl, Kazimierz Twardowski und Franz Hillebrand zu nennen. Mit Ausnahme vonMarty gehörten sie allesamt dem nicht-orthodoxen Flügel an, der sich philosophisch teilweiseweit von Brentano entfernte. Aber selbst Marty, der durch einen intensiven Briefwechsel mitBrentano am besten über dessen Entwicklung informiert war, konnte nicht mehr alle Wendungenin Brentanos Denken nachvollziehen. Zu den orthodoxen „Brentanoten“ werden weiters dieSchüler der zweiten (Oskar Kraus, Alfred Kastil) und dritten Generation (Georg Katkov, FranziskaMayer-Hillebrand) gerechnet. In theoretischer Hinsicht waren es unter anderem die ontologi-schen Implikationen von Brentanos Intentionalitätsbegriff, die die Schule spalteten.

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos Werk 3

  • ursprüngliche gemeinsame Position verlassen habe und wichtige philosophischeNeuerungen nicht gebührend beachte. Stumpf antwortet darauf einige Wochenspäter:

    Ich wiederhole bei dieser Gelegenheit eine schon früher ausgesprochene Klage und Bitte. Sieerschweren die Berücksichtigung und Verwertung Ihrer neuen Anschauungen Ihren eigenenSchülern dadurch, dass Sie nichts als bloße kurze Skizzen darüber publizieren. Das Mittel,dadurch durchzudringen, besteht einzig und allein darin, dass vor allem Sie selbst detail-liertere Darstellungen veröffentlichen. Nur dann ist man im Stande, die Prinzipien überhauptzu verstehen, ihre Tragweite zu erkennen und sich mit ihrer Übereinstimmung mit denTragweiten zu überzeugen. Es erscheint mir, ganz offen zu sprechen, als ein unbilligesVerlangen, dass selbst ein so alter Schüler wie ich durch eine so kurze Darlegung sich so-gleich von einer so neuen und kühnen These überzeugt finden und sie an Ihrer Stelle vordem Publikum vertreten soll.¹¹

    Der Apell Stumpfs verhallte weitgehend ungehört. Alles, wozu Brentano sichschließlich Jahre später durchringen konnte, war, die letzten vier Kapitel deszweiten Buches der PeS von 1874 neu zu veröffentlichen undmit einem Anhang zuversehen, in dem er einige „nachträgliche Bemerkungen zur Erläuterung undVerteidigung wie zur Berichtigung der Lehre“ machte.¹²

    Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, einige Gründe für diebegrenzte Zugänglichkeit von Brentanos philosophischem Werk namhaft zu ma-chen. Der erste Teil befasst sich dabei mit der Person und der Philosophie Bren-tanos selbst und geht der Frage nach den möglichen Ursachen seiner zurück-haltenden Publikationstätigkeit nach;¹³ im zweiten Teil wird versucht, die sehrwechselhafte äußere Geschichte von Brentanos philosophischem Nachlass zu

    Brentano an Stumpf, 3. September 1899. Brentano/Stumpf 2014, 347 f. Auch in seinen Erin-nerungen an Franz Brentano kommt Stumpf auf diese durchaus nicht unberechtigte Kritik zurück:„Ein zweiter Punkt […] betrifft umgekehrt die Hindernisse der literarischen Produktion derSchüler infolge der eigenen Zurückhaltung Brentanos in der Veröffentlichung seiner Untersu-chungen. Es ist äußerst misslich, sich immer nur auf Vorlesungen oder gar Gespräche berufen zumüssen, um dem Leser die Voraussetzungen, von denen man ausgeht, zu erklären; noch mißli-cher, vom Lehrer überkommene Anschauungen, die man nicht mehr teilen kann, zu bekämpfen,wenn diese Anschauungen nicht gedruckt vorliegen. Wie leicht sind da Mißverständnisse undUngenauigkeiten möglich! Wie weit geht überhaupt das Recht, Anschauungen eines anderen zuzitieren, die ihr Urheber nicht selbst veröffentlicht hat, von denen er sich möglicherweise selbstschon halb oder ganz losgesagt hat? Jahrelange persönliche Trennung muß notwendig auf beidenSeiten Umbildungen der Gedankenwelt hervorrufen, die ein volles gegenseitiges Verstehen er-schweren“. Stumpf 1919, 144f. Vgl. Brentano 2008b, 391–426. Erste Ansätze zu einer Beantwortung dieser Frage finden sich in Werle 1989.

    4 1. Einleitung

  • rekonstruieren, die ihrerseits die Rezeption seiner philosophischen Theorienbeträchtlich behindert hat.

    Warum hat sich Brentanos unbestreitbar rege Forschertätigkeit, die nochdazu mit einem ausgeprägten Bewusstsein seiner Sendung als ein Erneuerer derPhilosophie verbunden war, in einer so verhältnismäßig geringen Anzahl anPublikationen niedergeschlagen? Die „orthodoxe“ Antwort auf diese Frage gibtAlfred Kastil¹⁴:

    Als Franz Brentano am 17. März 1917, bald nach seinem Eintritt in das achtzigste Lebensjahr,aus regster Forschungstätigkeit durch den Tod abberufen wurde, erwies sich sein wissen-schaftlicher Nachlass von größerem Umfang als die veröffentlichen Schriften. Es hing diesmit seiner Arbeitsweise zusammen. Nie versucht, übereilt mit genialen Einfällen hervorzu-treten, ließ er bei stets wacher Selbstkritik alles geduldig ausreifen, zuweilen Jahrzehntelang. „Wer eilt, bewegt sich nicht auf demBoden derWissenschaft“, pflegte er die Dränger zubeschwichtigen. Auch war ihm das Vordringen in noch uneroberte Bezirke der Wissenschaftwichtiger als die literarische Verwertung des schon Gesicherten, so dass es oft eines sanftenZwanges äußerer Anlässe bedurfte, ihm den Entschluss zu publizieren abzuringen. Wohlaber fuhr er auch nach dem allzu frühen Abbruch seiner akademischen Lehrtätigkeit fort,sich in Briefen und Gesprächen verschwenderisch mitzuteilen.¹⁵

    Diese stark stilisierende Darstellung macht also in der Hauptsache Brentanosskrupulöse wissenschaftliche Arbeitsweise für die ungewöhnlich große Masse anunveröffentlichten Schriften verantwortlich. In der vorliegenden Arbeit wirdhingegen die differenziertere Auffassung vertreten, dass es im Falle Brentanosvielmehr eine ganz spezielle Konstellation von biographischen, persönlichkeits-spezifischen und werkimmanenten Gründen war, die seine Wirksamkeit als phi-losophischer Schriftsteller mehr oder weniger behindert haben.

    Da es bis heute an einer autoritativen Biographie Brentanos mangelt unddiesbezüglich immer noch zahlreiche Fehlinformationen die Runde machen,steht am Beginn der Arbeit eine alle wichtigen Ereignisse berücksichtigende Le-bensbeschreibung, die durch Auswertung zahlreicher neuer, bisher noch nichtbenutzter Quellen versucht,¹⁶ in biographischer Hinsicht festeren Boden unterden Füßen zu gewinnen. Die hauptsächliche Aufgabe dieser biographischen

    Alfred Kastil (1874– 1950) war als Schüler von Marty ein „Enkelschüler“ Brentanos. Auf ihnwerden wir in seiner Rolle als einer der beiden ersten Herausgeber von Brentanos Nachlass imzweiten Teil dieser Arbeit ausführlich zu sprechen kommen (vgl. unten die Kap. 4 und 5). Kastil 1951, 1. Genannt seien hier vor allem die Korrespondenzen mit Gunda von Savigny, Lujo Brentano,Carl Stumpf, Herman Schell, Anton Marty, Oskar Kraus und Alfred Kastil, sowie das äußerstwertvolle Fragment einer Brentano-Biographie von Franziska Mayer-Hillebrand – wir kommenauf die Quellen für diese Arbeit unten noch ausführlicher zu sprechen (vgl. unten, 15– 19, sowiedie Anhänge 4 bis 7).

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos Werk 5

  • Darstellung¹⁷ besteht aber – neben der Absicherung der historischen Fakten –darin, zur Beantwortung der Frage nach Brentanos publizistischer Zurückhaltungbeizutragen. Der familiäre Hintergrund ist dabei von nicht zu unterschätzenderBedeutung, spielten doch die Aschaffenburger Brentanos im süddeutschen Ka-tholizismus eine bedeutende Rolle. Die zentrale biographische These ist demnachdie, dass die von Brentanos Mutter Emilie und ihren geistlichen Beratern maß-geblich beeinflusste Entscheidung, sich trotz der bereits in jungen Jahren auf-tretenden massiven Glaubenszweifel zum katholischen Priester weihen zu lassen,seine ganze wissenschaftliche Karriere überschattet und schließlich auch zerstörthat. Auch Brentanos späterer Versuch, nach dem Austritt aus dem Priesterstandseine vollen bürgerlichen Rechte zu erlangen, führte zu Auseinandersetzungenmit dem katholischen Klerus und seinen politischen und juristischen Verbünde-ten, die einen beträchtlichen Teil von Brentanos intellektueller Energie konsu-mierten. Darüber hinaus sollen gewisse eigentümliche Züge der PersönlichkeitBrentanos in diesem biographischen Abschnitt etwas näher beleuchtet werden,die ebenfalls dazu beigetragen haben mögen, dass es ihm zunehmend lästig fiel,vor allem umfangreichere Texte fertigzustellen oder sie gar aus der Hand zu ge-ben. Eine interessante Fragestellung in diesem Zusammenhang ist auch, inwie-fern der rationalistisch eingestellte Philosoph Brentano dennoch als eine Ver-körperung des romantischen Brentanoschen Familiengeistes angesehen werdenkönnte;Vergleiche mit seinem Onkel Clemens wies Brentano zwar immer zurück,gewisse Charakterzüge der Brüder Clemens und Christian (seines Vaters) scheinensich aber durchaus vererbt zu haben.¹⁸

    Brentano hat im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere immer wieder Pu-blikationen angekündigt, die er dann – aus welchen Gründen auch immer – nichtrealisiert hat.¹⁹ Die wohl prominenteste Ankündigung ist zweifellos die der Bü-cher 3 bis 6 bzw. des zweiten Bandes der PeS.Deshalb sollen im zweiten Abschnittdes ersten Teiles dieser Untersuchung am Beispiel der PeS einige systematische

    In Zeiten, in denen ein ganzes Boltzmann-Institut sich ausschließlich mit der Theorie derBiographie befasst,wäre esmöglicherweise angebracht, demmethodischen Ansatz nicht nur eineFußnote zu widmen. Da Brentanos Biographie aber nur einen Teil der vorliegenden Arbeit aus-macht, möchte der Verfasser sich mit dem Hinweis begnügen, dass er dekonstruktivistischenAnsätzen auf diesem Gebiet ablehnend gegenübersteht und gewisse Sympathien für den NewHistoricism à la Stephen Greenblatt entwickelt, was sich darin niederschlägt, dass auch versuchtwird, den historischen und gesellschaftlichen Hintergrund in die Darstellung miteinzubeziehen. Vgl. dazu Binder 2016. Auch auf diese uneingelösten Publikationsankündigungen hat erstmals Werle (vgl. Werle1989, 37–46) hingewiesen. Wir werden unten im biographischen Teil mehrmals darauf zurück-kommen. Im Anhang findet sich eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Stellen (vgl. untenAnhang 3, 340ff.).

    6 1. Einleitung

  • bzw. werkimmanente Gründe beispielhaft diskutiert werden, die möglicherweiseerklären können, warum Brentano an diesem Publikationsplan gescheitert oderzumindest hinter seinen Zielen zurückgeblieben ist. Hier soll im Anschluss anneuere Untersuchungen von Mauro Antonelli²⁰ nicht nur gezeigt werden, dasssogar die PeS als ein „Gelegenheitswerk“ aufgefasst werden kann, sondern vorallem eben auch, dass sie ein Torso geblieben ist: obwohl Brentano bis mindes-tens 1877 an der PeS arbeitete, gelang es ihm nicht, sein ursprüngliches, weitumfangreicheres Projekt zu realisieren. Der Hinweis auf die Unvollständigkeit derPeS ist umso wichtiger, als diese Tatsache durch die von Kraus besorgte „Neu-auflage“ in drei Bänden oft übersehen wird. Zwei mögliche Gründe für diesesScheitern werden hier näher untersucht: 1) Brentanos in der PeS entwickeltesProgramm einer psychologischen Einheitswissenschaft, mit dem er seine Reformder Philosophie im Geiste der Naturwissenschaft umzusetzen gedachte, ließ sichmöglicherweise nicht realisieren; wie die spätere Entwicklung seines Denkenszeigt, sah sich Brentano vielmehr gezwungen, zwischen einer genetischen undeiner deskriptiven Psychologie zu unterscheiden, wobei er sich in den Vorlesun-gen der späten Wiener Jahre weitgehend der Ausarbeitung einer deskriptivenPsychologie zuwandte. Es wird also danach zu fragen sein,weshalb Brentano seineinheitswissenschaftliches Konzept aufgab. 2) Eines der Hauptziele der PeS be-stand für Brentano in dem Nachweis, dass sich von seiner empirischen Psycho-logie eine Brücke zu einer Metaphysik der unsterblichen Seele (und damit zueinem vollkommenen und allmächtigen schöpferischen Prinzip) schlagen lasse.Da Brentano diesen Teil der Pes nicht mehr ausgearbeitet hat, ließe sich vermu-ten, dass er an diesem Problem gescheitert sein könnte. Es wird sich jedoch imLaufe unserer Untersuchung zeigen, dass der Nachlass mehr Manuskriptmaterialzum geplanten zweiten Band der PeS enthält, als bisher vermutet wurde. EineErkenntnis dieses Abschnitts besteht jedenfalls darin, dass die Entwicklung vonBrentanos philosophischem Denken durchaus Brüche aufweist, die sich schlechtmit Kastils „geduldiger Ausreifung“ des Werkes in Einklang bringen lassen.

    Der zweite Aspekt der mangelnden Zugänglichkeit des philosophischenWerkes Brentanos betrifft den Nachlass, dem sich der zweite Teil der vorliegendenArbeit widmet. Nach dem Tod Brentanos im März 1917 wurde seinen Erbennämlich rasch klar, dass sein philosophischer Nachlass mit mehr als dreißig-tausend Seiten allein an Werkmanuskripten die Publikationen an Umfang beiweitem übertraf, und – was von noch größerer Bedeutung ist – dass gerade dieseNachlassschriften wichtige Veränderungen seiner philosophischen Positionenwiderspiegeln. Es war vor allem die zweite Schülergeneration, repräsentiert durch

    Vgl. Antonelli 2001 & 2008.

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos Werk 7

  • Kraus und Kastil, die – tatkräftig unterstützt von Brentanos Sohn Giovanni²¹ –sogleich die größten Anstrengungen unternahm, diesen Nachlass zu publizieren.Schon 1920 veröffentlichte Kraus in den Kant-Studien einen ersten Text aus demNachlass, und von 1921 bis 1933 erschienen im Meiner-Verlag in rascher Folgeweitere Bände, die durchaus ein weites Spektrum von Brentanos Denken abde-cken.Trotz des unbestreitbaren Verdienstes, durch diese Veröffentlichungen seinePhilosophie vor dem Vergessen bewahrt zu haben, war ihr wissenschaftlicherWert aus heutiger Sicht von Anfang an beschränkt, da die Herausgeber massiv indie Texte Brentanos eingriffen, um sie einerseits zu systematisieren und ande-rerseits „auf den letzten Stand“ seiner reistischen Spätphilosophie zu bringen, dievon Kraus und Kastil als die „letztgültige Lehre“ betrachtet wurde. Zu diesemZweck scheuten die Herausgeber nicht davor zurück, auch in den Wortlaut vonBrentanos Manuskripten einzugreifen oder Textlücken mit mangelhaft gekenn-zeichneten fremden bzw. eigenen Texten zu ergänzen.²² Kraus und Kastil waren,wie ein Kritiker treffend angemerkt hat, weniger Philologen als vielmehr treueSchüler. Franziska Mayer-Hillebrand, die nach Kastils Tod die Herausgeberschaftübernahm, publizierte ein halbes Dutzend weiterer Nachlassbände, in denen siesich ganz an der speziellen editorischen Technik ihres Vorgängers und Lehrersorientierte. Selbst Roderick M. Chisholm konnte sich nicht von dieser Traditionemanzipieren, da auch er bei den von ihm herausgegebenen Bänden auf dieTranskriptionen und Redaktionen Kastils zurückgriff und die Originalmanu-skripte Brentanos weitgehend unberücksichtigt ließ. Erst die allerletzten von RolfGeorge und Klaus Hedwig bei Meiner herausgegebenen Bände entsprachen mo-dernen editorischen Richtlinien. Die Brentano-Forschung sieht sich also mit derwenig erfreulichen Situation konfrontiert, dass Brentanos philosophisches Werknicht vollständig²³ und nicht in einer philologisch verlässlichen Form zugänglich

    Der volle Name von Brentanos Sohn ist Johann ChristianMichael, der in der abgekürzten Form„J.C.M.“ in der Bibliographie verwendet wird. Da er aber gemeinsam mit seinem Vater viele Jahreseiner Jugend in Italien verbracht hat, wurde er später von fast allen seiner Freunde „Giovanni“(bzw. kurz „Gio“) genannt, was hier durchgehend beibehalten werden soll. Auf diese Editionspraxis, die insbesondere Kastil zu großer Vollkommenheit entwickelt hat,wird unten noch zurückzukommen sein (vgl. dazu unten die Kap. 4 und 8). Wie seine Diskus-sionen mit Theodor Gomperz, vor allem aber mit Eduard Zeller über das richtige Verständnis derSchriften des Aristoteles zeigen, war auch Brentano selbst alles andere als ein historisch-kriti-scher Philologe und hat damit der wenig exakten Editionspraxis seiner Enkelschüler Vorschubgeleistet. Erst unlängst hat Guillaume Fréchette in diesem Zusammenhang auf Brentanos „eli-tistische“ Aristoteles-Auslegung hingewiesen (vgl. Fréchette 2018, XXVII–XXX). So ist z.B. eines der wichtigsten Werke Brentanos, seine Würzburger Vorlesung über Meta-physik, bisher nicht publiziert worden, was als ein weiterer Beleg der systematischen Vernach-lässigung von Brentanos früher Philosophie durch Kraus, Kastil und Mayer-Hillebrand gesehenwerden kann.

    8 1. Einleitung

  • ist, was wohl unzweifelhaft dazu beiträgt, dass ein Urteil über Brentanos philo-sophische Bedeutung nach wie vor schwierig ist.

    Seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten wurden immer wieder Anläufe unter-nommen, eine historisch-kritische oder zumindest eine textkritische Edition vonBrentanos nachgelassenen Manuskripten auf den Weg zu bringen. Bisher war derErfolg jedoch eher gering. Das einzige nennenswerte Resultat dieser Anstren-gungen ist eine online zugängliche textkritische Edition von Brentanos Würz-burger Logikvorlesung, die jedoch bloß provisorischen Charakter hat und überkeinen Kommentar verfügt.²⁴ An dieser Vorlesung werden freilich auch die Pro-bleme, mit denen sich eine textkritische Edition vor allem von Brentanos großenKollegien konfrontiert sieht, beispielhaft deutlich. Selbst wenn man von derüberaus optimistischen Annahme ausgeht, dass das Manuskript sich einigerma-ßen in dem Zustand befindet, in dem es von Brentano selbst hinterlassen wurde,sind die verbleibenden Schwierigkeiten immens, da man einen Text vor sich hat,der unterschiedliche historische Schichten enthält (Brentano hat einige dieserVorlesungsunterlagen nicht nur in Würzburg, sondern bis in seine späten WienerJahre immer wieder benutzt). So fehlen einerseits Teile einer früheren Version,weil sie durch spätere Textpassagen ersetzt wurden; andererseits können aberauch unterschiedliche Ausarbeitungen von Argumenten nebeneinanderstehen,ohne dass Brentano eine davon verworfen hätte (so enthält EL 80 zwei ver-schiedene Urteilstheorien). Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Bren-tano gerade seine Vorlesungen oft in recht unterschiedlicher Vollständigkeitausgearbeitet hat: manche Passagen sind fertig ausformuliert, andere wiederumwerden nur in kurzen Stichworten gegeben. Diese Probleme bestehen aber nichtnur im Falle der Logik, sondern etwa auch beim Ethik-Kolleg oder bei den Vor-lesungen zur Psychologie.²⁵ Bedenkt man, dass Brentano sich sowohl in seinerWürzburger als auch in seiner Wiener Zeit hauptsächlich in seinen Vorlesungengeäußert hat, dann wird klar, wie groß die Hindernisse sind, zu einer authenti-

    Im Verzeichnis der nachgelassenen Werkmanuskripte Brentanos, das Mayer-Hillebrand 1951hergestellt hat, trägt die Vorlesung die Signatur EL 80. Die unter dem Titel Die Lehre vom richtigenUrteil ebenfalls von Mayer-Hillebrand herausgegebene Vorlesung gehört zu den krassesten Bei-spielen einer Editionstechnik à la Kastil. Sowohl auf das Nachlassverzeichnis als auch auf Mayer-Hillebrand als Brentano-Editorin wird unten in Kap. 8 noch ausführlich einzugehen sein. Dietextkritische Edition ist unter dem link gams.uni-graz.at/FBAG frei zugänglich. Eine wichtige Rolle für das Verständnis Brentanos spielen die Mitschriften der VorlesungenBrentanos. Diese Mitschriftenwurden von seinen Schülern oft als Grundlage bei der Ausarbeitungihrer eigenen Vorlesungen benützt und trugen so entscheidend zur – wenn auch gefilterten –Verbreitung von Brentanos Denken bei. Obwohl sich etliche dieser Mitschriften erhalten haben,ist auch ihr Wert für die Forschung begrenzt, da die meisten in Gabelsberger Kurzschrift nie-dergeschrieben sind, die heute nur noch wenige lesen können.

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos Werk 9

  • schen Rekonstruktion seines Denkens zu gelangen.²⁶ Abhilfe für einige dieserSchwierigkeiten ließe sich natürlich durch eine genaue Analyse der Manuskripteschaffen, da sich Brentanos Handschrift im Laufe seines Lebens stark verändertund er zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Schreibmittel verwendet hat.Da für derart zeitaufwändige Arbeiten aber nur sehr begrenzte Ressourcen zurVerfügung stehen (und sich an dieser Situation in naher Zukunft nur wenig än-dern dürfte), ist kaum zu erwarten, dass der große editorische Durchbruchdemnächst gelingen wird.²⁷

    Neben diesen editorischen Problemen, die die einzelnen Texte Brentanosaufwerfen, gibt es aber noch ein weiteres Problem, nämlich den Nachlass selbst,für den bis heute kein vollständiges Verzeichnis existiert (der Terminus „Nach-lass“ wird hier in einem sehr weiten Sinn verwendet). Auch hier wird man wiederfeststellen müssen, dass die Nachlassverwalter bzw. Herausgeber Kraus und Ka-stil (und später Kastils Schülerin Mayer-Hillebrand) nicht nur als Philologensondern auch als Archivare keine besonders gute Figur machen. Es wurden zwarimmer wieder Anläufe unternommen, die Manuskripte und Briefe Brentanos inListen zu erfassen, aber diese einzelnen Verzeichnisse wurden weder zusam-mengeführt noch vereinheitlicht, sodass keines von ihnen auch nur im entfern-testen der Vollständigkeit nahekam. Selbst der Anfang der Fünfzigerjahre vonMayer-Hillebrand unter Verwendung von Vorarbeiten Kastils hergestellte Stan-dard-Katalog, nach dessen Signaturen die Nachlassmanuskripte heute üblicher-weise zitiert werden, ist alles andere als vollständig. Dazu kommt, dass BrentanosManuskripte selbst überraschend sorglos behandelt wurden: einerseits machteman sich wenig Mühe, Manuskripte, die als weniger bedeutend eingestuft wur-den, zu sammeln (was nicht unwesentlich zu ihrer geographischen Verstreuungbeigetragen hat); andererseits hatte man keine Skrupel, Brentanos Manuskriptemit eigenen Anmerkungen oder Anstreichungen zu bereichern oder sie gar durchplatzsparende Aufbewahrungsmethoden auch physisch zu beschädigen. Aller-

    Hinsichtlich Brentanos Spätphilosophie ist die Lage günstiger. Die Diktate, zu denen sichBrentano wegen seiner Augenerkrankung ab 1903 zunehmend gezwungen sah, sind in der Regeleher kurze Texte, die von den verschiedenen Schreiberinnen und Schreibern in eine meist sehrlesbare Form gebracht wurden. Im Falle der Diktate besteht das editorische Problem eher darin,dass Brentano oft zur gleichen Thematik mehr oder weniger voneinander abweichende Fassun-gen diktiert hat. Kastil pflegte dieses Problem dadurch zu lösen, dass er solche Varianten zu ei-nem einzigen Text „verschmolz“ (man ist versucht, diese Vorgangsweise als „Kastilisierung“ zubezeichnen). Zu einer ähnlich pessimistischen Einschätzung der Situation kommt Liliana Albertazzi: „Ihave concentrated on these matters long enough to realize that it is still premature to attempt anexhaustive monograph on Brentano. Apart from the few texts published by Brentano during hislifetime his writings – and especially those published by his pupils – are in a parlous state. And atthe moment there seems to be no way out of the impasse.“ (Albertazzi 2006, 1)

    10 1. Einleitung

  • dings ist auch hier anzumerken, dass die Nachlassverwalter von Anfang an mitbeträchtlichen Problemen konfrontiert waren, wobei das schwerwiegendste si-cherlich darin bestand, dass der Nachlass auf verschiedene, teilweise schwerzugängliche Standorte aufgeteilt war. Aber auch das Verhältnis zwischen Krausund Kastil einerseits und Gio Brentano als dem eigentlichen juristischen Eigen-tümer des Nachlasses andererseits war nicht immer spannungsfrei.²⁸ Um dieseProbleme zu lösen, wurde vor allem von Kraus die Errichtung eines Archivs be-trieben: Die in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts erfolgte Gründungdes Prager Brentano-Archivs im Sinne eines modernen Wissenschaftsarchivs warjedenfalls für die damalige Zeit eine durchaus innovative Unternehmung, diebedauerlicherweise die politischen Entwicklungen nicht überlebt hat.

    Die hier vorgelegte Rekonstruktion der Geschichte des Nachlasses von FranzBrentano kann als Versuch verstanden werden, angesichts der zur Zeit kaumlösbaren editorischen Probleme wenigstens hinsichtlich des Nachlasses selbst –wie schon im Fall seiner Biographie – die historischen Fakten so weit als möglichabzusichern. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Tatsache geschenkt, dassBrentanos Nachlass seit seinem Tod 1917 in Zürich keine konstante Größe war,sondern durch Anreicherung und Verluste immer wieder Veränderungen erfuhr.So war der Nachlass zunächst auf mehrere Standorte verteilt, die nur zum Teil undoft erst nach Jahren zusammengeführt werden konnten. Später, vor allem wäh-rend der aktiven Tätigkeit des Prager Brentano-Archivs, kam es durch Sammlungvon Briefen und durch Schenkungen zu einer beträchtlichen Anreicherung deseigentlichen Nachlasses.²⁹ Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurdendie Bestände des Archivs wiederum zerstreut, einiges verschwand für Jahrzehnteund tauchte erst in der unmittelbaren Gegenwart wieder auf, ein anderer Teil, dersich nur ungefähr rekonstruieren lässt, ging überhaupt verloren. Die historischeDarstellung dieser Ereignisse versetzt uns nun erstmals in die Lage, den Ge-samtbestand dieses Nachlasses einigermaßen zu überblicken; zugleich können

    Diese Spannungen waren zum Teil die Folge von zwei nicht immer verträglichen Zielset-zungen Gios, nämlich einerseits das philosophische Werk seines Vaters so rasch als möglich derÖffentlichkeit zugänglich zu machen und damit für die Zukunft zu sichern, andererseits alles dersogenannten „Privatsphäre“ als zugehörig Erachtete zurückzuhalten. Das betrifft natürlich inerster Linie die Korrespondenz. Die Zurückhaltung der Familie Brentano in diesen Dingen geht aufdie nicht immer erfreulichen Erfahrungen zurück, die sie im Zusammenhang mit dem Nachlassvon Clemens Brentano, dem Onkel des Philosophen, machen musste. Natürlich wäre zwischen den Beständen des Prager Archivs und dem Brentano-Nachlass imengeren Sinn, der ja im Archiv nur deponiert und weiter im Besitz von Gio verblieb, zu unter-scheiden; manche Sammlungen, die ursprünglich Teil des Archivs waren wie beispielsweise dieBriefe Brentanos an Marty oder an Christian von Ehrenfels – erstere waren das Eigentum vonKraus, letztere eine Schenkung der Familie Ehrenfels –,werden jedoch heute als fester Bestandteildes Brentano-Nachlasses betrachtet.

    1.2 Das Problem der mangelnden Zugänglichkeit von Brentanos Werk 11

  • wir zeigen,wie sehr externe Faktoren die Rezeption von BrentanosWerk behinderthaben. Zu diesen externen Faktoren, die auf die eine oder andere Weise die Re-zeption beeinflusst haben, zählen nicht zuletzt auch die unterschiedlichen Motiveder handelnden Personen. Das Ergebnis dieses Teils der vorliegenden Arbeit solltejedenfalls darin bestehen, dass wir eine angemessenere Vorstellung von jenemeindrucksvollen Werk bekommen, das uns Brentano hinterlassen hat. Vielleichtkann dies auch ein wenig dazu beitragen, Brentanos Stellung in der Philoso-phiegeschichte neu zu bestimmen.

    1.3 Kurzer Überblick über den Inhalt der einzelnen Kapitel

    Wie bereits erwähnt besteht die Arbeit aus zwei Teilen, deren einer Brentanoselbst, der andere seinem Nachlass gewidmet ist. Der erste Teil besteht lediglichaus zwei Kapiteln, deren Umfang jedoch eine weitere Untergliederung unum-gänglich machte. Im zweiten Kapitel wird Brentanos Biographie entlang mehroder weniger markanter Einschnitte erzählt. Nach einer kurzen Vorbemerkungzum Stand der biographischen Forschung (Kap. 2.1) folgt eine Darstellung vonBrentanos familiären Hintergrund (Kap. 2.2). Kapitel 2.3 behandelt BrentanosJugend in Aschaffenburg bis zum Abschluss des Lyzeums, Kapitel 2.4 die gesamteDauer seiner philosophischen und theologischen Studien bis zu seiner Habilita-tion an der Universität Würzburg. Das folgende Unterkapitel 2.5 ist BrentanosWürzburger Lehrtätigkeit gewidmet, umfasst aber auch die kurze Zeit zwischenseinem Abgang vonWürzburg 1873 und dem Antritt der Professur in Wien Anfang1874. Mit Brentanos ereignisreichen Wiener Jahren befassen sich zwei Abschnitte:die frühe Wiener Zeit (Kap. 2.6) ist von der späteren (Kap. 2.7) durch die Zäsurseiner Eheschließung und dem damit verbundenen Verlust der Professur ge-trennt. Unterkapitel 2.8 behandelt jene zwei Jahrzehnte seines Lebens, die Bren-tano abwechselnd in Florenz und in seinem Sommerhaus in Schönbühel an derDonau verbrachte. Abschnitt 2.9 ist den letzten Jahren gewidmet, die Brentano inZürich verbrachte, um den Ungewissheiten des Ersten Weltkrieges zu entgehen.Das abschließende Unterkapitel 2.10 schließlich versucht, einige Schlüsse aus derBiographie zu ziehen, um einer Antwort auf die Frage nach möglichen Gründenfür Brentanos publizistische Zurückhaltung näher zu kommen.

    Das dritte Kapitel beschäftigt sich zur Gänze mit der PeS, Brentanos philo-sophischem Hauptwerk. Zunächst wird gezeigt, dass auch die PeS insofern einGelegenheitswerk ist, als sie als unmittelbare Reaktion auf äußere (biographi-sche) Umstände entstanden ist (Kap. 3.1). Der folgende Abschnitt 3.2 geht aus-führlich auf die Tatsache ein, dass die PeS unvollständig geblieben ist, und ver-sucht einerseits die Frage zu klären,wann Brentano das Projekt abgebrochen hat,

    12 1. Einleitung

  • und andererseits, ob sich im Nachlass ausreichend Material findet, das eine in-haltliche Rekonstruktion der fehlenden Teile erlaubt. Das umfangreiche Unter-kapitel 3.3 widmet sich dann der theoretischen Frage, ob es systematische bzw.werkimmanente Gründe waren, die Brentano zum Abbruch der Arbeit am zweitenBand der PeS veranlasst haben. Im Fokus der Diskussion steht dabei BrentanosProjekt einer psychologischen Einheitswissenschaft und sein Versuch, die em-pirische Psychologie mit dem metaphysischen Konzept einer unsterblichen Seelezu versöhnen. Abschnitt 3.4 schließlich unternimmt es, anhand der vorange-gangenen Untersuchungen die Ergebnisse des biographischen Abschnitts umeine theoretische Dimension zu erweitern, sodass auf die Frage nach Brentanospublizistischer Zurückhaltung eine differenziertere Antwort als die der orthodo-xen Schüler gegeben werden kann. Die PeS spielt in diesem Zusammenhang je-denfalls eine ganz zentrale Rolle, da sie das einzige Werk Brentanos geblieben ist,das als Gesamtdarstellung seines philosophischen Denkens zumindest intendiertwar.

    Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit den äußeren historischen Ereig-nissen rund um Brentanos Nachlass sowie mit der Editionsgeschichte im engerenSinn,wobei gezeigt werden soll,wie sich beides mehr oder weniger negativ auf dieRezeption von Brentanos philosophischem Werk ausgewirkt hat. Ausgehend vondem oft zitierten Brief Brentanos vom Jänner 1916, in dem er sich selbst über dieZukunft seiner unveröffentlichten Schriften äußert, behandelt das 4. Kapitel dieGeschichte des Nachlasses bis in die frühen Dreißigerjahre. Am Beginn stehenausführlichere biographische Exkurse zu jenen drei handelnden Figuren, diediese für die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollten: Kraus, Kastil und GioBrentano. Daran anschließend wird versucht, anhand von Verzeichnissen, dieerst vor wenigen Jahren im Nachlass Kastils im Schönbüheler Brentano-Hausentdeckt wurden, zu rekonstruieren, welche Dokumente sich zum Zeitpunkt vonBrentanos Tod in Zürich befanden. Dabei wird deutlich, dass der weitaus größereTeil von Brentanos Nachlass offenbar an seinem früheren Aufenthaltsort in Flo-renz zurückgeblieben war. Dennoch wurde bereits in Zürich unmittelbar nachBrentanos Ableben mit der Transkription der Manuskripte begonnen, also weitfrüher als bisher angenommen. Der restliche Teil des Kapitels verfolgt dann denWeg des Nachlasses von Zürich nach Innsbruck, wo Kastil ein erstes Brentano-Archiv einrichtete, während es Kraus in Prag gelang, den tschechoslowakischenPräsidenten Masaryk, der selbst ein Schüler von Brentano in Wien gewesen war,als Förderer der Brentano-Forschung zu gewinnen.

    Das 5. Kapitel gibt einen Überblick über die Publikationstätigkeit von Krausund Kastil in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren, um dann die Editi-onspolitik und vor allem die editorischen Methoden der Herausgeber einer nä-heren Analyse zu unterziehen. Am Beispiel des von Kraus herausgegebenen

    1.3 Kurzer Überblick über den Inhalt der einzelnen Kapitel 13

  • 3. Bandes der PeS, Vom sinnlichen und noetischen Bewusstsein, sowie Kastils ersterEdition eines großen Kollegs Brentanos unter dem Titel Vom Dasein Gottes solldann gezeigt werden, dass die editorische Vorgangsweise von Kraus und Kastileinerseits höchst problematisch, andererseits aber durchaus unterschiedlich war.

    Das 6. Kapitel befasst sich mit der Geschichte der Prager Brentano-Gesell-schaft und des von ihr betriebenen Brentano-Archivs von der Gründung im Jahr1931 bis zur endgültigen Auflösung 1955, wobei der Schwerpunkt der Darstellungin der Zeit vor 1938 liegt, als Gesellschaft und Archiv voll handlungsfähig waren.Dabei wird der innovative Charakter der Gründung des Archivs hervorgehoben,das möglicherweise auch als Vorbild für die spätere Einrichtung des Husserl-Ar-chivs in Leuven gedient hat. Des Weiteren wird in diesem Abschnitt die nichtimmer ganz konfliktfreie Beziehung Gio Brentanos (der auch nach Übersiedlungdes Nachlasses seines Vaters von Innsbruck nach Prag dessen alleiniger Eigen-tümer blieb) zur Prager Gesellschaft zu behandeln sein, ebenso wie die Aktivi-täten Kastils, der nach seiner Emeritierung 1933 zunächst in Wien und dann inBrentanos ehemaligem Sommerhaus in Schönbühel bei Melk als „Außenstelle“des Prager Archivs fungierte.

    Im 7. Kapitel wird eine bisher kaum bekannte Einrichtung behandelt, nämlichdas „Brentano-Institute“, das im Anschluss an die Flucht von Kraus und dessenMitarbeiter Georg Katkov 1939 nach Großbritannien an der Oxford Universityentstand und mit Unterbrechungen bis Ende der Vierzigerjahre existierte. Dabeiist auch kurz auf die ganz spezielle Rezeption einzugehen, die die PhilosophieBrentanos in Großbritannien und darüber hinaus im englischsprachigen Raumerfuhr, die diese Gründung erst ermöglichte. Auch Brentanos Nachlass selbst warnoch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag von Giovanni Brentano,der seit 1922 in Manchester lebte, nach Großbritannien gebracht worden, wo sichdie Bodleian Library bereit erklärte, ihn als temporary loan zu verwahren. Dassdiese Verwahrung nicht nur den Nachlass sicher über die Kriegsjahre hinweg-brachte, sondern beinahe zum Verlust eines wichtigen Teiles desselben geführthätte, ist eine Erkenntnis allerjüngsten Datums. Abschließend behandelt diesesKapitel die von den widrigen Randbedingungen der Nachkriegsjahre überschat-teten Versuche, die Editionsarbeiten wieder aufzunehmen und die PhilosophieBrentanos erneut ins Bewusstsein der philosophischen Öffentlichkeit zu rücken.Das Kapitel endet mit dem Entschluss Gios (er lehrte seit 1940 an der Northwes-tern University in Evanston), den Nachlass seines Vaters zu sich in die USA zuholen.

    Das 8. Kapitel befasst sich mit der Innsbrucker PhilosophieprofessorinFranziska Mayer-Hillebrand, die von dem 1950 verstorbenen Kastil nicht nur dieHerausgeber-Agenden übernommen hatte, sondern auch dessen Editionsprinzi-pien. Diese Prinzipien sollen durch die Auseinandersetzung Mayer-Hillebrands

    14 1. Einleitung

  • mit Jan Srednicki (ein australischer Philosoph, der wohl als erster auf derenproblematischen Charakter hinwies) erläutert und anhand ihrer Edition vonBrentanos Logik-Kolleg, das 1956 unter dem Titel Die Lehre vom richtigen Urteilerschien und einen paradigmatischen Anwendungsfall dieser Methoden darstellt,veranschaulicht werden. Kurz zur Sprache kommenwird hier auch das Mysteriumdes Briefwechsels zwischen Brentano und Sigmund Freud, das durch Mayer-Hillebrands Bericht über die von ihr 1951 durchgeführte Katalogisierung desNachlasses entstanden ist und bis heute keine befriedigende Auflösung gefundenhat.

    Das 9. Kapitel ist dem amerikanischen Philosophen Roderick M. Chisholmgewidmet, der seit den späten Fünfzigerjahren Mayer-Hillebrand zunehmend alsphilosophischer Berater Gio Brentanos ablöste. Chisholms Leistungen als Her-ausgeber waren zwar kaum eigenständiger als die seiner Vorgängerin, als Inter-pret von Brentanos Philosophie jedoch ist er als einer der bedeutendsten eng-lischsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts von herausragenderBedeutung, da es ihm gelang, der Philosophie Brentanos nicht nur in den USAwieder Gehör zu verschaffen. Eingegangen wird auch auf Chisholms Beziehungenzu Graz und zu Rudolf Haller, die schließlich dazu führten, dass sich Brentanoswissenschaftliche Handbibliothek und große Teile der Bestände des PragerBrentano-Archivs heute im Grazer Franz Brentano-Archiv befinden. Die Bemü-hungen von Gio Brentano, für den endgültigen Verbleib der Manuskripte undKorrespondenzen seines Vaters eine geeignete Einrichtung zu finden sowie durchdie Gründung einer eigenen Stiftung einen institutionellen Rahmen für einenachhaltige Förderung der Brentano-Forschung zu schaffen, sindweitere Themendieses Abschnittes.

    Das abschließende 10. Kapitel geht kurz auf einige aktuelle, den NachlassBrentanos unmittelbar betreffende Ereignisse ein und gibt im Anschluss daraneinen Überblick über die verschiedenen Standorte, auf die er heute verteilt ist. AmEnde der vorliegenden Arbeit wird versucht, den gegenwärtigen Stand der wis-senschaftlichen Aufarbeitung von Brentanos Nachlass zusammenzufassen unddie wichtigsten Desiderata zu benennen – wobei eine textkritische Gesamtaus-gabe wohl unbestritten an erster Stelle zu nennen wäre.

    1.4 Die Quellen

    Die Erkenntnisgewinne der vorliegenden Arbeit beruhen nicht zuletzt auf derAuswertung zahlreicher unpublizierter Quellen,von denen viele erst in allerletzterZeit durch aufwendige Recherchearbeiten zugänglich gemacht werden konnten.Auf die Quellen, auf denen der erste Teil der Arbeit beruht, braucht hier nicht

    1.4 Die Quellen 15

  • eingegangen zu werden, da sie in den einzelnen Abschnitten explizit aufgelistetbzw. –wie im Falle der PeS – selbst thematisiert werden. Es wird hier also in ersterLinie ein Überblick über die Quellen gegeben, die für die Geschichte von Bren-tanos philosophischem Nachlass herangezogen wurden.

    Abgesehen von einem von Kraus verfassten frühen und schwer zugänglichenBericht über die Prager Brentano-Gesellschaft³⁰ kamen als Quellen für die Ge-schichte des Brentano-Nachlasses bisher vor allem zwei Publikationen vonMayer-Hillebrand³¹ sowie ein kurzer Bericht von Gio Brentano³² in Frage. DieseDarstellungenweisen jedoch viele Lücken und Ungenauigkeiten auf, und auch diejüngste davon liegt mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert zurück. Die Ge-schichte des Nachlasses neuerlich in Angriff zu nehmen rechtfertigt sich nichtzuletzt dadurch, dass sich seit der Jahrtausendwende die Quellenlage stark ver-bessert hat, was eine ganze Reihe von neuen Einsichten ermöglichte. Verant-wortlich für diese erfreuliche Entwicklung ist zum einen die Digitalisierung vonBrentanos wissenschaftlichem Nachlass an der Houghton Library, wodurch dieZugänglichkeit zu den Dokumenten stark verbessert werden konnte, zum anderendie Entdeckung von zahlreichen bisher völlig unbekannten Materialien etwa inBrentanos ehemaligem Sommerhaus im niederösterreichischen Schönbühel oderim Archiv des Oriel College der Oxford University. Auf die Details hierzu ist na-türlichweiter unten im Rahmen der Geschichte des Nachlasses selbst einzugehen;hier soll nur ein kurzer Überblick über die Quellen gegebenwerden, die für unsereDarstellung herangezogen wurden. Das Material lässt sich grob in vier Gruppenunterteilen: 1) Verzeichnisse; 2) Korrespondenzen; 3) bisher unveröffentlichteTexte, die sich direkt auf Brentano und seinen Nachlass beziehen; und 4) sonstigeTextdokumente, die relevante Informationen enthalten. Eine detaillierte Auflis-tung der Quellendokumente und ihrer Provenienz bzw. ihres aktuellen Standorteswird unten im Anhang gegeben.³³

    Ad 1) Wie oben bereits erwähnt, gibt es bis heute kein Verzeichnis, das dengesamten, auf mehrere Standorte verteilten Nachlass Brentanos erfasst. Ambesten dokumentiert ist erfreulicherweise der umfangreichste und bedeutendsteTeil des Nachlasses, der an der Houghton Library (Cambridge, MA) als permanentloan der Franz Brentano Foundation aufbewahrt wird. Sowohl für die wissen-schaftlichen Werkmanuskripte als auch für die wissenschaftliche Korrespondenzim Archiv der Houghton gibt es jeweils Verzeichnisse, die die Dokumente weit-gehend einzeln erfassen. Das Verzeichnis der Werkmanuskripte wurde von Mayer-

    Vgl. Kraus 1937b. Vgl. Mayer-Hillebrand 1952 und 1963b. Vgl. J.C.M. Brentano 1966. Vgl. unten Anh. 4, 344–347.

    16 1. Einleitung

  • Hillebrand 1951 bei einem längeren Aufenthalt in den USA hergestellt,³⁴ dasBriefverzeichnis von einem namentlich nicht bekanntenMitarbeiter der HoughtonLibrary vermutlich Ende der Sechzigerjahre. Es haben sich jedoch inzwischenweitere, bisher unbekannte Verzeichnisse gefunden, die teilweise wesentlichfrüher entstanden sind. Das älteste davon bezieht sich auf Kraus’ Privatarchiv undwurde noch vor dem Tod Brentanos 1917 verfasst. Da diese Sammlung nicht nurdie Briefe Brentanos an Kraus und den Nachlass Martys enthielt, sondern aucheinzelne Werkmanuskripte von Brentano selbst, ist es für unsere Darstellung re-levant. Kurz nach Brentanos Ableben begaben sich Kraus und Kastil nach Zürich,um eine erste Liste der dort befindlichen Dokumente (vor allem Diktate aus denletzten Lebensjahren) herzustellen, die ebenfalls erhalten geblieben ist. Dienächsten schon wesentlich systematischeren Versuche einer Katalogisierungwurden dann von Alfred Kastil im Innsbrucker Brentano-Archiv unternommen.Auch dieses Verzeichnis, auf dem der Katalog von Mayer-Hillebrand aufbaut, liegtuns – wenn auch vermutlich unvollständig – vor. Anfang der Dreißigerjahrewurden die in Innsbruck befindlichen Dokumente aus dem Nachlass Brentanossukzessive in das Archiv der Prager Brentano-Gesellschaft übertragen, wo vonKraus und seinem Assistenten Georg Katkov neuerlich ein Katalog der Archiv-Bestände hergestellt wurde.Von diesem Verzeichnis hat sich allerdings nur jenerTeil erhalten, in dem die Werkmanuskripte verzeichnet sind; ein genaues Ver-zeichnis der im Prager Archiv aufbewahrten Briefe konnte (sofern ein solchesjemals existiert hat) leider bis heute nicht gefunden werden. Aus anderen Quellenwissen wir jedoch, dass sich in Prag nur der kleinere Teil der KorrespondenzenBrentanos befand, der größere Rest dagegen in Brentanos ehemaligem Sommer-haus in Schönbühel bei Melk: Davon hat ein „Verzeichnis der in Schönbühelbefindlichen Briefe an und von Franz Brentano“ überlebt. Soweit ein kurzerÜberblick über die detaillierteren historischen Listen und Verzeichnisse, diedieser Arbeit zugrunde liegen. Dazu kommen noch einige kürzere Berichte, diehinsichtlich des Zustandes von wichtigen Teilen des Nachlasses zu bestimmtenZeitpunkten sehr informativ sind, etwa eine Beschreibung der in Oxford befind-lichen Dokumente durch Katkov, die vermutlich 1948 entstand, und ein Berichtvon Mayer-Hillebrand über Schönbühel, den sie nach dem Tode Kastils 1950 fürGio Brentano verfasste. Darüber hinaus war es dem Verfasser der vorliegendenDarstellung möglich, Verzeichnisse weiterer Teile des Nachlasses selbst herzu-stellen, nämlich das eines an der Houghton Library aufbewahrten, bis 1990 ge-sperrten Konvoluts von Briefen und Werkmanuskripten Brentanos; des inSchönbühel befindlichen Nachlasses Kastils, der einen Kryptonachlass Brentanosenthält; der Brentano-Sammlung des Brentano-Archivs in Graz; und schließlich

    Zu Mayer-Hillebrands Katalog vgl. unten, 248 f. und 296 f.

    1.4 Die Quellen 17

  • ein provisorisches Verzeichnis des Archivs der Familie Brentano im Schweizeri-schen Blonay.

    Ad 2)Wichtiger noch als die verschiedenen Verzeichnisse des Nachlasses sindfür die Darstelllung seiner Geschichte die Korrespondenzen der involviertenPersonen, wobei sich auch hier die ersten relevanten Quellen schon vor 1917finden, etwa jener ominöse Brief Brentanos (der eigentlich eine Postkarte ist), indem er 1916 eine (leider verlorengegangene) Anfrage von Kraus beantwortet,welche Wünsche er in Bezug auf die Bearbeitung seines Nachlasses habe; dieseimmer wieder zitierte Antwort diente den Herausgebern des Nachlasses später alsRechtfertigung ihrer freizügigen Editionsmethoden. Eine der Absichten dieserUntersuchung, nämlich Gio Brentanos prominente Rolle in der Geschichte desNachlasses seines Vaters entsprechend zu würdigen, wird nicht zuletzt durch dieQuellenlage nahegelegt: Zum einen decken die relevanten Briefwechsel Gios denentscheidenden Zeitraum von 1917 bis kurz vor seinen Tod 1969 ab, und ande-rerseits zählen zu seinen Korrespondenzpartnern fast alle, die in unserem Zu-sammenhang wichtige Rollen spielten, von Kraus und Kastil über Katkov bis hinzu Mayer-Hillebrand und Chisholm. Besonders wichtig sind natürlich auch dieBriefe jener beider Enkelschüler Brentanos, die die Nachlassedition über vieleJahre vorangetrieben haben: Im Falle von Kraus wären besonders hervorzuhebender Briefwechsel mit Thomas G. Masaryk, der als tschechoslowakischer Präsidentdie Gründung des Prager Brentano-Archivs finanziell ermöglichte, und der mitGeorg Katkov,welcher entscheidend dazu beigetragen hat, dass jene Bestände desPrager Archivs, die nach Großbritannien gebracht werden konnten, den ZweitenWeltkrieg unbeschadet überstanden. Weitgehend verloren gegangen scheinenleider die Briefe zu sein, die Kraus und Gio ausgetauscht haben. Auch im FalleKastils ist Katkov ein wichtiger Briefpartner, da er nach dem Ableben von Kraus1942 als einziger über das weitere Schicksal des Nachlasses an der UniversitätOxford berichten konnte.Weitere wichtige Briefe hat Kastil mit „Sissi“ bzw. SophieBrentano,Gios Cousine, die nach dem Tode ihres Vaters Lujo Brentano in Prien amChiemsee das Familienerbe der Aschaffenburger Brentanos verwaltete, und mitRush Rhees ausgetauscht; letztere sind besonders interessant, dürfte doch kaumbekannt sein, dass der mit Ludwig Wittgenstein befreundete Rhees, der späterauch zu dessen Nachlassverwaltern und Herausgebern zählte, in Innsbruck undWien Kastils Schüler war. Sehr bedauerlich für den Historiker ist auch, dass bisauf wenige Ausnahmen alle Briefe aus dem Briefwechsel zwischen Kastil undKraus selbst verloren gegangen sind, werden sich die beiden doch, der eine inInnsbruck, der andere in Prag lehrend, höchstwahrscheinlich nicht nur über in-haltliche Fragen der Brentano-Interpretation, sondern auch über alles Organisa-torische im Zusammenhang mit der Verwaltung und Edition des Nachlassesausgetauscht haben. Darüber hinaus gibt es natürlich noch weitere kleine Kor-

    18 1. Einleitung

  • respondenzen von Bedeutung, etwa die zwischen Kastil und Ernst Otto, der nach1939 die Geschäfte der Prager Brentano-Gesellschaft weiterführte.

    Ad 3) Von den unveröffentlichten Texten, die sich mit Brentano und seinemNachlass befassen, seien hier als besonders informativ nur die Denkschrift vonEberhard Rogge („Denkschrift über die bisherige Entwicklung und über dieNeuordnung der Brentano-Gesellschaft und des Brentano-Archivs“) und Katkovs„The Study,Understanding and Putting to Use of the Philosophical Inheritance ofFranz Brentano“ erwähnt;³⁵ die eine, 1939 entstanden, war an die neuen deut-schen Herrscher in Prag adressiert und versuchte Brentano als „artgemäßen“Philosophen zu stilisieren; der andere Text sollte anlässlich einer USA-ReiseKatkovs das Interesse amerikanischer Philosophen für Brentano wecken. CarlStumpfs „Zu Brentanos Briefen an mich“ war zwar nur als Einleitung einer (nichtzustande gekommenen) Briefedition gedacht, verdient aber auch darüber hinausInteresse.³⁶ Weitere Texte sind im Anhang aufgelistet.

    Ad 4) Unter die Kategorie „sonstige Dokumente“ fallen Akten (z.B. die in-ternen Akten der Bodleian Library zum Brentano Institute), Satzungen (Brentano-Gesellschaft, Franz Brentano Foundation) und Berichte (Jahresberichte derBrentano Gesellschaft 1933– 1936, Berichte an die Trustees der Franz BrentanoFoundation).

    Beide Texte sind vollständig in Anhang 7 abgedruckt (vgl. unten, 446–462; 462–467). Dieser Text liegt mittlerweile als Publikation vor (vgl. Stumpf 2014, 445–451).

    1.4 Die Quellen 19

  • Teil I Franz Brentano (1838–1917)

  • Franz Brentano 1898, Florenz

  • 2. Franz Brentanos Leben

    „Einer eifrig katholischen Familie entstammt, wurde ich dazu geführt, mich dem Priester-stande zu widmen, habe mich aber später von der Kirche getrennt. Nur der Wunsch, denerhabensten Interessen zu dienen, hatte mich bei meiner Berufswahl geleitet. Der spätereWandel meiner Überzeugungen ließ mich aber erkennen, daß der eingeschlagene Weg un-möglich zu seinem Ziele führen konnte.“¹

    „Alle die Brentanos sind höchst unnatürliche Naturen.“²

    Aufgabe dieses Kapitels ist es, sowohl Brentanos äußere als auch einige Aspekteseiner intellektuellen Biographie zu erzählen, wobei sowohl die Ergebnisse derneueren Forschung sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente – inerster Linie Briefe – berücksichtigt werden, was im Vergleich zu den bisherigendiesbezüglichen Versuchen eine etwas größere Tiefenschärfe ermöglicht. Daszentrale Thema dieses Abschnittes ist die Frage, inwieweit biographische Rand-bedingungen und spezifische Eigenschaften von Brentanos Persönlichkeit zuseiner publizistische Zurückhaltung beigetragen haben. Zugleich verbindet derVerf. damit die Hoffnung, zumindest einige der zahlreichen falschen oder unge-nauen Angaben zu Brentanos Leben, die noch immer hartnäckig fortgeschriebenwerden, zu korrigieren.

    2.1. Zum Stand der biographischen Forschung

    Genauso wenig wie es eine zufriedenstellende Werkedition gibt, gibt es eineBiographie Franz Brentanos, die seiner komplexen Persönlichkeit und ihrer phi-losophischen und historischen Bedeutung in irgendeiner Weise gerecht werdenkönnte. Das liegt zunächst einmal daran, dass es von Brentano selbst nur sehrwenige autobiographische Äußerungen gibt. Dem Verf. bekannt sind das Vorwortzum Leben Jesu,³ ein Curriculum Vitae,⁴ das Brentano anlässlich seiner Aufnahme

    Brentano 1922, XV. Caroline Schlegel an Luise Wiedemann, Februar 1809.Wieneke 1914, 259. Vgl. Brentano 1922, XV–XVIII. Im Nachlass findet sich dazu unter der Signatur R 38, 201.027eine etwas abweichende Variante, die bei Tiefensee (Tiefensee 1998, 59) abgedruckt ist. – AusBrentanos Nachlass wird durch Angabe der Signatur eines Manuskriptes (R 38) und der auf jedeManuskriptseite aufgestempelte eindeutige, meist sechsstellige Archivnummer (201.027) zitiert.Wie oben bereits erwähnt befinden sich Brentanos wissenschaftliche Manuskripte sowie seinewissenschaftliche Korrespondenz im Gewahrsam der Houghton Library, welche Teil der HarvardCollege Library ist. Abgedruckt in Höfler 1917b, 506f.

    https://doi.org/10.1515/9783110595925-003

  • in die Wiener Akademie der Wissenschaften verfasst hat, und einige längerePassagen aus den Briefen an Herman Schell.⁵ Darüber hinaus gibt es Tagebuch-aufzeichnungen zu den Jahren 1878 und 1879, die sich allerdings im Familienar-chiv der Brentanos in Blonay befinden und gegenwärtig nicht zugänglich sind.⁶Die meisten biographisch relevanten Publikationen von fremder Hand sind in derForm von Nachrufen unmittelbar nach Brentanos Tod 1917 erschienen. Diesehaben zwar den Vorzug, dass die Autoren Brentano meist persönlich mehr oderweniger gut gekannt haben und so ihre lebendigen Erinnerungen in ihre Dar-stellungen einfließen lassen konnten; andererseits sind sie aber oft auf eben jenepersönlichen Begegnungen beschränkt und ansonsten nur wenig aussagekräftig.⁷So konnte schon Kastil 1951 am Beginn seiner Darstellung von Brentanos Philo-

    Schell (1850– 1906) war ein Schüler Brentanos in Würzburg und dissertierte bei ihm mit derArbeit Die Einheit des Seelenlebens aus den Prinzipien der Aristotelischen Philosophie entwickelt.Der Briefwechsel Brentanos mit dem Reformkatholiken Schell ist nicht nur von großer biogra-phischer Bedeutung, sondern gibt auch wertvollen Aufschluss über Brentanos spätere Beziehungzur katholischen Kirche. Auszüge aus dem Briefwechsel Brentano-Schell wurden von Josef Ha-senfuß veröffentlicht (vgl. Hasenfuß 1978, 43–46, 76–78). Eine davon abweichende Zusam-menstellung von Briefen aus dieser Korrespondenz war schon zuvor von EduardWinter publiziertworden (vgl.Winter 1941). Im Nachlass von Brentanos Schüler und engstem Freund Anton Marty (1847– 1914) findet sichunter der Signatur PB 8 eine umfangreiche „Selbstbiographie“ Martys, die sich an vielen Stellenmit der Biographie Brentanos überschneidet und daher auch einige aufschlussreiche Informa-tionen zu dessen Leben enthält. – Der größte Teil des Nachlasses von Anton Marty befindet sichim Franz Brentano-Archiv Graz [FBAG]. So ist nach wie vor der von Kraus herausgegebene Band Franz Brentano. Zur Kenntnis seinesLebens und seiner Lehre (Kraus 1919a), in dem neben dem von Kraus selbst verfassten auchBeiträge von Carl Stumpf und Edmund Husserl enthalten sind, der biographische Klassiker, aufden auch heute noch regelmäßig zurückgegriffen wird. Weiters sei hier noch auf ein dem An-denken Brentanos gewidmetes Sonderheft derMonatshefte für pädagogische Reform hingewiesen,das neben einem Beitrag von Michael Pidoll (Pidoll 1918) auch Jugenderinnerungen von Bren-tanos jüngerer Schwester Claudine (C. Brentano 1918) bringt. Erwähnenswert sind weiters auchnoch die Nachrufe von Alois Höfler (Höfler 1917a, 1917b), Max Foges (Foges 1917), Hermine Cloeter(Cloeter 1917) und Dora Stockert-Meynert (Stockert-Meynert 1926); eine ausführlichere Zusam-menstellung der Nachrufe findet sich in dem oben erwähnten Band von Kraus. Bedauerlicher-weise sind die Informationen, die diese Nachrufe zu Brentanos Leben bieten, oft wirklich nur„persönliche Erinnerungen“ und halten einer historischen Überprüfung nicht stand; so behauptetetwa Stockert-Meynert, Brentano sei Angehöriger des Jesuitenordens gewesen, was schon inBrentanos letzten Würzburger Jahren nur eine böswillige Verleumdung war. Biographisch rele-vant sind auch noch Marty 1916 sowie die Beiträge, die Stumpf (Stumpf 1922) und Kraus (Kraus1926) für biographische Lexika verfasst haben. Aus neuerer Zeit sei auch noch auf die „Erinne-rungen“ von Emil Utitz, einem der zahlreichen Prager „Enkelschüler“ Brentanos, hingewiesen(Utitz 1954). Von ganz eminenter biographischer Bedeutung ist schließlich noch die aus demNachlass veröffentlichte Korrespondenz Brentanos mit Stumpf (Brentano 1989; Brentano/Stumpf2014) sowie der bereits erwähnte Briefwechsel Brentanos mit Hermann Schell (vgl. oben, Fn. 5).

    24 2. Franz Brentanos Leben

  • sophie schreiben: „An einer ihres Gegenstandes würdigen Biographie FranzBrentanos fehlt es“⁸. Wilhelm Baumgartner und Franz Peter Burkard beginnenvier Jahrzehnte später ihre biographische Skizze „Franz Brentano. Eine Skizzeseines Lebens und seiner Werke“ mit eben jenem Kastil-Zitat, um sogleich fest-zustellen, dass sich an dieser Lage seither wenig geändert habe.⁹,¹⁰ Auch seitherhat sich in dieser Hinsicht wenig Nennenswertes ereignet: So verzichtet etwa der2004 von Dale Jacquette herausgegebene Cambridge Companion to Brentano

    Kastil 1951, 9.Weiter heißt es an dieser Stelle: „Die Aufgabe harrt der nicht eben wahrschein-lichen Verbindung von vollem Verständnis für seine wissenschaftliche Größe mit hohemschriftstellerischen Können. In mir vermochten die vielen Jahre seit unserem letzten Zusam-mentreffen das Bild seiner überwältigenden Persönlichkeit nicht zu verwischen, aber in denen,die ihn nicht erlebten, kann ich sie nicht anschaulichmachen: diese Einheit von Kraft und Grazie,von immanentem Priestertum und aristokratischer Weltläufigkeit, von tiefem Ernst, verantwor-tungsbewußtem Forscher mit spielerischer Leichtigkeit in anmutigen Künsten, von unbestechli-cher Gerechtigkeit und verzeihender Milde, von Selbstbewußtsein des Genies und demütigemZurücktreten hinter die Größeren, von Unerbittlichkeit gegen angemaßte Autorität und hilfsbe-reitem Verstehen für die Schwäche der kleinen im Geiste, die guten Willens sind.Was vollends indiesen engen Rahmen sich fügte, wäre nur ein Schattenriß, der Schatten eines Schattenrisses.“Ebda., 9 f. Kastil gibt in der Einleitung zu seiner systematisierenden Darstellung der PhilosophieBrentanos, der dieses Zitat entstammt, auch einen biographischen Abriss, der wiederumvor allemdurch die persönlichen Erinnerungen interessant ist, sich aber sonst wie schon im angeführtenZitat eher der Verklärung der Persönlichkeit Brentanos widmet, und darüber hinaus das vielleichtbedeutsamste Ereignis in Brentanos Leben völlig ausspart. Vgl. Baumgartner/Burkard (1990), 19–36. Bedauerlicherweise können die Autoren mit ihrereigenen Darstellung diese Situation nicht grundlegend verbessern, obwohl ihnen die noch immerprägnanteste Zusammenfassung gelungen ist. Störend an dieser biographischen Skizze ist unteranderem der überaus sparsame Einsatz von Datierungen, durch den Vorkommnisse im LebenBrentanos, die durch viele Jahre getrennt sind, unmittelbar nebeneinander gestellt werden, unddie Erwähnung von Ereignissen, zu denen jede Quellenangabe fehlt. So ist Brentanos angeblicherPlan, in Florenz eine Art Privatuniversität zu betreiben (a.a.O., 35), in keiner dem Verf. bekanntenQuelle belegt. Es gibt allerdings eine erwähnenswerte Ausnahme. Mayer-Hillebrand begann 1961 unterVerwendung der Familienbriefe, die ihr von Gio Brentano zur Verfügunggestellt wordenwaren, aneiner Biographie Brentanos zu arbeiten.Von dieser Biographie mit dem Titel Franz Brentano. EinLebensbild sind immerhin drei Kapitel, die den Zeitraum von Brentanos Studienzeit über dieWürzburger Jahre bis zu seiner Eheschließung im Jahr 1880 abdecken, fertig gestellt worden,bevor Gio das Projekt beendete. Auf diese Biographie wird hier ausführlich zurückgegriffen, da sieumfangreiche Briefzitate enthält, die nirgends sonst zugänglich sind (in der Folge zitiert als Le-bensbild; da das Typoskript nicht durchgehend, sondern nur kapitelweise paginiert ist, wirdzuerst die Kapitelnummer, dann die Seitenzahl angegeben). Ein Exemplar des Typoskriptes be-findet sich im Nachlass Mayer-Hillebrands am FBAG.

    2.1. Zum Stand der biographischen Forschung 25

  • gleich ganz auf eine Biographie und begnügt sich statt dessen mit einer dreisei-tigen Zeittafel.¹¹

    Die Ursachen für diese bedauerliche Situation liegen weniger in den vonKastil angeführten Anforderungen, da ein zeitgenössischer Biograph ja nicht mitjenem Idealbild belastet ist und ein solches auch nicht anstreben wird; er peilt jaeher im Gegenteil eine historisch möglichst genaue und daher realistische Dar-stellung an. Schwerer wiegen natürlich die philosophischen Voraussetzungen, dieder Biograph mitbringen sollte, damit er in der Lage ist, zumindest in grobenZügen die Entwicklung von Brentanos philosophischen Theorien darstellen zukönnen. Diese Aufgabe ist alles andere als einfach, denn diese Entwicklung wareben nicht nur ein „langsames Ausreifen“, wie von Kastil behauptet, sondernauch von Bruchstellen gekennzeichnet, die es vielleicht sogar als sinnvoll er-scheinen lassen, von unterschiedlichen Phasen in Brentanos Denken zu spre-chen¹² – auf diese Problematik soll weiter unten im nächsten Kapitel noch ge-nauer eingegangenwerden. Die spezifischen Probleme einer Brentano-Biographiesind jedoch auch in diesem Lebenslauf selbst zu suchen. Brentano wuchs in ei-nem streng katholischen Milieu Süddeutschlands auf, in dem er über die Nie-derlegung seiner Würzburger Professur hinaus bis 1874 lebte. Die beiden wir-kungsmächtigsten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Wien, um sich dannnach dem Tod seiner ersten Frau ab 1896 in Florenz niederzulassen und italie-nischer Staatsbürger zu werden. 1915 schließlich verließ er von den politischenEntwicklungen abgestoßen Italien und verbrachte seine letzten Lebensjahre inder Schweiz. Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit dieser Milieus stellt für einenBiographen natürlich eine beträchtliche Herausforderung dar, ist doch die kul-turelle Entfernung der katholische Szene in Bayern vom großbürgerlichen, starkvon jüdischen Intellektuellen geprägten Wien gewiss größer als die bloße geo-graphische Distanz (obwohl Brentano auch in Wien dem Einfluss der katholi-schen Kirche nicht zu entkommen vermochte). Und wiederum war das Umfeld inPalermo und Florenz und schließlich in Zürich ein ganz anderes. Von den bis-herigen Biographen vermochte diesen Anforderungen keiner zu entsprechen. Sobleiben etwa die „geistlichen“ Freunde der Familie Brentano, also die Mitgliederjener katholischen Kreise, in denen Brentanos Eltern Christian und Emilie ver-

    Vgl. Jacquette 2004a, xx–xxii. Auf zwei biographisch relevante Publikationen aus neuesterZeit wäre noch hinzuweisen, nämlich auf einen kurzen biographischen Abriss im RoutledgeHandbook of Franz Brentano (Binder 2017) und auf die Briefe Brentanos an seine Tante Gunda vonSavigny aus den Jahren 1859 bis 1861, die in Band XV/1 der Brentano-Studien publiziert wurden(Brentano 2017). Für einzelne thematische Bereiche gibt es solche Untersuchungen bereits, nicht jedoch für dieGesamtheit von Brentanos Philosophie. Für die Ontologie siehe etwa Chrudzimski 2012, für dieReligionsphilosophie Tiefensee 1998.

    26 2. Franz Brentanos Leben

  • kehrten, seltsam im Dunkeln: Es werden kaum Lebensdaten genannt, höchstensdie eine oder andere Wirkungsstätte oder Funktion. Als Beispiel sei hier der inMayer-Hillebrands biographischem Fragment als Korrespondenzpartner EmilieBrentanos angeführte Abt van der Meulen genannt, dem Emilie immerhin dieintimsten Details aus den Briefen ihres Sohnes Franz mitteilte; es ist leicht vor-stellbar, dass dieser Abt mit seinen Gegenbriefen Emilie beeinflusst und somitauch das Schicksal Brentanosmitbestimmt hat. Forschtman etwas näher nach, soentsteht das nicht uninteressante Bild des August van der Meulen (1804– 1884),eines französischen Zisterziensers der strengeren Observanz, der schon inFrankfurt Hauslehrer der Brentanos gewesen war und beim Tod von ClemensBrentano im Juli 1842 in Aschaffenburg persönlich anwesend war. Unter anderemwar van der Meulen auch Teilnehmer des Ersten Vatikanischen Konzils, das imLeben Brentanos eine so entscheidende Rolle spielen sollte, und dort einer dereifrigsten Vertreter der Infallibilisten. Die Beispiele ließen sich beliebig vermeh-ren. Hier hat eine weiter in die Tiefe vordringende historische Forschungsarbeit,die sich etwa auch die Würzburger und Wiener Zeitungen und Zeitschriften vor-zunehmen hätte, noch gar nicht begonnen.¹³

    Ein anderes Hindernis, das einer Biographie zwar nicht im Weg steht, aberihre Ergebnisse doch relativiert, lässt sich auch durch bloßen Forscherfleiß nichtaus der Welt schaffen. Dieses Hindernis besteht schlicht darin, dass ein be-trächtlicher Teil der für diese Forschungen unverzichtbaren Dokumente gar nichtbzw. nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Es gibt gewisse Hoffnungen, dass sichdieser Umstand eines Tages ändern könnte, aber auch der gänzliche Verlust derMaterialien ist nicht auszuschließen. Was dazu zu sagen ist, sollte aus der Dar-

    Für detailliertere historische Darstellungen gibt es einige wenige erwähnenswerte Ausnah-men, die sich allerdings nur auf jeweils einen Lebensabschnitt Brentanos beschränken. So ist dieUntersuchung von Theobald Freudenberger über Brentano als Verfasser des für den MainzerBischof Ketteler bestimmten Gutachtens über die päpstliche Infallibilität für die WürzburgerUniversitätsjahre von unschätzbarem Wert (vgl. Freudenberger 1969, 133–224); weiters wäre hierDieter Münchs Abhandlung über die katholische Aristoteles-Rezeption anzuführen, in der diebedeutende Rolle, die Brentano im Rahmen der katholischen Wissenschaft zugedacht war,greifbar wird (vgl. Münch 2004a); und für Brentanos italienische Jahre sei schließlich auf LilianaAlbertazzi verwiesen (vgl. Albertazzi 2006, 27–39; diese Darstellung ist allerdings in den Detailsnicht immer zuverlässig). Für die Wiener Jahre fehlt Vergleichbares. Erst vor kurzem ist in denBrentano Studien eine umfangreiche Materialsammlung zu Brentanos Studienjahren erschienen,die der Verf. allerdings nicht mehr berücksichtigen konnte (vgl. Baumgartner/Baumgartner/Hedwig 2017). – Durch die in letzter Zeit begonnenen Aktivitäten zur Digitalisierung alter Zeit-schriftenbestände wird es zunehmend möglich, Tageszeitungen und Journale auch aus dem19. Jahrhundert auszuwerten. Als Beispiel hierfür sei das Projekt anno (Austrian NewspapersOnline) der österreichischen Nationalbibliothek angeführt, das der Verf. ausführlich benutzt hat.

    2.1. Zum Stand der biographischen Forschung 27

  • stellung der Geschichte von Brentanos Nachlass im zweiten Teil dieser Arbeit mitgenügender Klarheit ersichtlich werden.¹⁴

    Auch die hier anschließende Biographie kann die oben angedeuteten An-sprüche in keiner Weise einlösen. Sie versucht lediglich, das bisher Bekanntezusammenzufassen, historisch exakter zu verorten, einige Details zu korrigieren,die bis in die jüngste Zeit immer wieder falsch dargestellt werden,¹⁵ und das eineoder andere bisher Unbekannte oder nicht Erwähnte zu ergänzen. Auch soll derVersuch gemacht werden, den politisch-historischen Hintergrund mit einzube-ziehen, ohne den viele Motive der Handelnden unverständlich bleiben – womithier freilich nur ein Anfang gemacht ist. Vor allem aber soll die Biographie ver-ständlich machen, dass Brentanos Lebensumstände mehr als es sonst bei einemGelehrten üblich ist, seine wissenschaftliche Arbeit erschwert haben.

    2.2 Die Aschaffenburger Brentanos

    Schreibt man über das Leben eines Mitglieds der Familie Brentano, so ist es kaumzu vermeiden, zumindest ein paar Worte über die weit zurückreichende Ge-schichte der Brentanos vorauszuschicken. Der Name Brentano lässt sich bis insMittelalter zurückverfolgen, bis auf einen gewissen Johannes de Brenta, der 1282erstmals urkundlich erwähnt wird.¹⁶ „Die Familie Brentano stammt aus demMailändischen. Während Jahrhunderten haben ihre Angehörigen unter Habs-burgischer Herrschaft gestanden. Es werden elf Stämme Brentano unterschie-den.“¹⁷ Einer dieser Stämme, die Brentano-Cimaroli, lieferte der österreichischen

    Vgl. z.B. unten, 319–323. Ein schönes Beispiel hierfür liefert Albertazzi 2006, wo sich auf S. 39 unkorrekte Angabengeradezu häufen. Unter anderem behauptet sie dort, Brentanos Nachlass sei im März 1939 mitdem letzten Flugzeug aus Prag nach Großbritannien ausgeflogen worden, wohin Gio Brentanowegen seiner jüdischen Abstammung mütterlicherseits emigriert sei: beides ist, wie wir nochsehen werden, unzutreffend. Auch der kurze biographische Beitrag von Heller aus allerjüngsterZeit (Heller 2015) enthält einige unrichtige Informationen. Zur Familiengeschichte der Brentanos, die zu Recht eine „europäische Familie“ genanntwerden kann, vgl. etwa P. A. Brentano 1940, Feilchenfeldt/Zagari 1992, Günzel 1993 oder zuletztHeidenreich et. al. 2016 als Beispiele aus einer kaum zu überblickenden Literatur. L. Brentano 1931, 3. In späteren Jahren befasste Brentano sich auch selbst mit der Familien-geschichte: „Nicht ohne ein gewisses Interesse habe ich zum ersten Mal von der Vorgeschichtemeines Geschlechtes Kenntnis genommen, die tatsächlich bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht.Anstatt der blutigen Fehden und Schlachten (in einem Jahr sind 7 Brentanos auf verschiedenenSchlachtfeldern gefallen und einer war unter den ersten, die den Kahlenberg stürmten) habe ichgeistige zu führen. Der erste Brentano (Theobaldo da Brenta) der aus Welschtyrol die Familie insMailändische verpflanzte, tat es von einem Ezzelino da Romano vertrieben. Ist das nicht wie ein

    28 2. Franz Brentanos Leben

  • Armee zahlreiche Soldaten, während sich die Mitglieder des Stammes der Bren-tano-Riati als Kaufleute auszeichneten.

    Zu den Brentano-Riati gehörte auch der noch in Tremezzo am Comersee ge-borene Peter Anton Brentano (1735– 1797), einer der bedeutendsten FrankfurterHandelsherren seiner Zeit,¹⁸ der zum Begründer des Frankfurter Zweiges der Fa-milie Brentano werden sollte.¹⁹ Peter Anton war dreimal verheiratet. Seiner erstenEhe mit Paula Brentano-Gnosso entstammten sechs Kinder, seiner dritten Ehe mitAnna Friederike von Rottenhof, die Peter Anton überlebte, drei. Die für die weitereEntwicklung wichtigste Verbindung war aber die zweite Ehe mit Maximiliane LaRoche (1756– 1793). Durch Maximiliane kam jenes künstlerisch-literarische Ele-ment in die Familie,²⁰ durch das sie später so bedeutend wurde: Maximiliane warnämlich die Tochter von Sophie La Roche, der Jugendfreundin von ChristophMartin Wieland, Gastgeberin eines literarischen Salons und Verfasserin von„empfindsamen Romanen“ wie der 1771 veröffentlichten Geschichte des Fräuleinsvon Sternheim. Diese war es angeblich auch, die das Zustandekommen der EheMaximilianes mit Peter Anton Brentano arrangierte, was den ebenfalls um siewerbenden Goethe zur Abfassung vieler untröstlicher Briefe veranlasste und ihnzur Niederschrift seines berühmten Briefromans Die Leiden des jungen Werthersinspirierte.²¹ Maximiliane wurde nur 37 Jahre alt und gebar in ihrem kurzen Leben

    Vorbildmeiner Verdrängung aus österreichischemLande?“ Brentano anMarty, 27. Dezember 1895.Franz Brentano-Archiv Graz/Houghton Library. – Brentanos wissenschaftlicher Nachlass wird inphysischer Form an der Houghton Library der Harvard-College Library aufbewahrt, in digitalerForm ist er über das Franz Brentano-Archiv Graz zugänglich. Dokumente aus diesem Teil desNachlasses werden daher in der Folge mit der Sigle FBAG/HL zitiert. „Peter Anton, der jüngste von drei Brüdern, hatte die seit 1753 bestehende väterliche Hand-lung Dominico [sic!] Martino Brentano mit Filialen in Mainz und Amsterdam bis 1771 gemeinsammit diesen geführt. In diesem Jahre hat er sich von ihnen getrennt und zuerst im Nürnberger Hofe,dann im Hause zum goldenen Kopf in der Großen Sandgasse seine Geschäfte unter eigener Firmamit glänzendem Erfolg betrieben. Seine Waren bezog er teils aus London […] und seinem Ein-kaufskontor in Amsterdam, teils aus Marseille, Genua, Venedig und seiner Heimat, dem Comer-see.“ L. Brentano 1931, 5. Neben der Frankfurter Linie der Brentanos gab es im deutschsprachigen Raum auch noch dieBinger Linie und das schon erwähnte Haus Brentano-Cimaroli. Zur Ehrenrettung von Peter Anton muss freilich gesagt werden, dass er in seinen späterenJahren als Generaleinnehmer der Finanzen des Kurfürsten von Trier auch Zeit fand, sich denMusen zu widmen, schrieb er doch immerhin Gedichte in italienischer Sprache und spielteVioline. In der Figur der Lotte verschmilzt Maximiliane mit Charlotte Buff, Goethes Verlobter. RichardFriedenthal schreibt dazu in seiner großen Goethe-Biographie: „Die Figur ändert sich. Das Lott-chenmit den blauen Hausmutteraugen nimmt Züge der Maxe La Roche an, bekommt tiefschwarzeAugen, etwas mehr Unruhe, etwas mehr Temperament. Madame La Roche hat ganz unsenti-mental ihre Tochter an einen schon etwas ältlichen, langweiligen, sehr wohlhabenden Groß-

    2.2 Die Aschaffenburger Brentanos 29

  • nicht weniger als zwölf Kinder, darunter die beiden berühmten romantischenGeschwister Clemens und Bettina, später die Frau Achim von Arnims. Uns inter-essieren hier allerdings nicht die beiden berühmten Literaten (wobei auf Clemensnoch zurückzukommen sein wird), sondern der 1784 als sechstes Kind Maximi-lianes geborene Christian, der Ahnherr der Aschaffenburger Brentanos. Auf ihn(und auf seine Frau Emilie) ist hier näher einzugehen, war er es doch, der mitseinem Übertritt zum Katholizismus erst jene Voraussetzungen schuf, die für dasLeben seines älteren Sohnes Franz so verhängnisvolle Folgen haben sollten.

    Christian Brentano (1784– 1851) wird in der Literatur als hochbegabt be-schrieben, brachte es aber nach einer „Erziehung ohne alle Konsequenz“²² inallem, was er versuchte, lediglich zum Dilettantentum. Christian brach eineKaufmannslehre ab, studierte Mathematik, befasste sich mit Kants Philosophie,und ging schließlich zum Medizinstudium nach Jena und Marburg, wiederumohne einen Abschluss zu erreichen. Daneben dichtete, malte und zeichnete er. ImFrühjahr 1808 übersiedelte Christian nach Böhmen, um das dort von seinen Ge-schwistern und anderen Gesellschaftern erworbene Gut Bukowan zu verwalten.Christians Tätigkeit war jedoch kein wirtschaftlicher Erfolg beschieden und 1815wurde das Gut wieder verkauft.²³Nach seiner Rückkehr nach Frankfurt kam es zur

    kaufmann Brentano in Frankfurt verheiratet; Goethe ist noch um das junge Ehepaar herumge-strichen, hat mit der recht wenig glücklichen jungen Frau geflirtet, Cello gespielt,während sie aufdem Spinett ein paar Töne anschlug. Der Ehemann ist eifersüchtig geworden […] und hat Goethedas Haus verboten, statt sich Skrupel zu machen, ob er dem jungen Genie nicht Platz machenmüßte.“ (Friedenthal 1993, 140) – Lujo Brentano unternimmt in seiner Autobiographie einenausführlichen Versuch, das historische Bild der Ehe seiner Großeltern geradezurücken: „Es istüber Peter Antons und Maximilianens Ehe viel geschrieben worden, was vor der Kritik nichtstandzuhalten scheint.“ L. Brentano 1931, 9 ff. Vgl. [E. Brentano] 1854,VII. Die Biographie, die Emilie Brentano den nachgelassenen Schriftenihre Mannes voranstellte, erschien anonym. In einem Briefe an seinen Schwager, den berühmten Juristen Friedrich Carl von Savigny,beschreibt Clemens die Art der Gutsverwaltung seines Bruders: „[W]äre er nicht faul […] und dabeiungemein unbeharrlich und unordentlich in allen seinen Papieren ich glaube, er wäre nochGrößerem, als diesem gewachsen, es dauert mich ungemein, wenn ich ihn stumm von inneremVerdruß auf dem Sofa halbe Tage lang liegen sehe. Es war mich ganz rührend eckelhaft, als er mirgestern, eine Rungische Randzeichnung um die Bukowaner Acktien, der er gemacht und in Praghat in Kupfer stechen laßen vorlegte, da aber die Ochsendumme Prager Censur ihm Beschwerdendarüber gemacht, kann er sie nicht ausfüllen lassen und ist die Tollheit auch umsonst, wenn ichbedencke, daß der mensch, der mir klagt, er habe noch nicht zur Abrechnung Zeit finden können,derselbe von dem ich kaum meine Obligationen erhalten konnte, Zeit hat, zu einem Gut, dasnichts einträgt, Randzeichnungen um Aktien in Kupferstechen zu laßen, möchte ich des Gukukswerden.“ Zit. nach Schad 2000, 99. (Die Orthographie der zitierten Texte wird hier in der Regelnicht modernisiert.) Wie wir noch sehen werden, war auch seinem Sohn Franz eine gewisseTendenz des sich Verzettelns nicht fremd.

    30 2. Franz Brentanos Leben

  • folgenschweren Begegnung mit Johann Nepomuk Ringseis²⁴, dem späterenLeibarzt König Ludwigs I., einem glühenden Anhänger des katholischen Glau-bens, der bei Christian eine völlige Revision seiner Weltanschauung und dieHinwendung zu einem überaus dogmatischen Katholizismus herbeiführte.²⁵ EineFolge dieser Konversion war sein Besuch bei der stigmatisierten Nonne AnnaKatharina Emmerick in Dülmen. Die Visionen der Emmerick, bei denen sie anjedem Freitag die Passion Christi durchlitt, beeindruckten Christian so sehr, dass

    Ringseis (1785– 1880) gehörte in den Umkreis der bayerischen Erweckungsbewegung, in dersich ein spiritueller, innerlicher Katholizismus mit Wunder- und Weltuntergangsglauben undsatanistischen Elementen mischte (vgl. Richter 1992, 60). Er war auch mit Clemens und BettinaBrentano persönlich bekannt. Bettina schreibt über ihn in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde:„[…] Nepomuk Ringseis, ein treuer Hausfreund, hat ein Gesicht wie aus Stahl gegossen, alteRitterphysiognomie, kleiner scharfer Mund, schwarzer Schnauzbart, Augen, aus denen die Fun-ken fahren, in seiner Brust hämmert’s wie in einer Schmiede, will vor Begeisterung zerspringen,und da er ein feuriger Christ ist, so möchte er den Jupiter aus der Rumpelkammer der altenGottheiten vorkriegen, um ihn taufen zu lassen“. Arnim 1984, 375. Ludwig Feuerbach hat demVersuch von Ringseis, eine Art von spezifisch christlich-katholischer Medizin zu kreieren, in der