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Vielfältige Einheit 10. Bundespositivenversammlung 5. Bundesversammlung der An- und Zugehörigen HIV-Generationen __ „Normalisierung“ __ Therapie(pausen) __ Schuld & Sühne

Titel f r pdf - Deutsche AIDS-Hilfe · einer riesigen ehemaligen Fabrik-halle. Tags ber mit Caf” und Kuchen, abends mit Sekt, Bier und Selters. Hier wird auch das durchweg sehr

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V ie l fä l t ige

E i n h e i t

10. Bundespositivenversammlung

5. Bundesversammlung der An- und Zugehörigen

HIV-Generationen __✚ „Normalisierung“ __

✚ Therapie(pausen) __✚ Schuld & Sühne

MAGAZIN2

Foto im Hintergrund: „Perlen für dieSäue“ hieß das Motto der 3. Bundes-versammlung von Menschen mit HIV und AIDS 1992 in Hamburg, hier einAusschnitt des Plakatmotivs

DER

AN

FAN

G

Andreas Babing alias „Schwabenliesel“ bei der Demonstration „Keine Rechen-schaft für Leidenschaft“ 1990 in Frankfurt/Main, sozusagen Vorläuferin

der BPV. Dieses T-Shirt überreichte er in Bielefeld der Geschäftsstelle der DAH.

Das Plakat zum Aktionstag „Solidarität der Uneinsichtigen“ im Juli 1988

__✚ 1988 __

✚ 1989 __✚ 1990 __

✚ 1991 __✚ 1992

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 10. Bundespositivenversammlung, liebe Freunde, Angehörige, Gäste und Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle der DAH!

Ich schaue auf fast zwei Jahrzehnte Positivsein zurück. Dies istdie 10. Bundespositivenversammlung (BPV), alle habe ich siemiterleben können – als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Bundes-geschäftsstelle und als Betroffener.

Zwölf Jahre liegt die erste BPV in Frankfurt am Main zurück.Damals trafen wir uns, um zu diskutieren und um unsere Wut,aber auch unsere Träume zu leben. Wir haben gelacht, getrau-ert, geweint und geliebt. Dabei entstanden große Freundschaf-ten zwischen den Menschen.

Viele von ihnen sind für immer gegangen; diese Versamm-lung atmet ihren und unseren Geist. Vielleicht stehe ich heuteda, um dies zu erzählen. Einige wenige der alten Freunde, zumBeispiel Ernst Häussinger, sitzen hier unter uns. Wir haben einenlangen Weg hinter uns.

Damals war mein Motto: Bedaure nie, was gestern war – dasLeben ist heute in dir, und du bestimmst dein Morgen. Und:

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Eröffnungsredevon Andreas Babing

Andreas Babing hält in Bielefeld die hier abgedruckte Eröffnungsrede

Hinweisschild zur BPV 2002 am Veranstaltungsort

__✚ 1993 __

✚ 1994 __✚ 1995 __

✚ 1996 __✚ 1997 __

✚ 1998 __✚ 1999 __

✚ 2000 __✚ 2001 __

✚ 2002

Keine Rechenschaft für Leidenschaft! Das gilt auch heutenoch für mich.

Im Andenken an die vielen verstorbenen Freunde, aber auchan all die anderen infizierten Menschen möchte ich eine Brückeschlagen von der ersten zur zehnten Bundespositivenversamm-lung. In diesen Tagen singt Herbert Grönemeyer in seinem Lied„Mensch“ vom Leben, Lachen, Träumen und Lieben. Lasst uns dieswieder tun wie damals und große Freundschaften leben. Vielleichtkönnen wir politisch und sozial nicht alles erreichen, was nötigwäre. Aber wir können Freundschaften pflegen und Bündnisseschließen, um für das zu kämpfen, was uns wichtig ist.

Am Schluss möchte ich der Bundesgeschäftsstelle dieses T-Shirt der ersten BPV – es gab und gibt nur dieses eine – über-reichen als Erinnerung an unseren gemeinsamen Weg.

Gestern sagte ein Freund zu mir: Die Löwin kämpft und lebt –wieder. Sie ist stark. Aber sie trauert und liebt auch. Mit diesenWorten möchte ich schließen.

Dank an euch alle.

MAGAZIN

HerzlichLiebe Leserinnen und Leser!

„Alles bleibt anders!“ lautete das Motto der 10. Bun-despositivenversammlung (BPV) und der 5. Bundesversamm-lung der An- und Zugehörigen (BVA) in Bielefeld. Es bezog sich– wie könnte es anders sein – auf die kontroverse Debatte über„Normalisierung“, die derzeit in der Auseinandersetzung mitHIV/AIDS den Grundton angibt.

Bei allen Diskussionen steht eines fest: Das Leben mitHIV/AIDS hat sich in den letzten Jahren stark verändert, undes ist mit der Zeit immer vielfältiger geworden: In der HIV-Community sind mittlerweile verschiedene Generationen mitjeweils ganz eigenen Fragen, Problemen, Bedürfnissen, Hoff-nungen und Wünschen entstanden. So trafen bei der Jubilä-umsveranstaltung in Bielefeld zum Beispiel Langzeitpositive,die die Zeiten des großen Sterbens überlebt haben, auf junge,gerade erst Infizierte, die diese Zeiten nur aus Erzählungenkennen. Ebenso trafen sich Menschen aus der Großstadt undder Provinz, Frauen, Schwule, Drogengebraucher/innen, undund und ...

All diese Gruppen waren gemeinsam in Bielefeld. Zudemtagten erstmals die An- und Zugehörigen zeit- und ortsgleichmit einer Bundespositivenversammlung. Und noch nie warenso viele Migrant(inn)en, zum Beispiel afrikanischer Herkunft,auf einer BPV vertreten, noch nie konnten wir so viele auslän-dische Gäste – etwa aus Osteuropa – begrüßen.

Die Vielfalt der Bedürfnisse und Themen spiegeln schonallein die Veranstaltungstitel wider, die wir unten auf den Sei-ten dieses Magazins in Form eines Laufbandes dokumentieren.In dieser Nachlese der 10. Bundespositivenversammlung undder 5. Bundesversammlung der Angehörigen verzichten wirallerdings weitgehend auf klassische Workshopberichte, dieohnehin oft ungelesen in Hängeregistraturen und Schubladenzerfallen. Stattdessen wollen wir noch einmal Menschen zuWort kommen lassen, die in Bielefeld etwas mitzuteilen hat-ten, und einige Fragen behandeln, die dort besonders wichtigwaren: die „Normalisierung“, Schuldgefühle und die Debatteüber Verantwortung, der Umgang mit Nebenwirkungen, The-rapiepausen sowie die Blicke, die Ältere wie Jüngere aus ihrerjeweils eigenen Perspektive in die Zukunft werfen – das sindeinige der Themen der 10. BPV und der 5. BVA, und es sind dieThemen der Zeit. Wir haben uns bemüht, sie in dieser Doku-mentation für alle Interessierten festzuhalten – auch und ge-rade für jene, die nicht in Bielefeld waren.

Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir eine aufschluss-reiche Lektüre und allen „Bielefeldern“ schöne Erinnerungen. ♦

Holger Wicht (Redakteur), Dirk Hetzel (Referent für Menschen mit HIV/AIDS der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.) und Achim Weber

(Referent für Pflege und Versorgung, für die BVA)

Der Anfang 2Eröffnungsrede von Andreas Babing _ 3

Inhalt, Editorial 4Willkommen in Bielefeld _ 5

Eröffnung 6Hans Hengelein: „Seid stolz auf euch!“ _ 7Rita Süssmuth (Schirmherrin): Grußwort _ 8Richard Schach (BVA): „Leben mit HIV kann positiv sein“ _ 9

Alles bleibt anders! 10Normal ist nicht normal... _ 10Am Biertisch: Was bleibt anders als was? _ 11

Generationen 12Langzeitpositive: Einen aussichtslosen Kampf überlebt _ 12Jungpositive: „Wir müssen ein Leben aufbauen!“ _ 14

Therapie 18Lipodystrophie: Workshop-BerichtPetra Klüfer: „Lipo-Else – das unbekannte Wesen“ _ 18„Pausen sind fast immer möglich“ – Arzt Christoph Mayr im Interview _ 20

Schuld und Sühne 22Tanz auf dem Vulkan _ 22Interview mit Dirk Hetzel _ 23

An- und Zugehörige 24BVA: Die Schwerpunkte verschieben sich _ 24Nur für Positive: „Hier geht es um Selbsthilfe“ _ 25

Menschen 26 Familiengespräch: Eltern (BVA) und Sohn (BPV) über Offenheit und Annäherung _ 26Afrikaner/innen: „Es ist wirklich wohltuend!“_ 28Frauen: Allein unter Schwulen? _ 29Jubiläumstalkshow: Familientreffen _ 30Ein Bielefelder erzählt: „Rotz und Wasser“ _ 31

Das war’s...: 32Bewertung: „Gutes Zeugnis“ _ 32Teilnehmer/innen über die BPV/BVA _ 32Statistik: Teils, teils _ 33Medien: Dünnes Echo_34

Schlussworte 36Maya Czajka, Vorstand der DAH _ 36Dirk Hetzel, HIV-Referent der DAH _ 36Achim Weber, Pflegereferent der DAH für die BVA _ 37Roman Dudnik, Gast aus Moskau _ 37

Zuletzt 38Die Flut im Osten _ 38Impressum und Sponsorentafel _ 39Spuren _ 40

EDIT

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Veranstaltungen BPV/BVA 2002 __✚ Plenum: HIV und AIDS gestern und heute __

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In einem kleinen Park mitten in Bielefeld liegt zwischen gro-ßen alten Bäumen, historischen Mauerresten, einem Teichund einem großen Springbrunnen eine alte Textilfabrik. EinTeil davon, das Gebäude der ehemaligen „Ravensberger

Spinnerei“, beherbergt heute Bielefelds Volkshochschule. Statt Kur-sen in Französisch, Kochen und Maschineschreiben finden hier vonDonnerstag, dem 28. August, bis zum Sonntag, dem 1. September2002, die 10. Bundespositivenversammlung und die 5. Bundesver-sammlung der An- und Zugehörigen statt.

Rasch stellt sich am Donnerstagnachmittag eine familiäre, fastintime Atmosphäre ein. Umarmungen und Wiedersehensfreude be-herrschen das Bild der ersten Stunden. „Das ist das Schönste – zusehen, dass so viele von uns noch leben“, sagt Sandra, die aus Ba-den-Württemberg zu ihrer dritten BPV angereist ist. Doch auch wernoch niemanden kennt, wird herzlich aufgenommen. Bei der Anmel-dung am Counter gibt es nicht nur die Tagungsmappen mit allennötigen Informationen, sondern auch Gummibärchen als Willkom-mensgruß.

Rund 500 Menschen checken ein zur Jubiläumsveranstaltung. Esherrscht bunte Vielfalt: Zwischen gängiger Sommerbekleidung wieJeans und T-Shirt sind knackige Lederhosen ebenso zu bewundernwie schwarzer Grufti-Look oder die wallenden Batik-Gewänder derzahlreichen afrikanischen Gäste.

Rund 50 Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch, zur Dis-kussion und Information finden in den folgenden vier Tagen statt.Der wichtigste Treffpunkt ist aber natürlich wie bei allen BPVs derletzten Jahre „Lauras Café“. Die„Mutter der Community“ und ihrfleißiges Stuttgarter Team ver-wöhnen Leib und Seele der Teil-nehmerinnen und Teilnehmer ineiner riesigen ehemaligen Fabrik-halle. Tagsüber mit Café undKuchen, abends mit Sekt, Bierund Selters. Hier wird auch dasdurchweg sehr gelungene Essenaufgetischt. Übrigens: Keine Stadthat je so viel Kuchen für eineBPV gespendet wie Bielefeld!

Weitere Infos und Kontaktmög-lichkeiten gibt es auf dem tradi-tionellen „Markt der Möglichkei-ten“ im 1. Stock, wo sich HIV/AIDS-Projekte wie die Bielefelder

AIDS-Hilfe und das Frauennetzwerk NRW sowie die Pharma-Firmenpräsentieren, letztere erstaunlich zurückhaltend. Auch das Netz-werk der Angehörigen stellt sich hier vor. Auf Stellwänden sind diePlakate der früheren Bundespositivenversammlungen zu bewun-dern.

Nicht zuletzt lockt natürlich das schöne Sommerwetter vieleTeilnehmerinnen und Teilnehmer in den Park hinaus. Bänke, Rasen-flächen und der Rand des Brunnens bieten Platz zum Sonnen undPlaudern. Und wer sich abkühlen will, geht einfach ein paar Hun-dert Meter weiter ins Freibad. Nasse Haare bei etlichen Teilneh-merinnen und Teilnehmern zeugten vom regen Gebrauch dieserErfrischungsmöglichkeit. ♦ (lgk/howi)

Der Auftakt der 10. Bundespositiven-versammlung und 5. Bundesversammlungder An- und Zugehörigen im „Ravens-berger Park“ und seiner alten „Spinnerei“

Liebevoller Empfang am Counter

Carmen aus Berlin vor dem Spring-brunnen im Ravensberger Park

Willkommen!

Wie immer wichtigster Treffpunkt: Lauras Café

Einstieg und Überblick __✚ Eröffnung __

✚ Willkommensparty __✚ „Ins Netz gegangen“

Rita Süssmuth erscheint inZellophan verpackt. Freilichnur als Dia: Auf der Leinwandhinter der Bühne wird das

historische „Spiegel“-Titelbild eingeblen-det, für das „Lovely Rita“ sich einst inSchutz-Folie hat einwickeln lassen. Modera-tor Holger Wicht verliest vor diesem Hinter-grund Auszüge aus dem Grußwort derSchirmherrin der Jubiläumsveranstaltung.Die Bundesgesundheitsministerin der frü-

hen AIDS-Ära ist leider verhin-dert, zieht aber in ihrem Bei-trag eine sehr ausführliche undpersönliche Bilanz des Kamp-fes gegen HIV und AIDS, dernun schon mehr als zwei Jahr-zehnte währt (➛ S. 8).

Alle anderen sind persön-lich erschienen: Maya Czajkabegrüßt die 10. Bundesposi-tivenversammlung (BPV) und

die 5. Bundesversammlung der An- und Zu-gehörigen (BVA) mit mitreißenden Wortengegen die Rede von der „Normalisierung“,Brunhilde Wiedemann vom Gesundheitsaus-schuss Bielefelds heißt BPV und BVA im Na-men der Stadt willkommen. Heike Gronskivon der Bonner AIDS-Hilfe spricht einleiten-de Worte im Namen der Vorbereitungsgrup-pe. Ihr Auftritt wird von einem Kamerateamdes WDR gefilmt, das an einem Porträt überHeike arbeitet.

Hauptredner zum Jubiläum ist der ers-te HIV-Referent der Deutschen AIDS-Hilfe(DAH), Hans Hengelein, der die Bundespo-sitivenversammlung einst mit ins Leben ge-rufen hat. Zwölf Jahre später schlägt er vor,man solle nicht nur über Therapiepausen,sondern auch über Selbsthilfepausen nach-denken (Details ➛ S. 7). Doch wer soll sichdann um den Umstrukturierungsprozess derDAH kümmern, der angeblich im Gangeund im Schwange ist, seit Bernhard Bieniekden Laden kennt? Der Berliner Schwerpunkt-arzt und Community-Kabarettist präsen-tiert sich in diesem Jahr erstens erblondet,zweitens – bedingt durch die große Flut imOsten (➛ S. 38) in Gerhard Schröders Gum-mistiefeln und drittens anlässlich der Bun-destagswahl am 22.9. als Experte vom Insti-tut für Flotte Regierungsbildung (IFR). Essind sehr verschiedene, doch durch die Bankerbauliche Weisheiten über die Selbsthilfe,die bei der feierlichen Eröffnung verkündetwerden.

Im Namen der An- und Zugehörigenspricht Richard Schach, HIV-negativer Le-bensgefährte eines Positiven, sehr berüh-rende Worte (➛ S. 9). Nicht zuletzt, sondernabschließend und einstimmend auf diekommenden Tage spricht Andreas Babing,der alle zehn Bundespositivenversammlun-gen miterlebt hat, Worte zur Eröffnung.(Sie bilden auch den Auftakt dieses Hef-tes.) „Viele sind für immer gegangen. DieseVersammlung atmet ihren und unserenGeist“, heißt es darin.

Nach diesen Schlussworten der Eröffnungs-feier kann jeder draußen im dunklen Ravens-

berger Park ein Licht entzündenfür Menschen, die nicht (mehr)hier sein können, für Erinnerun-gen, für Wünsche – für alles,was leuchten soll.

Wer genau hinschaut, sieht,wie liebevoll die Orte der vie-len Lichter ausgewählt wordensind: am Brunnen, am Teich, imFenster der Ruinenmauer, amStamm eines Baumes oder ein-fach auf der Wiese... ♦ (howi)

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– Das Netzwerk der Angehörigen von Menschen mit HIV und AIDS stellt sich vor _

Weisheiten überSelbsthilfe

Die Eröffnung der 10. Bundespositivenversammlung undder 5. Bundesversammlung der An- und Zugehörigen

DAH-Vorständin Maya Czajka und Geschäftsführerin Hannelore Knittelnehmen Schecks entgegen. Man muss keine Firma sein, um etwas zurFinanzierung der BPV beizutragen: Tilo Brandstäter (3. v. links) über-reicht den Erlös der Münchner Benefiz-Party „Red Ribbon Move“, und

auch der unermüdliche Privatsammler Jürgen Koch aus Stuttgart (4. v. links) hat wieder einmal einen erklecklichen Betrag im Gepäck“

Moderator Holger Wicht bei der Eröffnung

Heike Gronski

Spiegel-Titel

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MAGAZIN

Maya Czajka

Bernhard Bieniek

Im Vorwort zur Dokumentation der 1.BPV im Jahr 1990 heißt es: „So unter-schiedlich wir auch leben mögen, wirlassen uns nicht auseinander dividie-

ren, gerade nicht in dem zentralen Punkt.Unser Leben – und sei es auch zeitlich nochso begrenzt – wollen wir selbst bestimmenund in allem, was unser Leben von außenbeeinflusst, wollen wir selbstbewusst undselbständig mitentscheiden: bei der medizi-nischen Forschung und Therapie, bei recht-lichen Fragestellungen, bei der Pflege imKrankheitsfall, bei den Formen der Selbst-organisation, natürlich bei der AIDS-, Dro-gen- und Schwulenpolitik.“ – „Keine Rechen-schaft für Leidenschaft, sagt ‚nein‘ zu denVersuchen, uns von außen oder von innen zuspalten. Sagt ‚nein‘ zu den Denunziationenund Selbsthass.“

Während es in den ersten Veranstaltun-gen einerseits um die aggressive Umkehrung

negativer Zuschreibungen durch die Presseging, eben „Keine Rechenschaft für Leiden-schaft“ oder „Perlen für die Säue“ wie 1992in Hamburg (auf dem Plakat waren kleineSchweine und AZT-Pillen abgebildet, d. Red.),kümmerten sich die folgenden BPVs eher umeine positive Wir-Identität. Ich denke hier anBonn 1991 unter dem Motto „R(H)ein posi-tiv“ oder an München, das „PositHIV“ leuch-tete. In den Folgejahren stand das „Self-Em-powerment“, die Stärkung des eigenen Ichs,die Eigeninitiative im Vordergrund. Die letz-te BPV wiederum ging „Hand in Hand po-wern für Menschenrechte“.

Persönlich ging es mir bei der ersten BPVdarum, eine Gegenöffentlichkeit herzustel-len und auszuformulieren. Ganz in der Tradi-tion der US-amerikanischen Kritikerin SusanSontag, die schon 1988 in ihrem Essay „AIDSund seine Metaphern“ forderte, „sowohl die

an AIDS Erkrankten als auch eine in AIDS-Panik sich hineinsteigernde Bevölkerungvon der Diktatur der Bedeutung zu befreien,einer Bedeutung, welche nicht für die medi-zinische Wirklichkeit einsteht, sondern fürjene Angst des Menschen um seine Zukunft,welche die entwickelte Welt am Ausgangdieses Jahrtausends umtreibt.“

Auf der 8. BPV habe ich mich mit der Fra-ge „AIDS wird normal – und was wird ausder Selbsthilfe?“ auseinandergesetzt: WirdHIV normal, weil plötzlich ein Teil der Positi-ven – insbesondere im Dunstkreis der AIDS-Hilfen – lernen muss,● sich einer neuen oder zumindest verlän-

gerten Lebensperspektive zu stellen?● sich aus nicht mehr benötigten Hilfe-

strukturen zu lösen?● sich nun den ganz alltäglichen Dingen zu

widmen, d.h. Berufsausbildung, 40-Stun-den-Woche, Integration von 40 Tablettenin einen ganz gewöhnlichen Tages-ablauf?

Und diese ganz banalen Dinge desAlltags machen plötzlich Angst, krän-ken oder lösen begreiflicherweise in-nere Widerstände aus, zumindest beidenen, die AIDS als Chance verstan-den haben. Bedeutet „normal werden“im wahrsten Sinne des Wortes „seinerpositiven Eigenschaften verlustig ge-hen“? Nur in und durch die positivenSelbsthilfegruppen kann eine neueSchwerpunktsetzung erfolgen. Es gibtnicht das eine erfolgreiche Rezept zurGründung und Aufrechterhaltung vonSelbsthilfegruppen. Auflösen sollte mansie heute sicherlich nicht, aber viel-leicht ist es hilfreich, persönlich auchmal zu pausieren. So wie es die be-greifliche Sehnsucht nach Pillenpau-sen gibt, muss sich auch eine wirkli-che Kultur der Selbsthilfepause ent-wickeln. Allein schon das Motto dieserBPV wäre ein guter Anlass.

Um dem etwas weinerlichen „Allesbleibt anders!“ zu entkommen, bedarf

es einer anderen Herangehensweise, mögli-cherweise einer neuen Sinnstiftung, einerkonkreten Utopie. Denn ich fürchte: Häufigsind nicht die Tabletten das Problem, son-dern die neue Perspektive, die ich damit ge-winne. Weg also von Tom Fechts „Toten Stei-nen“ hin zur HIV-positiven Arbeitnehmerindes Monats, dem schönsten crixy belly desJahres. Oder stellt die nächste BPV unter dasMotto „Kulturen der Welt“, um positive Mi-grantinnen und Migranten endlich gleichbe-rechtigt hier in dieser Runde in all ihrer Viel-falt willkommen zu heißen!

Und ich höre schon wieder die Bedenken-träger: Natürlich bedarf es durchaus einerErinnerungskultur, einer Kultur zur Erinne-rung an Celia Bernecker-Welle, Andreas Sal-men und Michael Fischer, an Werner Herr-mann, die butche Bärbel, Richard Rectoroder ... – aber doch auch deshalb, um mehrzu erfahren über die wichtigen Beiträge,

7

_✚ Let’s talk about sex __

✚ „Hilf dir selbst, sonst wird dir geholfen“ – Selbsthilfe in

„Seid stolz auf euch selbst!“Hans Hengelein war der erste HIV-Referent der DAH. In seiner Bielefelder Eröffnungsre-de zum Jubiläum beschreibt er die historische Entwicklung der Bundespositivenver-sammlungen, die er einst mit ins Leben gerufen hat – und liefert kritische Anregungenfür die Gegenwart der Selbsthilfe

„Bedeutet ,normal werden‘seiner positiven

Eigenschaften verlustigzu gehen?“

die diese für sich selbst, für euch und die-se Gesellschaft in den letzten 20 Jahren ge-leistet haben. Vor allem: Seid stolz auf euchselbst, manchmal schlicht darauf, überlebtzu haben, darauf, Grandioses auch im klei-nen Privaten vollbracht zu haben, Lebenskri-sen durchgestanden zu haben oder für euchselbst den richtigen Weg im Umgang mit

den eigenen existenziellen Ängsten gefun-den zu haben.

Nach 20 Jahren organisierter Selbsthilfescheint es dringend geboten, die Balancezwischen Visionär(inn)en und Bedenkenträ-ger(inne)n neu auszutarieren. Gleiches giltselbstverständlich für die Menschen in denAIDS-Hilfen generell. Dies wird sicher keineinfacher Weg für euch, denn die heutigenMenschen mit HIV und AIDS haben auf-grund der engen Verquickung der sie be-handelnden Ärzte und der nicht-staatlichenAIDS-Service-Organisationen mit der Phar-maindustrie nicht mehr jene Unschuld undKritikmöglichkeit wie die „naiven“ Selbst-hilfegruppen der Gesundheitsbewegung derspäten 70er- und frühen 80er-Jahre. ♦

Gekürzte Version der Eröffnungsrede. Hans Hengelein war von 1988 bis 1991

HIV-Referent der DAH und ist heute Schwulenreferent im Niedersächsischen

Sozialministerium.

Rita Süssmuth zieht in ihremGrußwort die Bilanz aus

mehr als 20 Jahren Selbst-hilfe und HIV/AIDS-Politik

Die 10. Bundespositivenversamm-lung und die 5. Bundesver-sammlung der An- und Zuge-hörigen stehen für mehr als 20

Jahre beispiellose und beispielhafte Selbst-hilfearbeit – für die engagierte, effizienteund weit über sich selbst hinausweisendeAktivität, die seit Beginn der HIV- und AIDS-Katastrophe aus den Hauptbetroffenengrup-pen hervorgegangen ist. „Alles bleibt an-ders!” lautet nun das Motto Ihrer Konferenz:Geblieben sind HIV und AIDS, anders gewor-den sind die Herausforderungen, denen Siesich vor dem Hintergrund der Therapien stel-len müssen – wenn auch einige Experten be-reits von einer „Normalisierung” sprechen.Doch in unserer Gesellschaft ist Krankheit ansich eine Abweichung von der Norm, unddies gilt sicherlich in besonderem Maße beieiner Infektionskrankheit, die durch Sex undDrogengebrauch übertragen wird.

Die Rückblicke, die im Jahr 2001 unter derÜberschrift „20 Jahre AIDS“ erschienen sind,haben für mich noch einmal deutlich ge-macht, dass die Situation damals, Anfang der80er, auf der Kippe stand, es uns jedoch ge-lungen ist, den richtigen Weg einzuschlagen– den Weg, der mehr Erfolg versprach, undvor allem: den Weg der Rechtsstaatlichkeitund Humanität. Wir haben uns gegen Bevor-

mundung entschieden und für das Prinzip derEigenverantwortung. Wir haben zugleich ge-sagt, dass Menschen, die eigenverantwort-lich handeln sollen und wollen, dazu befähigtwerden müssen, indem man sie informiert –und zwar ohne ihre Lebensweise moralisch zubewerten. Wir haben diese Verantwortungstaatlicherseits teilweise abgegeben an jene,die damit besonders gut umgehen konnten:die Hauptbetroffenengruppen, und diese ha-ben die Verantwortung angenommen.

Es wäre falsch zu behaupten, es sei unsimmer leicht gefallen, diesen richtigen Wegzu gehen. Ich selbst tat und tue mich schwermit der Aufklärung im Bereich „harter Sex“.Doch ich habe eingesehen, dass wir hier an-dere Wege brauchen. Zudem sah ich die im-mense Gefahr, dass eine moralische Wer-tung gesellschaftlich fatale Folgen hättenach sich ziehen können. Eine große Hilfebei diesem Prozess der Einsicht waren stetsdie Vorschläge und Forderungen aus ebendiesen Gruppen, die es – ohnehin schonmarginalisiert – nun mit dieser Krankheit zutun bekommen hatten.

Die Selbsthilfe konnte ihre immensenKräfte nur durch den konstruktiv-kritischenDialog und durch das gemeinsame Handelnentfalten.

Nehmen Sie bitte die Politik weiterhin indie Pflicht und nehmen Sie die Erfolge derVergangenheit als Anreiz für die aktuellenAufgaben. ♦

Der Text wurde sehr stark gekürzt, das Original ist unter www.aidshilfe.de abrufbar,

ebenso die offizielle Danksagung der BPV und BVA an ihre Schirmherrin Rita Süssmuth.

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Konstruktiv-kritischer Dialog

Zeiten der ART __✚ Psyche und HIV __

✚ Umgang mit Nebenwirkungen __✚ Sterben leicht

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MAGAZIN

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Richard Schach bei der Eröffnung

gemacht? Übers Sterben und Sterbenlassen... __✚ „Liebe, Lust und Leidenschaft“ –

Richard Schach ist mit

einem Positiven zusam-

men und will anderen

An- und Zugehörigen

Mut machen

„HIV – AIDS – Tod“ – eswar die altbekannteGleichung, an die Ri-chard Schach dachte,

als er am 14.10.1996 erfuhr, dass sein MannReinhard positiv ist; nun – mittlerweile istdie Nachricht sechs Jahre alt – trägt er dasVirus schon etwa 15 bis 20 Jahre in sich.„Leben mit HIV kann auch positiv sein“, lau-ten die Schlussworte von Richards Eröff-nungsrede bei der Eröffnung der BPV undder BVA im Jahr 2002. Er möchte damit an-deren An- und Zugehörigen Mut machen, in-dem er von der Entwicklung bei sich undReinhard erzählt.

„Wenn du willst, kannst du gehen“, hatsein Freund damals gesagt, aber Richard istgeblieben. Obwohl er damals voller Unsi-cherheit war: „Ich hatte zu diesem Zeitpunktkeinen blassen Schimmer, was diese Dia-gnose für unser Zusammenleben bedeutet.Welche Einschränkungen, welche Entbeh-rungen, welche Hindernisse, welche Gefüh-le, welche Zukunftsängste hinter diesen dreiBuchstaben HIV stehen. Wie wirkt sich dieseDiagnose auf unser Sexualleben aus!? Wer-

„Leben mit HIVkann positiv sein“

den wir noch Spaß und Freude daran haben,oder ist der Ofen aus? Fragen über Fragen!Ängste über Ängste! Unsicherheit, aberauch sehr viel Liebe und Fürsorge für denPartner.“ In schlaflosen Nächten entwarfRichard Todesanzeigen.

HIV wurde zum zentralen Thema im Le-ben des Paares. Erschwert wurde die Situati-on für Richard, weil Reinhard zunächst nichteinmal mit gemeinsamen Freunden über dieInfektion reden wollte. Das bedeutete fürbeide: „Ausreden erfinden. Verschweigen.Seine Gefühle nicht äußern können.“ DochRichard sehnte sich nach Unterstützung vonaußen und wollte aktiv werden. Schließlichlandete er in der Angehörigengruppe derHannöverschen AIDS-Hilfe.

Richard und Reinhard haben sich mit ih-rer Beziehung, mit HIV und mit dem Todauseinandergesetzt. Sie haben gelernt, mitden Medikamenten und ihren Nebenwirkun-gen umzugehen. Und Richard lernte, „nichtnur Rücksicht zu nehmen, sondern auchmein Leben weiterzuleben.“

Das Coming-out gegenüber Freundenund der Verwandtschaft verlief durchweggut: „Wieso erst jetzt? Habt ihr kein Vertrau-en zu uns?“ Für Richard war die Phase derÖffnung nach außen eine große Erleichte-rung: „Endlich kann ich mit Freunden offenüber meine Ängste, Gedanken und Sorgenreden!“

Heute genießen Richard und Reinharddie schönen Dinge des Lebens – ein gutesEssen, ihren kleinen Garten, ihr Zusammen-sein – umso intensiver. Vielen Ängsten undSchwierigkeiten zum Trotz sagt Richard:„Das Positive überwiegt. Vergangenheit istwichtig, Zukunft ist wichtig, aber leben tunwir in der Gegenwart. Genießen wir das Le-ben in vollen Zügen!“ ♦ (howi)

Richard Schach und sein Mann Reinhardsind seit acht Jahren ein Paar und haben

im Oktober 2001 in Langenhagen bei Hannover „geheiratet“

■ von Holger Wicht

Wäre auf der 10. Bundesposi-tivenversammlung ein Wortoder Unwort des Jahrzehntsgekürt worden, hieße es mit

Sicherheit: „Normalisierung“. Der Begriff sorg-te auf der BPV ebenso für scharfe Auseinan-dersetzungen wie seit gut zwei Jahren über-all in der HIV/AIDS-Community. Dabei istdie Empörung oft groß: Wie können diese„Experten“ bloß von „Normalisierung“ reden,so wird oft gefragt, wenn doch HIV bezie-hungsweise AIDS noch immer nicht besiegtsind? Schließlich sind Nebenwirkungen undLangzeitschäden durch die Therapien dieThemen von heute, und Diskriminierung istderweil noch lange kein Thema von gestern.Und ist es nicht zynisch, eine Krankheit als„normal“ zu bezeichnen, die weltweit Millio-nen Menschen dahinrafft? Für viele Men-schen mit und ohne HIV gibt die Empörungüber diese „Verharmlosung“ oder Bagatelli-sierung derzeit den Grundton in der Ausein-andersetzung mit HIV/AIDS an.

Auch das Motto der BPV, „Alles bleibt an-ders!“, bezieht sich auf diese Diskussion. DieBotschaft in anderen Worten: HIV und AIDSbleiben vorerst, anders geworden sind jedochzum großen Teil die Probleme, die darausentstehen. Anders formuliert: Es bleibt vor-erst dabei, dass das Leben mit HIV/AIDS et-was grundlegend anderes ist als das Lebenohne das Virus. So steckt also auch hinterdem BPV-Motto letztlich eine Absage an je-ne, die von „Normalisierung“ sprechen unddamit meinen, HIV/AIDS sei eigentlich einThema von gestern, heute hingegen keinProblem mehr – Pillen schlucken und Endeder Debatte. Den Trend, HIV/AIDS in dieserWeise zu bagatellisieren, gibt es ohne Zwei-fel, und es ist wichtig, ihm etwas entgegen-zusetzen. Zugleich ist es aber nicht korrekt,den geballten Unmut jenen Wissenschaft-lern entgegenzuschleudern, die heute eine„Normalisierung“ von HIV/AIDS beschrei-ben. Die große Aufregung ist letztlich Resul-tat eines Missverständnisses.

Bekannt gemacht hat den Begriff vor et-wa drei Jahren der Sozialwissenschaftler RolfRosenbrock von der Arbeitsgruppe PublicHealth am Wissenschaftszentrum Berlin, dersich seit langer Zeit mit dem Thema HIV/AIDS auseinander setzt. Rosenbrock bezeich-net mit „Normalisierung“ eine Entwicklung,die HIV und AIDS seit Beginn der 80er Jahretatsächlich genommen haben; er beschreibtdiese Entwicklung als einen Prozess vom „Ex-ceptionalism“ (frei übersetzt: Ausnahmezu-stand) zur Normalität, der in vielerlei Hin-sicht noch nicht abgeschlossen ist.

Der „Ausnahmezustand“ der 80er Jahre:Plötzlich taucht eine neue Krankheit auf. Siescheint die ganze Bevölkerung zu bedrohen,denn sie wird vor allem durch Sex übertra-gen. Angst und Unsicherheit prägen dieAuseinandersetzung mit der schwer durch-schaubaren Situation. Wie leicht oderschwer das Virus übertragbar ist, bleibtzunächst unklar. Sicher ist jedoch, dass dieÜbertragung mit hochgradig tabuisiertenund angstbesetzten Themen zu tun hat:(Homo-)Sexualität, Promiskuität, Drogen.Todesängste brechen sich Bahn, alte Vor-stellungen von Schuld und Sühne werdenheraufbeschworen. Jeder scheint in Gefahrzu sein. Die Medizin ist hilflos. Kurz: Die Be-drohung scheint immens, aber niemandweiß genau, was zu tun ist.

Die Folge dieses „Ausnahmezu-standes“ sind zunächst erheb-liche politische Spannungen:Konservative Kräfte wollen die

herkömmlichen Mittel der Seuchenbekämp-fung zur Anwendung zu bringen. Dazu gehö-ren etwa Zwangstests und Therapiezwang,strenge Kontrollmaßnahmen und Verhaltens-auflagen bis hin zur „Absonderung“ von Infi-zierten. Doch es gibt große Zweifel an derWirksamkeit dieser Maßnahmen und von An-fang an scharfen Widerstand gegen die Ein-schränkung von Bürgerrechten, vor allem sei-tens der Schwulenbewegung. Kluge Köpfewie die damalige CDU-Gesundheitsministe-rin Rita Süssmuth erkennen: Die Auseinan-dersetzung mit den Tabu-Themen Sexualitätund Drogen ist unumgänglich – ob man will

oder nicht. Zugleich bringt der Ausnahmezu-stand eine ungewöhnlich (unnormal) hoheBereitschaft vieler Verantwortlicher hervor,neue Wege zu erproben und dafür auch un-gewöhnlich (unnormal) viel Geld bereitzu-stellen. So ebnete der Ausnahmezustand denWeg für bis dahin noch nicht etablierte neueAnsätze der Gesundheitspolitik. Diese setztenauf die Möglichkeit, dass die Menschen unddie Gesellschaft als Ganzes einen Umgangmit HIV erlernen konnten, statt darauf, Viren-träger durch Absonderung „unschädlich“ zumachen. Der Kampf gegen das Virus fand so-mit nicht gegen die Hauptbetroffenengrup-pen statt, sondern gemeinsam mit ihnen.

Zurück ins neue Jahrtausend: DieEpidemie hat die Befürchtungennicht wahr gemacht: In Europaund Nord-Amerika ist die Epidemie

weitgehend unter Kontrolle und beschränktsich auf relativ kleine Teile der Bevölkerung.Seit 1996 stehen außerdem wirkungsvolleTherapien gegen HIV zur Verfügung und las-sen den Schrecken der Krankheit stark ver-blassen. Dazu schreibt der Berliner SoziologeMichael Bochow (auf der BPV in Bielefeld alsTalkshowgast präsent): „Kündigte der Aus-bruch des Vollbildes AIDS in den 80er Jahrennoch bei den meisten den bevorstehendenTod innerhalb weniger Monate an, so mach-ten sich Ende der 90er Jahre Menschen mitAIDS berechtigte Hoffnung auf viele weite-re Lebensjahre. Die Kombinationstherapienließen AIDS als eine chronische Krankheit,die behandelbar wurde, erscheinen, wenn-gleich diese Behandlung viele problemati-sche Aspekte aufweist. Dies ist der medizini-sche Aspekt der Normalisierung von AIDS.“

Der gesellschaftliche Aspekt: Die „mo-ralische Panik“ (Bochow), die zum BeispielSchwulen in den 80ern entgegenschlug, hatsich gelegt, seit HIV immer weniger mit demTod verknüpft ist. Die Menschen sind überVirus und Krankheit aufgeklärt. Die Hilfsor-ganisationen, etwa die AIDS-Hilfen, funktio-nieren. Die Gefahr, die gesamtgesellschaft-lich betrachtet von der Epidemie ausgeht, istrelativ gering, das Gefühl der Bedrohung beiden meisten Menschen noch geringer. Be-

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Normal ist nicht normal„Alles bleibt anders!“ – über das Motto wurde heftig diskutiert. Die Debatte speistesich aus der Diskussion über „Normalisierung“. Ein unglücklicher Begriff, doch die

große Aufregung ist Resultat eines Missverständnisses.

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Wenn’s eine/r hat und der andere nicht __✚ Rund um die Lipodystrophie: Fettstoff

stehende Risiken werden gerne verdrängt.Bei den Schwulen ist zahlreichen Studienzufolge eine Zunahme riskanten Verhaltenszu verzeichnen. Die Medien, die sich damals,im Ausnahmezustand, geradezu überschla-gen haben, schweigen weitgehend zum The-ma HIV/AIDS. Es scheint, als sei AIDS eine„normale“ Krankheit geworden in dem Sin-ne, dass nicht mehr viel Aufhebens darumgemacht wird.

Wirklich? Viele Menschen mitHIV empfinden das bekannt-lich ganz anders. Auch derSoziologe Michael Bochow,

der den Begriff der „Normalisierung“ selbstverwendet, misstraut der beschriebenenEntwicklung: „Eine HIV-Infektion hat für vie-le Betroffene den Status einer Krebserkran-kung, dies kann kein Trost sein. Nur weilKrebs keine moralische Panik hervorruft, istdamit die psychosoziale Situation von Krebs-kranken noch lange nicht normal. Besten-falls ist zu erwarten, dass viele HIV-bedingteGesundheitsprobleme auf der gesellschaftli-chen Ebene ebenso ausgeblendet werden,wie dies schon jahrzehntelang bei Krebs-kranken der Fall ist.“

Hinzu kommt noch: Ganz so entspanntreagieren die meisten Menschen eben dochnoch nicht auf eine sexuell übertragbare In-fektionskrankheit: Bochow meint, man müssefragen, „inwieweit es möglich ist, die eigeneHIV-Infektion jederzeit publik zu machen,ähnlich problemlos wie die Bekanntgabe ei-ner zunehmenden Kurzsichtigkeit, die dieVerschreibung neuer Brillengläser notwendigmacht. Bei aller stattgefundenen Normalisie-rung des gesellschaftlichen Umgangs mitHIV und AIDS sind wir davon noch weit ent-fernt.“ Fazit: Die Aufregung hat sich stark ab-gemildert, im Vergleich mit anderen Krank-heiten ist die Normalisierung aber gewisskein abgeschlossener Prozess. Und trotzdemergibt es Sinn, von „Normalisierung“ zu spre-chen. Der Begriff hat nach Rolf Rosenbrockheute zwei weitere zentrale Bedeutungen:● Bestimmte positive Aspekte, die der HIV-Ausnahmezustand hervorgebracht hat, ha-ben sich durchgesetzt oder haben zumin-dest den „normalen“ Umgang mit anderenKrankheiten positiv beeinflusst. So hat sichzum Beispiel das Prinzip, nach dem ambu-lante Behandlung Vorrang vor stationärerhat, allgemein durchgesetzt. Rosenbrock

nennt diese Entwicklung „Normalisierungals Verallgemeinerung des „Exceptionalism“.● Die finanziellen Mittel für Präventionund Forschung werden, so Rosenbrock, „zumTeil drastisch verringert“, teilweise „auf Kos-ten der Effektivität der Prävention und derQualität der Versorgung – Normalisierungals Abbau“. Der Begriff dient auch der War-nung vor dieser Entwicklung!

„Normalisierung“ vergleicht also nichtKrankheit mit Gesundheit, sondern den Um-gang der Gesellschaft mit HIV/AIDS mitden Reaktionen bei anderen Krankheiten.Der Begriff bezieht sich dabei ausschließlichauf die Verhältnisse in den reichen Ländernwestlicher Prägung. Er ist zwar unglücklichgewählt, weil er Missverständnisse vorpro-grammiert und suggeriert, das Leben mitHIV/AIDS könne für Betroffene und Gesell-schaft etwas ganz Normales sein. Auch be-nennt der Begriff lediglich eine Tendenz –eine Entwicklung, deren Endpunkt „Norma-lität“ HIV/AIDS als Erkrankung, die durchSex und Drogengebrauch übertragen werdenkann, mit Sicherheit nicht erreichen wird. VomTeufel ist der Begriff „Normalisierung“ jedochnicht. Er ist nicht einmal ganz falsch. ♦

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Was bleibt anders als was?Wir belauschen ein Biertischgespräch am Samstagabend in Lauras Café

Rainer Schilling: „Alles bleibt anders!“ – das ist mir zu statisch. Das„Bleiben“ steht zu sehr im Mittelpunkt, das „Andere“ hat zu wenig Ge-wicht, von der semantischen Setzung her. Guido Vael: Die Situation bleibt nicht anders, sie verändert sich. Nichtumsonst reden böse Leute über Normalisierung. Ich spreche lieber von„Bagatellisierung“. Rainer: Der Satz „Alles bleibt anders!“ kann ja auch bedeuten: DieKrankheit bleibt immer anders als Gesundheit… Das hat Frau Süssmuthim Grußwort ja sehr schön geschrieben: Keine Krankheit ist normal. Abereine chronische Krankheit ist ei-ne normale Krankheit.Guido: Es ist nie normal, krankzu sein.Rainer: Aber es gibt normaleKrankheiten, sozusagen. Guido: Du bist ja Germanist ...Eine normale Krankheit gibt esnicht!Rainer: Es gibt außergewöhnli-che Krankheiten, es gibt tabui-sierte Krankheiten, und es gibt ...Guido: Es gibt Krankheiten.Punkt. Das reicht. Du musstnicht sagen „normale Krankheit“.Es ist eine Krankheit. Rainer: Und keine Krankheit istnormal...Guido: Nein.

Rainer: Eben.Guido: Nach den gesellschaftlichen Normen ist der gesunde Körper derNormalzustand. Mit allen Gliedmaßen, einer guten Sehfähigkeit, einemfunktionierenden Hirn...Rainer: Das dürfte nicht der statistischen Norm entsprechen. Guido: Das ist ja das Problem mit der Normalität: Wahrscheinlich zählennur 20 Prozent dazu. Deswegen fühle ich mich ja auch so angepinkelt,wenn von „Invalidität“ gesprochen wird. Fakt ist, dass du dann als Pro-duktionsfaktor weniger wert bist. Rainer: Richtig. Deswegen wäre für mich der Schulterschluss mit der Be-hindertenbewegung ein guter Anknüpfungspunkt für die AIDS-Hilfe. Undzwar nicht so, wie es die Verbände machen, die sagen: Wir sind produkti-onsmäßig genau so viel wert wie andere. Guido: Menschen mit zwei Armen leisten mehr als ein Einarmiger. Immer,sogar als Telefonist.

Rainer: Der Wert eines Menschenbemisst sich nicht nach seinerProduktionskraft. Das haben dieBehindertenverbände nicht er-kannt, sondern nur die Krüppel-bewegung. Mit diesen emanzipa-torischen Kräften muss die AIDS-Hilfe sich verbünden. Natürlichist man weniger leistungsfähig imSinne des kapitalistischen Aus-beutungssystems. Guido: Ohne den Begriff „Aus-beutung“ würde ich dir zustim-men. Rainer: So ein Bündnis zu schlie-ßen wäre für mich eine sinnvolleDynamik, die im Titel „Alles bleibtanders!“ aber leider nicht vor-kommt. (howi)Guido Vael ist Projektleiter für die

Präventionsarbeit beim MünchnerPräventionsprojekt SUB e.V.

Rainer Schilling ist Schwulenreferentder Deutschen AIDS-Hilfe

wechselstörung – Ein Risiko für das Herz __✚ Was ich schon immer über HIV und

Ernst Häussinger ist einer der Po-sitiven der ersten Stunde. Vieleseiner Erfahrungen und Erleb-nisse sind in Gedichte einge-

flossen, die sein Lebenspartner geschriebenhat.

Ernst und ich wollen sie neben den Ge-sprächen im Workshop „Langzeitpositive –wen oder was haben wir überlebt?“ vor-stellen. Damit haben wir gute Erfahrun-gen gemacht: Die Gedichte können Emotio-nen wachrufen und gleichzeitig eine Dis-tanz zum eigenen Erleben herstellen. Dasscheint uns wünschenswert angesichts derTatsache, dass nicht genügend Zeit zur Ver-fügung steht, um hier wirklich Selbsterfah-rung im wahren Sinne des Wortes zuzulas-sen.

Fast vierzig Männer und Frauen findensich ein – ein Zeichen dafür, dass sich Lang-zeitpositive als eine besondere Gruppe ver-stehen, die sich von anderen Positiven un-terscheidet: Sie haben ihre Diagnose ineiner Zeit bekommen, in der AIDS noch einTodesurteil bedeutete. Sie haben Menschenum sich herum sterben sehen. Und dann ka-men die neuen Therapien, der Tod rückte indie Ferne. Sie hatten überlebt – wie langeauch immer.

Sie haben sich überlebt als Todgeweihte,als Menschen, um die ihr Umfeld zitterte.Und sie haben viele überlebt, die ein Teilvon ihnen waren. Sie haben einen aussichts-losen Kampf überlebt.

Da müssten sie doch glücklich und dank-bar sein.

In einem ersten Durchgang erzählt jedeund jeder von sich. Das bedeutet für alle vielGeduld und viel Zuhören. Aber das ist eswert: 38 Einzelschicksale, jedes anders –und doch so viel Gemeinsamkeit, so vieleAnknüpfungspunkte an die eigene Biogra-fie, Verständnishilfen und Hinweise darauf,was bei einem selbst passiert ist.

Im Verlauf der Sitzung kristallisieren sichdie wesentlichen Themen heraus:

● HIV und Psyche: Das eigene Selbstwert-gefühl ist entscheidend dafür, wie ich esschaffe, mit dem Virus zu leben. Wenn ichlerne, das Virus nicht zu meiner Bestimmungzu machen, und wenn ich es schaffe, Priori-täten zu setzen, die sich auf das Leben rich-ten – dann ist es möglich, sich aktiv mit mir

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Viele Menschen, die schon lange HIV-

infiziert sind, haben einen Weg gefun-

den, mit dem Virus zu leben. Viele lei-

den allerdings unter Schuldgefühlen,

Vereinsamung – und mittlerweile auch

unter Zukunftsängsten. Im Workshop

„Langzeitpositive – wen oder was haben

wir überlebt?“ fand die Annäherung

an die speziellen Erfahrungen dieser

Gruppe auch durch Gedichte statt

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AIDS wissen wollte... Basiskurs zu HIV und AIDS (auch Engl., Frz., Span.) __✚ HIV

Rainer Jarchow Andreas Babing

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vier liebeslieder

Ernst Häussinger (im Foto rechts) hat diese Gedichte seines langjährigen Lebens-gefährten Christian Noak (links) im Work-shop und beim Abendplenum vorgetragen.Christian Noak, Jahrgang 1926, Lyriker,Hörspiel- und Bühnenautor, ist am 16. Februar 2000 an der ParkinsonschenKrankheit gestorben. Ernst Häussinger lebt in München.

selbst und meinem Umfeld vertraut zu ma-chen. Und das heißt: nicht nur zu überleben,sondern wirklich zu leben.

● HIV und Vereinsamung: Gerade hetero-sexuelle Männer und Frauen vereinsamen –und das im Laufe der Jahre verstärkt. Sie ha-ben kaum jemanden, dem gegenüber sie sichoffenbaren wollen oder können. Oft weiß „es“zwar die eigene Familie – aber dann niemandmehr.

Schwule sind da besser dran, wenn siedenn in einem Umfeld mit anderen Positi-ven leben. Bei ihnen weiß zwar oft die Her-kunftsfamilie nichts von ihrer Infektion –aber der Freundeskreis weiß Bescheid undkann damit umgehen.

● Schuldgefühle: Langzeitpositive habenoft ein Schuldgefühl: Sie haben überlebt –und andere nicht. Sie finden keine Antwortauf die Frage: Warum gerade ich? Alle sa-gen, sie müssten doch froh sein – aber echteFreude mag sich nicht einstellen, was wie-derum anderen kaum zu vermitteln ist. Indiesem Zusammenhang taucht im Workshopauch das Wort „Schmarotzer“ auf.

● Perspektiven: Der Blick in die Zukunft istfür viele Langzeitpositive von Ängsten be-gleitet: Wie lange geht das noch gut? Wer-den sich Resistenzen bilden, und wie reagiertdann mein Körper? Wird mir die Rente ge-nommen? Kann und möchte ich überhauptnoch arbeiten? Finde ich einen Partner odereine Partnerin? Schließlich sind die Spurender vielen Therapien an meinem Körper zusehen. Wie kann ich der zunehmenden Ar-mut entkommen?

Der Hinweis auf die Möglichkeit, sich aufseine Stärken zu besinnen und zu überlegen,wie diese gelebt werden können, wurde alshilfreich empfunden.

● „Altes AIDS“ und „Neues AIDS“: Men-schen, die sich erst in den letzten Jahren in-fiziert haben, haben keine Ahnung, was die„Alten“ durchgemacht haben. Dadurch ent-steht eine Kluft, die für die Langzeitpositi-ven oft zu zusätzlicher Vereinsamung unddem Gefühl mangelnder Solidarität führt.

Im Workshop ist ein Gefühl der Zusam-mengehörigkeit und der Gemeinsamkeit ent-standen.

Und es hat sich gezeigt, dass das Thema„Langzeitpositive“ noch lange auf die Tages-ordnung gehört. Denn diese Gruppe vonMenschen mit HIV hat ganz eigene Bedürf-nisse – und darum Anspruch auf eine spezi-elle Beachtung. ♦

wir sind den bachentlang gegangen

hand in handdu hattest einen zweig

in deinem mundtrotzdem küsstest du mich

dein lächelnhat mich immer

verwirrt

du warst oft fortwenn du da warstwarst du ganz da

lächeltest

als ich erwachteschrie ich

ich wollte zum bach

hier gibt es keinen bachweit und breit nichtsie haben geträumt

er hatte einen zweigim mund

er hat mich geküsster hat gelächelt

deine träumeverraten mirdeine spur

ich versuchesie

zu ergründen

wo du auch hingehstich will vor dir

dort gewesen sein

um gefahrendie dich bedrohen

zu verhindern

so geringist mein leben

mein sein

und das Immunsystem __✚ Neue Substanzen in der Entwicklung __

✚ Frauenarbeit in

stirb schnell

du kannst nicht mehr

meine tränen kermt keiner

so wie du

vom abschied nehmen ganz ermüdet sind wir nicht

in der lage

den letzten schmerz uns

zuzufügen

stirb schnell

gestern voreiIibriich

der dämmerung bin ich über den friedhof

gegangen vorbei

an deID:eiil grab

ich hatte keinen blick

für dich

ich wäre gestorben

"Wir müssen ein Leben aufbauen ~ " Im Workshop "Jung, jünger, positiv" trafen sich Positive einer neuen Generation: unter 30 und infiziert erst in Zeiten der Kombinationstherapie. Michael _ (27, _ ) und Ralf Jager (27, Amsterdam) geben Auskunft über jungpositive Perspektiven in Ausbildung und Beruf, die Schuldfrage, "HIV als Chance" und ihr ambivalentes Verhältnis zu "AIDS-Hilfe"-Organisationen

• Interview: Holger Wicht

Was hat euch darauf gebracht, einen Workshop für jüngere Positive zu organi­sieren. Michael? Michael: Die Intention war, jungen Men­schen mit HIV innerhalb der BPV ein Forum zu bieten, da es sie einfach gibt - in Osteu­ropa ja zu m Beispiel leider Gottes immer mehr. Es ging uns darum, erst mal europa­weit Konta kte zu knüpfen und zu gucken: Was kann man machen? Was wird woanders gemacht? Da gibt'sdann aufdereinenSeite unsere weitgehend unorganisierte Essener Gruppe ~Twentypluspos~, dann gibt's die or­ganisierten, stärker politischen Amsterda­mer, den äußerst engagierten Moskowiter Roman,dersich dem Aufbau der Selbsthilfe in Russland widmet - diese Vielfalt an einen Tisch zu bringen war die Intention des Workshops.

Ihr habt eure Testergebnisse nach der XI. Welt-AIDS-Konferenz in Vancouver 1996 bekommen, also schon in Zeiten der Kom­binationstherapien. Das "alteAlOS" kennt ihr vermutlich nur aus Erzählungen. Was verbindet ihr mit dem DPV-Motto "Alles bleibt anders!"? Michael: Das hat im Workshop natürlich für jeden eine andere Bedeutung gehabt Für den Moskowiter bleibt nichts anders, für den ist alles neu. Für uns West-Europäer beste­hen aufgrund der Geschichte von HIV und AIDS Strukturen, die wir teilweise schätzen, an denen wir a ber auch herumkritisieren.

Diese Strukturen haben für uns nichtunbe­dingt den Stellenwert, den sie noch vor zehn Jahren für viele Betroffene hatten. Trotzdem geht von unserem Workshop auch die For­derung nach einer Erneuerung bestehender Hilfsorga nisationen aus. Die AIDS-Hilfe·Be­wegung muss sich verstärkt einrichten auf eine Generation, die wahrscheinlich noch viele Dekaden mit HIV leben wird.

Worin besteht die besondere Situation junger Positiver? Michael: Da geht es zu m Beispiel mehr um Bedürfnisse nach Integration in der Schule und im Beruf. Junge Menschen stecken in Ausbildungen, Umschulungen, im Studium oder irgendwo im Berufsleben. Außerdem spielen medizinische Aspekte eine wichtige Rolle: Ich möchte nichtunbedingtjahrzehn­telang mit diesen Medikamenten und ihren Nebenwi rkungen leben müssen, denn dann würde ich wahrscheinlich gar nicht so viele

der AIDS-Hilfe ---+ Neues aus der HIV-Forschung ---+ Situation von Migrant(inn)en aus

life+MAGAZIN

Ralf Jager, 27, war zum Zeitpunkt der BPV in der IT-Branche tätig und arbei­tet jetzt bei der Schorer Foundation, der schwulen niederländischen Gesund­heitsorganisation. Er engagiert sich außerdem beim niederländisch-belgi­sehen Jungpositivennetzwerk "Jong positief". www.youngpositive.eom

••••••• 27 ("Kannst du schreiben: ,äußerst sport­licher Student und Single'?"), trifft sich einmal monatlich mit der Gruppe Twentypluspos in Essen, war in der Vorberei­tungsgruppe der BPV enga­giert und hat den Workshop für Jüngere mit initiiert. www.twentypluspos.de

Jahrzehnte schaffen. Kurz: Es geht um For- te40-Jährige zu: Fragen des Berufslebens, derungen und Wünsche, Träume, Perspek- Langzeitfolgen der Therapien ... tiven und Hoffnungen, die bei uns Jungposi Ralf: Ja, aber die Perspektive ist anders. tiven teilweise andere sind als bei den Wenn du 40 bist, hast du vielleicht dein Älteren . Haus, hast dein Geld . Wir müssen das erst Ralf: Für uns geht es darum, ein Lebenaufzu- noch aufbauen. bauen! Als junger Mensch musst du dir Per- Michael: Mit 40 hat man vielleicht schon ei­spektiven schaffen, aber wenn du infiziert ne gewisse Gelassenheit im Leben erreicht. bist, tauchen dabei oft besondere Probleme Man hat sich seinen Background aufgebaut. auf: Fürvielejüngere Infizierte ist es zum Bei- Wir sind in mancher Hinsicht im Leben noch spiel schwierig, die Motivation zu erhalten, nicht so weit vorangeschritten. Es geht ja zurSc.hule zu gehen und einen Job zu suchen. auch darum, erst mal mit so einer Infektion Und natürlich geht es auch um Sexualität. und den negativen Konsequenzen, die sie Über solche Dinge spricht man lieber mit haben kann, klarzukommen: Verlust von Leuten im eigenen Alter, statt etwas von ÄI- Freunden - beziehungsweise solchen Freun­teren zu hören. Die gehören ja zudem auch den, die dann eben doch keine sind. Verlust meist einer anderen HIV/AIDS-Generation des Arbeitsplatzes, Verlust des Selbstbildes. an, denn die meisten heute jungen Leute ha- Viele fragen sich: Bin ich jetzt nur noch posi· ben sicherst nach '96 infiziert. tiv und sonst nichts? Dann erkennt man

vielleicht: Ich bin auch noch vieles anderes -Vieles von dem. was du gesagt hast, trifft da steckt noch ganz viel Potenzial drin! Das aber zum Beispiel auch auf frisch infizier· alles fällt vielen jüngeren Positiven erst mal

schwerer, weil sie noch nicht so viel von sich selbst halten wie jemand, der mitten im Le ben steht und schon was geschafft hat. Die Älteren können mehr auf sich selber bauen . Ralf: Ich glaube außerdem, dass das Bild von HIV sich ändern muss. In den BOer Jah­ren ging es um das Thema wSterben an AIDS". Das stimmt ja heute so einfach nicht mehr. Doch für viele junge leute ist das Le­ben mit HIV heute nicht sichtbar. Deswe­gen ist es wichtig, dass HIV und AIDS wie der ein jüngeres Gesicht bekommen. Jeden Tag werden 7000 junge Leute auf der Welt infiziert, aber im Moment sieht man sie in den Organisationen kaum, sie sind nicht in· volviert. Dabei haben sie so viel zu sagen und können zu Lösungen beitragen! Michael: Eines ist im Workshop sehr schön rübergekommen: Zu klagen und die beste­henden Organisationen zu kritisieren reicht nicht. Man muss den Arsch schon selber hoch bekommen, auch wenn es für Jüngere vielleicht nicht so einfach ist, in eine be­stehende Infrastruktur reinzugehen. Den Schritt muss man erst mal machen.

Was macht diesen Schritt schwer? Michael: Dieser erste Schritt bedeutet ein­fach, den inneren Schweinehund zu über­winden. Es hat auch mit dem Gefühl zu tun, sich in Abhängigkeit zu begeben. Und schon der Name HAIDS-Hilfe" macht es schwer. Als Frischinfizierter hat man kein "AIDS~ , und ob man "Hilfe~ braucht, wird sich erst rausstellen. Klasse Sache, ~AIDS·Hil· fe~ - vor 20 Jahren. Heute ist der Begriff Gott sei Dank nicht mehr ganz stimmig ....

sozialrechtlicher Sicht (Eng!., Frz., Span.) -+ Im Osten nichts Neues? Selbsthilfe-

• Dann kommt man da rein und weiß nicht, was einen erwartet Was machen die da ei­gentlich? Hocken da jetzt nur alte, schwule Männer? Das macht's gerade für junge, frisch infizierte Frauen nicht einfacher, da hinzugehen. Und natürlich stellt man sich Fragen wie: Kennt mich da jemand? Es darf doch erst mal keiner wissen, dass ich infi­ziert bin, schließlich stecke ich mitten inder Ausbildung und muss noch viel erreichen! Und ich muss erstmal für mich selbst alles sortieren ... Das ganze Leben steht in dieser Situation auf einem sehr fragilen Sockel. Ralf: Es ist aber sehr wichtig, in solche Strukturen hineinzugelangen. Doch wenn junge Leute sich hineinbegeben, werden sie meistens aufgefordert, ehrenamtliche Ar­beit oder Prävention zu machen - für Leute, die kein HIV und AIDS haben - statt Hilfe zu bekommen und gute Prävention für sich selbst betreiben zu können. wTwentyplus­pos~ hingegen bietet Platz und Gelegenheit für junge Positive, mit anderen ins Gespräch zukommen. Michael: Von Betroffenen, mit Betroffenen, für Betroffene. Das ist kein professioneller Service-Anbieter wie die AIDS·Hilfe - wahr­scheinlich geht davon der Charme aus.

AIDS·Hilfe wollte immer genau das sein: von Betroffenen für Betroffene, mit Be-­troffenen, Mehr Selbsthilfe als professio­neller Servic:e--Anbieter. Michael: Was sie wollte, ist die eine Sache, und was sie aus der Sicht eines Frischinfi ­zierten ist, eine andere. Zunächst ist sie nun mal irgendwie dieses Ungetüm. Dahin­ter steht dann auch noch dieser ganze beängstigende Komplex Medizin, den man auch dann nicht versteht, wenn man sich monatelang damit beschäftigt.

Ich hatte bisher den Eindruck, dass du dich ganz gut auskennst ... Michael: Ich gebe hier wieder, was im Workshop gelaufen ist, nicht wie es mir per­sönlichgeht.

Dann möchte ich jetzt wissen, wie es dir persönlich geht. Michael: (überlegt) HIV ist für mich eine sehr große Chance. Und wenn es irgend­wann mal die Superpille geben wird, die al­les ungeschehen macht und quasi wieder ei­nen Negativstatus für uns alle bedeuten könnte, dann werde ich - glaube ich - sagen: Ich bin froh, dass ich mal positiv war. Ich ha· be dadurch schon viel gelernt für mich, von mir, ich hab tolle Menschen kennen gelernt. und ich habe ein Thema, auf das ich meinen

Fokus ausrichten kann.Ja, HIVisteineChan­cefürmich,und ich habe sie bisher in meiner Entwicklung gut genutzt

Was ist, wenn es diese Pille nicht gibt? Michael: Wenn's die Pille nicht gibt ... (schüt­

telt den KDpf) Nein, allein dieser Satz ... Mei­ne Hoffnung ist ganz klar, dass es irgend­wann diese Pille gibt. Auch weltweit, weil es eine schreckliche Katastrophe bedeutenwür­de,wennnicht.

Glaubst du denn auch, dass es sie in ab­sehbarer Zeit geben wird? Michael: Ja, ich glaube das auch.

Ralf, HIV als Chance? Ralf: (überlegt kurz) Eine wirklich harte Chance! (lacht) Auch ich habe viele tolle Leute kennen gelernt, viel über mich selbst gelernt, für mich selbst. Aberfürjunge Leute allgemein ist es sehr schwer, mit HIV und AIDS zu leben, insbesondere weil man sie nicht mehr sieht. Sie geraten häufig in die Isolation.

Erlebt ihr Diskriminierung? Michael: Es gibt zum Beispiel viele Arbeit­geber, die nicht wollen, dass bekannt wird, wenn sie Positive beschäftigen. Wenn man HIV-positiv ist oder HIV-Positive beschäf­tigt, bekleckert man sich nun mal nicht ge­rade mit Ruhm. Diesen Makel möchte man sich nicht anheften - zum Beispiel in der Gastronomie. Da wird das Wissen verdrängt durch den Mechanismus Angst. Angst vorm Unbekannten, Angst vor Kundenverlust. Ja, das gilt nach wie vor, auch in Zeiten der 10. BPV. Ralf: Wenn ich an meinem Arbeitsplatz in der IT-Branche erzählen würde, dass ich HIV-positiv bin, würden meine Arbeitgeber vielleicht nicht mehr in mich investieren. Ich könnte ja krank werden und nicht mehr die Energie und die Ambition aufbringen, die man braucht, um in dieser Branche hochzu· kommen. Ja, es gibt immer noch Diskrimi­nierung.

Was ist es für ein Gefühl, wenn leute Angst vor einem haben?

Aktivitäten in Osteuropa --+ Sehnsucht nach der Pillenpause --+ Rauschkunde 1 -

Iife+MAGAZIN

Ralf: Es gibt noch so viele Leute, die Angsthaben vor HIV, insbesondere in der schwu-len Szene. Das fühlt sich wirklich überhauptnicht gut an.

Ralf, du hast gesagt, ihr wollt der Infekti-on wieder ein Gesicht geben. Wie wolltihr junge Leute ansprechen?Ralf: Wir haben unsere Internetseite. Das isteine Plattform, wo junge Leute Informatio-nen bekommen können. Wir versuchen, aufdie Bedürfnisse und Fragen junger Positivereinzugehen.Michael: Es gibt in der Schwulenpresse im-mer mal wieder einen kleinen Bericht überuns. Am Anfang lagen auch Flyer aus, baldbekommen wir neue. Außerdem haben wireine Internet-Präsenz. Und wir arbeiten mitden Leuten von der Essener AIDS-Hilfe zu-sammen: Wenn jemand in unserer Alters-gruppe frisch infiziert ist, sagen sie ihm Be-scheid, dass diese Gruppe besteht.

Was hat es euch gebracht, dass euer Zu-sammentreffen hier auf einer BPV statt-fand, auf der auch viele Ältere waren?Michael: Viele Workshops sind ja unabhän-gig vom Alter interessant. Und natürlichkann man gerade in vielen Gesprächen amRande, an der Theke oder so, sehr viel ler-nen. Wir sagen ja nicht: Als Jung-Positivekönnen wir die Welt neu erfinden. Wir sindfroh, dass wir bestimmte Infrastrukturen nut-zen und kritisieren können. Und aus Feh-lern, die andere schon gemacht haben,können wir ja lernen. Es ist toll, dass wiran etwas anknüpfen können.

Was könnt ihr denn lernen?Michael: Dass man mit HIV alt werdenkann zum Beispiel.

(Hinter uns stehen Stellwände mitden HIV+-Plakaten der DAH, darunterauch das „Lipodystrophie“-Plakat.)Was denkt ihr, wenn ihr diese Plakateseht? Ralf: (fröhlich) Das sind alles Holländer!Michael: (lacht) Na, dann kann mir dasja nicht passieren.Ralf: Ich finde die Plakate wirklich gut.Das sind die Gesichter, die ich gerne se-hen möchte.

Macht so ein Bild auch Angst?Ralf: Nein, keine. Ich kenne sie alle, die aufden Plakaten abgebildet sind. Sie sind allesehr schön.Michael: Angst macht es nicht. Es ist einAnsporn, weiterzumachen.

Ihr habt offenbar beide einen relativ ge-lassenen Umgang mit eurer Infektion.Habt ihr im Workshop den Eindruck ge-habt, dass andere überhaupt nicht damitfertig werden?Michael: Es gibt – altersunabhängig – sehrviele Menschen, die damit nicht zu Randekommen. Für mich muss ich sagen: phasen-weise. Es gibt Situationen, wo ich damit her-vorragend klarkomme, und es gibt andere,wo ich im stillen Kämmerlein dann doch mal‘ne Träne vergieße. Natürlich gibt’s das auch,klar.

Warum vergießt du die Träne?Michael: (überlegt) Vielleicht muss mansich einfach manchmal für zehn Minuten sorichtig im Selbstmitleid suhlen, um sich da-nach aber auch ganz schnell wieder aufzu-bauen.

Wofür bemitleidest du dich dann?Michael: Ich glaube, ich mache da den ganzschrecklich menschlichen Fehler, HIV zu in-strumentalisieren und als Entschuldigungfür irgendetwas zu sehen – für Antriebslo-sigkeit möglicherweise, so nach dem Motto:Es könnte ja alles besser sein im Leben! Obdann wirklich alles besser wäre, das ist eineganz andere Sache.

Bist du echt so abgeklärt?Michael: Ja, ich glaube schon.

Was habt ihr gedacht über das großeThema des ersten BPV-Tages: Verantwor-tung und Schuldgefühle? Manche habengesagt, sie fühlen sich schuldig, weil siesich infiziert haben.

Ralf: Es ist nicht unsere Schuld, dass wir in-fiziert sind! Für mich ist das eigentlich keineFrage. Die Infektion liegt in der Vergangen-heit, ich kann nichts mehr daran ändern:Passiert ist passiert... Ich habe HIV undmöchte gerne weiterleben – das ist heutemein Thema.Michael: Es ist halt geschehen, und die Ge-schichte ist für jeden von uns ein paar Mon-de her. Die Warum-Frage habe ich mir niegestellt.Ralf: Aber für viele junge Leute ist dieSchuldfrage sehr mächtig. Das Gefühl: Wa-rum hast du das nicht gewusst? Warum hastdu nicht mit einem Gummi gefickt? Jetztbist du positiv – selbst schuld.

Gestern ist jemand von eurer Gruppe imPlenum gefragt worden: Wie kann maneigentlich heutzutage noch so blöd sein,sich zu infizieren. Was habt ihr da ge-dacht?Michael: Irgendwie hatte ich mir schon ge-dacht, dass die Frage wieder einmal kommt.Sebastian wird das seltsamerweise sehrhäufig gefragt.

Aber nicht auf Positiventreffen, oder?Michael: Doch, das letzte Mal war’s auchauf so einer Versammlung. Wer so eine Frageals Vorwurf stellt, kommt wahrscheinlich mitseiner eigenen Warum-Frage nicht klar. Ichweiß, dass Sebastian damit souverän umge-

hen kann, deswegen trifft es mich nicht.

Würdet ihr eine solche Bemerkung alsDiskriminierung betrachten? Eigent-lich gab es ja mal die Vereinbarung,dass man sich in Selbsthilfezusam-menhängen nicht gegenseitig Schuldzuschiebt. Michael: Diskriminierung? Nee, so weitwürde ich jetzt nicht gehen.

Möchtet ihr noch ein Schlusswortsprechen?Ralf: Wir brauchen wieder mehr Action!

Sind wir ein bisschen gemütlich ge-worden mit der Behandelbarkeit?Michael: Der Alltag hat uns eingeholt.Es stimmt schon: Nichts ist normal,auch wenn alle Welt von Normalisie-rung redet. Aber aufgrund der Kombina-tionstherapien ist der Horizont endlich

wieder offen für so viele schöne Möglichkei-ten. Vielleicht ist deswegen der Blick etwasverklärt, und man verkennt manchmal dieCrux, weil man froh ist, sich auch wieder mitanderen Sachen beschäftigen zu können. ♦

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Michael signiert das BPV-Plakat

Wechselwirkungen __✚ Wie funktioniert unser Gesundheits- und Sozialsystem? __

Lipodystrophie trifft etwa die Hälf-te der HIV-Positiven, die antiretro-virale Medikamente einnehmen.Äußere Zeichen sind ein einge-

fallenes Gesicht, dünne Arme und Beine,dicker Bauch und Nacken. Die zentrale Fra-ge des Workshops „Leben mit der Lipodys-trophie“ lautet: Was tun, wenn der Blick inden Spiegel tagtäglich den Preis der neuenBehandlungsmöglichkeiten sichtbar werdenlässt? Wie umgehen mit den „freundlichen“Reaktionen der Umgebung (manchmal auchvon Ärzt(inn)en oder anderen Positiven), diein ganz verschiedenen Formen auftretenkönnen: ● Verleugnung: Ich weiß nicht, was duhast... du hast für dein Alter doch eine ganzpassable Figur!● Bagatellisierung: Mach es nicht nochschlimmer, als es ist, andere haben ganz an-dere Pfunde zu tragen.● Sadismus: Es liegt ganz in deiner Hand,mit ein bisschen Sport und Ernährung kannstdu das Problem in den Griff bekommen...

Die Spannbreite der persönlichen Erfah-rungen der 35 Workshopteilnehmer/innenist groß: Einige mussten sich schon mit den

Symptomen der Lipo auseinandersetzen, alses noch keinen Namen für dieses Syndromgab, ein Mann hat gerade erst mit einer an-tiretroviralen Therapie begonnen und fürch-tet sich nun vor nichts mehr als vor densichtbaren Nebenwirkungen der Behandlung.

Sehr schnell kristallisieren sich wichtigeFragen heraus:● Wie lässt sich eine Lipodystrophie verhin-dern oder hinausschieben? Welche Rollespielen dabei die unterschiedlichen Medika-mente und die Kombinationen – gibt es bes-sere und schlechtere? ● Welche Möglichkeiten gibt es, die sichtba-ren Zeichen der Erkrankung in den Griff zukriegen? Welchen Sinn machen zum Beispiel„New Fill“ und Wachstumshormone?● Welche Möglichkeiten habe ich, selbstaktiv etwas gegen die „Lipo“ zu tun, etwadurch Ernährung und Sport?● Wie kann ich es mir auch dann noch gutgehen lassen und mich selbst lieben, wennich bestimmte Auswirkungen der Lipo nurbegrenzt beeinflussen oder nicht mehr ver-hindern kann?

Im Austausch zu all diesen Fragen wirdauch die Hilflosigkeit gegenüber den Aus-

wirkungen der Behandlung deutlich, dieEnttäuschung gegenüber den ursprüngli-chen Wünschen, Hoffnungen und Erwar-tungen an die Therapie. Im Workshop zeigtsich, dass sich die Beteiligten manchmalwie „Versuchskaninchen eines weltumfas-senden Therapieexperimentes“ erleben.Und gegen die Erfahrung solcher Ohn-macht hilft manchmal nur die Rettung inden Humor, auch wenn er „schwarz“ daher-kommt wie im Falle von Petra Klüfer! Nachall der Schwere der Diskussion ist durchihren Vortrag plötzlich herzhaftes Lachenmöglich. ♦

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Atrophie: Schrumpfung/Rückbildung, z.B.von Fett, Muskeln, OrganenBulimie: Fress-/BrechsuchtBiafra: Ende der 60er Jahre kurzzeitigRepublik auf dem Territorium Nigerias, inder katastrophale Nahrungsmittelknapp-heit herrschte, dementsprechend sahen„Biafra-Kinder“ oft ausgemergelt aus, undviele hatten aufgeblähte Bäuchebuffalo hump: wörtl.: Stiernacken, um-gangssprachliche Bezeichnung für Fettab-lagerung im Nackenbereich bei Lipodystro-phie-Syndromcrixy belly: Engl. Kurzform für Crixivan-Bäuchlein, benannt nach dem Protease-Hemmer „Crixivan“, spezielle Form der Fett-anlagerung im Bauchbereich bei Lipodys-trophie-SyndromKlimakterium: WechseljahreLipodystrophie: (auch L.-Syndrom) Störungdes Fettstoffwechsels mit Schwund desUnterhautfettgewebes (Lipoatrophie), z.B.an den Wangen, und Fettansammlung, z.B.im Nacken oder am Bauchbereich (➛ crixybelly)Liposuction: Fettabsaugungmetabolisch: den Fettstoffwechsel betref-fendMitochondrien: Funktionseinheit der Kör-perzellen, wichtig für den ZellstoffwechselNew Fill: Unterspritzen der Haut mit künst-lichen Eiweißstoffen, um die Haut (Epider-mis) nach Rückbildung von Fett durch Lipo-dystrophie zu glättenPareo: Polynesisch-span. WickeltuchPI: Protease-Inhibitoren=Protease-HemmerTriglyzeride: Unterklasse der Fette

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MAGAZIN

Lipodystrophie ist eines der unerfreulichen Schwerpunktthemen der letzten Jahre. Wie kann man mit der Fettstoffwechselstörung umgehen? Fragen und Antworten ausdem Workshop „Leben mit der Lipodystrophie“, in dem auch gelacht werden durfte

Der Spiegel als bester Feind

„Ist Blut dicker als Wasser?“ – Von biologischen und sozialen Familien __✚ Das schlä

Gibt es Wege aus der Ohnmacht?■ Workshopbericht von Karl Lemmen

VokabeltrainerMarkt der Möglichkeiten mit dem… …Lipodystrophie-Plakat

Offensichtlich habe ich bei derVergabe von unerwünschten Wir-kungen zweimal „Hier!“ geru-fen... Einige Monate nach Beginn

einer Therapie mit Protease-Hemmern (PIs*)stellte ich erste Veränderungen an meinemKörper fest: mehr Bauch, weniger Gesäß,auch meine „Reiterhosen“ schmolzen, Fettsammelte sich im Nacken und im Schulter-bereich und formierte sich zu einem klassi-schen „buffalo hump“.

Bei meinen monatlichen Arztbesuchennörgelte ich so lange, bis diese körperlichenVeränderungen auch fotografisch dokumen-

tiert wurden. Mein Arzt murmelte etwas vonhormonell bedingten Körperveränderungen– das ist ja so einfach, wenn man eine Frauals Patientin hat, alles auf das Klimakteriumzu schieben!

Im Wartezimmer der Ambulanz verglichich dann mit anderen die „Storchenbeine“.Für jedes anatomische Lehrbuch hätten wiruns gut als Modells bewerben können: ● Mann, 32 Lebensjahre, Arme und Beine

wie ein 80-Jähriger● Frau, 54 Jahre, Modell „Biafrakind“● Mann, 42, mit einem ausgeprägten „crixy

belly“.

„Was beschweren Sie sich eigentlich fort-während: Virologisch sind sie doch supergut eingestellt!“ – Das war stets die Ant-wort unserer Ärzte!

Doch dann kam die Welt-AIDS-Konferenz1998 in Genf: Von überall, wo PIs in denKombinationstherapien eingesetzt wurden,kamen Meldungen über Patient(inn)en, diediese metabolischen Veränderungen zeig-ten; auch die Laborwerte veränderten sich –zum Beispiel gab es Erhöhungen der Trigly-zeride – und ließen bei unseren Ärzten dieAlarmglocken schrillen. Man forschte nachden Ursachen, man nahm unsere Beschwer-den endlich ernst und tat sie nicht mehr alskosmetisches Problem ab.

Aber was half mir die Ursachenfor-schung? Der Spiegel wurde mein besterFeind; und dankbar sog ich jeden Hinweisauf mögliche Therapien auf. Doch beim Öff-nen der L-Carnitin-Ampullen brachen mir dieFingernägel ab, hohe Riboflavin-Gaben färb-ten meinen Urin, und „BioVital“-Margarineruinierte meinen Geldbeutel. Der war oh-nehin schwer in Mitleidenschaft gezogenvom Kauf neuer Klamotten: Wo findet manbitte Jeans der Größe „Taille 44, Hüfte 36“?

Das Medikament zur Senkung meinerBlutfettwerte schlug mir auf die bereits ge-schädigten Mitochondrien – also wiederweg damit und versuchen, durch diätetischeErnährung die Werte zu bessern.

In dieser Zeit entwickelte sich „Lipo-Spot-ting“ zu meinem Lieblingssport: In einemStraßen-Café in der Fußgängerzone wander-ten so herrliche Beispiele von Lipo in der All-gemeinbevölkerung an mir vorbei: Hier eineJunk-food-Lipo, dort eine Sport-Muffel-Lipo,und da liegt – hups! – eine Biertrinker-Lipovor, und hier eine Alters-Lipo, igitt: eineKleidungsstil-Lipo (superenge Leggings undknallenges T-Shirt bei 90 Kilo Gewicht ), undhier ein wunderbares Paradebeispiel einerBayerischer-Politiker-Stiernacken-Lipo – aberdas da, das könnte doch eine HIV-bedingte

Lipo sein... Oder doch nicht? Ist dieser jungeMann nun atrophisch oder bulimisch?

Da ich aber nicht die „Lizenz zum Leiden“gepachtet habe: Was kann ich eigentlichtun, um mit diesem Syndrom umzugehen?Verstecken oder nicht? Bauchfreie Tops mitSpaghetti-Trägern sind also out, aber kurzeHosen und Röcke bleiben. Statt Bikini lieberBadeanzug und Pareo, oder sollte ich besserkonvertieren zu einer Religion, wo Frauennur voll bekleidet baden gehen? Stretch-jeans statt Umstandshosen, Sprüche wie„Du siehst aber gut aus“ werte ich eher alsKompliment denn als Hinweis auf meineFettzunahme . Aber dann geriet ich doch einbisschen aus der Fassung, als meine kleineNichte sagte: „Petra, kann ich auf deinenSchoß – ach, da sitzt ja schon dein Bauch...“.

Zu meinem Selbstschutz trug bei, dassich als Teilnehmerin einer Studie zur Fett-stoffwechselforschung erfuhr, dass ich aneinem Gen-Defekt leide; meine Lipo ist alsonicht hauptsächlich der Kombi-Therapie undder Infektion zuzuschreiben. Und über-haupt: Mit 58 Jahren hat man eben einenanderen Körper als mit 20! Egal ob schwuloder hetero, egal ob man Sport treibt, Anti-Aging-Produkte nimmt, Liposuction oderNew Fill ins Auge fasst.

Die Werbekampagnen der Pharma-Indus-trie beäuge ich skeptisch: Ach, mit der PilleX kann ich wieder Berge erklimmen, das Me-dikament Y lässt mich die Welt umsegeln,wenn ich X und Y und Z und S kombiniere,dann kann ich mit meinem Traumprinzen(Six-Pack, knackiger Hintern, Muckis) ver-träumt und verliebt und engumschlungen inden Sonnenuntergang wandeln. Da ich dasalles aber nicht kann, nehme ich offenbarentweder die falsche Therapie – oder diePharmas lügen schlicht und einfach!

Meine Lebenseinstellung ist weiterhin ge-prägt von Akzeptanz und gesunder Ironie:

Wer mich nicht so liebt, wie ich bin, hatschlechte Karten! Ich akzeptiere mich so,wie ich nun mal aussehe. Und diese Haltungwird auch von meinem Umfeld belohnt: Beiunserem Hamburger CSD 2000 hat manmich mit Schärpe, Krönchen und viel Beifallzur „Miss Lipo 2000“ gekrönt! ♦

Petra Klüfer, 58, lebt in Hamburg. Sie ist seit1993 in der Selbsthilfe aktiv, u.a. 1996 als

Gründungsmitglied des Selbsthilfenetzwerkesder Menschen mit HIV und AIDS. Sie ist Mit-glied im Vorstand der AIDS-Hilfe Hamburg,

im Delegiertenrat der Deutschen AIDS-Hilfe,im Fachbeirat „Kirche und AIDS“ der Nord-

elbischen Kirche und beim Community Boardzum 9. Deutschen AIDS-Kongress

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Petra Klüfer und BPV-Teilnehmer Sven

Lipo-Else – das unbekannte Wesen

Ein Redebeitrag aus dem Workshop „Leben mit der Lipodystrophie“

■ von Petra Klüfer

gt mir auf die Leber – HIV und Hepatitis __✚ Internetschulung für Fortgeschrittene

* Fachwörter siehe „Vokabeltrainer“ links

Du hast den Workshop „Sehnsucht nachder Pillenpause“ geleitet. Was für Bedürf-nisse, Wünsche und Fragen haben die Leu-te heute in Bezug auf „Drug Holidays“? Bei den meisten hat das Bedürfnis nachTherapiepausen mit Nebenwirkungen zutun: Viele haben seit Jahren sehr regel-mäßig und virologisch erfolgreich Medika-mente eingenommen und leiden nun unterLipodystrophie oder -atrophie. Andere ha-ben schon lange mit ständiger Müdigkeit zukämpfen oder mit dem Einfluss der Therapieauf die Libido – etwa deutlich verminderteLust oder Erektionsstörungen. Nicht zuletztgibt es Anfragen, ob man während eineslängeren Urlaubs nicht einfach mal ausset-zen kann, weil es zum Beispiel im tiefstenIndien an Kühlmöglichkeiten für bestimmteMedikamente mangelt. Es gibt also auchganz lebenspraktische Gründe.

Reichen Zeitspannen von einigen Wochen,um eine Lipodystrophie zu bremsen?Das ist eine spannende Frage. Meistens ha-ben es ja jene Patienten besonders stark miteiner „Lipo“ zu tun, die schon lange infiziertsind und auch schon lange Medikamentenehmen. Das sind aber genau diejenigen,bei denen wir vorsichtig sind mit Therapie-pausen, weil sie in der Regel vor der Thera-pie schlechte Ausgangswerte hatten. In ei-ner Pause rutschen nämlich die Helferzellenfrüher oder später auf den bisherigen Tiefst-stand in Zeiten ohne Therapie ab – in diesenFällen eben manchmal unter 150 oder 100,und dann sind plötzlich die opportunisti-schen Infektionen wieder da. Das kann nachschon acht Wochen der Fall sein oder erstnach acht Monaten. Ganz allgemein gilt:Meistens müssen wir aus virologischenGründen zu schnell wieder mit der Therapie

beginnen, als dass eine „Lipo“ sich zurück-bilden könnte. Beim Verlust von Fett, etwaim Gesicht, ist das wahrscheinlich ohnehinnicht möglich, weil dabei bestimmte Zellendauerhaft zerstört werden. Ich kenne aberein paar Fälle, in denen eine Fettansamm-lung im Bauchbereich, die sich innerhalbvon Wochen gebildet hatte, während einervierteljährigen Pause restlos zurückging.

Inwiefern können Pausen trotzdem einekörperliche und psychische Erholung be-deuten?Viele sagen während einer Pillenpause: Jetzt

merke ich erst mal wieder, wiemein Körper sich eigentlich an-fühlt, und ich kann endlich zu-ordnen, was alles durch die Me-dikamente ausgelöst war. Gera-de Nebenwirkungen wie Müdig-keit, Schwäche und Durchfälle,die man irgendwann akzeptierthat, lassen dann deutlich nach.Und nicht zuletzt sind „DrugHolidays“ auch ein gedankli-cher Urlaub von der Erkran-kung, weil man nicht ständigüber die Einnahme daran erin-nert wird. Viele sagen dannübrigens am Ende eines solchenUrlaubs: Jetzt möchte ich wie-der anfangen, ich brauche dieKraft, die mir die Medikamenteermöglichen. Man stellt auchden Wert der Therapie neu fest,wenn sich nach ein paar Wo-chen das Virus wieder breitmacht und sich etwa Durchfälleeinstellen.

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„Pillenpausen sind fast immer

möglich“

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MAGAZIN

Was sind „Pillenpausen“und „strukturierte The-rapieunterbrechungen“?

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Variantender „Therapiepausen“: Die normale „Pillenpause“,auch „Drug Holidays“ genannt, dient dem kör-perlichen und psychischen „Urlaub“ von den Me-dikamenten, der Erholung von ihren Vorschriftenfür die Einnahme und vor allem den unerwünsch-ten Nebenwirkungen. Die „strukturierte Thera-pieunterbrechung“ hingegen zielt auf eine Ver-besserung des Therapieerfolges in virologischerHinsicht: Durch einen Wechsel zwischen Therapieund Pause soll, so die Hoffnung, das Immunsys-tem gewissermaßen trainiert werden, um selbstbesser mit dem Virus klarzukommen. Dieser Ef-fekt scheint jedoch bisher nur bei wenigen Pati-ent(inn)en einzutreten, und zwar hauptsächlichbei jenen, die ihre Therapie einst mit sehr gutenImmunwerten begonnen haben, bei denen sienach heutigen Standards noch keine Medikamen-te erhalten beziehungsweise benötigen würden.

Beide Modelle werden derzeit noch erforscht.Das betrifft auch die mögliche Dauer der Unter-brechungen. In einer amerikanischen Studie wur-de vor kurzem ein wöchentlicher Wechsel zwi-schen Therapie und Pause erprobt. Beim Absetzender Medikamente dauert es nämlich normalerwei-se etwa 7 bis 10 Tage, bis die Viruslast wiedermessbar ansteigt; in dieser Studie wurde alsoschon wieder mit der Therapie begonnen, bevorHIV sich erneut ausbreiten konnte. Das Ergebnisklingt nicht schlecht: Keiner der Beteiligten trugin irgendeiner Weise einen Nachteil davon – beiinsgesamt nur der halben Medikamentendosis.

Welche Arten von „Pillenpause“ sich durchset-zen werden, lässt sich derzeit noch nicht sagen.Sicher ist aber: Auf keinen Fall sollte man ohneärztliche Begleitung in den „Urlaub“ starten,denn das kann fatale Folgen haben. Um Resis-tenzbildungen zu verhindern, müssen zum Bei-spiel NNRTIs (Viramune, Sustiva, Rescriptor) zueinem exakt bestimmten früheren Zeitpunkt ab-gesetzt werden als die anderen Medikamente,weil sie länger im Blut wirksam bleiben. Pillen-pausen sollten außerdem sehr sorgfältig diagnos-tisch begleitet werden. (chmhowi)

– Wie bewerte ich Informationen? __✚ Leben mit der Lipodystrophie (Erfahrungsaus

Der Berliner Schwerpunktarzt Christoph Mayr über Chancenund Risiken des Unterbrechens einer antiretroviralen Therapie ■ Interview: Holger Wicht

Es gibt auch Positive, dieeine Therapiepause fürsich ablehnen. Haben diekeine Probleme mit ihrerTherapie? Es gibt Menschen, die ihreTherapie so gut vertragen,dass sie kein Bedürfnisnach einer Pause verspü-ren. Die sagen: Es geht mirmit der Therapie besser alszuvor. Manche fühlen sichmit Therapie auch einfachsicherer. Einigen geht es jasogar schon kurz nach derEinnahme der ersten Tablet-ten besser. Das ist pharma-kologisch nicht zu erklären,sehr wohl aber psycholo-gisch.

Eine Therapiepause kann ja psychologischauch bedeuten: Jetzt lasse ich dem Virusin mir erst mal freien Lauf.Solche Sachen spielen bei uns Menschenselbstverständlich immer eine Rolle. Dannsollte eine Therapiepause auch seitens desArztes kein Thema mehr sein. Wir wollen nie-manden in eine Pause drängen, der es nichtwill.

In Bielefeld war aber auch die Überlegungzu hören: Wir brauchen Therapieunterbre-chungen, weil man diese Medikamenteansonsten über lange Zeiträume nicht ver-

kraften kann. Immerhin reden wir heuteschon von Jahrzehnten.

Sicherlich, die Diskussion über Thera-piepausen wurde aus der Not geboren, an-gestoßen von Leuten aus der Selbsthilfe.Möglicherweise steuern wir derzeit wirklichauf eine grundlegende Veränderung bei denantiretroviralen Therapien zu: Eine Pausekann Nebenwirkungen reduzieren, und zu-gleich kann es keine gute Strategie sein, un-unterbrochen und lebenslang mit einer har-ten Chemotherapie zu behandeln – bei Tu-moren wird auch zyklisch behandelt. Ichkönnte mir vorstellen, dass regelmäßigePausen von vier bis acht Wochen mittel-fristig der Normalfall sein werden. Derzeitist es aber unumgänglich, in jedem Einzel-fall genau abzuwägen: Was ist schlimmer –die Pause mit verstärkter Virusvermehrungoder die ständigen Nebenwirkungen, die jadie Lebensqualität stark beeinflussen.

Was besprichst du mit Patienten, die mitdem Wunsch nach einer Pause zu dir kom-men?Mich interessiert vor allem, was die Motivati-on ist und was sich der Patient schon für Ge-danken gemacht hat: Wie er sich die Pausevorstellt, wie lange er sie plant. Außerdemmuss ich wissen, wie hoch der bisher niedrigs-te Helferzahlstand ohne Therapie war, wiehoch die höchste Viruslast und welche Er-krankungen es in Folge der Infektion bereitsgegeben hat. Diese Informationen helfen, diemöglichen Folgen einer Pause abzuschätzen.

Musst du viele Patienten mit dem Wunschnach einer Pause enttäuschen?Studien und praktische Erfahrungen zeigeninzwischen: Bei Pausen bis zu drei Monatensind höchstwahrscheinlich keine gravieren-den Nachteile für den Patienten zu erwar-ten. Das Risiko einer Resistenzentwicklungoder eines Therapieversagens, wenn manhinterher mit denselben Medikamenten wei-termacht, ist ziemlich gering. Eine Unterbre-chung der Therapie ist so gut wie immermöglich – über einen befristeten Zeitraum.Sie sollte allerdings nie ohne Arzt unter-nommen werden.

Ist sich die Medizinerschaft in dieser Fra-ge einig?Das Thema wird heiß diskutiert. MancheKollegen stehen Pausen grundsätzlich kri-tisch gegenüber, weil man damit dem VirusGelegenheit gibt, neue Zellen zu infizieren,zu schädigen, zu zerstören und weil theore-tisch die Gefahr einer Resistenzentwicklungbesteht. Die „Hardliner“ sind Leute, die sichpermanent wissenschaftlich mit dem Themabeschäftigen, wie man die Viruslast geringhalten kann. Klar, dass man mit dieser Fra-gestellung im Kopf nicht für Pausen seinkann. Mir als Arzt sitzen aber konkrete Men-schen mit ihren Bedürfnissen und Nöten ge-genüber – da stellt sich die Situation oftganz anders dar. Ich habe den Eindruck,dass die Gegner der Therapiepausen eher imLabor und die Befürworter eher in der Praxissitzen. ♦

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tausch) __✚ Weibliche Sexualität __

✚ Langzeitpositiv – lange Zeit positiv? __✚ „Fisch

Pause bei Laura

MAGAZIN

Prolog

Es gibt Themen, die man erloschen glaubtoder deren Feuer man nach all den Jahren,die man sie kennt, für nicht mehr allzu ge-fährlich hält. Der einstige Vulkan speit kei-ne Lava mehr, der Krater ist längst verschüt-tet von allerlei abgekühltem Geröll. Überdie darunter begrabenen Themen sprichtman nicht, und so bleibt der gewaltigeDruck unbemerkt, der sich mit der Zeit unterder Oberfläche aufbaut – bis er mit großerMacht doch wieder zum Ausbruch kommt.So geschehen im Eröffnungsplenum des ers-ten BPV-Tages unter dem Titel: „HIV undAIDS – gestern und heute“. Das Thema, das

ganz offenkundig nicht nur das Gestern,sondern auch das Heute berührt: Schuldund Verantwortung. Der Anlass: ein Referatvon Frank Jaspermöller aus Berlin, ehemalsVeranstalter der bekannten schwulen Co-ckerpartys und heute Chefredakteur desschwulen Magazins „Männer aktuell“. Frankspricht von Verantwortung, die er als Positi-ver anderen gegenüber empfindet. Und daslöst fliegende Funken aus, laute Explosio-nen und heiße Lava-Ströme...

1. Akt: Coming-out

„Die Geschichte beginnt eigentlich vor etwasüber einem Jahr. Im September habe ich

mich in dem Berliner Stadtma-gazin ,Siegessäule‘ als HIV-Posi-tiver geoutet. Eigentlich sprichtman über eine Infektion ja nichtmehr öffentlich. Man nimmt sei-ne Pillen und hält die Klappe.Der Grund, weshalb ich diesesneue Tabu gebrochen habe: Ichtraf immer mehr junge Männer,die immer häufiger Sex ohneGummi machten. Sie waren derMeinung, dass sich heute kaumnoch jemand mit HIV infiziert.Und wenn es doch passiert,dann gibt es ja Medikamente,und alles geht weiter wie bis-her. Ich hatte an meinem eige-nen Körper, und auch an meinerSeele, gespürt, dass das nichtstimmt.“ (Frank Jaspermöller inseiner BPV-Berichterstattung für„Männer aktuell“, 10/2002)

Frank betritt in Bielefeld dieBühne, weil er gemerkt hat,„wie wichtig mir Verantwortunggeworden ist. Auch die Verant-wortung für andere. Weil ich siefür mich selbst in einem ent-

scheidenden Augenblick nicht wahrgenom-men hatte. An meiner Infektion war ich sel-ber schuld – mea culpa. Kein geplatztesKondom, keine Bluttransfusion, sondern un-geschützter Analverkehr mit einem Positi-ven. Dümmer geht’s nimmer.“

2. Akt: Schuld und Sühne

„Schuld“ an der eigenen Infektion? Klar,dass solche Formulierungen Widerstandhervorrufen auf einer Veranstaltung derSelbsthilfe, deren Ursprünge unter der Fah-ne mit der Aufschrift „Keine Rechenschaftfür Leidenschaft“ entstanden – in Opposi-tion zu christlichen Moralisten, aus derenVokabular das Wort „Schuld“ – und erstrecht das lateinische „Mea culpa“ – entlehntist. Zudem bricht Frank mit einer Konven-tion, indem er den Positiven die Hauptlastder Verantwortung beim Sex zuschreibt –und zugleich seine eigene Infektion als per-sönliches „Versagen“ darstellt.

Es geht hoch her im Morgenplenum, bissich zwei extreme Positionen gegenüberste-hen: „Es ist mir scheißegal, ob jemand posi-tiv wird oder nicht“, sagt einer, währendFrank sich noch wundert, was für erhitzteGefechte er ausgelöst hat. Ein anderer gibtzurück: „Eine solche Kaltschnäuzigkeit wün-sche ich mir von uns nicht!“*

Und dann passiert es: Jemand fragt einenjungen Mann auf dem Podium, wie er sichheutzutage überhaupt noch habe infizie-ren können – die Übertragungswege seienschließlich bekannt. Erbitterter Widerstandaus dem Plenum. Jemanden aufgrund seinerInfektion anzuklagen ist ein noch größererTabubruch als sich selbst schuldig zu „beken-nen“ – und wahrscheinlich die zwangsläu-fige Folge dieses Denkens, das individuelleVoraussetzungen bei der Infektion (von Unsi-

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Tanz auf demVulkan

Schuld und Verantwortung sind noch immer ein hoch explosives Thema. Anlässlich eines streitbaren Referates im Plenum kam am ersten BPV-Tag

ein kleines Drama zur Aufführung

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Frank Jaspermöller

sucht Fahrrad“ – Partnerschaft und HIV/AIDS __✚ „Flying so high...“ – Drogen und

* Zitate aus „Männer aktuell“, s.o.

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Hat es dich überrascht, dass Schuld undVerantwortung plötzlich zum Thema desTages wurden?Erstmal schon. Aber ich fand es klasse, dass eskontrovers diskutiert wurde. Ich wusste ja vor-her, dass Frank eine moralische Haltung ver-tritt, nach der Menschen mit HIV per se mehrVerantwortung beim Sex tragen als Negative.Das wird von vielen Positiven als Provokationempfunden, andere teilen diese Meinung. Esgeht um den Dreh- und Angelpunkt in der Fra-ge nach der Verantwortung: Gibt es so etwaswie ein Ungleichgewicht zwischen Infiziertenund Nicht-Infizierten?

Und gibt es das?Man kann nicht pauschal sagen: Menschen,die einen Virus tragen, haben mehr Verant-wortung als Menschen, die keinen Virus ha-ben. Ganz allgemein trägt jeder erstmal dieVerantwortung für sein eigenes Handeln. Wenn wir nun über die Fähig-keit sprechen, Verantwortung für sich und andere wahrzunehmen, kön-nen wir das nur auf der individuellen Ebene tun: Nicht die Infektion istentscheidend, sondern die Persönlichkeit eines Menschen.

Ein Betrunkener oder ein verunsicherter Junge im schwulen Coming-out kann die Verantwortung für sich selbst vielleicht nicht so gutwahrnehmen. Wenn jemand positiv ist und zugedröhnt, ist er ebenso eingeschränkt inseiner Verantwortungsfähigkeit wie jemand, der negativ ist und sich un-ter Drogeneinfluss im Darkroom seinen innersten Wünschen nach unge-schütztem Sex hingibt. So eine Einschränkung gilt immer für beide.

Könnte etwas mehr moralischer Druck gegenüber Positiven abernicht vielleicht trotzdem helfen, Neuinfektionen zu verhindern? Moral ist kein geeignetes Mittel dieser Debatte – obwohl es immer umMoral geht. Druck schreckt eher ab, als dass er zur Auseinandersetzung

anregt. Die Debatte muss ohne Selbstzerflei-schung und ohne Vorverurteilung stattfinden,wenn sie etwas bringen soll. Ich fand die Dis-kussion in Bielefeld auch gerade deswegensehr erfreulich, weil sich Verantwortung nurentwickeln kann, wenn man darüber spricht.Denn Verantwortung ist uns nicht angeboren– man muss sich im Gespräch mit anderen da-mit auseinander setzen, was sie für einenselbst und das jeweilige Gegenüber bedeutet.Ich kenne übrigens kaum jemanden, dem esgleichgültig wäre, ob er das Virus weitergibtoder nicht – wenn auch so mancher ausSelbstschutz eine radikale Haltung einnimmtund verbal jede Verantwortung von sich weist.Bei sehr vielen gibt es vielmehr die Angst, je-manden zu infizieren – sei das nun der gelieb-te Freund oder ein anoymer Sexpartner.

Es ist gut, dass diese Angst in Bielefeldenttabuisiert wurde, doch sie ist keine morali-

sche Kategorie. Es gibt beim Sex nun mal Momente, in denen die Angstnicht so präsent ist und bei denen beide nicht an Schutz denken – das Ir-rationale, Rauschhafte gehört bei Sexualität nun einmal dazu. Und dieAngst stellt sich erst wieder ein, wenn der Sex vorbei ist.

Und mit ihr die Schuldgefühle.Ja, und das Gefühl, versagt zu haben. Oder dass man den anderen vorherhätte informieren müssen.

Es gab auch Schuldzuweisungen: Wie kannst du als junger Schwulerdich denn bitteschön heute noch mit HIV infizieren?Das gibt der Debatte eine enorme Sprengkraft. Gerade wenn jemandsagt: Ich habe es damals in den 80ern nicht wissen können, aber du hastdich nach zwanzig Jahren HIV-Prävention infiziert. So etwas hören jünge-re Infizierte auch von ihren Familien, Freunden und vielen anderen. Aberes ist für viele noch sehr viel verletzender, wenn es von anderen Positivenkommt. (Interview: howi)

„Eine Frage der Persönlichkeit“

Dirk Hetzel, HIV-Referentder DAH, über Schuld und Verantwortung

cherheit bis Trunkenheit) ebenso ausklam-mert wie das Wesen der Sexualität, nicht ra-tional, nicht immer kontrolliert zu sein.

Schuld und Verantwortung bleiben denganzen Tag lang Thema in zahlreichen Ver-anstaltungen der BPV, ebenso auf den Flu-ren und in Lauras Café. Zwei wesentlicheArten von Schuldgefühlen kristallieren sichdabei heraus: Einige fühlen sich schuldig,weil sie sich infiziert haben. Andere fühlensich schuldig, weil sie ihre Sex-Partner/in-nen infizieren könnten. Einige empfindenbeides als belastend. Andere regen sich vorallem darüber auf, wie hier über Verantwor-tung Positiver diskutiert wird: „Die kommenbloß mit ihren eigenen Schuldgefühlennicht klar“, sagt einer. Er meint: Sie predigenVerantwortung, um Ablass für ihre eigenenSünden zu erhalten.

Verantwortung als Sühne?

3. Akt

Im Workshop „‚Mea culpa‘ – Verantwor-tung und Schuld“ geht die Diskussionweiter. Das Klima ist trotz aller heftigerDifferenzen überwiegend freundlich. AmEnde entschließen sich Frank und ein „Kon-trahent“, abends beim Abschlussplenumihre Meinungsverschiedenheit gemeinsamdarzustellen. Sie erklären dort schließlichauch, voneinander gelernt zu haben, obwohlsie noch immer verschiedener Meinungsind.

Einen Monat später berichtet Frank in„Männer aktuell“ über das Geschehen aufder BPV und zitiert dabei einen Workshop-teilnehmer, der gesagt hat: „Klar, wir müssenverantwortungsvoll handeln. Aber wir kön-nen anderen die eigene Verantwortung, die

sie für sich haben, nicht völlig abnehmen.Weil Positive nun mal dieselben Schwächenhaben wie alle anderen auch. Vielleicht so-gar noch mehr. Und darum muss sich jederselbst schützen.“

Epilog

Das Zitat liest sich versöhnlich, löst denKonflikt aber nicht auf. Doch jetzt, da diebrennenden Eruptionen wieder einmal vor-bei sind, der Rauch sich verzogen hat unddie Lava erkaltet ist, erinnern dieses Zitatund auch Franks Artikel daran, dass die Dis-kussion entstanden ist, weil jemand andereMenschen vor etwas schützen wollte, dasihm selber viel Leid beschert hat. Sicher keinschlechtes Motiv. ♦

(Holger Wicht)

Sex __✚ „Mea culpa“ – Verantwortung und Schuld __

✚ Schwule Sexualität – PositHIV?

MAGAZIN24

Über die BVA ist eine

eigene Dokumentation

erstellt worden. Sie

ist beim Versand der

Geschäftsstelle der

Deutschen AIDS-Hilfe

erhältlich und unter

www.aidshilfe.de im

Internet abrufbar.

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Nach den guten Erfahrungenbei den „Positiven Begegnun-gen“ in Berlin im Jahr 2001findet die 5. Bundesversamm-

lung der An- und Zugehörigen erneut zeit-gleich und unter einem Dach mit einer Po-sitivenversammlung statt. Das Vorhaben,die Grenzen zwischen den verschiedenenGruppen aufzulösen, gelingt: Teilnehmer/-innen beider Veranstaltungen besuchenauch Workshops der jeweils anderen, und esgibt in Bielefeld Familien, bei denen die ei-nen Mitglieder an der BVA teilnehmen, dieanderen an der BPV (siehe auch Interviewauf Seite 26 und Schlusswort von AchimWeber auf Seite 37).

Immer wieder von zentraler Bedeutungauf den Versammlungen der An- und Zu-gehörigen ist der Austausch über die per-sönlichen Lebensgeschichten. In den fast

ausnahmslos sehr gut besuchten Veranstal-tungen in Bielefeld stehen außerdem fol-gende Themen im Vordergrund:

● (Hetero-)Sexualität in der Partnerschaftzwischen Positiven und Negativen. DieSchwerpunkte verschieben sich: „Ich habden Schwanz nicht mehr so im Kopf“und „Die Zärtlichkeiten sind dominantergeworden“ waren Äußerungen auf derBVA.

● Sexualität stellt ein sehr komplexes undschwieriges Themenfeld dar. Es entfaltetsich zwischen so verschiedenen Bedürf-nissen wie Ansteckungsvermeidung undmittlerweile verstärkt dem Wunsch nachSchwangerschaft.

● Kinderwunsch und Schwangerschaft

Lisa Schulz (18) freut sich, dass sich die Teilnehmer/innender BVA ganz offen ihre Lebensgeschichten erzählen. Sieselbst berichtet bei der Abschlussveranstaltung (Foto) überdas Leben mit ihrer heroinabhängigen, HIV-infiziertenMutter und deren Tod im Jahr 1996. Lisas BPV/BVA-Fazit:„Eine tolle Gemeinschaft – ich fühle mich sehr wohl hier.“

__✚ „Alles auf Anfang“ – Workshop für „neue“ An- und Zugehörige __

✚ „Wie das Le

Die Schwerpunkteverschieben sich

Themen und Menschen der 5. Bundesversammlungder An- und Zugehörigen

● Integration neuer Teilnehmer/innen fürdie Netzwerkarbeit, hier insbesondereMitglieder der sozialen Familie, also zumBeispiel Partner und Freunde. Es stelltsich immer wieder heraus, dass dasNetzwerk mit seinem Internetangebot(http://angehoerige.aidshilfe.de) einewichtige Möglichkeit ist, aus „dem Ver-steckspiel und der Isolation in einemDorf auszubrechen“.

● Die Kombinationstherapie führt nebenihren Erfolgen zu neuen Fragen und Pro-blemen: Sie wirkt sich auch massiv aufPartner und andere An- und Zugehörigeaus, zum Beispiel durch den Rhythmusder Medikation, Nebenwirkungen unddie Frage nach Therapiepausen. Elternmüssen feststellen, dass die Situation fürihre Kinder mit HIV durch die Kombinati-onstherapie nicht unbedingt einfachergeworden ist.

● Es werden mehr verbindliche juristischeInformationen zum Themenkomplex Vor-sorge und Patient(inn)enverfügung be-nötigt. Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH)erstellt derzeit eine Broschüre, die jedemund jeder die Möglichkeit eröffnen soll,die individuelle Vorsorge für den Krank-heits- und Todesfall zu regeln.

● Gleiches gilt für die Organisation und Fi-nanzierung von Pflegesituationen. Hierzu

gibt es von der DAH bereitseine umfassende Broschüre,die wegen der hohen Nach-frage wieder nachgedrucktwerden muss.

● Die Stigmatisierung von AIDSin der Öffentlichkeit hat nichtabgenommen. Soziale Aus-grenzung, Verlust von Freund-schaften kommen weiterhinvor und sprechen für einenindividuellen und familiärenSchutz: „Man lebt in ver-schiedenen Öffentlichkeiten:im Ort, im Berufsleben undso weiter“, lautet eine Fest-stellung. Vor diesem Hinter-grund wird von vielen beson-ders der Schutz von Kindernals wichtig empfunden. Andiesem Punkt zeigt sich deut-lich, dass sowohl Antidis-kriminerungsarbeit als auchdie Förderung und Unter-stützung von Selbsthilfeakti-vitäten weiterhin dringendnotwendig sind. Denn auchnach 20 Jahren AIDS kann indiesem Punkt noch langenicht von Aufgeklärtheit undAkzeptanz gesprochen wer-den. ♦

Achim Weber

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„Hier geht es um Selbsthilfe!“Viele An- und Zugehörige würdengerne auch alle BPV-Workshopsbesuchen dürfen, doch dasBedürfnis der Positiven nachgeschützten Räumen geht vor

Ist der Workshoptitel im Programmheft miteinem Sternchen gekennzeichnet? Für An-und Zughörige, die selbst nicht infiziert sind,entscheidet dieses Zeichen über die Erlaubniszur Teilnahme an den Veranstaltungen derBPV. Sternchen heißt: auch für Negative of-fen. Kein Sternchen heißt: nur für Positive.

Solche Zugangsbeschränkungen – auchauf der BVA gibt es welche – wurden bei derVorbereitung der Gemeinschaftsveranstal-tung sowohl von Positiven als auch von denAn- und Zugehörigen gewünscht. Dennochsind viele Workshops auf beiden Veranstal-tungen für alle „offen“.

Trotzdem bedauern nun manche Angehöri-gen, nicht in jeden Workshop für Infiziertegehen zu können. Peter aus Berlin zum Bei-spiel hätte sein Freundin gerne beim Erfah-rungsaustausch für Langzeitpositive beglei-tet, musste aber einsehen: „Die wollten lieberunter sich sein. Irgendwie kann ich das auchverstehen, aber schade ist es schon.“ – „Ganzschön schwierig“, findet auch Susanne ausHamburg das Thema. „Ich bin sicher, dass dieSeminare ohne Sternchen mir viel eher helfenwürden, meinen Bruder besser zu verstehen.“

Doch dem Bedürfnis vieler Angehörigernach Transparenz steht der Wunsch der Positi-ven nach geschützten Räumen und Diskretionentgegen. Wolfgang von der Vorbereitungs-gruppe der BPV formuliert es so: „Wir brau-chen dieses Unter-uns-Sein, um Sicherheit undStärke zu gewinnen. Hier geht es schließlich inallererster Linie um Selbsthilfe!“

Aus ähnlichen Gründen gibt es auch beieinigen Veranstaltungen der BVA Zugangs-beschränkungen, so zum Beispiel beim Work-shop zur Sexualität von Paaren, bei denenein Partner positiv und der andere negativist. Wer möchte bei einem so intimen Themaschon die Mutter seines Lovers neben sichsitzen haben? Ganz klar: Hier dürfen nurSex-Partner/innen von Positiven teilnehmen.Darüber gibt es auch keinen Unmut.

Eine Beschwerde ist allerdings auf derAbschlussveranstaltung von BPV und BVA zuhören: Ein BVA-Teilnehmer beklagt, keinenZutritt zu den Veranstaltungen der Positiven-versammlung zu haben – und handelt sichdamit eine deutliche Absage ein: Er habenicht die geringste Lust auf diese Art von„Voyeurismus“, wehrt ein BPV-Teilnehmer ge-nervt ab. (lgk/howi)

ben weitergeht...“ – Workshop für Hinterbliebene mit anschließender Gedenkfeier

Führende Köpfe: Silke Klumb und Achim Weber (beide vom BVA-Organisationsteam derDAH) mit Erika Trautwein,Sprecherin des Netzwerkesder Angehörigen, bei einerVeranstaltung der BVA.

MAGAZIN

■ Interview: Holger Wicht

Wie finden Sie’s hier in Bielefeld?Ursula Groeschke (UG): Wir sind das ersteMal hier und fanden es super, die anderenEltern und Zugehörigen kennen zu lernen.Die Atmosphäre ist schön, die Betreuerin-nen und Betreuer sind nett, immer an-sprechbar. Zuletzt waren wir im Workshop„Blut ist dicker als Wasser“. Das war für unssehr interessant. Man war mit ganz ver-schiedenen Menschen zusammen, zum Bei-spiel auch mit Drogensüchtigen ...

Seit wann wissen Sie, dass Ihr Sohn HIV-positiv ist?UG: Seit neun Jahren. Aber wir haben bishernie eine AIDS-Hilfe oder andere Ansprech-partner in Anspruch genommen. Bei dieserVersammlung hier kommen wir das allerers-te Mal mit anderen Eltern, Zugehörigen undPositiven zusammen.

Wie kam es dazu? Hast du deine Elternüberredet, Christian?Christian Groeschke (CG): Ich habe sie ge-fragt.UG: (stolz) Nein, er hat uns nicht überredet. CG: Ich hab nur gefragt: Wollt ihr mit? Dannhabe ich ihnen Informationsmaterial zuge-

faxt, das haben sie sichangeguckt und sich dieSache dann eine Stundedurch den Kopf gehenlassen. Dann haben siedie Anmeldung ausge-füllt und zur AIDS-Hilfegefaxt...UG: ... und drauf gewar-tet, dass wir die Zusagekriegen!

Hätten Sie schon längermal gewollt und habenauf Christians Frage ge-wartet?UG: Nein, voriges Jahrwäre es nicht gegangen,da waren wir zu der Zeitin den USA. Davor war esvielleicht noch nicht soim Gespräch. Christian warbei den Versammlungenin Bremen und in Leipzig,aber da gab es dieses Ge-spräch noch nicht: Wolltihr mit? Das ist eigent-lich erst danach gekom-men.CG: Für mich ist es diedritte BPV, und vor vierJahren wäre es für michnoch nicht vorstellbar ge-wesen, meine Eltern zufragen. Damals hatten wirnoch nicht das Verhältniszueinander, das wir jetzthaben.

Was hat sich verändert?CG: Wir können über die-ses Thema jetzt intensiverreden. (Zu seinen Eltern)Ich hätte mir vor vier Jah-

ren noch nicht vorstellen können, dass ihrda mitkommt. Oder ich hab mich nicht ge-traut, euch zu fragen, das kann natürlichauch sein. UG: Man weiß es nicht, man kann jetzt nichtzurückdenken. (Zum Vater) Ich weiß jetztnicht, wie du das denken würdest?Peter Gröschke (PG): Das hätte man viel-leicht schon viel früher machen können. Nurhat sich vielleicht keiner getraut zu fragen.

Hatten Sie denn damals den Eindruck,dass wichtige Themen nicht zur Sprachekamen, obwohl Sie sich das gewünschthätten? PG: Vielleicht ja.

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Offener gewordenUrsula Gröschke (55) und Peter Gröschke (61) sind zum ersten Malauf einer BVA. Ihr Sohn Christian (33) nimmt in Bielefeld das 4. Malan einer BPV teil. Ein Familiengespräch über Verharmlosung, Verdrängung, Annäherung und das tägliche Leben mit HIV

__✚ Wie sag ich’s meinem Arzte? – Arzt-Patient-Kommunikation __

✚ Jubiläums-Talks

Was für Themen haben Ihnen auf den Nä-geln gebrannt in der Zeit, als Sie weniggeredet haben? PG: Also, ich hab das Problem, dass ichnicht darüber reden kann. Ich kann über-haupt nicht viel reden. Ich hör lieber zu undverarbeite das dann.UG: Ich hab das Thema am Anfang ver-drängt. Für mich war es so: Er ist positiv, dieKrankheit ist nicht ausgebrochen, er stehtvor mir, ich behandele ihn nicht wie ein Ba-by. Wenn er jetzt richtig krank werden wür-de, dann würde ich mir vorstellen, dass erwieder ein kleines Kind ist, das ich wiederpflegen müsste.

Würdest du das wollen, Christian?CG: (lacht) Nein, auf keinen Fall! Ich glau-be, dass es für viele der An- und Zugehöri-gen schwierig ist, die Situation zu verste-hen: Man ist positiv, und man muss nichtwie ein Baby behandelt werden – aber zu-gleich geht es einem auch mal nicht so gut.Man hat nicht nur schlechte Tage, wennman AIDS hat, sondern auch als HIV-Positi-ver. Auch wenn ich jetzt hier sitze und es mirgut geht, kann es mir gestern schlecht ge-gangen sein. Schon alleine dadurch, dassich Medikamente nehme und dass die Ne-benwirkungen haben – darüber haben wirnie gesprochen. An solchen schlechten Ta-gen würden manchmal Gespräche, eine stil-le Umarmung helfen.UG: Christian hat ja zum Glück einen Part-ner und eine Mitbewohnerin. Die wohnen zudritt, das gibt Kraft. Aber ich habe Angst,dass er in ein Loch fällt, wenn es mal zumBruch kommen sollte. Wie verhalte ich michdann?

Du hast aber wahrscheinlich auch nochandere Zugehörige.CG: Ich habe Geschwister, ich habe Freunde.Aber ich mache mir auch keine Gedanken,dass ich mich von meinem Freund trennenwerde. UG: Nein, aber es kann ja durch irgendet-was mal was sein. Wenn er mal wirklichkrank werden sollte, würde ich ihn zu mirnach Hause nehmen und ihn pflegen. (Pau-se, dann zu Christian) Wenn kein anderer daist und du es möchtest. (Christian guckt ein wenig angestrengt)

Nervt man sich manchmal ein wenig beidiesem Thema?CG: Bei diesem Thema: ja. (Zu den Eltern)Eins muss ich euch sagen: Als du mir 1999mal gesagt hast, dass du mich nach Hauseholen willst, wenn ich krank werde, habe

ich mich noch am gleichen Abend hinge-setzt und schriftlich festgehalten, dass ichauf jeden Fall in Oldenburg gepflegt wer-den möchte. UG: Ich hab gesagt: Wenn du’s möchtest.So lange wie Frank da ist, bei Frank. Aberwenn es mal so sein sollte, dass du alleinebist... CG: Um die Frage zu beantworten: Es gibtschon diese Nervsituationen. Meine Elternhaben bisher alles sehr verharmlost, so nachdem Motto: So lange es nicht ausgebrochenist... Ich hoffe, dass sie jetzt viel von dieserBPV mitgenommen haben und dass sie abmorgen ganz anders darüber denken undauch sagen können: Unser Sohn ist HIV-po-sitiv, und wir wissen, dass er nicht nur tolleTage hat. UG: Wir wissen, dass es dir nicht immer gutging. Wir haben ja telefoniert, und wir wuss-ten auch Bescheid, wenn die Werte malnicht so gut waren. Das hat Christian uns jaerzählt. Aber das hat man auch verdrängt.Er ist nicht gekommen und hat gesagt: Es istausgebrochen. Es war immer noch dieses Po-sitive da.

Können Sie mit dem Motto die-ser Veranstaltung – „Alles bleibtanders!“ – etwas anfangen?UG: (überlegt) Das klingt doch ir-gendwie gut, passt doch irgend-wie gut dazu.

Es ist für Eltern sicherlich nochimmer eine ungewöhnliche Si-tuation, wenn das eigene KindHIV-positiv ist. Hat sich für Sieim Laufe der neun Jahre, die SieBescheid darüber wissen, et-was verändert? UG: Ich bin offener geworden. Ichspreche darüber. Ganz am An-fang habe ich das gar nicht ge-macht, jetzt könnte ich es jeman-dem erzählen und würde sagen:Mein Sohn ist positiv. Und ichsteh hinter ihm. Wenn der anderesich dann abwendet, dann soll ergehen! CG: Das finde ich gut!UG: Da stehe ich hinter meinemSohn!

Ist das denn schon vorgekom-men, dass Sie mit fremden Leu-ten darüber gesprochen haben?UG: Bisher nicht, aber das könnteich. So offen bin ich jetzt, dass ichdarüber sprechen könnte.

Nachtrag

Im Januar 2003 bittet Christian Gröschke,diesem Interview folgende Notiz hinzuzufü-gen:

„Im November 2002 haben sich Christianund Frank getrennt, eine Trennung, die Chriserst mal verkraften muss. Beim Interviewwar alles in Ordnung, und es war für ihn ei-ne Selbstverständlichkeit, dass Frank derMann seines Lebens ist. Nun ist Chris aus-gezogen. Die beiden sind im Guten ausein-ander gegangen, können sich heute in dieAugen sehen, wenn sie es wollen. Sie sindaber noch in der Phase des Entliebens undhaben nach der Trennung noch keinen Kon-takt miteinander gehabt. HIV war natürlichnicht der Grund für die Trennung: Frank istHIV-negativ, und die beiden waren sechsJahre lang zusammen. Da es andere Gründegab, fühlt sich Chris nun auch nicht alleinegelassen.“ ♦

Die Redaktion möchte allen drei Interview-partnern sehr herzlich für die Offenheit und

das Vertrauen danken.

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One-Woman-BVA: Die „verleugnete Schwester“Irmgard Knef (Ulrich Michael Heissig), seit HildesTod „schwesterseelenallein“, berichtete auf derAbschlussveranstaltung von ihrer Freundin JuttaSüssmuth. Und natürlich sang sie auch – danke!

how __✚ Frauenspezifische Forschung: der Stand der Dinge und die Zukunft __

MAGAZIN

Migrant(inn)en aus Afrika auf der BPV

Mehr Migrantinnen und Migranten dennje nehmen an der 10. Bundespositiven-versammlung teil, sehr viele davon ausAfrika. Vielen geht es so wie Stella ausTansania: „Ich lerne hier unglaublich viel.Nicht nur über HIV und AIDS, sondernauch Deutsch. Ich wünschte mir, dassnoch mehr Positive mit afrikanischer Her-kunft hierher kommen könnten.“

Gemeinsam mit Rosa aus Kenia schildertStella ihre Eindrücke von der BPV:

Stella: Es ist für viele Afrikaner und Afrika-nerinnen ein Riesenproblem, in die AIDS-Hilfe zu gehen. Aber wenn sie schweigenund ihre Infektion und persönlichen Proble-me verheimlichen, dann kann ihnen auchkeiner helfen.Rosa: Ich glaube, der Grund für diesesSchweigen ist Angst. In vielen unserer Hei-matländer stimmt die Gleichung HIV=AIDS=Tod noch immer. Wenn du ein positives Test-ergebnis bekommst, musst du Angst haben.

Weil es keine Medikamente gibt und weil dieLeute dich diskriminieren. Also stirbst duschneller. Kaum einer glaubt, dass es hier inDeutschland anders ist. Ich versuche, ande-ren Mut zu machen, ihnen von meinen Erfah-rungen zu erzählen, aber es ist sehr schwer.Stella: Ich habe allen in meinem Umfeld er-zählt, dass ich auf eine AIDS-Konferenz fah-re. Ich finde es sehr angenehm, dass beinahejeder hier positiv ist. Ich muss meine Medi-kamente nicht heimlich nehmen, ich fühlemich richtig frei. Deshalb möchte ich allenMenschen, die sich mit ihrer Infektion ver-

stecken, sagen, wie entspannt wir hier sind.Auch andere Leute sollten diese Erfahrungmachen können, es ist wirklich wohltuend.Rosa: Viele Afrikaner brauchen noch eineMenge mehr Wissen. Sie verstehen vielesnicht, was hier in Deutschland passiert.Manche beklagen sich, dass sie keine Hilfebekommen. Sie sollten sie sich zum Beispielin den lokalen AIDS-Hilfen suchen! Ichselbst bekomme viel Unterstützung. Es wäregut, wenn wir anderen Afrikanern dabei hel-fen könnten, ihre Infektion zu akzeptierenund die Hilfsangebote in Deutschland wahr-zunehmen. (lgk)

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Auswirkungen polizeilicher Maßnahmen und politischer Entscheidungen auf die HIV-

Auf der Abschlussveranstal-tung spricht Teouri von der„AFRO LEBEN GRUPPE“(ALG), einem Zusammen-schluss von Afrikanerinnenund Afrikanern in Deutsch-land, die direkt oder indirektvon HIV/AIDS betroffen sind.ALG soll Afrikaner mit HIV in Deutschland zusammen-führen und ihnen bei derBewältigung ihrer Problemehelfen. Dazu gehören zumBeispiel Informationsan-gebote für das Leben mit HIV hinsichtlich Ernährung, Hygiene, Medizin sowie sozialer und psychologischerBetreuung. Die Gruppe willaußerdem afrikanische Migrant(inn)en darüber aufklären, wie sie HIV-Infek-tionen vermeiden können.

Weitere Informationen beiTeouri, Kontakt über die Münchner AIDS-Hilfe.

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Silke

Mein Mann ist Nigerianer, ichhabe ihn vor sechs Jahren ken-nen gelernt. Wir haben eine vier-einhalbjährige Tochter. Vor zweiJahren haben wir endlich heira-ten dürfen. Eine Woche nach un-

serer Hochzeit ist mein Mannumgekippt, ins Krankenhaus ge-kommen. Es stellte sich heraus,dass er Tuberkulose, Diabetes

und HIV hat. Er muss schon län-ger positiv gewesen sein, denn erhatte eine Gürtelrose und andereErkrankungen, aber er konnte

nicht eher zum Arzt gehen, weiler nicht versichert war.

Nach einem schweren Autounfall1994 in Nigeria hat mein Mannauch Blutkonserven bekommen.Ob seine Infektion daher rührt,weiß ich allerdings nicht. Seinedamalige afrikanische Freundin

ist vor zwei Jahren an AIDSgestorben.

Im Sommer 2000 wurde ich ne-gativ getestet, obwohl wir vierJahre ungeschützten Verkehr

hatten. Wir haben uns dann zu-sammengesetzt und überlegt,was wir machen. Mein ersterGedanke war, dass wir uns so-fort trennen. Aber wir haben

dann beschlossen, dass wir dochzusammenbleiben, und haben

nur noch mit Kondom miteinan-der geschlafen. Vielleicht hattenwir nicht genügend Übung, wir

kannten uns mit Kondomen auch überhaupt nicht aus. Im September 2000 wurde

ich dann noch mal getestet – diesmal positiv.“ (lgk)

„Es ist wirklich wohltuend!“

Selbsthilfe findet zu einemgroßen Teil im Zeichen derschwulen Regenbogenfah-ne statt. Nicht alle zeigensich davon begeistert. Im-merhin ist der Frauenanteilauf der BPV erstmals pro-portional angemessen

Die schwulen Wurzeln der AIDS-Selbsthilfe sind auch in Bielefeldnicht zu übersehen. Manch einerreagiert irritiert auf all die Leder-

kerle, Nasenringe, Glatzköpfe und Regenbo-genfahnen. Michael aus Würzburg fühlt sichzu Beginn sogar ein bisschen als Außenseiter:„Am liebsten hätte ich ein T-Shirt, auf demsteht, dass ich nicht schwul bin...“

Auch die Teilnehmerinnen der BPV tunsich nicht alle leicht mit der schwulen Domi-nanz: „Dass das Virus mich verändert hat,merke ich jeden Tag“, sagt eine Bonnerin,„aber hier kriege ich das Gefühl, dass michHIV auch noch schwul macht.“ Doch immer-hin sind die Frauen mit etwa 90 Anmeldun-gen erstmals in einer angemessenen Größen-ordnung auf einer BPV vertreten. (Rund einViertel der Positiven in Deutschland sindFrauen, dem entsprach nun ein knappesViertel Frauenanteil zumindest annähernd.)

Trotzdem haben manche Frauen den Ein-druck, dass ihre Sicht der Dinge nicht aus-reichend zur Sprache kommt. „In dem Erfah-rungsaustausch zu ‚Partnerschaft und HIV’waren nur drei Frauen, der Rest warenschwule Männer“, berichtet zum BeispielCorinna aus Frankfurt, die zum ersten Maleine BPV besucht. „Bis zur Pause hatte ichgenug von schwuler Sexualität gehört, ichbin dann lieber in einen anderen Workshopgegangen.“

Solche Reaktionen werden übrigens vonnicht wenigen Schwulen bedauert. „Da müs-

sen wir noch etwas ändern“, kommentiertWolfgang aus Dortmund. „Manchmal nei-gen wir Schwule dazu, Frauen niederzuma-chen, weil wir eben auch eine Männerrollehaben. Das finde ich ganz schlimm. WirMänner können sehr viel von Frauen ler-nen.“

Auch Heike aus Bonn, die einen Work-shop für Frauen leitet und in der Vorberei-tungsgruppe der BPV mitgearbeitet hat, be-obachtet Probleme in der Zusammenarbeitvon Frauen und Männern: „Es ist uns in derVorbereitungsgruppe sehr wichtig gewesen,Themen zu Sexualität und Partnerschaft so-wie zu gesellschaftlichen Fragen speziell fürFrauen anzubieten. Die Lebenswelten vonFrauen und Schwulen unterscheiden sichdann doch ganz gewaltig. In gemischtenGruppen gehen frauenspezifische Aspekteoft unter.“

Drei Angebote, die eigens auf die Be-dürfnisse von Frauen zugeschnitten sind,hält die BPV bereit: einen Erfahrungsaus-tausch zum Thema weibliche Sexualität, einDiskussionsforum über Frauenarbeit in derAIDS-Hilfe und einen Workshop zu frauen-spezifischer AIDS-Forschung. Alle werdengut besucht und bekommen gute Noten:„Am meisten hat mich beeindruckt, wie effi-zient und kostengünstig regionale Vernet-zung für Frauen laufen kann“, fasst Gabyaus Ludwigsburg ihr Forum zusammen.„Hoffentlich machen die Beispiele, die wirhier gehört haben, Schule.“ ♦ (lgk)

29

Pit aus Berlin

Ilse und Hanne aus Barnstorf/Bremen

Prävention __✚ Jung – jünger – positiv __

✚ Lust auf Selbsthilfe?! Möglichkeiten und

Allein unter Schwulen? Gaby aus Ludwigsburg

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Viele Gäste, viele spannende

Themen und ein hervorragend

vorbereiteter Moderator! Viel-

leicht wird der Abend genau

deswegen unterm Strich eine

Spur zu lang – zumindest für

Raucher. Doch selbst die ver-

gessen ihren Drang, auf den

Flur zu eilen, als die Feuerzeuge

angehen: „Can you feel the love

tonight?“ fragen Gayle und

Rainer gegen Ende mit einem

alten Elton-John-Klassiker.

„Aber yes!“, haben da viele

gedacht. (howi)

Konzepte __✚ Rauschkunde 2 – Substanzenkunde __

✚ Arbeit und Beschäftigung: Selbst

Beim Jubiläumstalk schließt sich ein Kreis: Die musikalischen

Stargäste des Abends, Deutschlands „very first Denglish-Allround-

Entertainerin“ Gayle Tufts und ihr Kompositeur und Pianist Rainer

Bielfeldt , standen bei der 5. Bundespositiven-Versammlung in Stutt-

gart im Jahr 1994 das erste Mal gemeinsam auf der Bühne. Damals

in Stuttgart wie in Bielefeld hieß der Moderator Matthias Frings,

bekannt vor allem durch seine ehemalige

Fernsehsendung „Liebe.Sünde“. In Bielefeld führt

er die Talkrunde zum Thema „Alles bleibt anders!

Leben, Liebe, Leiden(schaft) in Zeiten von HIV/AIDS“.

Seine Gäste:

31

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Wie war nach deinem Eindruck die Resonanzin der Stadt?Ich fand’s ein bisschen mau. Okay, die RaSpi (Ra-vensberger Spinnerei, d. Red.) ist ein abgeschlos-senes Gebäude, aber es war einfach nichts zu se-hen, nichts zu spüren, keiner war da. Auch dasPresseecho war bedauerlich: Ich war auch beiden BPVs in Köln und Stuttgart dabei, da warennoch RTL und PRO7, alle haben sich um Inter-views gedrängelt. Hier gab es nur einen kurzenBericht im WDR, so ein Zwei-Minuten-Ding. Vielzu wenig, denn schließlich ist das hier die Mam-mutveranstaltung schlechthin für Positive undfindet nur alle zwei Jahre statt. Nun passiert soetwas endlich mal in Klein-Kleckersdorf Biele-feld, und dann gibt es so wenig Resonanz. Aller-dings habe ich auch keineinziges Plakat in der Innen-stadt gesehen – das ist na-türlich auch schlecht.

Sollte man die Talkshowvielleicht das nächste malauf dem Marktplatz statt-finden lassen? (lacht) Keine schlechte Idee.

Es waren auch nur wenigePositive aus Bielefeld hier.Ja, acht Leute, und das bei300 bis 350 Positiven, diehier leben – das ist wirklicherschreckend wenig! Es hatmit Sicherheit damit zu tun,dass man in der eigenenStadt die größten Schwie-rigkeiten hat, so eine Veran-staltung zu besuchen, weilman sich dann outen mussbeziehungsweise gesehenwerden könnte. Einer hatsich hier gestern vor mir ver-steckt! Als ich ihn grüßte, hat er ganz erschreckt„hallo“ gesagt. Man konnte spüren, dass erdachte: „Oh Gott, den kenn ich, und der kenntmich ...“ Diese Angst, die in dem Augenblick inihm vorgegangen ist. Das ist wirklich scheiße.

Liegt der Grund für diese Angst in der Biele-felder Schwulenszene?Es ist ein Problem, dass HIV in der Schwulensze-ne kein Thema mehr ist, es wird totgeschwiegen.Die Infektion ist zum persönlichen Ding von je-dem Einzelnen geworden, die meisten sitzenjetzt wieder zu Hause in ihrem Kämmerchen undmachen das alleine mit sich aus. Auch unserePositivengruppe ist irgendwann mangels Beteili-

gung wieder eingeschlafen. Nicht weil keine Leu-te da sind, sondern weil scheinbar keiner das Be-dürfnis nach so was hat.

Da gewinnt so eine Veranstaltung wie dieBPV für dich wahrscheinlich ein besonderesGewicht.Ich fand’s total interessant hier. Ich bin auchmit einer großen Angst hierher gekommen –hier an meinem Heimatort. Zuerst hat’s mir garnicht gefallen, weil es noch dieses Grüppchen-verhalten gab. Aber dann ist es von Tag zu Tagbesser geworden, ich habe sehr nette Leute ken-nen gelernt, tolle Gespräche geführt – und ichhab vor allem mal wieder so richtig toll rumge-knutscht!

Wie geht’s dir jetzt, da esvorbei ist?Ich werd gleich Rotz undWasser heulen, weil mir dastotal an die Nieren geht: So-wohl die ganze Veranstal-tung als auch jetzt diesesdefinitive Abschiednehmen.Tschüss sagen zu Menschen,denen man wirklich nahgekommen ist, hat immerein bisschen diesen Beige-schmack: Wenn ich dich wie-dersehe, wie siehst du dannaus? Seh ich dich überhauptnoch? War das vielleichtdas letzte Mal? Hier werdenzwar überall Telefonnum-mern getauscht, aber so ei-ne Veranstaltung ist auchein Punkt im Leben, derdann vorbeigegangen ist.

Gibt es Kontakte, die duaufrechterhalten wirst?

Ich habe niemandem meine Telefonnummer ge-geben, und ich wurde auch nicht nach meinergefragt. Ich habe es nicht drauf angelegt. Wasbringt es mir, irgendwelche Kontakte in Berlinoder München zu haben? Das wäre doch eine ir-re Fahrerei. Dazu ist die Zeit hier dann doch zukurz gewesen, um ein so intensives Ding aufzu-bauen, dass man sagt: Okay, wir bleiben jetztFreunde. Ich denke, das weiß auch jeder, das isteine verlogene Geschichte.

Das tat aber der Herzlichkeit hier in Bielefeldkeinen Abbruch?Nein!

(howi)

„Ich werde Rotz und Wasser heulen“

verwirklichung oder Überlebensnotwendigkeit __✚ Von der Last und Lust von Geheim-

Karsten Karras war einer von sehr wenigen positiven Bielefeldern auf der BPV

Karsten Karras (37) hat zur Zeit derBPV als Kellner im schwullesbischen„Magnus“ gearbeitet und ist heutearbeitslos. Er hat seine Ansichtenauch auf der Abschlussveranstaltungdargestellt.

BPV und BVA haben gute Notenbekommen. Auf 103 Fragebö-gen, die Teilnehmer/innen andie Organisatoren bei der Deut-

schen AIDS-Hilfe (DAH) zurückschickten(davon 83 BPV, 20 BVA), gab’s vor allem Lob,aber natürlich auch ein wenig Kritik für dieVeranstalter/innen. Eine 1 (= „sehr gut“)gab’s für die Organisation, die Hotels und dasEssen. Die Eröffnungsveranstaltung, die Talk-show, die Abschlussveranstaltung und derGottesdienst landeten alle im 1er- oder im

2er-Bereich. Nicht ganz so gut weg kam der„Markt der Möglichkeiten“, der als mittelmä-ßig empfunden wurde. Die Abschlusspartywurde von BPV-Teilnehmer(inne)n im Schnittals mittelmäßig beurteilt, und für die BVA-Teilnehmer/innen war sie sogar schlecht.

Eindeutig waren die Urteile freilich nicht:Große Meinungsverschiedenheiten – Notenvon sehr gut bis sehr schlecht – gab es vor al-lem beim „Markt der Möglichkeiten“, derTalkshow und der Eröffnung. Das Gleiche giltfür die Abschlussparty, die wegen des Ein-

trittspreises und der Homolastigkeit schonvor Ort umstritten war.

Die Workshops, Info- und Diskussionsver-anstaltungen konnten auf den Fragebögensehr detailliert beurteilt werden – die Reak-tionen fielen natürlich zu umfangreich undvielfältig aus, um sie hier wiedergeben zukönnen. Die Ergebnisse gehen in die Organi-sation der nächsten BPV ein.

Einigkeit herrschte übrigens erwartungs-gemäß bei Lauras Café: Von BPV und BVAgab’s die Bestnote, eine 1+ sozusagen. ♦

32

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MAGAZIN

Gutes ZeugnisDie Bewertung der Veranstaltung durchihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer

nissen in Partnerschaft und Familie __✚ „Leben und leben lassen“ – Die Achterbahn

BPV-Tagebuch

Peter

„Dies ist meine erste BPV bzw.

BVA. Ich wusste gar nicht,

was mich hier erwartet. Ich

selbst bin einfach an einem

Erfahrungsaustausch interes-

siert. Ich finde es auch sehr

informativ, mehr von anderen

zu hören. In dem Workshop zu

Liebe, Lust und Leidenschaft

hat mich beeindruckt, wie

viele unterschiedliche Konstel-

lationen an Partnerschaften

vertreten waren. Ich erlebe

diese BPV nicht so sehr als

schwulenlastig.“

Annette

„Meine letzte BPV war ja

vor der Kombitherapie, da

war das Thema Tod und

Sterben im Programm viel

stärker vertreten als jetzt

hier in Bielefeld. Da merkt

man eine Veränderung.

Andererseits sehe ich hier

auch viele Menschen, de-

ren Körper und Ausstrah-

lung sich verändert haben.

Ich finde es super-bombas-

tisch, so viele positive

Menschen auf einen

Schlag zu sehen, das war

auch früher schon ganz,

ganz toll. So eine Riesen-

Gemeinschaft und Solida-

rität – da fühle ich mich

nicht mehr vereinzelt.“

33

Teils, teils

Die Teilnehmer/innenals Statistik

BPV: 398 Teilnehmer/innen meldet das Or-ganisationsteam der BPV (Mitarbeiter/in-nen und Tagesgäste nicht mitgezählt). Sieschlüsseln sich auf wie folgt*:

62% (247) der Teilnehmer/innen warendas erste Mal bei einer BPV dabei.

BVA: Die BVA verzeichnete 37 Teilnehmer/-innen, davon etwa 75% Frauen, 25 ProzentMänner. Schätzungsweise 40 Prozent waren„Zugehörige“ (soziale Familie), 60% „Ange-hörige“ (biologische Familie).

* Differenz zu 100% durch Rundung.

der Gefühle in Krankheits-, Krisen- und Pflegezeiten __✚ HIV und Nervensystem/

Männer

Frauen

80

70

60

50

40

30

20

10

0

77%(307)

23%(91)

Geschlecht

45

40

35

30

25

20

15

10

5

0

18%(71)

44%(175)

3%(11)

34%(136)

1%(5)

Sexuelle Orientierung

hetero-sexuell

schwul bisexuelllesbisch keine Angabe

35

30

25

20

15

10

5

0

4%(17)

34%(137)

33%(131)

10%(41) 1,5%

(6)

17%(66)

Alter

20-29 30-39 40-49 50-59 60-70 keineAngabe

Halle

Sebastian

„Dies ist meine erste BPV – beziehungs-

weise BVA. Ich war erst mal unsicher

und ein bisschen nervös, denn ich bin

zum ersten Mal Teil dieses geballten

Ausmaßes. Und diese massive Schwu-

len-Szene – das bin ich auch nicht ge-

wohnt. Ich habe das Gefühl, ich müsste

erst mal allen hier sagen: Ich bin zwar

ein Mann, aber ich bin hetero. Anfangs

fand ich es blöd, dass man schon an

meinem Namensschild erkennt, welcher

Gruppe ich zugehöre, dass ich nicht

HIV-positiv bin. Aber dann war ja schon

die Eröffnungsveranstaltung sehr hu-

morvoll und witzig.“

Gunnar

„In meinem alltäglichen Leben spiegelt sich HIV

noch nicht so stark wider, weil ich bisher keine

Medikamente nehme, arbeiten gehe und in

meiner Freizeit viel Spaß haben will. Da mache

ich mir nicht so viele Gedanken, ich habe die

Krankheit mit etwas Hilfe von außen ganz gut

in den Griff bekommen. Hier möchte ich mich

dann aber doch mal mit HIV beschäftigen – und

mit mir selber. Einfach mal nachmittags ein

paar Stunden draußen auf der Wiese liegen und

überlegen: Wie geht’s mir eigentlich mit der

Krankheit? Wie engagieren sich andere? Ist das

sinnvoll oder ist das nicht sinnvoll?“

Das Interesse der Medien an HIVund AIDS hat in den letztenJahren stark abgenommen. Daszeigen auch die medialen Reak-

tionen auf die BPV/BVA: Sie gingen über die„Pflichtberichterstattung“ in der Lokalpressekaum hinaus. Nur beim Thema Prävention –sprich: wenn Neuinfektionen drohen – öffnetman in den Redaktionen noch ein halbes Ohr.

Der Reihe nach: Am Mittwoch vor derBPV/BVA hat in der Ravensberger Spinnereieine Pressekonferenz stattgefunden. Die In-halte: Mit Bezug auf das Motto „Alles bleibtanders!“ wird erläutert, was es heutzutagebedeuten kann, mit HIV zu leben. PeterStruck von der Bielefelder AIDS-Hilfe bekun-det seine Freude darüber, dass die BPV nachBielefeld gekommen ist, und krititsiert dieAuswirkungen der Haushaltssperre in NRWauf AIDS-Hilfe-Arbeit im Land. Der Medi-zinreferent der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.

(DAH), Armin Schafberger, legt gemeinsammit einem Vertreter der Organisation „BUKOPharma“ eine Presseerklärung gegen dieteilweise Aufhebung des Werbeverbotes fürverschreibungspflichtige Medikamente inder EU vor (dieses Vorhaben ist mittlerweile,im Jahr 2003, vom Tisch).

An die Journalisten ergeht eine herzlicheEinladung, auch an der Eröffnung, der Talk-show und der Abschlussveranstaltung teil-zunehmen.

Im Anschluss an die Pressekonferenzdrechselt ein dpa-Vertreter aus einem Ne-benaspekt eine Meldung:

„Die Deutsche AIDS-Hilfe hat vor der Kür-zung von Zuschüssen für ihre Präventions-arbeit gewarnt. Durch Haushaltssperren inden Städten und Ländern sei vor allem dieArbeit der Selbsthilfegruppen und Street-worker gefährdet, sagten am Mittwoch

34

Gehirn __✚ Internet-Training (Engl.) __

✚ Zentrale gesundheitspolitische Themen __✚

Dünnes EchoD

AS

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R’S…

:

MAGAZIN

Die Reaktionen der Medien auf die 10. BPV/5.BVA

fielen dünn aus. Die Deutsche AIDS-Hilfe kritisiert

in der Abschlusserklärung restriktive Drogenpolitik

à la Schill und fordert Kassenfinanzierung von

Resistenztests

Sprecher der AIDS-Hilfe im Vorfeld der 10.Bundespositivenversammlung. Langfristigwürden durch Kürzungen bei der AIDS-Prävention höhere Kosten auf die Öffent-lichkeit zukommen als derzeit durch die Ar-beit der lokalen AIDS-Hilfen entstehen,sagte Dirk Hetzel, Referent der DeutschenAIDS-Hilfe. In Folge des medizinischen Fort-schritts der vergangenen Jahre sei bei vielender falsche Eindruck entstanden, eine AIDS-Infektion sei kein großes Problem mehr. Sol-ches Denken schade der Vorsorge, weil dasLeben mit AIDS auf diese Weise verharmlostwerde.“ (Abdruck der gekürzten dpa-Mel-dung in der Frankfurter Rundschau vom29.8.2002)

Ähnlich klingt der größte Teil des insgesamtsehr spärlichen Presseechos. Die BielefelderLokalpresse bringt solide und faire Berichter-stattung über die Eröffnung und das Anlie-

gen der BPV. „AIDS ist noch immer tödlich“,lautet eine Überschrift im Westfalen-Blatt,„Im Zeichen der AIDS-Krankheit“ und „Ver-harmlosung schadet der AIDS-Vorsorge“schreibt die „Neue Westfälische“. Reporta-gen, Berichte über die Talkshow oder Inter-views bleiben jedoch aus. Das gleichzeitigstattfindende Jubiläum des Kaufhauses Kar-stadt scheint in Bielefeld mehr Gewicht zuhaben. Und das Hundezüchter-Milieu meldetProbleme mit den Welpen oder so ähnlich –wir haben’s nicht zu Ende gelesen...

Immerhin: Das WDR-Fernsehen bringtdank einer engagierten Journalistin einenBeitrag auf Landesebene, und einige klei-nere Zeitungen berichten ebenfalls über dieBPV/BVA.

Noch dünner fällt die mediale Reaktionauf die Presseerklärung zum Abschluss aus:Darin warnt die DAH vor den Folgen restrik-tiver Drogenpolitik nach dem Vorbild des

Hamburger Innensenators Ronald Schill, derunter anderem die Spritzenvergabe in Ham-burger Gefängnissen eingestellt hat. DieDAH fordert die „Wiederaufnahme (...) unddie Ausweitung dieser unabdingbaren Prä-ventionsmaßnahme auf das gesamte Bun-desgebiet.“

Die Krankenkassen müssten die Finanzie-rung von Resistenztests bei der HIV-Thera-pie finanzieren, fordert die DAH außerdemin der Abschlusserklärung und kritisiert denBundesausschuss der Ärzte und Kranken-kassen, dem seit 2001 entsprechende An-träge verschiendener Institutionen vorlie-gen – ohne Ergebnis. ♦ (howi)

35

Afrikanisches Positivennetzwerk __✚ Positiv und gehörlos __

✚ Die Bedeutung von

Lucy

„Dies ist eigentlich meine ersteBPV. Ich war zwar schon im

letzten Jahr bei den Positiven Begegnungen in Berlin. Aber

da wusste ich noch nicht, dassich selbst HIV-positiv bin. Des-halb ziehe ich mich hier ein

bisschen zurück, gehe mehr inmich hinein als aus mir he-raus. Mich interessieren auf

dieser BPV vor allem Angebotefür Migrantinnen und Migran-ten und auch die für Frauen.Ich finde es sehr schön, hierso viele Leute zu treffen undwiederzusehen. Und ich freuemich über alle Migrant(inn)en,

die ich hier sehe.

Silke

„Es ist alles sehr gut orga-nisiert, eine schöne, lockereAtmosphäre, man kommtschnell miteinander ins

Gespräch. Allerdings fühleich mich von den homo-sexuellen Männern, die

natürlich in der Mehrzahlsind, ein bisschen in die Ecke

gedrängt. Die haben ganzandere Interessen als ich. Ichhabe zum Beispiel Familie,fünf Kinder. Damit habe ichauch ganz andere Probleme

als schwule Männer.“

Zitate protokolliert von lgk/howi

Alle Bilder: Plena im Murnau-Saal

Maya Czajka, Vorstand

der Deutschen AIDS-Hilfe:

Als Vorstandsfrau war die Bielefelder BPV fürmich die erste Veranstaltung dieser Art. Ichhatte schon vieles über diese legendärenVeranstaltungen gehört: Wichtig seien sie,vielschichtig, nicht unproblematisch, manch-mal turbulent, manches könne dort schiefgehen, vieles sei zu beachten, gerade als Vor-stand könne man/frau in unzählige Fett-näpfchen treten und und und...

Diese und andere gute Ratschläge warenmir im Vorfeld von den unterschiedlichsten(allesamt gut meinenden) Menschen mitauf den Weg gegeben worden. Diplomati-sches Geschick bräuchte ich, um mit denach so unterschiedlichen Teilnehmer(inne)nangemessen umgehen zu können; wichtigsei auch, Helfer/innen und Referent(inn)enzu unterstützen und – nicht zu vergessen –es sei schließlich eine Jubiläums-BPV, undda müsse insbesondere ich als Vertreterindes Vorstandes selbstverständlich ganz be-sonders und überhaupt...

Nun blicke ich nach einem längeren zeit-lichen Abstand zurück auf diese BPV und –verzeiht, liebe Menschen, die ihr mich imVorfeld mit so vielen guten Ratschlägenausgestattet habt! – für mich war diese Ver-anstaltung ganz anders als erwartet. Ja, dieBPV war vielschichtig, und turbulent war sieauch. Aber vor allem war sie für mich sehrlehrreich, freundlich, warm und lebendig.

Ich habe in Workshops Menschen getrof-fen, für die es in Bielefeld nicht die erste Po-sitivenversammlung war – die sich aber zum

ersten Mal getraut haben, bestimmte Sa-chen von sich zu erzählen. Von diesen Men-schen und von denen, die seit Jahren um dieBearbeitung der immer gleichen, immer ak-tuellen Probleme kämpfen, leben die BPVs.Und natürlich von den Netzwerken; einzelne(zum Beispiel das der An- und Zugehörigen)sind bereits fester Bestandteil der Veran-staltung, andere, zum Beispiel das der Afri-kaner/innen, waren zum ersten Mal dabei –und sicher nicht zum letzten!

Meine beiden Vorstandskollegen, die nichthatten teilnehmen können, waren, glaubeich, ein bisschen neidisch, als ich im Vorstandvon den vielen Eindrücken und Erfahrungen,die ich mitgebracht hatte, berichtete.

Soviel steht fest: Die 10. BPV war nicht dieletzte. Solange HIV und AIDS ein Thema sind,solange wird die DAH sich ihrer Verantwor-tung und ihrer Verpflichtung bewusst sein,die Anliegen von Menschen mit HIV undAIDS angemessen, freundlich und engagiertzu unterstützen – eben so wie in Bielefeld.

Dirk Hetzel, Referent

für Menschen mit HIV/AIDS

der Deutschen AIDS-Hilfe:

Am stärksten in Erinnerung bleiben wird mirvom BPV-Jubiläum mit Sicherheit die Debat-te über Schuld und Verantwortung. Eine sehremotionale Diskussion – großartig! Wo soll-te man sonst emotional über diese Themenreden, wenn nicht auf einer Bundespositiven-versammlung? Besonders beeindruckend warfür mich der sehr reife Umgang der Teilneh-merinnen und Teilnehmer mit der Kontrover-se: Die Differenzen lösten sich am Abend imPlenum zwar nicht auf, wurden aber versöhn-lich dargestellt und führten nicht zu einemRiss durch die Teilnehmerschaft.

Sicherlich, manch einer der Altgedientenmochte diese Diskussion vielleicht nicht mehrhören. Doch es ist wichtig, immer wieder dar-über zu reden, so lange viele andere Diskussi-onsbedarf haben. Ganz gelöst sind diese Pro-bleme nie, und nicht zuletzt kommen ja stetsneue Generationen nach. Anders formuliert:Die Bedürfnisse Positiver sind in den letztenJahren immer vielfältiger geworden.

Schon bei der Vorbereitung der BPV ha-ben wir gewusst: HIV und AIDS haben sich

seit Jahren so sehr verändert, dass die Unter-schiedlichkeit der Menschen mit HIV heutegrößer ist denn je zuvor. In den Anfangs-tagen der Selbsthilfe haben sich so verschie-dene Gruppen wie Schwule und Drogen-gebraucher/innen zusammengerauft. BeimJubiläum trafen nun zum Beispiel Langzeit-positive und Jungpositive aufeinander. Da-runter jeweils solche, die Medikamente neh-men, und andere, die keine nehmen. Vondenen mit Therapie gibt es welche, die da-mit keine Probleme haben, andere habenkleine Probleme, wieder andere schwere.Und es gibt Leute, die gar keine Medika-mente mehr vertragen. Erfreulicherweisesind außerdem viele Migrant(inn)en, etwaAfrikaner/innen, zu uns gestoßen, und eshaben viele Gäste aus dem osteuropäischenAusland teilgenommen. Und endlich ent-sprach die Frauenquote mit einem rundenViertel dem tatsächlichen Anteil der Frauenan der Zahl der Infizierten! All diese Grup-pen haben sich dann getrennt voneinandermit sich selbst beschäftigt, und sie habensich miteinander auseinander gesetzt. Siealle haben sich, so ist zu hören, in Bielefeldwohl gefühlt. Das ist für mich das erfreu-lichste Ergebnis der 10. BPV: Eine Einheitder Vielfalt ist möglich geworden.

Das Jubiläum hat damit wichtige Zeichenfür die Zukunft gesetzt.

36

Vielfältige SC

HLU

SSW

OR

TE

MAGAZIN

Drogenselbsthilfe in der AIDS-Hilfe __✚ „Ich bin wer ich bin“: HIV-Positive in der

Achim Weber, Referent

für Pflege und Versorgung

der Deutschen AIDS-Hilfe

(für die Organisationsgruppe der BVA):

Die Workshops der 5. Bundesversammlungder An- und Zugehörigen waren allesamt gutbesucht und fanden zum größten Teil in einerausgesprochen intensiven, sehr angenehmenArbeitsatmosphäre statt. Die unterschiedli-chen Sichtweisen aus den biologischen undsozialen Familien trafen in den Veranstaltun-gen ebenso aufeinander wie die oft verschie-denen Perspektiven der An- und Zugehörigeneinerseits und der Menschen mit HIV ande-rerseits. Dabei konnten die höchst individuel-len Lebenserfahrungen gleichberechtigt ne-beneinander stehen bleiben. Und wo sonstoft nur eine vage Toleranz besteht, wuchs inBielefeld Akzeptanz, denn hier bot sich für al-le die Möglichkeit, das eigene Wissen zu er-weitern – der Dialog lieferte eine große Viel-falt an Denkanstößen und Informationenüber selbstbestimmte, eigenwillige und auchungewöhnliche Wege, mit HIV und AIDS zuleben und zu lieben.

Einen wesentlichen Beitrag zu dieserEntwicklung lieferte die Möglichkeit, auch„wechselseitig“ Veranstaltungen zu besu-

chen, also als BVA-Teilnehmer/in an BPV-Veranstaltungen teilzunehmen und umge-kehrt. Und natürlich haben die Gesprächenicht mit dem Workshop geendet, sonderngingen zum Beispiel in Lauras Café weiter.Da ging es dann etwa darum, wie das Lebenmit den Kombi-Therapien so funktioniert.Viele „Angehörige“ waren ein wenig über-rascht über die Fülle von Problemen, welchedie täglichen Pillen so mit sich bringen. Undviele „Zugehörige“, zum Beispiel Partner/in-nen, brachten großen Gesprächsbedarf hin-sichtlich der Belastungen mit, die Einnahme-schemata und Nebenwirkungen auch für siebedeuten. Die Möglichkeit, über solche The-men miteinander reden zu können, wurdevon den meisten Beteiligten als große Berei-cherung empfunden!

Ein wenig Kritik gab es freilich auch:Manche BVA-Teilnehmer/innen konnten oderwollten nicht verstehen, warum sie nichtalle BPV-Veranstaltungen besuchen durften.Doch die Teilnahmebeschränkungen sindnun einmal notwendig, um dem Wunsch derTeilnehmer/innen nachzukommen, mancheThemen „unter sich abzuhandeln“. Den gro-ßen Erfolg der Bielefelder Versammlung ver-mag dies nicht zu trüben: Die bisherigeGrenze zwischen BPV und BVA wurde ver-wischt, die Teilnehmer/innen beider Veran-staltungen sind einander näher gekommen.Auch deswegen freuen wir uns schon heuteauf die BVA 2004!

Roman Dudnik, AIDS-Foundatin East-West,

Projekt Russland:

Ich habe an zwei Workshops teilgenommen.In dem einen, der sich um „HIV in Osteuropa”drehte, habe ich einen Vortrag über die Situ-ation in Russland gehalten, über Selbsthilfe-gruppen und Positiven-Aktivismus allgemein.Der zweite Workshop hieß „Jung, jünger,positiv”. Ich hatte bis dahin nicht darübernachgedacht, bin jetzt aber überzeugt da-von, dass es eine Menge Unterschiede gibtzwischen der „jungen” und der „alten” Gene-ration HIV-Positiver. Junge Leute haben ganzandere Probleme als die über 35-Jährigen. Innaher Zukunft werden wir es mit diesem Phä-nomen auch in Russland zu tun bekommen.

Deutschland und andere westeuropäischeLänder nehmen derzeit Ost-Europa in denBlick und wollen ihre Fähigkeiten auch jenenLändern zugute kommen lassen, in denen dieInfektionsraten besonders hoch sind. Im Ver-gleich zu uns hat Deutschland weitaus gerin-gere Probleme hinsichtlich HIV: Es gibt Zu-gang zu Medikamenten. Die Allgemeinbevöl-kerung ist ausreichend über Infektionswegeund Schutz aufgeklärt. Infizierte werdennicht mehr diskriminiert. Vor zehn Jahren wardas anders, doch ist es gelungen, die Situati-on grundlegend zu verändern, indem mandie Epidemie unter Kontrolle brachte. Heutehaben die Deutschen genügend Wissen undErfahrungen, um sie mit uns zu teilen. Es warsehr interessant für mich, die starke Bereit-schaft zur Hilfe gegenüber Russland und an-deren Ländern zu erleben. Bielefeld bot einegute Möglichkeit, um über Kooperationen zusprechen und erste Kontakte für Netzwerkerussischer und deutscher HIV/AIDS-Commu-nities zu knüpfen.

Ich habe mich auf dieser Versammlungsehr wohl gefühlt. Es herrschte eine warmeund freundliche Atmosphäre. Vor allem eineshabe ich dort gelernt: Hätten die HIV-Positi-ven in Deutschland vor vielen Jahren nichtdie Initiative ergriffen, wären sie bereits ge-storben. Eine wichtige Weisheit, die wir beiunseren Aktivitäten in Russland beherzigensollten. ♦

Dieser Text ist eine stark gekürzte Übersetzung eines Berichts, den Roman für russische Kolleg(inn)en verfasst hat.

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Einheit

Schwulenszene __✚ „Zur Kasse bitte“ – Aktuelles zur Gesundheits- und Sozialpolitik

Jutta, die BPV ist vorbei, du fährst gleichnach Hause, wie sieht’s dort im Momentaus?Ich fahr ins Chaos zurück. Leer geräumteWohnung, kein Wasser und keine Heizung,der Garten noch voller Schlamm – das warvor der BPV nicht mehr zu packen.

Wo wohnst du genau?Ich bin aus Bennewitz an der Mulde, nörd-lich von Grimma. Wir wohnen in einem Ein-familienhaus mit Einliegerwohnung. DasWasser kam wie eine Sintflut, innerhalb vonMinuten, am Schluss stand es bis zur erstenEtage hoch. Wir hatten noch Glück: Ein Zen-timeter höher, und wir hätten noch mehrverloren. So war es sozusagen nur eine Woh-nung, und wir können weiterhin in unseremHaus wohnen. Aber wir haben unsere Biblio-thek verloren, unseren Computer, alle Win-tersachen meines Mannes, vor allem aberunser ganzes Privates, persönliche Doku-mente, Bilder – das tut besonders weh. DasHaus muss jetzt erst mal wieder hergestelltwerden.

Habt ihr schon materielle Hilfe bekom-men?

Bisher nicht, bis auf Reini-gungsmittel und 30 Eurovom Roten Kreuz, das habenalle gekriegt. Ich denke, jetztsollten erst mal die Schädenaufgenommen werden, unddann sollte jeder nach Be-darf und Notwendigkeit Hil-fe bekommen. Manche ha-ben ja auch ihre Arbeit ver-loren und können ihren Kre-dit fürs Haus nicht weiterabzahlen. Es gibt durchausnoch härtere Schicksale alsunseres.

Hast du überlegt, ob dudie BPV absagst?Habe ich schon überlegt,aber wir haben gesagt: DasLeben muss normal weiter-gehen. Meine Tochter istauch erst mal eine Wochemit ihrem Sohn in den Ur-laub gefahren, um rauszu-

kommen aus dem Gestank, weg von denMücken und so – es steht ja alles noch vol-ler Wasser. Wir sind uns einig: Wenn wirjetzt keine Normalität in unser Leben krie-gen und vorwärts schauen, dann denkenwir immer bloß an das, was wir verloren ha-ben.

Hat es dir geholfen, hier in Bielefeld zusein?Es hat mir schon Kraft gegeben. Anderengeht es noch schlechter, und die habenauch den Mut, wieder was anzufangen, sicheine Aufgabe zu stellen, zum Beispiel indemsie sich ehrenamtlich engagieren.

Habt ihr hier viel mit Leuten darüber ge-sprochen?Das war hier Thema Nummer eins, weil vie-le sich das nicht vorstellen konnten, wieman in solchen Verhältnissen lebt und dassman trotzdem hierher kommt. Und dass esin Wirklichkeit schlimmer ist, als es imFernsehen rüberkommt. Bei uns in der Stra-ße hat es ausgesehen, als hätte eine Bom-be eingeschlagen. Brücken kaputt, Straßenzu – bei uns hat das Leben erst mal aufge-hört.

Wie hat dir die Veranstaltung in Biele-feld insgesamt gefallen? Gut. Ich gehöre ja schon zum alten Eisen,wir sind jedes Mal dabei. Es gibt immer Din-ge, die man verbessern könnte – die Talk-show zum Beispiel hätte man straffen kön-nen, und der Eintritt für die Disco war zuhoch. Aber insgesamt war die Atmosphäregut, der Rahmen hat gepasst. Das Wich-tigste ist, dass die Leute sich treffen, be-gegnen, ihre Erfahrungen austauschen. Un-sere Leipziger haben fast alle Kontakte be-kommen und sich austauschen können. Daskann man als AIDS-Hilfe sonst eben nichtbieten. Das Wichtigste ist, dass jeder raus-bekommt, was ihm gut tut. Wenn ich dasdann finanziell so günstig kriege, ist dasauch wichtig. Wir haben vor allem sozialSchwache mit hierher genommen. Die ha-ben das ganze Ambiente, das leckere Essen,den Service sehr genossen. Man darf die so-ziale Komponente bei der ganzen Sachenicht vergessen. Unsere Leute haben sichhier sehr wohlgefühlt. ♦

(howi)

38

Engagiert trotz Flutkatastrophe: Jutta Rosch hilft am Kuchenbuffet

Kurz vor der BPV

kam die große Flut

über Ostdeutschland.

Jutta Rosch,

Sozialarbeiterin

bei der AH Leipzig,

wurde evakuiert,

kam aber kurz

darauf trotz allem

nach Bielefeld.

Sie hat es nicht

bereut

„Das Leben geht weiter“

ZULE

TZT

__✚ HIV und Haut – Geschlechtskrankheiten __

✚ Ökumenischer Gottesdienst __✚ Ab

Wir danken allen Unterstüt-zerinnen und Unterstützern:● Abbott GmbH● Bässler Sekt● Barmer Ersatzkasse● Boehringer Ingelheim Pharma KG● Bristol-Myers Squibb● Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung● Bundesverband der Betriebskrankenkassen

(BKK): IKK-Bundesverband, See-Krankenkasse,Bundesknappschaft, Bundesverband der land-wirtschaftlichen Krankenkassen

● Coca-Cola● Condomi● Deutsche AIDS-Stiftung● Entrium Direct Bankers AG● Galderma Deutschland● Gilead Sciences GmbH● GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG● Hoffmann-La Roche AG● Laura Halding-Hoppenheit● Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und

Gesundheit des Landes NRW● MSD Sharp & Dohme GmbH● Planethelp● RED RIBBON NIGHT MOVE● Sächsisches Staatsministerium für Soziales,

Gesundheit, Jugend und Familie● Schering Deutschland GmbH● Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen:

Techniker Krankenkasse, Kaufmännische Kran-kenkasse – KKH, Hamburg-Münchener Kranken-kasse, Hanseatische Krankenkasse – HEK, Krankenkasse für Bau- und Holzberufe – HZK,Brühler Krankenkasse Solingen, Buchdrucker-Krankenkasse Hannover, Krankenkasse Ein-tracht Heusenstamm

● SÜD-APOTHEKE Bielefeld – you are welcome!

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Impressum

life+magazin (Dokumentation der 10. Bundespo-sitivenversammlung und der 5. Bundesver-sammlung der An- und Zugehörigen vom 29.8.bis 1.9. 2003 in Bielefeld)

Herausgeberin:© Deutsche AIDS-Hilfe e.V. Dieffenbachstraße 3310967 BerlinFon: 030/690087–0Fax: 030/690087–42E-Mail: [email protected]: http://www.aidshilfe.de

März 2003Bestellnummer: 110019

Dieses Magazin und die Dokumentation der 5. BVA sind im Jahr 2003 auch im Internet abrufbar: www.aidshilfe.de

Konzept: Dirk Hetzel, Holger WichtRedaktion: Holger Wicht ([email protected])Autor(inn)en: Andreas Babing (Eröffnungsrede),Maya Czajka, Roman Dudnik, Hans Hengelein(Eröffnungsrede), Dirk Hetzel, Rainer Jarchow, Petra Klüfer, Harriet Langanke (lgk), Karl Lemmen,

Christoph Mayr (chm), Rita Süssmuth (Gruß-wort), Achim Weber, Holger Wicht (howi)Fotos: Roland Bergmann, Maya Czajka,Joachim Galsterer, Harriet Langanke (S. 29 u.S. 39 o. r.), Erika Sellmayr, Martin WestphalProduktion: Dirk Hetzel, Uli SporlederKorrektur: Ulrike Schuff, Holger SweersGestaltung und Satz: Carmen JanieschDruck: Druckerei Conrad GmbH(alle Berlin)

Alle Rechte vorbehalten, Nachdruck (auch inAuszügen) nur mit schriftlicher Genehmigungder Deutschen AIDS-Hilfe e.V.

Die DAH ist als gemeinnützig und besondersförderungswürdig anerkannt; Spenden sinddaher steuerlich abzugsfähig.

Sie können die DAH auch unterstützen, indemSie Fördermitglied werden. Nähere Informatio-nen erhalten Sie unter www.aidshilfe.de („EinMittel gegen AIDS“)

Spendenkonto: Berliner Sparkasse, BLZ 100 500 00,Konto 220 220 220

Bundeszentrale fürgesundheitlicheAufklärung

schlussdisco __✚ Abschlussveranstaltung __

✚ __

✚ __

Hinter den Kulissen: Achim (Organisation BVA) mit Abschluss-Sekt, DAH-Geschäftsführerin Hanne mit demProgrammheft, Holger (Moderation/Presse/Doku) mit Arbeitsmaterial, HaLu von der Vorbereitungsgruppestärkt sich im Mövenpick für seine 1000 Aufgaben, Silke hat das Rechenzentrum fest im Griff