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Todeszone Schimayn

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Atlan - Minizyklus 07 -Flammenstaub

Nr. 03

Todeszone Schimayn

von Christian Montillon

Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Derrelativ unsterbliche Arkonide Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheitwirkt, kämpft in der fernen Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. AufAnregung der Widerstandsgruppe »Konterkraft« reist Atlan zur geheimnisvollen Intra-welt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen.Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zubergen. Aber er verweigert dessen Herausgabe, davon überzeugt, dass die Anführerder Rebellen zu schwach für seine Verwendung sind.

Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich und testet die Wirkung erfolgreich gegendie Truppen der Lordrichter. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender istsein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er einen Großteilder lebensgefährlichen Substanz loswerden. Dort findet auch das Treffen mit denCappins statt. Atlan spekuliert auf die Rückkehr in die Milchstraße, doch der Transferper Pedopeiler führt ihn in die TODESZONE SCHIMAYN …

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide will in die Milchstraße zurückkehren.Aruma Cuyt - Der ganjasische Kommandant der CAVALDASCH hat andere Pläne.Carmyn Oshmosh - Die Kommandantin des Beiboots AVACYN bewährt sich im Krisenfall.Abenwosch-Pecayl 966. - Der Clanführer der Juclas folgt seiner Bestimmung.

Ich spüre es. Die Dunkelheit naht. DerTod eilt mit Riesenschritten herbei.

Wenn ich mich niederlege, so fürchte ich,nie wieder aufzustehen. Esse ich, habe ichAngst, es könnte die letzte Mahlzeit sein. Se-he ich ein Neugeborenes, denke ich an mei-ne eigene Kindheit, die viel zu schnell ver-gangen ist.

Ich hasse die, die mein Volk dazu ver-dammten, schneller und kürzer zu leben alsalle anderen Cappins. Ich verachte die, dieuns Judas dazu zwangen, so zu sein, wie wirsind.

Beginn der letzten Aufzeichnung desAbenwosch-Pecayl 965.

1.Im Kugelhaufen Schimayn: so jung und doch

so alt

Abenwosch-Pecayl 966. suchte die Zen-trale seines Schiffes auf. Mit seiner Ernen-nung zum neuen Anführer des Clans war dieTIA zum Flaggschiff des Clans geworden.

Die Arbeiten zum Umbau des Komplexeswaren in vollem Gange. Es stellte die Logi-stiker vor gewaltige Herausforderungen, die733 miteinander zum Komplex verbundenenSchiffe des Clans grundlegend anders zugruppieren. Die TIA musste sich als Flagg-schiff ungefähr im Zentrum des Schiffsver-bundes befinden.

Viele der verbindenden, aufgeschäumtenHohlstege mussten abgerissen werden. Dut-zende von Piloten hatten ihre Raumschiffein eine andere Position zu dirigieren. Es warnotwendig, dass neue Verbindungsgängeentstanden, damit jedes Mitglied des Clansproblemlos in benachbarte oder auch weiterentfernte Schiffe überwechseln konnte.

Der Komplex war eine Errungenschaftseines neunten Vorgängers Abenwosch-Peca-yl 957. die der jetzige Abenwosch beibehal-ten wollte. Er spürte, dass dies eine gute, zu-kunftsweisende Idee darstellte. Das Vernet-zen der Raumschiffe des Ercourra-Clansverminderte das Gefühl, im eigenen Schiffisoliert zu sein.

Die Clans der Juclas lebten seit Jahrhun-derten in ihren Raumschiffen, seit sie nachOvarons Rückkehr von den anderen Cappin-Völkern endgültig aus der Völkergemein-schaft Gruelfins vertrieben worden waren.Sie führten ein unstetes Leben, ständig un-terwegs, ohne Heimat, ohne wirkliches Ziel.Sie waren Weltraumnomaden, und das seitso vielen Generationen. Es war Abenwosch-Peca-yl 957. zu verdanken, einen ersten großenSchritt getan zu haben, dieser ewigen Wan-derschaft entgegenzuwirken: den Komplex.Seit neun Herrschergenerationen bildetenicht mehr nur das einzelne Schiff den Auf-enthaltsort eines Juclas, sondern der gesamteKomplex. Dieser bot durch seine Größe dieIllusion einer Heimatwelt. Jedes andere Mit-glied des Clans war zumindest theoretischfür jeden erreichbar.

Der Abenwosch hatte dadurch einen an-genehmen Nebeneffekt erzielt. Seine Machtwar gestiegen. Wo auf den einzelnen Schif-fen früher Anarchie geherrscht hatte, setztesich in zunehmendem Maß der Gedanke ei-nes gemeinsamen Ganzen durch. Dadurchnahm faktisch auch das Maß der Kontrollezu, die der Anführer ausüben konnte.

Die Idee des 957. war so einfach gewe-sen. Er ließ die Schiffe des Ercourra-Clansnicht mehr nebeneinander durch den Raumtreiben, sondern miteinander. Dazu ent-wickelte er die ersten Tuilerien, die aufge-schäumten Hohlstege, die erstaunlich festeKonsistenz annahmen und doch flexibel ge-

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nug blieben, um die miteinander verbunde-nen Schiffe bei kleineren Synchronisations-fehlern während des Fluges nicht zu gefähr-den. Verbanden einzelne Tuilerien erst ein-mal zwei oder durch Verknüpfungen auchmehrere Schiffe miteinander, wurden siedurch Prallfelder vor dem Vakuum ge-schützt. Der Komplex als Ganzes war aufdiese Weise sogar fähig, Überlichtflüge vor-zunehmen.

Das System funktionierte tadellos, und eswar ein geradezu genialer Einfall des neun-ten Vorherrschers gewesen. Wie Aben-wosch-Pecayl 966. schon als Zweijähriger,als er noch seinen Geburtsnamen Scytim ge-tragen hatte, in einer Hypnoschulung gelernthatte, waren damals die Grundsteine einesneuen Selbstbewusstseins für das Volk derJuclas gelegt worden. Man liebte nach wievor das wilde Leben und war nicht abge-neigt, tagelang zu feiern. Doch Abenwoschbeobachtete, dass die alkoholischen Exzessenachließen. Auch verzeichnete die Statistikweniger Todesopfer durch Drogen.

Der berühmte 957. war ein Visionär ohne-gleichen gewesen. Viele seiner Worte warenbis heute unvergessen, und dadurch hatte erdem allgegenwärtigen Tod ein Schnippchengeschlagen; in gewisser Weise war er un-sterblich geworden. Jeder Abenwosch mus-ste sich seitdem der Weisheit beugen, die erhinterlassen hatte: Der Komplex ist der ersteSchritt zum Ziel. Das Ziel jedoch ist das En-de der Unstetigkeit.

Abenwosch trat an sein Kommandopult.Er befahl Dittsil zu sich, den obersten Lo-

gistiker des Clans, den er mit der Koordina-tion des Umbaus beauftragt hatte. Es dauertelange, bis dieser die Zentrale betrat.»Entschuldige, Abenwosch-Pecayl 966. Ichkonnte deinem Ruf nicht schneller folgen.«

»Was hinderte dich daran?«, brauste derAnführer auf. Er mochte es nicht, wenn manihn warten ließ. Daran änderte auch die Ehr-erbietung Dittsils nichts, die sich darin äu-ßerte, dass er den vollen Namen des Anfüh-rers aussprach, statt die seit einigen Genera-tionen übliche Abkürzung Abenwosch zu

benutzen.»Ich musste …«Der Anführer ließ seinen Untergebenen

nicht aussprechen. »Du musstest Dinge erle-digen, die wichtiger waren als mein Be-fehl?« Er lauerte auf die nächsten WorteDittsils.

Wenn dieser die falsche Antwort gab,würde er ihm eine Lektion erteilen! Daskäme ihm gerade recht, um die aufgestauteUnruhe loszuwerden, die in ihm kochte, seiter gezwungen worden war, über das Lebenund den Tod seines Vorgängers nachzuden-ken.

Dittsil wand sich und blickte schließlichin die grauen Augen seines Anführers.»Nichts ist wichtiger als dein Befehl. Ganzim Gegenteil.«

»Warum bist du ihm dann nicht sofort ge-folgt?« Abenwosch beugte sich nach vorne,dass sein blauschwarzes Haar über dieSchultern strich.

»Weil ich durch deinen Befehl daran ge-hindert wurde.«

Du machst dich über mich lustig!, wollteAbenwosch ihm impulsiv entgegenschmet-tern und an ihm ein Exempel statuieren.Doch ihm wurde rasch klar, was Dittsil da-mit meinte. Mit äußerster Selbstbeherr-schung, einer Gabe, über die nur wenigeJuclas verfügten, zwang er sich zur Ruhe.»Du hast dich in einem Interessenkonfliktbefunden.«

Dittsil nickte eifrig. »Du sagst es, Aben-wosch-Pecayl 966. Du hast mir befohlen,der Umstrukturierung des Komplexes erstePriorität einzuräumen. Gerade als dein Be-fehl, dich hier in der Zentrale aufzusuchen,eintraf, beschäftigte ich mich mit einem Pro-blem, das umgehender Lösung bedarf.«

»Berichte mehr darüber.«»Es müssen zwei sehr alte Tuilerien auf-

gelöst werden. Es heißt, sie seien die älte-sten, die überhaupt existieren.«

Abenwosch ahnte, was das bedeutete.»Olmon versucht das zu verhindern.«

»Er bittet darum, dich sprechen zu dürfen,Abenwosch-Pec…«

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»Ich werde ihn aufsuchen«, würgte derAnführer ihn ab. Ihm war nicht danach, dassDittsil schon wieder der Etikette Genüge tatund seinen vollen Namen aussprach. Olmon!Er hätte damit rechnen müssen, dass dieserselbst ernannte Bewahrer der Ruhe undSchönheit Schwierigkeiten bereiten würde.

Ehe er ihn aufsuchte, musste er sich aller-dings noch um etwas anderes kümmern.

*

Abenwosch durchsuchte die wenigen per-sönlichen Hinterlassenschaften seines Vor-gängers und glaubte, seinen Augen nichttrauen zu können.

Abenwosch-Pecayl 965. war zweiunddrei-ßig Jahre alt geworden, ehe er gestern alszitternder Tattergreis sein verdientes Endegefunden hatte. Seit langer Zeit hatte er denClan nicht mehr führen können, aber dieseAufgabe trotzdem nicht niedergelegt. Jetztwar er tot, und der neue Abenwosch, der966. der diesen Ehrentitel trug, hatte dieHerrschaft ergriffen.

Endlich führte ein Jüngerer den Clan an.Abenwosch war zwölf Jahre alt. Seiner Mei-nung nach das ideale Alter für einen Jucla,diese große Verantwortung zu übernehmen.Er stand auf dem Höhepunkt seiner körperli-chen Kraft; schon in wenigen Jahren würdees diesbezüglich bergab gehen. Ganz anderssah es mit seiner charakterlichen Stärke aus.Hier hatte er die Spitze seiner Entwicklungnoch lange nicht erreicht.

Das war ein unabänderliches Problem sei-nes Volkes; es blieb ihnen verwehrt, innereund äußere Reife annähernd gleichzeitig zuerlangen, wie es bei allen anderen Cappin-Völkern der Fall war. Gelangte ein Jucla impsychologischen Sinne ins Erwachsenenal-ter, war der körperliche Zenit schon langeüberschritten, nahte die Vergreisung undHinfälligkeit.

Abenwosch hatte erwartet, dass sich unterden Hinterlassenschaften seines Vorgängersnichts Nützliches finden ließ. Doch jetzthielt der neue Anführer des Ercourra-Clans

ein höchst ungewöhnliches Erbe in derHand. Eine Botschaft, die der alte Aben-wosch offensichtlich mit eigener Hand ge-schrieben hatte. Das passte zu dem senilenund depressiven Schwächling, der er in sei-nen letzten Lebensjahren gewesen war. Wertat schon so etwas Unsinniges? Es brachtekeinen Nutzen! Nur jemand, dessen Ver-stand vom Alterswahnsinn zerfressen war,der besser schon längst gestorben wäre,konnte auf so eine Idee kommen.

Ich spüre es. Die Dunkelheit naht, lasAbenwosch-Pecayl 966. die ersten Worteauf den Folien. Der Tod eilt mit Riesen-schritten herbei. Er verzog verächtlich dasGesicht. Aber die nächsten Zeilen verur-sachten Unruhe in ihm, und es gelang ihmnicht mehr, spöttisch darüber hinwegzuge-hen. Er las von Angst und Hass, von innererQual.

Diese Gefühle kannte er nur zu gut, ge-nauso wie sein Vorgänger und wie jeder an-dere Jucla.

Die Angst vor dem frühen, genetisch be-stimmten Tod war allgegenwärtig. Ebensoder Hass auf die Takerer, die die Juclas aufdiese Weise gezüchtet hatten. Jeder Juclawar prädestiniert, so zu empfinden. Wie sehrer sich auch dagegen sträuben mochte, esgab keine Chance, dieser Prägung zu ent-kommen. Aggression und Kampftrieb be-stimmten den Alltag.

Immer häufiger bemerkte der neue An-führer, dass seine Gedanken um diese dreiPole kreisten. Angst. Hass. Aggression. Ne-gative Empfindungen, die sein Inneres auf-fraßen und ihn in einen Strudel der Gewaltzogen.

Was Abenwosch nun las, berührte ihn aufunangenehme Weise. Er hatte seinen Vor-gänger stets verachtet, weil er alt undschwach gewesen war. Doch schon die er-sten Worte der Hinterlassenschaft machtenihm klar, dass der alte Herrscher vor allemeins gewesen war: ein Jucla.

Genauso wie er selbst.Genauso wie jeder andere, der dem Er-

courra-Clan angehörte.

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Abenwosch ließ die Botschaft verschwin-den, indem er den Schrank seines verstorbe-nen Vorgängers wieder verschloss.»Zeitverschwendung«, murmelte er ärger-lich, ohne selbst wirklich davon überzeugtzu sein. »Ich habe anderes zu tun! Wichtige-res!«

Die Zukunft des gesamten Clans lag inseinen Händen. Er war dafür verantwortlich,alle ihm anbefohlenen Juclas in ein besseresLeben zu führen. Ein Leben, das von neuemSelbstbewusstsein geprägt war.

Und nicht von Angst, Hass und Aggressi-on, dachte er. In diesem Moment wurde ihmklar, dass er sich früher oder später genauermit der Hinterlassenschaft seines Vorgän-gers beschäftigen musste.

*

»Du hast darum gebeten, mich sprechenzu dürfen, Olmon«, sagte Abenwosch wenigspäter mühsam beherrscht. Er hatte sich ent-schlossen, den alten Jucla in seiner Kabineaufzusuchen, anstatt ihn zu sich in die Zen-trale zu befehlen. Er vermutete, dass es an-gebracht war, dieses Gespräch ohne die An-wesenheit Dritter zu führen.

»In der Tat, Abenwosch.« Olmon stand indem geöffneten Schott direkt vor seinemAnführer, und er beugte sich übertriebendeutlich herab, um mit ihm auf einer Augen-höhe zu sein.

Diese Geste stachelte Abenwoschs Ärgernoch stärker an, als es ohnehin schon derFall war. »Du verhinderst die Ausführungeines meiner Befehle. Was, glaubst du, gibtdir das Recht dazu?«

»Komm erst einmal herein«, bat Olmonund gab das Schott frei. »Darf ich offensprechen?«

Abenwosch nickte und folgte ihm ins In-nere der Kabine. Hinter ihm schloss sich dasSchott.

Sofort schlug ihm ein unangenehmer Ge-ruch entgegen: der Gestank des Alters, ver-mengt mit den muffigen Ausdünstungen derwiderlichen Felle, mit denen die enge Kam-

mer voll gestopft war. Vor wenigen Genera-tionen noch waren die Wände der Jucla-Schiffe mit Pelzen behangen, nicht mal dieZentrale war davon bewahrt. Abenwoschwar froh, dass sich mit dem neuen Selbstbe-wusstsein auch der Geschmack änderte.

Olmon wies auf das lang gezogene Ge-sicht seines Anführers. »Du bist jung, Aben-wosch. Immer noch verunzieren dich dieNarben deiner Pubertätsakne.«

»Komm zur Sache«, verlangte Aben-wosch kühl.

»Ich bin längst bei der Sache. Um dir zuerklären, worum es geht, muss ich mit dirüber grundlegende Dinge sprechen.«

»Wie etwa Pubertätsakne? Beeil dich ge-fälligst! Ich habe noch anderes zu tun.«

»Ich bin alt, Abenwosch, und damit dasgenaue Gegenteil von dir. Die Jahre habenmich gelehrt, ein wichtiges Gespräch mitBedacht zu führen. Jedes Wort sollte sorg-sam erwogen werden, auch wenn uns nichtviel Lebenszeit zur Verfügung steht. Wirsprachen vor kurzem bereits darüber, dassman sich für manche Dinge Zeit nehmensollte.« Zufriedenheit breitete sich in seinenZügen aus, als er sah, dass sein Gegenüberschwieg und ihn auffordernd ansah. Er setz-te sich am Tisch nieder und bedeutete Aben-wosch, es ihm gleichzutun. »Und da du mirerlaubt hast, offen zu sprechen, sage ich dir,dass ich Reife erlangt habe und du nochnicht.«

Abenwosch ballte die Hände zu Fäusten.Er blieb stehen. Jetzt sah er auf den anderenhinab. »Du solltest froh sein, dass niemandZeuge dieses Gespräches wird! Wenn dudiese Worte jemals vor einem Mitglied mei-nes Clans wiederholst, solltest du dir dar-über im Klaren sein, dass es nicht ohne Fol-gen bleiben wird.« Er zog einen Wurfdolchaus der Tasche seiner Kombination undrammte ihn direkt neben Olmons rechterHand in die Tischplatte. Er blieb mit derSpitze stecken und vibrierte mit dumpfemSummen.

»Du bist jung und aufbrausend«, erwider-te Olmon ungerührt. Seine Hand hatte nicht

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einmal gezuckt. »Wie jeder andere Zwölf-jährige auch. Ich mache dir deshalb keinenVorwurf.« Er zog den Dolch aus der Tisch-platte und wog ihn nachdenklich in derHand. »Eine martialische Waffe. Unpräziseund ungeeignet für einen Kampf. Und dochtypisch für Juclas an der Schwelle zum Er-wachsenwerden. Mit einer Klinge zu tötenverschafft eine andere Art der Befriedigungals ein Laserschuss, nicht wahr? Auch ichbesaß einen Wurfdolch, als ich jung war.«

»Und jetzt bist du alt!«, stieß Abenwoschaus. »Alt und schwach. Ein Tattergreis, ge-nau wie mein Vorgänger am Ende seinerHerrschaftszeit. Vom Leben gebeutelt undvom Schatten des Todes geprägt!«

»Und weißt du auch, warum es so ist? Je-der Cappin, der nicht das Pech hatte, alsJucla geboren zu werden, wäre mit meinenneunundzwanzig Jahren noch jung! Wärenicht einmal an der Hälfte seines Lebens an-gelangt. Doch uns hat das Schicksal einenanderen Weg zugedacht.«

»Das Schicksal?« Abenwosch lachte hu-morlos. »Was du so bezeichnest, nenne ichbeim Namen!

Es waren die Takerer, unsere so genann-ten Brüder, die uns das antaten! Sie führtenvor Tausenden von Jahren die genetischenManipulationen durch, die unser Volk insDasein riefen.«

»Das weiß ich, Abenwosch«, erwiderteOlmon kühl. »Ein Taschkar erschuf uns alsKrieger, als Schutztruppe für die Außenbe-zirke seiner Galaxis. Noch heute ist unserVolk von den Eigenschaften und Einschrän-kungen bestimmt, die er damals in uns legte.Wir sind wild, kriegerisch und aggressiv!Voller Hass und voller Angst vor dem Tod,der uns früher ereilt, als es sein dürfte. Ob-wohl unsere Ärzte und Wissenschaftler dieLebensspanne schon erweiterten, sterben wirnach dreißig Jahren. Nach spätestens fünf-undzwanzig Jahren vergreisen wir, dochdann, wenn wir Glück haben und noch fähigsind zu denken, gewinnen wir einen anderenBlickwinkel auf unser Leben.«

Abenwosch wollte etwas erwidern, aber

ein hartnäckiger Gedanke verschlug ihm dieSprache. Da waren sie wieder, die Eckpfei-ler seines Lebens, diesmal von Olmon aus-gesprochen: Angst – Hass – Aggression –Kampf – Tod. Genau wie er es vor wenigenStunden in den Aufzeichnungen seines Vor-gängers gelesen hatte.

Währenddessen sprudelten die Worte ausOlmon heraus. »Wir kämpfen und wir has-sen. Immer wieder werden wir vertrieben,müssen fliehen. Warum sind wir hier, imKugelhaufen Schimayn vor Gruelfin? Wa-rum, Abenwosch?«

»Weil mein Vorgänger so alt war, dass erimmer wieder Fehler beging! Weil wir sei-netwegen erneut fliehen mussten, als einRaubzug misslang!«

Jetzt lachte Olmon, und es klang rau undvöllig humorlos. Er legte den Dolch auf denTisch. »Vielleicht liegt die Ursache tiefer?Könnte es nicht damit zusammenhängen,dass wir uns überhaupt auf einen Raubzugbegeben haben? Weil wir immer noch unstetdurch die Galaxis ziehen wie schon seitHunderten von Generationen? Weil wir im-mer noch keine Heimat haben, sondern unsmit Gewalt nehmen, was wir benötigen?«

»Mein Vorgänger hat uns dem Ziel, unse-re Lebensweise zu ändern, keinen Schritt nä-her gebracht«, sagte Abenwosch kühl. »Undauch du wirst es nicht, Olmon, egal welchhehre Philosophie du auch verbreiten magst.Du bist ein schwacher Greis, der keine Tat-kraft mehr in sich trägt.«

»Und du, Abenwosch, bist ein Heißsporn,dem Weisheit und Reife fehlen. Durch Listund Intrige bist du an die Macht gelangt,aber das heißt nicht, dass du weißt, welcheKonsequenz diese Macht nach sich zieht!«

»Nun hast du lange genug offen geredet,Olmon. Jetzt ist die Reihe an mir. Ich folgeder Tradition, dass das Flaggschiff desKomplexes nahezu im Mittelpunkt steht undvon den anderen 732 Schiffen umgebenwird. Das neue Flaggschiff ist meine TIA,und deshalb wird der Komplex umstruktu-riert, bis sie sich im Zentrum befindet!«

»Du folgst der Tradition, doch nicht ih-

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rem Geist«, widersprach Olmon.»Derjenige, den du mit dem Umbau beauf-tragt hast, will die ältesten noch existieren-den Tuilerien zerstören. Verbindungsgänge,die der Schöpfer des Komplexes selbst ge-bildet haben soll. Ein Ort, in dem Juclas seitneun Generationen ihre verborgenen Talenteausleben und Schönheit erschufen, die …«

»Schweig, alter Mann!«, unterbrachAbenwosch. »Wenn diese Tuilerien tatsäch-lich so alt sind, wie du behauptest, dann be-deutet das nur eins: Die Schiffe, die durchsie verbunden sind, sind seit neun Genera-tionen nicht mehr von ihrem Platz im Kom-plex gewichen. Eine viel zu lange Zeit. Siehätten längst auf Raubzüge gehen und zudiesem Zweck abgetrennt werden müssen.Ich danke dir, dass du mich darauf hinge-wiesen hast. Ich werde das ändern.«

»Aber …«»Deine Redezeit ist abgelaufen, Olmon.

Alter und Schwäche haben zu schweigen.Nun werden Jugend und Stärke zur Tatschreiten.«

Olmon wandte sich ab. »Wir werden se-hen, wohin du uns führst«, murmelte er undöffnete das Schott seiner Kabine.

»Du schickst mich grußlos hinaus?«, riefAbenwosch erzürnt. »Du vergisst, mit wemdu geredet hast!«

»Ich habe mit meinem Anführer geredet,der genauso wie alle anderen Juclas gene-tisch zur Aggression und zum Kampf vor-herbestimmt ist.«

Abenwosch verließ den Raum, ohne dar-auf zu antworten.

Wenige Stunden später war die Umstruk-turierung komplett. Die TIA befand sich imZentrum des Komplexes aus den 733 Schif-fen des Ercourra-Clans. Die alten Tuilerienwaren zerstört, ihre Überreste trieben im All.

*

Die Machtübernahme, die mit dem Todseines Vorgängers begonnen hatte, war da-mit auch nach außen hin vollzogen. Zum er-sten Mal seit der Erschaffung des Komple-

xes kam der Anführer des Clans von einemanderen Schiff als dem des berühmtenAbenwosch-Pecayl 957. Zum ersten Mal seitneun Generationen war nicht der Sohn desalten Herrschers zum neuen Anführer ausge-rufen worden.

Abenwosch hätte zufrieden sein können,doch er war es nicht.

Er wusste nicht, was ihn hier im Sternhau-fen Schimayn erwartete. Diese Region warihm völlig unbekannt. Er musste sich auf dasKommende vorbereiten.

Eine Bestandsaufnahme war notwendig.Welche Dinge des alltäglichen Lebens wür-den sie in absehbarer Zeit benötigen? Wel-che Posten mussten neu besetzt werden? Woregte sich möglicherweise Widerstand gegenden neuen Abenwosch, der bis vor kurzemder völlig unbekannte Scytim, Sohn desKommandanten der TIA, gewesen war?

Solche internen Angelegenheiten warenvorhersehbar und berechenbar. Abenwoschwar sicher, dass er dies alles in den Griff be-kommen würde, denn fast alle einflussrei-chen Kommandanten befanden sich in seinerHand.

Aber er kannte nicht die Bedingungen, diein diesem Sternhaufen herrschten. Er be-fürchtete, dass sie mitten in ein Krisenzen-trum geflohen sein könnten. Überall inGruelfin tobten Kriege. Die alte Ordnungwar am Zerbrechen, wie es hieß. Abenwoschwusste nicht wirklich, was an den Gerüchtendran war, die besagten, dass eine geheimnis-volle Macht in Aktion getreten war, die …Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen,als ein Generalalarm durch das Schiff gellte.

2.25. September 1225 NGZ

Atlan: gerettet, verloren und betrogen

Jetzt überfluten mich:Bilder.Sie wirbeln durch mein Bewusstsein.

Zahllose alternative Versionen meinerselbst. Der Flammenstaub in mir hat sie fürmich sichtbar gemacht. Wesen einer Paral-

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lelrealität, nur durch eine andere Wahr-scheinlichkeit von mir getrennt. Von mir?Gibt es dieses Mir tatsächlich? Existiereich?

Wenn ja, liege ich hier auf dem hartenBasaltboden, um zu sterben. Der Flammen-staub frisst mich auf. Alles um mich herumhat sich verändert, ein Chaos aus Alterna-tivwelten ist entstanden, und nur ich bin derAnker, der alles zusammenhält.

Bin ich das?Warum lebe ich? Warum verblassen die

anderen, die ähnlich sind wie ich und dochanders? Sie lösen sich auf, verwehen in derheißen Luft, existieren nur noch in meinerErinnerung.

Die Enge in mir und um mich herum ver-schwindet. Der fluoreszierende Wirbel, dermein Bewusstsein trübte und schon der ewi-gen, dunklen Schwärze wich, vergeht.

Die Schmerzen, die mich quälen und indas Tal des Todes reißen wollen, weichen.Sie verschwinden nicht, sondern sammelnsich an einer einzigen Stelle. Mein rechterUnterarm steht in Flammen. Er pocht undpulsiert, heiß und eiskalt zugleich.

Etwas ist anders. Ich lebe, aber diesemLeben scheint ein grundlegendes Element zufehlen. Ich kann es nicht benennen, erkennenicht, worum es sich handelt. Und doch wares immer da gewesen, all die Jahre undJahrhunderte meiner Existenz.

Das Chaos in meinen Gedanken lichtetsich. Die anderen, die mich wie in einem bi-zarren Spiegelkabinett, das den Besuchertausendfach wiedergibt, umgaben, sind end-gültig verschwunden. Aus der Schwärze ummich herum bilden sich wieder Formen.

Ich erinnere mich an den einen alternati-ven Atlan, der Kontakt mit mir aufnahm, alssich Dunkelheit und Kälte endgültig übermich legen wollten. Ich sterbe, sagte er,doch du sollst leben.

Leben! Dieses Wort weckt eine weitereErinnerung. Jetzt weiß ich, was ich tunmuss. Ich öffne den Mund, sauge Luft in dieLungen, merke jetzt erst, dass ich nicht geat-met habe. Viel zu lange nicht geatmet habe.

Die Luft ist süß. Sie ist heiß, schmecktnach Schwefel, und doch ist sie süß, süß, so… So süß.

Ich atmete sie tief ein, die Luft des Plane-ten, den ich auf den Namen »Ende« getaufthatte und der zu meinem Grab hatte werdensollen. Hier, auf dieser Welt ohne eigenesintelligentes Leben, hatte ich den finalenKampf gegen mich selbst austragen wollen.Oder gegen den Flammenstaub in mir.

Ich hatte den Kampf verloren. Ich hatteim Sterben gelegen. Oder war ich bereits ge-storben?, stieg aus einem verborgenen Win-kel meines Bewusstseins eine bange Frageauf. War ich nach dem Kontakt mit dem»anderen« ins Leben zurückgekehrt?

Der andere – eine der durch den Flam-menstaub zugänglich gemachten alternati-ven Versionen meiner selbst. Er war mirsehr ähnlich gewesen, kaum von mir zu un-terscheiden. Nur winzige Wahrscheinlich-keitsunterschiede hatten ihn von mir ge-trennt. Er hatte mich gerettet, indem er sichopferte, den tödlichen Flammenstaub ausmir herauszog und in sich aufnahm. Es warzu einer letzten Entladung gekommen, dasBasaltgestein war aufgespaltet, der anderevon den austretenden Lavamassen ver-schlungen worden. Er war gestorben, damitich leben konnte.

Jetzt, da sich meine Gedanken klärten, er-innerte ich mich wieder daran, dass der an-dere mich von der Stelle seines Todes weg-geschleudert hatte. Sogar daran hatte derSterbende gedacht. Ich wäre aus eigenerKraft niemals den entfesselten Gewalten derExplosion entkommen.

Ich wandte den Blick dorthin, entdeckteeinen neu entstandenen rot glühenden Lava-see, dessen Oberfläche so hell war, dass esin den Augen schmerzte. Blasen stiegen trä-ge an die Oberfläche, zerplatzten mit sattemSchmatzen. Glühende Tropfen verteiltensich in weitem Umfeld, einige landeten nochnahe bei meinen Füßen.

Nichts mehr erinnerte an meinen Retter,die glühende Masse hatte ihn restlos besei-tigt. Und mit ihm war wohl auch der Flam-

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menstaub vergangen.Mühsam erhob ich mich aus der liegenden

Position. Dabei veränderte sich die Lagemeines rechten Arms. Die Hand schleifteüber den Boden. Ein mörderischer Schmerzdurchzuckte mich von den Fingerspitzen bisin die Schultern. Ich schrie gepeinigt auf undzog den Arm unwillkürlich an den Körper.

Mein Unterarm war gebrochen. Ich hattees im Rausch der Alternativwelten und desnahenden Todes vergessen, selbst als die all-gegenwärtigen Schmerzen sich wieder aufdiese Stelle konzentrierten.

Ich erinnerte mich an den Sturz auf dierechte Hand, der zu dem Bruch geführt hat-te. Der Arm war an der Bruchstelle dick ge-schwollen; durch das Fleisch waren die blo-ßen zersplitterten Knochen sichtbar. Derganze Bereich war eine einzige offene Wun-de, die dringend medizinisch versorgt wer-den musste.

Dieser Teil meiner Erinnerungen war alsotatsächlich Realität und keine durch denFlammenstaub geschaffene andere Wahr-scheinlichkeitsebene gewesen. Oder doch?Würde es überhaupt einen Unterschied ma-chen?

Noch immer fiel es mir schwer, meine La-ge zu analysieren. Die starken Schmerzenverhinderten jeden logischen Gedanken.Dennoch wurden die Fragen in mir immerdrängender. Was hatte den anderen dazu be-wogen, sein Leben für mich zu geben? Wie-so hatte er sich geopfert? Die Antwort wür-de mir wohl für immer verschlossen bleiben.

Ich verspürte tiefe Trauer über seinenTod. Es war, als sei mit ihm ein Teil von mirgestorben. Der Verlust hinterließ ein Gefühlder Verlassenheit und Einsamkeit in mir, dasich beinahe körperlich wahrnehmen konnte.

Oder resultierte diese Leere daraus, dassder Flammenstaub aus mir entfernt wordenwar, dass ich diese rätselhafte Substanz, diefast zu meinem Tod geführt hatte, endlichwieder losgeworden war? Du täuschst dich!,ertönte plötzlich die Stimme des Extrasinnesin mir. Nach dem Kampf gegen Peonu warer sehr geschwächt gewesen, hatte inzwi-

schen jedoch zu der üblichen mentalen Stär-ke zurückgefunden. Du trägst immer nocheinen Rest des Flammenstaubs in dir. Derandere hat ihn nicht vollständig entfernt,sondern nur den größten Teil davon. Etwasist zurückgeblieben, und es wird sich weisen,was das für dich bedeutet!

Ich ging nicht näher auf diesen Impulsein. Nicht jetzt. Es würde die Zeit kommen,zu der ich mich damit beschäftigen musste,doch momentan hatte ich andere Sorgen. Fürden Augenblick genügte es, dass der Flam-menstaub nicht mehr in unmittelbar tödli-cher Konzentration vorhanden war.

Ich musste den offenen Unterarmbruchversorgen.

Die Schmerzen hämmerten unablässig inmir. Es kostete mich äußerste Kraft, mich inBewegung zu setzen. Dabei hielt ich denArm so ruhig wie möglich.

Als ich mich einige weitere Schritte vondem neu entstandenen Lavasee entfernt hat-te, sank die Temperatur merklich. Es tat gut,der glühenden Hitze entkommen zu sein.

Ich beschloss, zuerst den varganischenSchutzanzug zu suchen, den ich achtlosweggeworfen hatte. Es fiel mir schwer, michzu orientieren, doch schließlich war ich mirsicher, mich dem richtigen Ort zu nähern.

Schon von weitem sah ich, dass das kom-plette Gebiet durch Magmaeruptionen zer-stört worden war. An verschiedenen Stellenragten Bruchstücke von Felsen aus träge da-hinfließenden Lavaströmen. Mir bot sich dasBild einer chaotischen, urzeitlichen Welt.Mein letzter Weg vor dem scheinbar unver-meidbaren Tod hatte eine Schneise der Ver-nichtung hinterlassen.

Es hat keinen Sinn, meldete sich erneutmein Logiksektor zu Wort. Der Schutzanzugist für dich verloren.

Dem war nichts hinzuzufügen. Hoffent-lich war das Zaqoor-Beiboot, mit dem ichhierher gelangt war, nicht zerstört worden.Dort würde sich mir wenigstens die Chancebieten, den Bruch erstzuversorgen und einSchmerzmittel einzunehmen. Da der Medo-Syntron nicht auf fremde Metabolismen ein-

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gestellt war, könnte ich nicht viel mehr tun.Selbst auf ein Schmerzmittel, das auch beiarkonidischer Physiologie wirkte, konnte ichnur hoffen.

Grundlegende Versorgung war jedoch ab-solut notwendig. Der Unterarm war kompli-ziert gebrochen. Es bestand die Gefahr, dassdie Knochen schief zusammenwuchsen. Umdas zu verhindern, musste ich die Knochenrichten und eine Schiene anlegen. Schon derGedanke daran war in höchstem Maß unan-genehm.

Ich machte mich auf den Weg zu demBeiboot. Inzwischen fiel mir jeder Schrittschwerer als der vorangegangene. MeineKräfte schwanden merklich. Mir brach derSchweiß aus, und die Muskulatur oberhalbdes Bruches begann unkontrolliert zu zittern.Ich hielt mich mit schierer Willenskraft auf-recht.

Ich passierte eine der zahlreichen heißenQuellen des Planeten. Grüngelbes Wasserschoss fontänenartig in die Höhe und stürztein einen kleinen See. Dann näherte ich micheiner markanten Formation aus uralter, er-starrter Lava, die im Laufe der Jahrtausendeschwarze Färbung angenommen hatte. In diezerklüftete Oberfläche waren vereinzelteRinnen wie Kriechgänge kleinster Tiere ein-gegraben.

Mein Blick wanderte wieder einmal zudem Bruch. Die nach wie vor sichtbaren zer-splitterten Knochenenden boten einen rechtmakabren Anblick. Ich biss die Zähne zu-sammen und versuchte meinen Gang zu be-schleunigen. Trotz aller Anstrengung tau-melte ich mehr, als dass ich ging.

Als die DYS-116, das Zaqoor-Beiboot,endlich in der Ferne sichtbar wurde, kam ichins Nachdenken. Nun, da ich den vargani-schen Schutzanzug nicht mehr besaß, warmein letztes Hilfsmittel des uralten Volkesverloren gegangen. Von dieser Feststellungaus wanderten meine Gedanken unwillkür-lich zu Kythara, der Varganin, die in denletzten Monaten meine Begleiterin gewesenwar. Die Intrawelt hatte ich ohne sie betre-ten, und schon bald nach meiner Rückkehr,

nach dem Kampf mit unserem WidersacherPeonu, war sie in meinen Armen gestorben.Die Begegnung mit ihr und damit mein er-neutes Aufeinandertreffen mit dem Volkund der Kultur der Varganen schien alsonichts weiter als eine Episode gewesen zusein.

Ich erreichte die DYS-116 und suchte so-fort den Medo-Bereich auf. Ich schluckte einSchmerzmittel, das nicht auf den arkonidi-schen Organismus abgestimmt war und des-halb nur wenig Wirkung zeigte. Den Unter-armbruch selbst zu richten war eine Torturohnegleichen. Ich schrie auf, hörte, wie dieKnochenenden aneinander rieben und einhässliches Knirschen verursachten. NeuesBlut floss. Die linke Hand, mit der ich diemakabre Arbeit verrichten musste, zitterte.

Alles drehte sich vor meinen Augen. Ichsank auf den Boden nieder, verlor für kurzeZeit das Bewusstsein. Als ich wieder zu mirkam und mich etwas erholt hatte, säuberteich die Wunde, legte einen Verband an undschiente den Unterarm notdürftig. Das wardringend notwendig, denn der Zellaktivatorwürde zwar für eine beschleunigte Heilung,Desinfektion und Zellgewebsheilung sorgen,konnte jedoch kein falsches Zusammen-wachsen der Knochen verhindern.

Danach legte ich mich müde und kraftlosauf eine Pritsche und schloss die Augen. Au-genblicklich schlief ich ein.

*

Als ich erwachte, schwamm ich in einemMeer aus Schmerzen, dem ich nur langsamentrinnen konnte.

Ich schwang die Beine benommen vonder Pritsche und betrachtete sitzend meinenrechten Arm. Die Schiene saß nach wie vorperfekt. Die Wunde pochte unter demdicken, inzwischen durchgebluteten Ver-band. Ich verfluchte den Umstand, auf Endefestzusitzen und keinen Zugang zu einerMedostation zu haben, die auf den arkonidi-schen Metabolismus eingerichtet war. Diebeste heutzutage mögliche medizinische

Todeszone Schimayn 11

Versorgung hätte die Wundheilung und dasKnochenwachstum extrem beschleunigenkönnen.

Narr! Auf diesen sarkastischen Kommen-tar hätte ich nur allzu gerne verzichtet. Dubefindest dich im Halo von Dwingeloo.

Der nächste Mediziner, der sich mit demarkonidischen Körper auskannte, war buch-stäblich Lichtjahre weit entfernt.

Etwa sechzehn Millionen Lichtjahre, umgenauer zu sein.

So weit war ich von der Milchstraße ent-fernt, und ich hatte keine Möglichkeit, in dieheimatliche Galaxis zurückzugelangen. Dieturbulenten Ereignisse der letzten Monatehatten mich als Gestrandeten zurückgelas-sen.

Was war mir geblieben? Durch die Kraftdes Flammenstaubs, den ich unter vielerleiGefahren aus der Intrawelt geborgen hatte,war es offensichtlich gelungen, die Machtder Lordrichter in Dwingeloo vorläufig zubrechen.

Aber ganz anders sah es in der Milchstra-ße und der Riesengalaxis Gruelfin, der Hei-mat der Cappin-Völker, aus. Dort operiertendiese nach wie vor geheimnisvollen mächti-gen Wesen noch immer. Besonders Gruelfinwurde von ihren Intrigen und Machtplänenin Mitleidenschaft gezogen; entsetzlicheBruderkriege tobten. Die genetisch eng ver-wandten Cappin-Völker bekämpften sich ge-genseitig.

Dieses Resümee hinterließ einen schalenGeschmack in meinem Mund. Ich fühltemich betrogen.

Es hatte nicht nur meine Rettung bedeu-tet, dass mir die größte Menge des Flam-menstaubs entzogen worden war. Gleichzei-tig war mir auch das geraubt worden, wo-nach ich in der Intrawelt so lange gesuchthatte und worum ich so hart gekämpft hatte.

Mir war bewusst, dass diese Empfindungjeglicher Vernunft widersprach. Dennochkonnte ich sie nicht unterdrücken. Der Lo-giksektor wies mich augenblicklich daraufhin, dass mir der Flammenstaub nichts nutz-te, wenn ich tot war. Eine sehr simple Über-

legung, Arkonide!Das war es in der Tat, und damit teilte er

mir nichts Neues mit. Aber Gefühle standennun einmal oft jenseits der Logik, und trotzallem, was mich mein langes Leben gelehrthatte, war ich nach wie vor ein emotionalesWesen. Ich hoffte, dass es nie anders werdenwürde.

Trotzdem musst du in diesem Fall deinenVerstand über das Gefühl setzen.

Das war eine Forderung, die all dem ent-sprach, was das Wesen des Extrasinnes aus-machte. Kühl, vernünftig, nüchtern. DiesesMal hatte er jedoch absolut Recht.

Ich horchte in mich hinein. Befanden sichwirklich noch Restmengen des Flammen-staubs in mir?

Spürst du nicht die Kopfschmerzen? Siesind die Folge davon.

Und wie ich sie spürte. Sie waren perma-nent vorhanden, als bohre sich etwas in mei-nen Hinterkopf. Nicht einmal das Hämmernin meinem geschwollenen Arm konnte sievollständig überdecken.

Ich stand auf, ging zu dem Pilotensesselder DYS-116. Ich hatte mich lange genugmit dem desolaten Zustand meines Körpersauseinander gesetzt. Ich beschloss, das Altehinter mir zu lassen und nach vorne zu se-hen. Ich musste mir neue Ziele setzen!

Auf den ersten Blick existierten zwei Al-ternativen: die Rückkehr in die Milchstraßeoder der Weg nach Gruelfin. Da an beidenStellen noch die Lordrichter und ihre Trup-pen aktiv waren, fiel mir die Wahl nichtschwer.

Ich musste zurück in meine Heimat, her-ausfinden, wie sich die Zustände in derMilchstraße entwickelt hatten. Was hattendie Lordrichter dort inzwischen bewirkt?Existierte die alte, mir bekannte Ordnungüberhaupt noch? Was geschah auf Arkon,was auf Terra?

Viel zu lange war ich notgedrungen derHeimat fern gewesen. Seit fast vier Monatenhielt ich mich in Dwingeloo auf, die Zeit,die ich in der Intrawelt verbracht hatte, miteingerechnet. Am 2. Juni dieses Jahres war

12 Christian Montillon

ich durch das Transportfeld des Pedopeilersder Cappins gegangen, der die Versetzungüber sechzehn Millionen Lichtjahre bewirkthatte. Inzwischen schrieb man den 25. Sep-tember.

Doch wie sollte ich zurückkehren? DerEmpfangs-Pedopeiler ERYSGAN in Dwin-geloo war unmittelbar nach meiner Ankunftvon den Truppen der Lordrichter zerstörtworden. Dessen Kommandant Toragaschhatte die Stellung gerade lange genug gehal-ten, um uns die Ankunft zu ermöglichen.Die Rückkehr war mir auf diesem Weg alsoverwehrt.

Sechzehn Millionen Lichtjahre waren einegewaltige Distanz, trotz aller modernenRaumschiffsantriebe. Zumal mir kein fern-flugtaugliches Schiff zur Verfügung stand.Gruelfin befand sich ebenfalls in unerreich-barer Entfernung. Was konnten also meinenächsten Schritte sein?

So kam es, dass ich in einem kleinenZaqoor-Beiboot saß und mich fragte, wie ichzurück zur heimatlichen Galaxis gelangenkönnte, als die Ortungsgeräte Alarm schlu-gen.

Zwei große feindliche Einheiten nähertensich dem Planeten.

3.Im Kugelhaufen Schimayn: von alters her

bestimmt

Abenwosch-Pecayl 966. fluchte. Es war,als habe er durch seine Gedanken dieSchwierigkeiten erst heraufbeschworen.

»Warum wurde Generalalarm ausge-löst?«, rief er. Es ärgerte ihn, dass er nichtsofort automatisch in Kenntnis gesetzt wor-den war. Er befand sich in der Zentrale derTIA, des neuen Flaggschiffs im Zentrum desKomplexes. Der Heulton gellte in den Oh-ren.

»Das Späherschiff MIRA meldet ein Ge-schwader der Ganjasen«, berichtete Maliug,der Stellvertretende Kommandant. »DieSchiffe nähern sich uns.«

»Ganjasen?«, entfuhr es dem Anführer

verblüfft. Es war weniger eine Frage alsvielmehr Ausdruck seines Erstaunens.

»Ja, Abenwosch.«Die Ganjasen waren ein Cappin-Volk, das

im Inneren Gruelfins siedelte. Wieso hieltensie sich hier, im Halo der Galaxis, so weitabseits ihrer eigentlichen Lebensräume auf?»Verbinde mich sofort mit dem Komman-danten des Späherschiffs!«

Abenwoschs Gedanken überschlugensich. Er hatte sich hier, in den Randgebietender Galaxis, zu sicher gefühlt. Zu wenigSpäher waren ausgeschickt worden, um dieLage zu erkunden. Mussten sie jetzt alle denPreis dafür zahlen?

Bis vor kurzem war es Abenwosch nochwichtig gewesen, die Umstrukturierung desKomplexes zu vollenden, als äußeres Zei-chen seiner Machtergreifung. Jetzt erkannteer, dass dies ein taktischer Fehler gewesenwar, für den es nur eine Entschuldigung gab:die hektische Phase des Machtwechsels. DerSiegesrausch, in dem er gefangen gewesenwar, die Trauer und der Zorn über das not-wendige schreckliche Opfer.

Zum Komplex verbunden waren dieSchiffe des Ercourra-Clans nahezu hilflos.Dies war der einzige Nachteil dieser Lebens-weise, der sich nun verhängnisvoll auswir-ken konnte. Kam es zu einer Schlacht, konn-ten sie sich nur schlecht zur Wehr setzen.

»Sprechkontakt zur MIRA.« Der Stellver-tretende Kommandant leitete die Verbin-dung auf Abenwoschs Führungskonsoleweiter.

»Abenwosch«, erklang eine aufgeregteStimme. Der Sprecher hielt es nicht einmalfür notwendig, sich zu identifizieren. »Einganzes Geschwader Kampfschiffe der Gan-jasen nähert sich unserer Position. Ein Kon-takt wird nicht zu vermeiden sein.«

»Genauere Angaben«, forderte Aben-wosch knapp.

»Mindestens zehn Schiffe der ABEN-ASCH-Klasse und zwei Einheiten der KEL-TATRON-Klasse. Des Weiteren wenigstensacht Schiffe der KYNOVARON-Klasse.«

Der Kommandant ratterte die Angaben

Todeszone Schimayn 13

stur herunter. Abenwosch erkannte, dasssich der Clan in tödlicher Gefahr befand.Zehn Achthundert-Meter-Standardraumer,unter anderem mit Initialstrahlern undDopplergeschützen bewaffnet. Allein gegendiese besaßen sie nicht die geringste Chan-ce. Wieder fragte sich Abenwosch, was einederart massive Konzentration an Raumernder Ganjasen hier zu suchen hatte.

»Doch das ist noch nicht alles, Aben-wosch«, fuhr der Kommandant der MIRAfort. Seine Stimme zitterte vor mühsam un-terdrückter Erregung.

»Gib eine deutliche Meldung!«, verlangteAbenwosch unwirsch. Er spürte, wie sichseine Verblüffung mit Zorn vermischte.Zorn, der sogar die nagende Angst vertrieb,die sich in ihm breit machte.

»Wir haben noch weitere Ortungsdaten«,ertönte es. »Daten, die wir mehrfach über-prüften, weil …«

»Genug herumgeredet!«Was Abenwosch dann zu hören bekam,

verschlug ihm die Sprache.

*Zwei Tage zuvor

»Er stirbt.«Wer als Erstes diese Worte in den Mund

genommen hatte, war nicht mehr festzustel-len. Die Botschaft verbreitete sich mit rasen-der Geschwindigkeit durch den ganzenKomplex.

»Unser Herrscher stirbt.«Die Jüngsten wisperten es hinter vorge-

haltener Hand, ohne die ganze Tragweiteauch nur annähernd zu begreifen. Einige derzweijährigen Jungen kicherten, als sie es denMädchen ins Ohr flüsterten.

»Der Abenwosch stirbt.«Die Ältesten stießen es mit rauer Stimme

hervor, und die Angst stand ihnen ins Ge-sicht geschrieben. Sie fürchteten die Verän-derung, die damit einherging. Sie waren ent-setzt wegen des auch ihnen bald bevorste-henden Todes, an den sie wieder einmal dra-stisch erinnert worden waren.

»Der Anführer unseres Clans stirbt.«Scytim, der Sohn des Kommandanten der

TIA, sprach es jubelnd aus. Endlich. Endlichwar es so weit. Abenwosch Pecayl 965. sahdem Tod ins Auge. Und das mit zweiund-dreißig Jahren! Er war schon lange ein Tat-tergreis gewesen, schwach und erbärmlich.Viel zu alt, um die Geschicke des Ercourra-Clans effektiv leiten zu können.

»Eine gute Nachricht«, sagte Scytim zuseinem Vater Pelyr. »Unser Clan erhält baldeinen neuen Anführer!« Er lächelte seinenVater vielsagend an. In seinen Augen fun-kelte der Eifer der Jugend.

Sein Vater beugte sich zu ihm herab. Erwar dreiundzwanzig Jahre alt und stand da-mit kurz vor dem Beginn der Vergreisung,die aus ihm im Laufe der nächsten Jahreeinen zitternden Schwächling machen wür-de. »Der Clan braucht dich, mein Sohn.«

Scytims graue Augen verengten sich.»Aber Vater … du bist doch derjenige, der…«

»Schweig, mein Sohn, schweig!« Pelyrdeutete auf das Rangabzeichen, das ihn alsKommandanten der TIA auswies. »Für michist dies hier der Gipfel meiner Karriere. Al-les andere wäre vermessen. Sieh mich an!«

Scytim gehorchte, und er wusste genau,worauf sein Vater hinauswollte. Aber daswollte er nicht akzeptieren. »Du bist nicht zualt!«

»Du enttäuschst mich, Scytim, denn dubegehst einen Fehler! Die Zuneigung, die dufür mich empfindest, trübt dein Urteilsver-mögen. Du darfst niemals zulassen, dass dei-ne persönlichen Gefühle deine Entscheidun-gen diktieren!«

Er legte seinem Sohn die Hand auf dieSchulter. Der leichte Druck, den er ausübte,machte klar, dass er nicht den geringstenWiderspruch duldete. »Ich bin zu alt, umden Clan zu führen. Ja, noch bin ich stark,noch bin ich Herr meiner Sinne, aber schonbald werde ich ein Abbild des jetzigenAbenwosch sein. Sieh doch, was aus unse-rem Anführer geworden ist. Er ist altersstur,hält an seinen Entscheidungen fest, so falsch

14 Christian Montillon

sie auch sein mögen! Doch dann, einen Tagoder auch nur eine Stunde später, gibt erdem Druck der achtjährigen Heißspornenach und entscheidet wieder anders. Er hatkein Kriegsgeschick, und eines Tages wirdeiner der Raubzüge, die er verordnet, zu un-serem Verderben werden. Willst du wirk-lich, dass der Clan in wenigen Jahren schonwieder vor derselben Situation steht?«

»Vater …« Mehr als dieses Wort brachteScytim nicht hervor. Für ihn war in diesenSekunden eine Welt zusammengebrochen.Seit Jahren arbeiteten sie darauf hin, dassPelyr eines Tages der neue Anführer desClans, dass ihre TIA zum Flaggschiff gekürtwerden würde. Er stöhnte, als sich die Fin-ger seines Vaters schmerzhaft in seineSchulter bohrten.

»Aber du, mein Sohn«, nahm Pelyr denFaden wieder auf, »bist zwölf Jahre alt! Aufdem Höhepunkt deiner körperlichen Ent-wicklung. Das Wenige, was dir an innererReife noch fehlt, wirst du bald erlangen,wenn du erst einmal die Verantwortungübernommen hast.« Der Kommandant zeigteein schmales Lächeln und löste den Griff.»Außerdem werde ich in den ersten Jahrenda sein, um dich zu beraten.«

»Du wusstest es schon lange«, erkannteScytim. Er wich dem Blick seines Vatersaus. Wie immer, wenn er stark erregt war,juckte die Narbe an der Nasenwurzel uner-träglich. »Du hast all die Vorbereitungennicht deinetwegen getroffen, sondern mei-netwegen.« Seine Stimme war wie einHauch.

»Welchen größeren Triumph könnte esfür einen Vater geben, als dass sein Sohn ihnüberflügelt und zum Herrscher wird? Undnun geh und erkundige dich bei denen, diemehr wissen. Sprich mit dem Abenwoschund seinem Sohn. Finde heraus, wann unserAnführer seiner Krankheit erliegen wird.Morgen? Oder erst in einer Woche? Wirmüssen es genau wissen. Frag die Medizi-ner!«

Pelyr verschränkte die Arme vor derBrust. »Und bring vor allem die Früchte un-

serer Ränke ein. Der Sohn des Abenwoschmuss von der Bildfläche verschwinden, da-mit die genetische Herrschaftslinie unterbro-chen wird. Der Platz muss frei sein für dich.Schreite heute noch zur Tat und zeige demalten Narren und seinem nichtsnutzigenSprössling, was die Stunde geschlagen hat!«

Scytim verließ die Kabine seines Vatersund machte sich auf den Weg. Er durchquer-te viele Schiffe und Tuilerien, um das Flagg-schiff zu erreichen, in dem der sterbendeAbenwosch seinen Wohnsitz hatte.

Unterwegs hörte er etliche Versionen des-sen, wie es um den Abenwosch stand. Dergesamte Clan befand sich in fieberhafterAufregung.

Er kann kaum noch atmen und seine Me-dizin nicht mehr bei sich behalten.

Es war ein Gerücht – er wird nicht ster-ben. Noch nicht!

Er war bereits tot. Man hat ihn ins Lebenzurückgeholt, doch er vegetiert nur noch vorsich hin.

Scytim belauschte zwei Vierjährige: DerAlte hatte Sex, das hat sein Herz nicht mehrertragen. Einen Augenblick lang überlegteScytim, die beiden für ihre Respektlosigkeitzu bestrafen, doch dann entschied er sich an-ders.

Als er eine der größten und längsten Tui-lerien durchquerte, entdeckte er den altenOlmon. Scytim bahnte sich einen Weg biszu dem greisen Jucla, der sich für seine letz-ten Lebensjahre der Kunst und ihrer Erfor-schung verschrieben hatte.

Von ihm konnte Scytim endlich eine ver-lässliche Auskunft erhalten. Olmon war mitdem Abenwosch aufgewachsen, hatte nahe-zu sein komplettes Leben als der persönlicheBerater des Anführers verbracht. Ohne langzu zögern, fragte er: »Wie geht es ihm wirk-lich?«

Olmon musterte ihn lange. Um Scytim indie Augen sehen zu können, senkte er denBlick ein wenig. »Du bist Pelyrs Sohn«,stellte er schließlich fest, hob die Hand zumMund und hustete. Er wirkte hinfällig. »Ichgebe dir einen Rat, Junge.

Todeszone Schimayn 15

Durchbreche nicht das, was natürlich ge-wachsen ist. Es gibt Dinge, die man nichtverändern sollte.«

»Wovon redest du?«, fragte Scytim un-wirsch.

»Der neue Anführer sei der Sohn des al-ten Abenwosch.«

Scytim spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.Olmon gefiel sich in wohl formuliertem,orakelhaftem Geschwätz. Am liebsten hätteer den alten Narren zum Schweigen ge-bracht, denn mit diesen Worten offenbarte erWissen. Gefährliches Wissen. Olmon schienüber Dinge im Bild zu sein, die noch nichtnach außen dringen durften. »Ich weiß nicht,wovon du redest.«

»So?« Olmon lachte rau. »Dann habe ichmich wohl getäuscht. Lass mich dir dieSchönheit erklären, die Generationen vonJuclas in dieser weit verzweigten Tuileriehinterlassen haben. Sie legten etwas vonsich selbst in die Ausgestaltung, dieser Wän-de.« Der Greis strich zärtlich über die weiße,gewölbte Begrenzung des Hohlweges.

»Niemand hat Zeit!«, zitierte Scytim denWahlspruch der Juclas. »Sag mir nur eins:Wie ist der Zustand des Abenwosch?«

»Gerade du solltest Zeit für Schönheit undKunst aufbringen, Scytim. Sie offenbarenuns die Wahrheit, wenn wir sie nur verste-hen. Wer hoch hinaus will, sollte bis zumKern der Wahrheit vordringen. Nur dortliegt Weisheit verborgen.«

Scytim beschloss, offen zu sprechen. Ol-mon schien ohnehin über alle geheimen Plä-ne im Bilde zu sein. »Die Wahrheit, alterMann, ist ganz einfach. Es bedarf keinerPhilosophie, sie zu ergründen. Ich will es dirins Gesicht sagen. Die Zeit für einen Wech-sel ist gekommen.«

Olmon sog langsam und tief die Luft ein.Er stützte sich an der Wand ab, sah danndem Jungen ins Gesicht. »Vielleicht bleibtdem Abenwosch noch ein Tag, vielleichtzwei«, erwiderte er kühl und warf Scytimeinen unergründlichen Blick zu. Dann wand-te er sich einem in sich verschlungenen Ge-bilde zu, das aus der Wand der Tuilerie her-

ausgearbeitet worden war. »Zeit genug fürdich, von mir etwas zu lernen.«

Scytim ging, ohne ein weiteres Wort zuverlieren. Hinter sich hörte er noch einmaldie leise Stimme Olmons. »Komm bald zumir, Junge, solange ich noch lebe.«

Scytim suchte die sieben mächtigstenSchiffskommandanten des Komplexes auf.Jeder einzelne von ihnen wusste, was derBesuch zu bedeuten hatte. Scytim brauchtenicht erst lange Erklärungen abzugeben. Erhatte sie alle in der Hand, denn jeder hüteteein dunkles Geheimnis, das er ängstlich zuverbergen versuchte.

Die sieben Kommandanten schlossen sichihm an. Die Machtergreifung konnte begin-nen. Die Intrigen vieler Monate trugen nunFrüchte.

Zu acht standen sie schließlich vor demsterbenden Abenwosch in seinem offiziellenEmpfangsraum. Neben dem Anführer standsein schmalbrüstiger Sohn Lakim, ein stetsbleicher Vierzehnjähriger. Seit einem ver-hängnisvollen Zweikampf vor sechs Jahrenverband Scytim mit Lakim eine tiefgehendeFeindschaft, die schon mehrfach fast eska-liert wäre.

Scytim musterte den Greis verächtlich.»Deine Zeit ist abgelaufen, Abenwosch-Peca-yl 965.« Es war reiner Hohn, dass er denvollen Herrschertitel aussprach, was normalals Zeichen besonderer Ehrfurcht galt.

Der Anführer saß in einem gepolsterten,hochlehnigen Stuhl, die Arme auf den Seitenabgelegt. Seine Augen blickten trübe undwaren gelblich verfärbt. Sein rechter Mund-winkel wies nach unten. Er zeigte auf dieHerausforderung keine Reaktion. Spärlicheweiße Haare hingen lang an beiden Seitendes ausgezehrten, ausdruckslosen Gesichtsherab.

»Ich bin hier, um dir mit Unterstützungdieser sieben Schiffskommandanten eineBotschaft zu bringen«, fuhr Scytim fort.»Hoffentlich bist du noch fähig, dich an siezu erinnern.«

»Wie redest du mit meinem Vater, dei-nem Abenwosch?«, brauste Lakim auf. Sein

16 Christian Montillon

schwarzes Haar war kurz geschoren, die Na-se stand schief, was ihm ein verwegenesAussehen hätte geben sollen, in Scytims Au-gen jedoch nur lächerlich wirkte. Es erinner-te ihn stets an den alten Kampf, den sie mit-einander ausgefochten hatten.

Scytim wirbelte herum. »Kann der Altenicht mehr für sich selbst sprechen?« SeineStimme triefte vor Hohn.

Abenwosch öffnete den Mund, und ihmentrang sich ein kehliges Stöhnen. Dumpfe,unartikulierte Laute folgten. Dann, endlich,nach peinlichen Momenten: »Das … daskann ich no-och.«

»Vater, du darfst …«»Sei still.« Die Worte waren leise, kaum

zu verstehen und doch von zwingender Ge-walt. In diesen Sekunden ließ der Sterbendeetwas von dem Charisma erahnen, das ereinst besessen hatte. »Lass Scytim spre-chen.« Das letzte Wort klang wie ein Seuf-zen, das aus der tiefsten Seele des altenJuclas kam.

»Die Botschaft lautet, dass eine neue Zeitanbrechen wird.« Scytim zögerte einen win-zigen Moment lang, den hilflosen Greis mitden Tatsachen zu konfrontieren. Doch dannschob er das Mitleid mit dem einstmalsMächtigen, der tief gefallen war, beiseite.»Nicht dein Sohn wird dein Nachfolger wer-den, sondern ich.«

Lakim schrie auf, stieß Scytim an derSchulter. »Was fällt dir ein? Wie kommst dudazu …«

»Still, beide!« Der Abenwosch sprachlauter, als Scytim es ihm noch zugetraut hät-te. Der Mund blieb offen stehen, Speichelrann über das Kinn und versickerte im Kra-gen der Uniform. »Erkläre dich«, forderte erdann.

»Diese sieben Kommandanten sind zu-sammen mit meinem Vater die Mächtigstendes Clans. Alle anderen werden dem folgen,was sie wünschen. Und sie alle plädieren da-für, dass nicht Lakim dein Nachfolger wird,sondern ich. Eine neue genetische Herr-schaftslinie muss entstehen. Es wird höchsteZeit.«

»Mein Sohn wird das zu verhindern wis-sen«, sagte der Abenwosch. Im Laufe desGesprächs wurden seine Worte zunehmendsicherer. In seine totenbleiche Gesichtshautkehrte etwas Farbe zurück. Der innere Auf-ruhr schien ihm Kraft zu verleihen. »Nunlasst mich allein. Noch bin ich nicht tot. Ichhabe eine Aufgabe zu erfüllen. Unsere Res-sourcen werden knapp.«

»Vater, du darfst sie nicht einfach gehenlassen!«

»Darum wirst du dich kümmern«, warendie letzten Worte, die Scytim hörte, ehe sichdas Schott des Empfangsraums hinter ihmschloss.

Da wusste er, dass der Kampf eröffnetwar. Die nächsten Tage würden die Ent-scheidung bringen.

Scytim erstattete seinem Vater Pelyr Be-richt und versäumte nicht, über dieSchwachheit des Abenwosch zu spotten.Das Mitleid, das ihn unwillkürlich immerwieder überkam, ohne dass er es verhindernkonnte, verschwieg er.

Der Kommandant der TIA zeigte sichsehr zufrieden. »Ich bin stolz auf dich, meinSohn. Lakim wird keine Chance gegen dichhaben.«

»Was wird er tun? Er kann sich gegen denWillen der versammelten Kommandantennicht durchsetzen!«

»Er weiß, dass wir sie alle in der Hand ha-ben. Wenn er kein vollkommener Narr ist,muss ihm klar sein, dass wir gegen ihn intri-giert haben. Er wird also versuchen, dasÜbel bei der Wurzel zu packen und dich undmich auszulöschen. Wir müssen mit allemrechnen.«

Scytims Augen funkelten erregt. »Soll ernur kommen. Es wird sein Ende sein!« Ag-gression und Zorn stiegen in ihm auf, genauwie es genetisch in seine Rasse gelegt wor-den war. Er war ein Krieger, und er wolltekämpfen!

Der nächste Tag brachte Kampf, dochnicht für ihn.

Der Abenwosch befahl einen Raubzug,um die Ressourcen des Komplexes aufzu-

Todeszone Schimayn 17

stocken. Der äußere Schiffsring sprengte dieTuilerien ab und steuerte das Ziel an, eineabgelegene Handelswelt der Loisooger innur wenigen Lichtjahren Entfernung.

»Der Abenwosch ist ein Narr«, erklärtePelyr seinem Sohn, als er davon erfuhr. »Erhat nicht genug Informationen eingeholt.Diese Handelswelt wurde erst vor kurzemvon den Olkonoren geplündert. Danach wur-de dem Handelsposten starker militärischerSchutz gewährt. Unser Anführer hat seineeigenen Schiffe ins Verderben befohlen!«

Scytim nahm diese Information kühl zurKenntnis. An das Schicksal der Schiffsbesat-zungen dachte er nicht. Er sah nur die Mög-lichkeit, die sich ihnen dadurch bot. »DieseFehlentscheidung werden wir zu unserenGunsten ausnutzen«, rief er begeistert.

Wenig später, noch ehe die ersten Nach-richten von Erfolg oder Misserfolg desRaubzugs eintrafen, rief Pelyr eine Ver-sammlung der Kommandanten der umlie-genden Schiffe ein. Alle folgten seinem Ruf,denn die Gerüchte, dass sein Sohn schonbald der neue Abenwosch sein könnte, wa-ren bereits in Umlauf gebracht worden. Nie-mand wollte sich mit dem künftigen Anfüh-rer schlecht stellen.

Pelyr wiederholte die Anschuldigungenöffentlich. »Der Blutzoll wird hoch sein«,beendete er die Erklärungen. »Und damit istendgültig bewiesen, dass weder der jetzigeAbenwosch noch sein Sohn fähig sind, denClan zu führen. Jetzt, da der Vater dahinve-getiert, weder fähig, zu leben noch zu ster-ben, hätte der Sohn eingreifen müssen! Die-ser närrische Raubzug wird viele von unsdas Leben kosten. Er gefährdet die Sicher-heit des gesamten Komplexes!«

Weiter kam er nicht.Jemand bahnte sich rücksichtslos seinen

Weg durch die Masse der Zuhörenden, stießdie neugierig herbeigelaufenen Kinder brutalzur Seite.

Lakim!»Hört ihr, wie dieser Verräter über mei-

nen Vater spricht? Über euren Abenwosch?«Seine Stimme war hasserfüllt. Er blieb di-

rekt vor Pelyr stehen. »Ihr seid meine Zeu-gen, dass dieser Kommandant ein Lügnerund ein Feind des Abenwosch und damit deskompletten Clans ist.«

Lakims Hand fuhr in die Tasche seinerUniform. Er zog einen Wurfdolch und pres-ste die Schneide an Pelyrs Kehle, ehe dieserirgendetwas dagegen unternehmen konnte.

Der Kommandant war von diesem kühnenAngriff offensichtlich völlig überrascht wor-den. »Du bist ein Narr, Lakim«, murmelte erkühl. »Du kannst mich nicht umbringen.Nimm den Dolch weg, ehe …«

»Der Narr bist du, dass du dich mir ausge-liefert hast!«, zischte Lakim und kicherte.»Deine Rede hat mir genau den Vorwandgeliefert, den ich benötigte, um dich ausdem Weg räumen zu können.«

Laut fügte er hinzu: »Er ist ein Hochver-räter, und er verdient den Tod! Ihr alle habtgehört, was er gesagt hat. Er lästert demAbenwosch! Womöglich ist er ein Verräter,der mit unseren Feinden gemeinsame Sachemacht!«

»Ein Kollaborateur!«, rief irgendjemand,und Empörung machte sich breit.

»Entferne die Klinge von seinem Hals!«,übertönte eine barsche Stimme das aufge-regte Gemurmel der Menge. Scytim trat mitweit ausladenden Schritten vor, blieb in fünfMetern Entfernung von Lakim und seinemVater stehen. »Wage es nicht, ihn zu tötenoder ihn auch nur zu verletzen.«

»Wage du es lieber nicht, näher zu tre-ten«, erwiderte Lakim. Sein Gesicht verzerr-te sich zu einer Maske aus Wut und Ent-schlossenheit. Er drückte die Klinge ein we-nig fester an den Hals seines Opfers. Sieschnitt in die Haut, einige Blutstropfen quol-len über das glänzende Metall.

»Lass dich nicht einschüchtern, meinSohn!«, rief Pelyr. Nicht die geringste Angstlag in seiner Stimme.

»Schweig!«, schrie Lakim mit sich über-schlagender Stimme. Seine Hand, die denDolch hielt, zitterte leicht. Die Schneidebohrte sich tiefer ins Fleisch. Der Kragender Uniform färbte sich rot.

18 Christian Montillon

»Ich werde niemals schweigen. DerAbenwosch ist ein Narr!«

Lakim zog die Klinge durch. Ein Blut-schwall ergoss sich über ihn. Pelyrs hämi-sches Lachen erstarb in einem Gurgeln. Mitungläubigem Ausdruck in den Augen stander noch einige Sekunden aufrecht, dannsackte er zusammen und blieb reglos liegen.

Scytim zog seinen eigenen Wurfdolchund schleuderte ihn noch in derselben Bewe-gung. Die Waffe überschlug sich in der Luft.Das Metall warf blitzende Reflexe. DieKlinge drang Lakim genau über der Nasen-wurzel bis zum Schaft in die Stirn. Ein Auf-schrei ging durch die Menge, als der Killertot über seinem Opfer zusammenbrach.

»Ich habe den Mörder meines Vaters ge-richtet«, sagte Scytim laut, trat an die Totenheran, drückte Pelyr die Augen zu und zogden Dolch aus Lakims Stirn. Die Trauerüber seinen Verlust wurde von dem Wissenüberdeckt, dass ihm nun nichts mehr im We-ge stand. Es gab genügend Zeugen dafür,dass er eine notwendige Blutrache vollzogenhatte.

Bald kamen die wenigen Schiffe zurück,die bei dem Überfall auf die Loisooger nichtzerstört worden waren. Ihre Kommandantenbrachten schlechte Nachrichten. Es gab kei-nen Zweifel daran, dass ihre Flucht hierherbeobachtet worden war. Aus den Vektorenwürden die Loisooger den Aufenthaltsortdes Komplexes erschließen können.

Der letzte Befehl, den der alte Aben-wosch-Pecayl 965. gab, war die Flucht inden Kugelhaufen Schimayn. Er starb, als erdie Nachricht vom Tod seines Sohnes er-hielt.

*Gegenwart

Die letzten Stunden waren hektisch gewe-sen, bestimmt von Triumph, Trauer und Bü-rokratie.

Scytim hatte die zeremonielle Verbren-nung des verstorbenen Abenwosch vorberei-tet, den Todesritus für seinen Vater durchge-

führt, der ehrlosen Beseitigung Lakims bei-gewohnt.

Die kurzlebige Spezies der Juclas hatteviele Bräuche entwickelt, die sich mit demallgegenwärtigen Tod beschäftigten.

Außerdem hatte er die Umstrukturierungdes Komplexes befohlen und sich mit Ol-mon auseinander gesetzt.

Es war keine Zeit geblieben, klar undnüchtern nachzudenken. Und jetzt war esnicht mehr zu ändern. Ob es ein Fehler ge-wesen war oder nicht – die Schiffe des Clanswaren nahezu vollständig zum Komplexverbunden. Sie waren weder zur Verteidi-gung noch zum Kampf bereit.

»Kein Irrtum möglich?«, fragte Scytimden Kommandanten des Späherschiffs MI-RA, nachdem dieser sekundenlang auf eineAntwort gewartet hatte.

»Wir haben die Ortungsdaten mehrfachüberprüft, Abenwosch. Ich schlage vor, dasssich alle Schiffe so schnell wie möglichkampfbereit machen.«

Gegen ein Kampfgeschwader der Ganja-sen hatten sie keine Chance und erst rechtnicht gegen das, was noch geortet wordenwar.

Doch wie war das überhaupt möglich?Hier, im Halo Gruelfins, in einem völlig un-bedeutenden Sternhaufen?

Abenwosch beendete die Funkverbin-dung, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.Er musste die Tatsachen als gegeben hinneh-men. Er atmete tief durch. Obwohl alles inihm widerstrebte, obwohl er damit gegenseine Prägung, gegen seine Konditionierunghandelte, beschloss er, friedlichen Kontaktzu den Ganjasen zu suchen.

»Wir werden uns nicht kampfbereit ma-chen«, setzte er den Stellvertretenden Kom-mandanten Maliug und die anderen anwe-senden Offiziere in Kenntnis. »Ich werdeverhandeln.«

Nach seinem Befehl herrschte Totenstillein der Zentrale des neuen Flaggschiffs.

Vielleicht, dachte Abenwosch, bin ichderjenige, der mein Volk einen Schritt wei-terbringt auf dem Weg in eine bessere Zu-

Todeszone Schimayn 19

kunft. Es ist sinnlos, diejenigen zu hassen,die uns als kurzlebige Soldaten schufen. Esbringt uns nicht weiter, die anderen zu ver-achten, denen ein längeres Leben gegönntist. Wir müssen gegen das ankämpfen, waswir zu sein glauben.

Doch was nützte eine Tugend wie Selbst-beherrschung angesichts dessen, was auf siezukam? Welchem Geheimnis waren sie hierunverhofft auf der Spur?

4.Planet Ende

Atlan: getäuscht, gerettet, gesprungen

Zwei große feindliche Einheiten nähertensich meiner Position. Wie sollte ich michverteidigen? Im Grunde hatte ich keineChance. Das Zaqoor-Beiboot verfügte nichtüber die Möglichkeiten, sich effektiv zurWehr zu setzen.

Was sollte ich also tun? Fliehen, solangedie Feinde noch nicht eingetroffen waren?Das Beiboot verlassen und mich irgendwoauf Ende verbergen? Der Planet war äußerstunwirtlich und bot nicht die Möglichkeit,dort längere Zeit ohne Ausrüstung und Ver-pflegung zu überleben.

Narr!Mehr als dieses kurzen Impulses bedurfte

es nicht. Nach allem, was in den letztenStunden geschehen war, war mein logischesDenkvermögen offenbar immer noch einge-schränkt. Die Schmerzen in Arm und Kopftaten ihr Übriges dazu, dass ich nicht in ge-wohnter Geschwindigkeit reagieren und ana-lysieren konnte.

Ich hatte die Situation völlig falsch einge-schätzt. Ich befand mich in einem Beibootder Zaqoor, eines Volkes, das zu den Garby-or gehörte, den Truppen der Lordrichter.Wenn die sich nähernden Einheiten von denOrtungsgeräten als »feindlich« eingestuftwurden, war das für mich eine gute Nach-richt! Jeder Feind der Zaqoor musste meinFreund sein.

Nach wie vor gellte der Alarm durch dieZentrale der DYS-116. Ich stellte ihn ab und

beschaffte mir an den Ortungsgeräten weite-re Informationen.

Zwei aneinander gekoppelte Pedopeiler-Einheiten flogen auf Ende zu. Cappins, ge-nauer gesagt Ganjasen!

Ich kannte diese gewaltigen eiförmigenRaumer der BAYT-Klasse, die bei einemMaximaldurchmesser von 200 Metern eineLänge von 800 Metern aufwiesen. Ein sol-cher Pedopeiler hatte mich mit Hilfe einerPedotransmitterverbindung von der Milch-straße nach Dwingeloo versetzt, wo ich imTransportfeld der kurz darauf zerstörtenERYSGAN materialisiert war.

Wie kam ein Pedopeiler ausgerechnet da-zu, nach Ende zu fliegen? Ein Zufall war na-hezu ausgeschlossen.

Ich erinnerte mich an die letzten Sekun-den vor dem Tod des anderen, meines Ret-ters. Hatte er nicht zu erkennen gegeben,dass er Hilfe herbeiholen würde? Offen-sichtlich hatte er durch die Macht des Flam-menstaubs ein letztes Mal die Wahrschein-lichkeit manipuliert und sich gewünscht,dass sich mir eine Möglichkeit bot, Dwinge-loo zu verlassen.

Der Aufopferungswille meines Rettersversetzte mich erneut in Erstaunen. Wiederfragte ich mich, weshalb er derart selbstlosgehandelt hatte.

Darauf wirst du nie eine Antwort erhal-ten.

Diesem nüchternen Kommentar des Ex-trasinnes konnte ich nur zustimmen. Es bliebkeine Zeit, darüber nachzudenken. Ich mus-ste handeln, ehe es zu weitreichendenMissverständnissen kam.

Ich kannte die internen Verschlüsselungs-kodes der Cappins. In der Milchstraße hatteich lange in Kontakt mit Heroshan Offsha-nor gestanden, dem Kommandanten des dortpositionierten Pedopeilers SYVERON. Ichsandte eine Botschaft an die sich näherndenCappins. Darin nannte ich meinen Namen inder begründeten Hoffnung, dass er demKommandanten des Pedopeilers bekanntsein würde.

Ich musste nicht lange auf Antwort war-

20 Christian Montillon

ten. »Hier spricht Aruma Cuyt, Komman-dant der CAVALDASCH. Du bist tatsäch-lich Atlan, der ehemalige Begleiter des Ewi-gen Ganjo?«

Man erkannte in mir erneut denjenigen,der mit Ovaron persönlich unterwegs gewe-sen war, der bis heute in weiten TeilenGruelfins Ewiger Ganjo genannt wurde.

»Der bin ich«, bestätigte ich und fügtehinzu: »Ein Freund der Cappins.« Um dieletzten Zweifel zu zerstreuen, gab ich kurzeBerichte über zerstörte Lordrichter-Einhei-ten und -Stationen in Dwingeloo. Im We-sentlichen waren diese Kämpfe durch denEinsatz des Flammenstaubs erfolgreich ge-wesen, den ich in mir getragen hatte.

Aruma Cuyt stellte kurze Zwischenfra-gen, wohl um meine Identität erneut zuüberprüfen. Offensichtlich antwortete ich zuseiner Zufriedenheit. »Du bist es also wirk-lich«, schloss er. »Ich bin begierig, Genaue-res zu erfahren. Ein äußerst merkwürdigerZufall hat mich hierher geführt.«

»Ich bitte mit der DYS-116 an Bord dei-ner CAVALDASCH kommen zu dürfen.Dort werde ich diesen … Zufall erklärenkönnen.« Ich legte ganz bewusst eine Pauseein, um klarzustellen, dass es sich um allesandere als einen Zufall gehandelt hatte.

»Deine Bitte ist dir gewährt. Ich werdeveranlassen, dass du direkt zu mir geführtwirst. Wir haben einiges zu besprechen.«

»Ich bitte, dass ich zuerst medizinischversorgt werde. Danach stehe ich dir gernezur Verfügung.« Ich hoffte auf eine profes-sionelle Behandlung des Unterarmbruchs.Die provisorische Schiene musste entferntund eine korrekte Operation durchgeführtwerden. Die Mediziner der Cappins konntenbleibende Schäden verhindern.

Aruma Cuyt stimmte zu, und kurz daraufstartete ich das Zaqoor-Beiboot. Man öffnetemir eine Schleuse in einem der eiförmigenRaumer. Ich landete die DYS-116 im Han-gar.

Ein Trupp der Ganjasen empfing mich.Ein schlanker, breitschultriger Cappin tratvor und sprach mich an. »Folge mir in die

Medostation. Dort wird man sich um dichkümmern.« Der Blick seiner eisgrauen Au-gen wanderte über meinen rechten Arm, undseine Lippen verzogen sich verblüfft.»Deine Verletzung wird ordentlich versorgtwerden.«

Ich beachtete den leichten Spott nicht.Der Ganjase führte mich durch einige Gän-ge, ehe wir in einem Antigravschacht nachoben schwebten. Vor dem Eingang in dieMedostation verabschiedete er sich mitknappen Worten.

Ich trat ein und begab mich in die Händeeiner Ärztin. Die junge Ganjasin wies michan, auf einer Pritsche Platz zu nehmen, undführte eine rasche Untersuchung durch.

»Wir werden eine Operation durchfüh-ren«, setzte sie mich in Kenntnis. »Außerden Knochen ist auch deine Unterarmmus-kulatur in Mitleidenschaft gezogen. EtlicheFasern sind gerissen. Außerdem wurde einNervenstrang beschädigt.« Sie sah mir tiefin die Augen. »Die Schmerzen müssen uner-träglich sein.«

»Seit ich ein Schmerzmittel eingenommenhabe, ist es auszuhalten.« Ich verschwieg,dass das Mittel kaum Linderung gebrachthatte. Außerdem dachte ich an die Stunden,ehe ich nach meinen Erlebnissen auf Endedas Beiboot erneut erreicht hatte. Auch dahatte ich es notgedrungen ertragen müssen.

»Du hast den Bruch selbst gerichtet undgeschient?« In ihren braunen Augen las ichebenso Erstaunen wie Bewunderung.

Ich nickte. »Es war notwendig. Ich wusstenicht, wann Hilfe eintreffen würde.«

Sie lächelte, und dabei fiel mir auf, dasssie hübsch war. Die kurzgeschnittenen Haa-re besaßen exakt denselben Farbton wie ihreAugen. Ich fragte mich, ob es sich um eineLaune der Natur handelte oder ob sie dabeinachgeholfen hatte. Wahrscheinlich war dasLetztere der Fall.

»Nach der Operation wird es zwei bis dreiWochen dauern, bis dein Arm wiederherge-stellt ist. Ich werde dir jetzt ein Betäubungs-mittel verabreichen. Du brauchst nichts zubefürchten. Die Operation ist reine Routi-

Todeszone Schimayn 21

ne.« Sie injizierte mir etwas in die linkeArmbeuge.

Ich sah mich nicht dazu genötigt, ihr zuerklären, dass der Zellaktivator den Hei-lungsprozess um die Hälfte beschleunigenwürde, so dass nur mit einer Rekonvales-zenzzeit von maximal zehn Tagen zu rech-nen war.

»Es werden keine dauerhaften Beeinträch-tigungen zurückbleiben«, hörte ich noch,dann schlief ich ein.

*

Ich erwachte mit bohrenden Kopfschmer-zen, die inzwischen zur bitteren Normalitätgeworden waren. Ich wusste, dass sie nichtsmit der Operation oder mit Nachwirkungender Betäubung zu tun hatten, sondern auf dieRestmengen des Flammenstaubs in meinemKörper zurückzuführen waren.

Das mir bereits bekannte schmale undebenmäßige Gesicht der ganjasischen Ärztintauchte in meinem Blickfeld auf. »Es gabwie erwartet keine Komplikationen«, setztesie mich in Kenntnis. »Wie fühlst du dich?«

»Hervorragend«, log ich mit leicht ge-quältem Gesichtsausdruck. »Ich danke fürdeine Hilfe.«

»Du solltest noch liegen bleiben. Ich wer-de unseren Kommandanten Aruma Cuyt in-formieren, dass du erwacht bist. Er möchtemit dir sprechen. Ich werde ihm sagen, dasser aus medizinischen Gründen hierher kom-men muss.«

»Wie lange war ich betäubt?«»Etwas mehr als eine Stunde.« Sie sagte

es mit eigenartiger Betonung.»Was ist?«Sie zögerte, lächelte scheu. »Dein Körper

zeigt erstaunliche Reaktionen. Du bist früherwacht.«

Ich verspürte keine Lust, weiter darüberzu diskutieren und das Gespräch damit aufden Zellaktivator und seine Auswirkungenzu lenken. »Ich bin an Verletzungen undkörperliche Schmerzen gewöhnt«, wich ichaus und schloss demonstrativ die Augen.

»Ich rufe den Kommandanten«, meintesie leicht pikiert.

Ich hielt die Augen weiter geschlossenund nutzte die Ruhezeit, um nachzudenken.Der Pedopeiler bot mir die Möglichkeit, indie Milchstraße zurückzukehren. Es war einwirklicher Glücksfall – wenn dieses Glückauch keinesfalls auf einen Zufall zurückzu-führen war. Ich musste Aruma Cuyt dazuüberreden, eine Pedotransmitterverbindungin die heimatliche Galaxis aufzubauen.

Ich legte mir eine Strategie zurecht, wieich den Kommandanten überzeugen konnte.Die Ärztin, deren Namen ich noch immernicht kannte, kam zurück und riss mich ausden Gedanken. Obwohl ich die Augen nachwie vor geschlossen hielt, bemerkte ich ihreAnnäherung schon, ehe sie mich am Armberührte.

»Versuch dich aufzusetzen«, sagte sie.Unser zurückliegendes Gespräch erwähntesie mit keinem Wort. Ich bemerkte, dass ei-ne gewisse Kühle in ihren Worten lag.

Es gelang mir ohne Schwierigkeiten, michzu erheben, wenn man davon absah, dasssich die Kopfschmerzen durch die Bewe-gung verstärkten. Ein sengender Pfeil schiensich in meine Augenhintergründe zu bohren.

»Du hast Schmerzen«, stellte sie fest. Siewar eine gute Beobachterin, was eine wich-tige Voraussetzung für ihren Beruf bildete.

»Nichts, was mit dem Armbruch zu tunhat. Du hast sehr gute Arbeit geleistet … Ichweiß nicht einmal deinen Namen.«

»Alyc Timlyn.«Sie fasste meinen Arm, hob ihn an und

streckte ihn. Das verursachte keine weiterenSchmerzen.

»Wenn du über deine Probleme redenwillst, wende dich an mich.« Sie bog undstreckte jeden einzelnen meiner Finger. »DerKommandant wird gleich eintreffen. Wenndich das Reden zu sehr mitnimmt und dirübel wird, rufe mich. Es ist möglich, dass esdich überanstrengt. Ich kann deinen Kreis-lauf mit Medikamenten unterstützen.«

»Das wird nicht nötig sein«, versicherteich. Zum ersten Mal seit meinem Erwachen

22 Christian Montillon

betrachtete ich meinen Arm genauer. DerBereich zwischen Handgelenk und Ellenbo-gen lag unter einem dichten Verband verbor-gen. Ich spürte nichts außer starker Kälte.

Als ich die Ganjasin darauf ansprach, er-klärte sie: »Die Kälte lindert die starkeSchwellung des Gewebes. Ich habe eine spe-zielle Salbe aufgetragen, ehe ich dir denVerband angelegt habe.«

Da öffnete sich das Schott der Medostati-on, und Aruma Cuyt traf ein. Ich zweifeltekeinen Augenblick daran, dass es sich umihn handelte. Er war groß, muskulös undstrahlte ein starkes Charisma aus. Er trugseine Uniform mit sichtlichem Stolz.»Atlan«, begrüßte er mich. Ich erkannte sei-ne befehlsgewohnte Stimme wieder, die ichbereits über Funk gehört hatte.

Ich erhob mich. »Kommandant, ich dankedir für deine Hilfe.«

Er nickte knapp und blickte mir in die Au-gen. Dann kam er direkt zur Sache. »Ich ha-be lange nachgedacht. Lass mich dir schil-dern, was geschehen ist, Atlan, ehemaligerBegleiter Ovarons. Die CAVALDASCH be-fand sich im Überlichtflug, als urplötzlichein Triebwerksschaden auftrat und unszwang, in den Normalraum zurückzukehren.Höchst ungewöhnlich.«

Etwas Raubtierhaftes zog in seinen Blickein. Er neigte den Kopf nach vorne undstrich sich durch die kurzen schwarzen Haa-re. »Doch damit nicht genug, erfolgte derRücksturz innerhalb eines Sonnensystems,und zwar ganz in der Nähe eines unbewohn-ten Planeten, auf dem wir bei einer routine-mäßigen Ortung die Emissionen einesZaqoor-Beiboots feststellten. Und in diesemBoot befand sich niemand anders als du, At-lan. Eine der bedeutendsten Persönlichkeitenin unserem gegenwärtigen Kampf gegen dieGarbyor und ihre Herren, die Lordrichter.Ein bemerkenswerter Zufall.«

»Wie ich dir schon über Funk mitteilte,handelte es sich um alles andere als einenZufall.«

»Ich bin nicht geneigt, an so etwas wieSchicksal oder Vorherbestimmung zu glau-

ben.«»Davon rede ich nicht«, stellte ich klar

und erwähnte den Flammenstaub und seineFähigkeit, die Wahrscheinlichkeit zu mani-pulieren. Die genaueren Umstände ließ ichallerdings unerwähnt. Ich war davon über-zeugt, dass der mysteriöse Triebwerksscha-den der CAVALDASCH von meinem ster-benden Retter »gewünscht« worden war.Der andere hatte mir damit eine Möglichkeitgeschaffen, in die Milchstraße zurückzukeh-ren.

Aruma Cuyt schien der ungewöhnlichenErklärung Glauben zu schenken. »Ich hörtedavon, welche Schlachten in Dwingeloostattgefunden haben«, sagte er. »Auch deineRolle darin blieb nicht unerwähnt. Es gibtvermutlich zurzeit keinen einzigen Cappinin ganz Dwingeloo, der nicht von Atlansgroßen Taten gehört hat. Du hast den Lord-richtern große Niederlagen zugefügt. Dafürist dir jeder Cappin zu Dank verpflichtet.«

Ich berichtete ihm nähere Einzelheitenüber die Kämpfe, die unter meiner Leitunggeführt worden waren. Cuyt wiederumkonnte mir andere strategische Details zurLage der Auseinandersetzungen liefern. Da-bei erklärte er auch, warum er sich hier inDwingeloo aufhielt. »Die CALVADASCHist nicht der einzige Pedopeiler, der sich indieser Galaxis befindet. Wir bilden dieRückendeckung für die ERYSGAN, die be-reits vor längerer Zeit hier stationiert wurde.Ich bin auf dem Weg, mich mit der ERYS-GAN und deren Kommandanten Toragaschzu treffen.«

Die Worte trafen mich hart und verur-sachten ein flaues Gefühl. Erneut hatte icheine Information weiterzugeben; Worte, dieAruma Cuyt überhaupt nicht gefallen wür-den. »Ich habe eine schlechte Nachricht fürdich. Die ERYSGAN bildete die Empfangs-station für mein Schiff,« – oder für KytharasSchiff, durchzuckte es mich – »als ich hier-her nach Dwingeloo reiste. Schon zum Zeit-punkt meiner Ankunft wurde die ERYS-GAN von den Garbyor schwer attackiert undkurz darauf zerstört.«

Todeszone Schimayn 23

Aruma Cuyts Miene versteinerte. »Ichkannte Kommandant Toragasch seit meinerKindheit«, sagte er schließlich. Seine Lippenentblößten breite Zähne. »Sein Tod ist einschwerer Verlust für unser Volk. Nicht dereinzige, den wir in diesen Tagen zu bekla-gen haben.«

»Du hast mein Mitgefühl.«»Wir haben den Pedoleitstrahl der ERYS-

GAN seit geraumer Zeit nicht mehr anpolenkönnen. Wir befürchteten schon lange, dassdort eine Katastrophe stattgefunden hat.Doch wir konnten uns nie sicher sein. DeineWorte bestätigen unsere schlimmsten Be-fürchtungen.« Seine Gesichtszüge verhärte-ten sich. »Wer ermöglichte dir den Pe-dotransfer hierher?«

»Heroshan Offshanor. Sein Pedopeiler inder Milchstraße trägt den Namen …«

»Ich weiß von Offshanor und der SYVE-RON«, unterbrach mich der Kommandant.»Wir müssen über etwas anderes sprechen,Atlan. Die Macht der Lordrichter in Dwin-geloo ist gebrochen.«

Ich hörte seiner Stimmlage an, dass er of-fensichtlich dieselben Schlussfolgerungenwie ich gezogen hatte. »Was nichts anderesbedeutet«, ergänzte ich, »als dass sie den an-deren Orten, an denen sie nachweislich tätigsind, größere Aufmerksamkeit zuwendenwerden.«

Ein Schatten legte sich über das Gesichtmeines Gegenübers. »Und um es beim Na-men zu nennen, werden sich die Lordrichterum die beiden Galaxien kümmern, die unse-re Heimat bilden. Mein Gruelfin und deineMilchstraße.«

»Ich möchte dich bitten, dass du mir denTransfer in die Milchstraße ermöglichst.«Ich beobachtete ihn bei diesen Worten ge-nau. »Ich muss wissen, welche Zuständedort inzwischen herrschen.«

Ich war am 2. Juni 1225 NGZ nach Dwin-geloo vorgestoßen, vor mittlerweile fast vierMonaten. Was war in dieser Zeit geschehen?

»Ich kenne die genaue Position der SY-VERON. Sie wartet dort, bis mir die Rück-kehr möglich ist.« Dabei war ursprünglich

natürlich an eine Rückkehr mit Hilfe derERYSGAN gedacht worden, bevor alles an-ders gekommen war.

»Ich bin geneigt, dir diesen Wunsch zu er-füllen«, entschied Aruma Cuyt zu meinerErleichterung. »Ich kann dir damit im Na-men meines Volkes für deine Hilfe danken.«

»Dann bitte ich dich den Transfer vorzu-bereiten, während ich in der Medostationbin. Ich möchte keine Zeit mehr verlieren.«Eifer hatte mich gepackt. Noch vor wenigenStunden war es unmöglich erschienen, in ab-sehbarer Zeit die Milchstraße erreichen zukönnen; jetzt lag die Rückkehr greifbar nahevor mir.

Wenn die beiden eiförmigen Raumer, diegemeinsam den Pedopeiler CAVALDASCHbildeten, sich trennten, konnte zwischen ih-nen ein Transportfeld aufgebaut werden. DieSYVERON bildete die Empfangsstation, ander der technisch erzeugte Pedoleitstrahl en-dete. Danach konnte ich mit der DYS-116durch die Pedotransmitterverbindung denSprung in die Milchstraße durchführen.

Dazu fädelten sich die Ganjasen an Bordder DYS-116 in den Pedoleitstrahl ein undtransportierten sich und das komplette Bei-boot samt Inhalt bis zur Empfangsstation.Offshanors SYVERON befand sich 2763Lichtjahre von Vassantor entfernt im Or-tungsschatten einer namenlosen Sonne.

»Ich werde alles organisieren und mich soschnell wie möglich wieder bei dir melden«,sagte Aruma Cuyt.

*

Ich verbrachte die nächste Stunde in derMedostation. Alyc Timlyn untersuchte michnoch einmal und war sichtlich zufrieden.

Ich saß wie auf glühenden Kohlen. DieFragen, die in mir aufstiegen, verdrängtenerstmals das schreckliche Geschehen aufEnde. Was war zwischenzeitlich auf Arkongeschehen oder im Sol-System, was mit allden Freunden und Wegbegleitern, die ichzurückgelassen hatte? Ich wartete ungedul-dig auf Aruma Cuyts Rückkehr.

24 Christian Montillon

Als der Kommandant endlich die Medo-station betrat, lag ein freundliches Lächelnauf seinen Zügen. »Ich freue mich, dir mit-teilen zu können, dass deiner Heimkehrnichts im Wege steht«, begrüßte er mich.»Allerdings möchte ich dich bitten, uns dieDYS-116 zur Verfügung zu stellen. DasZaqoor-Beiboot könnte uns möglicherweiseAufschlüsse über die Technik der Garbyorbringen. Ich weiß, dass wir unsere Erwartun-gen nicht zu hoch schrauben dürfen, abervielleicht ergibt eine genaue Untersuchungetwas.«

»Das sollte machbar sein.«»Im Austausch stelle ich dir die AVA-

CYN zur Verfügung.« Er lachte rau. »Es isteines unserer Beiboote, das im Übrigen we-sentlich leistungsfähiger ist als die DYS-116. Die AVACYN gehört der NAMEIRE-Klas-se an. Zehn Besatzungsmitglieder. DieKommandantin Carmyn Oshmosh wird dichauf deinem Sprung begleiten.«

Wie auf ein Stichwort hin betrat eine ha-gere Ganjasin die Medostation. Dunkle Au-gen blickten aus einem Gesicht, das von tief-schwarzem Haar umrahmt wurde und vonvielen Falten durchzogen war. Sie hielt dieSchultern eingezogen. »Die AVACYN stehtunter meinem Kommando. Meine Mann-schaft wird dich an dein Ziel bringen«, sagtesie leise.

Auf den ersten Blick erkannte ich, dasssie über keinerlei Selbstbewusstsein verfüg-te. Ich fragte mich, was sie für den Postenals Kommandantin qualifiziert haben moch-te.

»Ich danke dir.« Ich ließ mir meine Zwei-fel nicht anmerken.

»Ich bin auf dem Weg zu meinem Bei-boot«, erklärte sie. »Du kannst mich beglei-ten.«

»Wenn Kommandant Cuyt einverstandenist?«

Dieser nickte. »Es ist alles geklärt. DieTrennung der Einzelraumer ist bereits einge-leitet, das Transportfeld wird in Kürze auf-gebaut werden.«

Ich verabschiedete mich von Aruma Cuyt

und fragte mich, ob ich ihn jemals wiederse-hen würde.

*

Carmyn Oshmosh ging neben mir. Jetzterst fiel mir auf, dass tiefe Ringe unter ihrenAugen lagen.

Ohne mich anzuschauen, dozierte sie:»Die AVACYN besitzt leistungsstarke Im-pulstriebwerke. Der maximale Überlichtfak-tor liegt bei 45 Millionen. Sie verfügt überzwei Initialstrahler, zwei Initial-Dopplergeschütze, einen Initial-Punktator,außerdem Thermo- und Impulsstrahler so-wie …«

Ich nahm die Daten in mich auf, hoffte je-doch, dass ich niemals in Verlegenheit kom-men würde, die Bordbewaffnung in Aktionerleben zu müssen. »Wann bist du gebo-ren?«, fragte ich die hagere Ganjasin, als sieeine Pause machte.

Leicht verwirrt sah sie mich an, ehe sieantwortete. Ich errechnete, dass sie 1176NGZ geboren war. Ehe ich ein Gespräch inGang bringen konnte, ratterte sie weitereDaten der AVACYN herunter und listete diederzeitigen Besatzungsmitglieder auf.

So kam es, dass ich die Pilotin Myreilunenamentlich begrüßen konnte, als wir dieZentrale des Beibootes betraten. Sie hatte ihrHaar hell gefärbt, was ungewöhnlich für ei-ne Ganjasin war. Sie war fast doppelt so altwie ihre Kommandantin und war stark ge-schminkt. Sie bedachte mich mit einem lan-gen Blick und wirkte hocherfreut, dass ichihren Namen kannte. »Es ist mir eine Ehre,dich in deine Heimat bringen zu dürfen«, er-klärte sie.

Ich wiegelte sie mit einer Floskel ab.»Ich hörte von deinen Großtaten während

der Kämpfe gegen die Garbyor.« Myreilunewar ihre Begeisterung deutlich anzumerken.»Es gibt viele Berichte, geradezu unglaubli-che Nachrichten. Was davon ist wahr?«

»Vielleicht kommen wir irgendwann da-zu, die Gerüchte mit den tatsächlichen Er-eignissen zu vergleichen.« Ich wandte mich

Todeszone Schimayn 25

wieder Carmyn Oshmosh zu. Die Komman-dantin stand schweigend neben uns.

Die Pilotin der AVACYN ließ sich nichtabspeisen. Sie redete unablässig weiter, ver-wickelte mich in ein Gespräch, obwohl mei-ne Antworten recht einsilbig blieben.

Carmyn Oshmosh entfernte sich schließ-lich ohne ein weiteres Wort, überließ michganz ihrer Pilotin. Dieses Verhalten nahmich mit Befremdung zur Kenntnis. Myreilu-ne schien durch die Wucht ihrer Persönlich-keit über ihre schüchterne Kommandantinzu dominieren.

»Wie hast du diese Heldentaten nur voll-bringen können?«, fragte Myreilune. »Ichbewundere dich und kann es kaum glauben,dir von Angesicht zu Angesicht gegenüber-zustehen.«

Ich nickte höflich, schwieg aber.Daran störte sie sich nicht. »Meine Fami-

lie steht seit fünf Generationen im Dienstder …«

Ich schaltete innerlich ab. Weitere Besat-zungsmitglieder lernte ich nicht mehr ken-nen. Die Startfreigabe erfolgte und erlöstemich vom Redeschwall der Pilotin.

Sie lenkte die AVACYN in den freienWeltraum und wendete das Schiff. Wir nä-herten uns dem aktivierten Transportfeldund rasten hinein.

Die so lange vermisste Heimat wartete aufmich!

5.Im Kugelhaufen Schimayn: Zeichen der Zeit

»Kein Zweifel möglich!«, sagte Aben-wosch-Pecayl 966. zu Maliug, dem Stellver-tretenden Kommandanten des FlaggschiffesTIA. Um ihn herum herrschte hektischer Be-trieb in der Kommandozentrale. »Es handeltsich um eine Pedopeiler-Sammeleinheit.«

»Abgesichert von mehreren kampfkräfti-gen Schiffen der Ganjasen«, ergänzte Mali-ug.

Abenwosch glaubte zu wissen, dass esnicht viele dieser gewaltigen Einheiten gab,die in der Lage waren, ein Transportfeld

über etliche Millionen Lichtjahre aufzubau-en.

»Seit vielen Generationen wurde kein Pe-dopeiler mehr im Halo von Gruelfin gesich-tet«, murmelte der Anführer des Ercourra-Clans nachdenklich. »Was hat das zu bedeu-ten?«

»Was sollen wir tun, Abenwosch?«»Meine Entscheidung hat sich nicht geän-

dert!«, antwortete er aggressiv. Seine Händeballten sich zu Fäusten. »Ich werde Kontaktaufnehmen und verhandeln.«

»Überdenke deinen Entschluss«, riet Ma-liug. »Ein Kampf …«

»Ein Kampf würde tödlich für uns en-den«, unterband Abenwosch jedes weitereWort. »Wir können den Kurs nicht mehr än-dern. Wir sind bereits entdeckt worden.Selbst eine radikale Absprengung aller Tui-lerien würde uns nicht schnell genug dieFlucht ermöglichen oder Kampfbereitschaftherstellen.«

»Der Kommandant des Pedopeilers suchtKontakt«, setzte der Leiter der AbteilungFunk und Ortung ihn in Kenntnis.

Abenwosch atmete tief ein. Nun war esalso so weit. Jetzt würde sich zeigen, ob erden Anforderungen als Anführer gewachsenwar. Einen Augenblick lang dachte er weh-mütig an seinen Vater. Außerdem werde ichin den ersten Jahren da sein, um dich zu be-raten, hatte er gesagt. War das wirklich erstzwei Tage her? So viel war seitdem gesche-hen.

Vor Abenwoschs Augen stieg das grausa-me Bild auf, als Lakim die Klinge durch denHals seines Vaters gezogen hatte. Wiedersah er das Blut und den ungläubigen Aus-druck in den gebrochenen Augen seines Va-ters, erinnerte sich, wie er tot zu Boden ge-stürzt war. Doch ebenso fühlte er erneut dieBefriedigung, die es ihm gebracht hatte, denDolch zu schleudern und seinem Konkurren-ten das Leben zu nehmen.

Abenwosch riss seine Gedanken gewalt-sam in die Gegenwart zurück. »Leg das Ge-spräch auf meine Konsole!«, befahl er.

»Kommandant Sabylchin von der MAR-

26 Christian Montillon

KASCH«, ertönte kurz darauf eine nüchter-ne Vorstellung.

»Abenwosch-Pecayl 966. des Ercourra-Clans der Juclas«, erwiderte er kühl. Erkonnte aus der Stimmlage des anderen nichtauf dessen Gemütsverfassung schließen.»Wir haben keinerlei feindliche Absichten.«

Ein abgehacktes, völlig humorloses La-chen drang aus dem Lautsprecher. »Daswürde euch auch nicht gut bekommen,Abenwosch.«

»Was wünschst du? Wir haben anderes zutun.« Er wusste, dass diese Worte kühn ge-wählt waren. Er wollte keineswegs zugeben,dass sie sich in einer nahezu ausweglosenLage befanden, falls sich die Ganjasen zu ei-nem Angriff entschließen sollten. Deshalbspielte er Selbstsicherheit vor, die er keines-wegs empfand.

Sabylchin ging auf die Provokation nichtein. »Ich frage mich, was ein Clan der Juclasausgerechnet hier zu suchen hat.«

»Dieselbe Frage könnte ich dir stellen.«Eine kurze Pause entstand. »Deine Schiffe

sind zum Komplex-Modus verbunden. DieMARKASCH hingegen ist ebenso kampfbe-reit wie die Schiffe meines Begleitschutzes.Du bist nicht in der Position, Fragen zu stel-len, sondern tätest gut daran, sie zu beant-worten.«

In Abenwosch brannte Ärger auf. Mit äu-ßerster Anstrengung zwang er sich, äußer-lich ruhig zu bleiben. Dennoch bebte seineStimme, als er fortfuhr. »Wir sind bereit,dieses Gebiet zu verlassen, wenn du eswünschst, Sabylchin.« Dieses Eingeständnisder Hilflosigkeit entfachte die Flamme derWut in ihm noch stärker. Doch es war unab-dingbar notwendig, sich zu demütigen.

»Auf dieser Basis können wir zusammen-kommen. Deine Einsicht ehrt dich. Also lasses mich klar ausdrücken: Du hast hier nichtszu suchen.«

Aber du?, dachte Abenwosch unwillkür-lich. Fast hätte er die Worte laut ausgespro-chen und damit das bisher Erreichte zunichtegemacht. Er musste diplomatisch bleiben.

»Du wirst dich mit deinem Clan von hier

zurückziehen und die Begegnung mit unsaugenblicklich und unwiederbringlich ver-gessen. Ich bin ein besonnener Mann, unddarüber solltest du froh sein. Doch denkeimmer daran, dass du dich in Gefahr begibst,falls du jemals irgendjemandem von unsererBegegnung berichten solltest.«

»Ist das eine Drohung?«»Wer sich in Gefahr begibt, wird darin

umkommen.«»Das ist keine Antwort.«»Zieh dich zurück, Abenwosch, und sei

froh, dass du ausgerechnet auf mich getrof-fen bist. Ein anderer wäre nicht so nachsich-tig mit dir. Dieser Tag hätte für dich unddeine Sippen einen völlig anderen Verlaufnehmen können. Ich erwarte, dass du dichaugenblicklich entfernst. Sabylchin Ende.«

Die Verbindung war unterbrochen, eheAbenwosch noch etwas erwidern konnte.

Er starrte noch einige Sekunden lang dieKommandokonsole an. »Du hast es gehört«,befahl er dem Piloten. »Rückzug! Wir ver-schwinden von hier.«

*

»Wie kann dieser Ganjase es wagen, somit uns zu sprechen?«, schrie der Stellver-tretende Kommandant und schlug mit derFaust gegen seine Konsole. »Er hat uns ge-droht! Das können wir nicht auf uns sitzenlassen!«

»Schweig, Maliug!«, rief Abenwoschscharf. »Wir werden uns zurückziehen, weilwir sonst sterben!«

In der Kommandozentrale machte sichwütendes Gemurmel breit. »Kein Jucla darfsich so etwas gefallen lassen!« – »Wir müs-sen zurückschlagen!« – »Noch nie ist so et-was geschehen.« Worte wie »Beleidigung«und »Ehre« machten die Runde.

Abenwosch nahm das Geschehen schein-bar ungerührt hin. Er wusste, dass er jetztnicht den Kopf verlieren durfte. Dies warseine Bewährungsprobe, und er würde siebestehen. Er würde nicht zulassen, dass dergesamte Clan in den Untergang gerissen

Todeszone Schimayn 27

wurde. »Rückzug!« Sein erneuter Befehlübertönte den Lärm. »Sofort!«

Der Pilot zeigte keine Reaktion.Abenwoschs Gestalt straffte sich. »Führe

sofort meinen Befehl aus oder verlasse deineStation und stirb! Ich dulde keine Rebelli-on!« Seine Stimme war kalt wie ein Eis-hauch.

In der Zentrale verstummte jedes Wort.Eisige Stille herrschte, die erst durch eineMeldung des Piloten unterbrochen wurde.»Der Komplex wird sich entfernen«, melde-te er nüchtern und gab einen Kurs ein. DieDaten wurden an die übrigen Schiffe desKomplexes überspielt und mit den dortigenBordrechnern synchronisiert.

»An die Arbeit!«, rief Maliug. »Habt ihrnichts zu tun? Abenwosch-Pecayl 966. er-wartet ein reibungsloses Funktionieren desBordablaufs.«

Zufrieden bemerkte Abenwosch, dass derStellvertretende Kommandant den komplet-ten Ehrentitel ausgesprochen hatte. Er hattedie Rebellion im Keim erstickt. Wenn ihmdas nicht gelungen wäre, wäre seine Autori-tät für alle Zeiten zerstört gewesen. Für alleZeiten? Das Ende aller Zeiten wäre in die-sem Fall wohl schon in wenigen Augen-blicken in Form eines massiven Angriffs derGanjasen angebrochen.

»Folge mir in den Besprechungsraum,Maliug«, verlangte Abenwosch.

Während der Komplex seine Flugrichtungänderte und auf neuen Kurs ging, verließAbenwosch die Zentrale und suchte den da-neben liegenden Besprechungsraum auf.Dort ließ er sich am Tisch nieder. Er musstenicht lange warten, bis Maliug ebenfalls ein-trat und sich das Schott hinter ihm schloss.

Abenwoschs Backenzähne mahlten auf-einander. Durch seinen ausgeprägten Über-biss berührten sich die Schneidezähne kaum.Er warf dem Stellvertretenden Kommandan-ten des Flaggschiffes einen durchdringendenBlick zu, sprach jedoch kein Wort. Das warauch nicht nötig. Er bot Maliug keinen Platzan. Diese Geste zeigte überdeutlich, wieernst es ihm war.

Maliug wand sich unbehaglich. »Es tutmir Leid, Abenwosch. Ich habe für einenAugenblick die Beherrschung verloren.«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«»Ich danke dir dafür, dass du mich zu dir

gerufen hast. Ich hoffe, dass dein Vertrauenzu mir wiederhergestellt ist.«

»Ich erwarte absoluten Gehorsam in Kri-sensituationen«, stellte Abenwosch klar. »Eswar mir gelungen, einen Kampf mit den Ga-njasen zu verhindern, und im nächsten Mo-ment fällst du mir in den Rücken! Warumsollte ich dir noch vertrauen? Vertrauen istkeine Bringschuld, Maliug. Man muss essich verdienen.«

»Ich war deinem Vater stets ein guterStellvertreter, seit vielen Jahren. Das weißtdu.«

»Er hat immer positiv von dir gespro-chen«, bestätigte Abenwosch. »Solange ichdenken kann.« Und darüber solltest du frohsein.

»Dein Vorgehen war weise«, lobte Mali-ug.

Abenwosch versuchte, diese letzten Wor-te einzuschätzen. Bemühte sich Maliug nur,seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen,oder war er wirklich davon überzeugt?

»Du hast dich nicht von deinen Instinktenleiten lassen wie wir anderen. Jeder von unshätte uns in die Schlacht und damit in denTod geführt.«

»Ist dir klar, was dann letzten Endes ge-schehen wäre?«, erwiderte Abenwosch leise.»Die, die uns zu dem machten, was wir sind,hätten triumphiert! Wir hätten genauso ge-handelt, wie sie es vor Jahrtausenden be-stimmten.« Er zog die Augenbrauen hoch.»Aber wir müssen unserer Konditionierungwiderstehen! Anders handeln, als wir es im-mer getan haben! Darin liegt der Weg in un-sere Zukunft, und dann werden wir eines Ta-ges die wahren Sieger sein.«

Maliug nickte stumm.Er bringt keine weiteren Schmeicheleien

vor, erkannte Abenwosch.Auch hat er meinen Ehrentitel nur ein ein-

ziges Mal komplett ausgesprochen, draußen,

28 Christian Montillon

als alle anderen es hören konnten. Als eswirklich zählte und ihn etwas kostete. DieserGedankengang überzeugte ihn von der Ehr-lichkeit seines Gegenübers.

»Du wirst deinen Posten behalten«, ent-schied er. »Bis auf Weiteres übergebe ich dirdas Kommando über die TIA. Ich muss inmeiner Eigenschaft als Anführer diesesClans wichtige Dinge bedenken. Koordinie-re du unseren Rückzug. Suche eine Gegend,die frei ist von jeglichem Schiffsverkehr.«

Maliug machte sich auf, den Bespre-chungsraum zu verlassen und in die Kom-mandozentrale zurückzukehren. Als er dasSchott erreicht hatte, hielt Abenwosch ihnzurück.

»Eins noch. Nimm Kontakt mit Komman-dant Sabylchin auf und teile ihm mit, dass eseinige Zeit dauern wird, einen Kursvektorfür den Komplex zu errechnen. Und wenndu ihn nicht mehr länger hinhalten kannst,wähle keine allzu große Fluggeschwindig-keit.«

*

Der nächste Schritt kostete Abenwoscherneut Überwindung. Aber er wusste, dass erHilfe brauchen konnte. Einen Rat, den seintoter Vater ihm nicht mehr geben konnte.

Er nahm Kontakt zum alten Olmon auf.»Wenn du mich sprechen möchtest«, ant-wortete dieser über die Kommunikationsan-lage, »erwarte ich dich in meiner Kabine.«

Abenwosch überlegte zuerst, den Alten zusich zu befehlen, entschied sich jedoch an-ders und schluckte seinen Stolz hinunter. Eswürde ohnehin schneller gehen, wenn ersich selbst auf den Weg machte. Er hattekeine Zeit zu verschwenden.

Er verließ die TIA, nutzte Transportbän-der, eilte durch eine Unzahl Tuilerien undstand bald dem greisen Jucla gegenüber.Wieder einmal.

»Vor zwei Tagen in der großen Tuileriebat ich dich, mich bald aufzusuchen«, sagteOlmon zufrieden, als sie sich am Tisch ge-genübersaßen. »Ich freue mich, dass du die-

ser Einladung gefolgt bist. Du hast erkannt,dass das Ungestüm der Jugend nicht allesist, Abenwosch?«

»Ich war bereits gestern bei dir«, erinnerteer.

Olmon winkte ab. »Dabei ging es nichtum den Kern der Sache. Diese Begegnungzählt nicht. Dennoch musste ich mit Bedau-ern feststellen, dass du meinem Rat nicht ge-folgt bist. Das war ein Fehler. Du hast einefalsche Entscheidung getroffen.«

Das habe ich in der Tat, dachte Aben-wosch. Aber nicht so, wie du denkst. SeinFehler war es gewesen, die Schiffe desClans nicht kampfbereit zu machen, sondernden Komplex umzustrukturieren. Dass er zudiesem Zweck die alten Tuilerien zerstörthatte, bereute er nicht.

»Ich will dich davon in Kenntnis setzen,was geschehen ist«, sagte er, ohne näher aufdie Bemerkung des Alten einzugehen.

»Also benötigst du die Dienste eines Be-raters?« Olmon kicherte rau. »Es ehrt mich,dass du dabei an mich gedacht hast.«

»Du hast meinem Vorgänger als Beratergedient.«

»Und als Freund.«»Das qualifiziert dich dazu, auch mir

einen Rat zu geben.«»Ich nehme dein Friedensangebot an.«Die Worte berührten Abenwosch unange-

nehm. Er fühlte sich immer stärker zu Ol-mon hingezogen. Er berichtete dem Greisvon der Begegnung mit der MARKASCHund dem Gespräch mit Kommandant Sabyl-chin.

»Du hast den Rückzug befohlen«, wieder-holte Olmon bedächtig. »Damit hast du einegute Entscheidung getroffen, die ich dirnicht zugetraut hätte. Es steckt mehr in dir,als ich bislang glaubte.« Schwerfällig erhober sich und wanderte in der engen Kabinehin und her.

Einen Moment lang fühlte sich Aben-wosch, als sei er wieder der junge Scytimund rede mit seinem Vater. Er verdrängteden Gedanken ebenso wie das in ihm auf-blitzende Bild blutbesudelten Metalls und

Todeszone Schimayn 29

blickloser, starrer Augen. »Meine Mann-schaft drängt es danach zu kämpfen.«

»Es wäre ein Kampf gewesen, der uns allevernichtet hätte.«

»Was wäre, wenn wir jetzt den Komplexauflösen, in Kampfformation gehen und zu-rückkehren? Die Ganjasen sind uns überle-gen, aber ein Sieg ist möglich!«

»Bist du bereit, gleich nach deinem Amts-antritt zum Verräter zu werden, nur um dieGelüste deiner Untergebenen zu befriedi-gen? Bist du bereit, einen hohen Blutzoll zuzahlen, nur um möglicherweise einen uneh-renhaften Sieg zu erringen?« Wie zufälligwanderte Olmons Hand über die Tischplatteund strich mehrfach über die Kerbe, die derWurfdolch Abenwoschs gestern hinterlassenhatte.

»Das bin ich nicht, und das weißt du.«»Ich sehe dir an, dass du in Wirklichkeit

über etwas ganz anderes nachdenkst.«»Was würdest du tun?«, fragte Aben-

wosch ablenkend. Er war an der Meinungdes Alten tatsächlich interessiert. Zwischenihnen herrschte eine stille Übereinkunft, einwachsendes Vertrauen.

Der Alte schwieg einen Augenblick.»Hier im Halo Gruelfins ist heimlich ein Pe-dopeiler stationiert worden. Und wenn wirschon mit diesem Geheimnis konfrontiertsind, stellt sich die Frage, ob es für uns lu-krativ sein könnte. Sehen wir den Tatsachenins Auge: Unser Schiffsmaterial ist ausrei-chend, kleine und wehrlose Planeten auszu-rauben, aber gegen gut ausgerüstete Kampf-schiffe sind wir unterlegen. Wenn wir je-doch hier bleiben und beobachten …« Ersprach den Satz nicht zu Ende.

»Du denkst wie ich, Olmon.«»Wer hätte das gestern noch gedacht? Ich

bin nicht der weltfremde, sentimentale Narr,für den du mich hältst. Ich habe lediglicheinen anderen Blickwinkel als du.«

Neben der Aussicht auf möglichen Profithielt Abenwosch die Neugierde im Griff.Was suchte ein Pedopeiler so weit abseitsvom Machtzentrum der Ganjasen? »Wirwerden uns in den Ortungsschatten einer

Sonne begeben und dort vorsorglich denKampfmodus der Flotte herstellen«, ent-schied Abenwosch. »Dann werden wir ab-warten und sehen, was hier tatsächlich vorsich geht.«

6.Atlan: bittere Erkenntnisse

Der Transport vollzog sich völlig unspek-takulär. Wir jagten in das Pedotransmitter-feld, und scheinbar ohne jeglichen Zeitver-lust traten wir aus dem Empfangsfeld wiederaus.

Sechzehn Millionen Lichtjahre in einemAtemzug. Eben hatte sich die AVACYNnoch in Dwingeloo befunden – nun war ichmit ihr zur Milchstraße zurückgekehrt.

Erleichterung erfasste mich. Aber auchgroße Sorge. Wieder fragte ich mich bang,was während der letzten Monate hier in derheimatlichen Galaxis geschehen war. Warendie niederträchtigen Pläne der Lordrichtererfolgreich gewesen? War das mir zuletztbekannte Machtgefüge möglicherweiseschon zerbrochen? Hatten die Lordrichter,ähnlich wie es in Gruelfin geschehen seinsollte, die Milchstraße in einen blutigenKrieg gestürzt?

Ich wandte mich an die KommandantinCarmyn Oshmosh. »Ich möchte möglichstschnell …«

In diesem Augenblick erkannte ich, dassetwas ganz und gar nicht nach Plan verlau-fen war. Wir waren im Empfangsfeld einesPedopeilers materialisiert, aber es handeltesich nicht um die SYVERON! Wir befandenuns auch nicht in der Nähe der namenlosenSonne, in deren Ortungsschatten wir Heros-han Offshanors Pedopeiler zurückgelassenhatten.

»Was ist hier los?«, dröhnte Carmyn Osh-moshs Frage durch die Zentrale. Von einerSekunde auf die andere war sie wie verwan-delt. Sie hielt ihren Körper gestrafft, ihreAugen blitzten vor Erregung. Ihre Stimmedrang bis in den letzten Winkel des Raumes.

Myreilune, die Pilotin, schwieg. Sie starr-

30 Christian Montillon

te auf die Anzeigen ihrer Displays und wirk-te mehr als verwirrt.

Ypt Karmasyn, eine 38 Jahre alte Ganja-sin, meldete sich zu Wort. Sie war für Funkund Ortung zuständig. Pockenartige Narbenverunzierten ihr rundliches Gesicht, dasnicht besonders vorteilhaft von schwarzemHaar umrahmt wurde. »Eine Nachricht desKommandanten des Pedopeilers kommt her-ein. Es handelt sich um die MARKASCH.«

Diese Mitteilung traf Carmyn Oshmoshwie ein Schlag. Ihre ohnehin blasse Ge-sichtshaut verlor noch mehr Farbe. »DieMARKASCH?«, rief sie. Der Name schienihr geläufig zu sein.

Ich beobachtete sie verblüfft. Plötzlichwar sie ganz Kommandantin und alles ande-re als eine farblose Persönlichkeit. Im Ge-genteil – Carmyn Oshmosh strahlte gewalti-ges Charisma aus und behielt in dieser Not-situation den Überblick. Sie sprach mit demKommandanten der MARKASCH.

Betrachte die Sternenlandschaft, meldetesich mein Logiksektor.

Ein böser Verdacht stieg in mir auf. Wirwaren offensichtlich nicht an dem Ziel mate-rialisiert, mit dem wir alle gerechnet hatten.Ein anderer Pedopeiler hatte uns als Emp-fangsstation gedient. Das konnte kein Zufallsein.

Ich dachte an Aruma Cuyt, der uns aufden Weg geschickt hatte. Die Worte, die wirgewechselt hatten, stiegen wieder in mir auf… werden sich die Lordrichter um die bei-den Galaxien kümmern, die unsere Heimatsind. Mein Gruelfin, deine Milchstraße …Außerdem glaubte ich die uns umgebendenSternenkonstellationen zu erkennen. Ich hat-te sie schon einmal gesehen, mich sogar län-gere Zeit hier aufgehalten.

All diese Überlegungen führten zu einemeinzigen Ergebnis: Dies war nicht die Milch-straße. Wir befanden uns im Sombreronebel.

Carmyn Oshmosh bestätigte dieseSchlussfolgerung. Sie hatte den ersten Infor-mationsaustausch mit der MARKASCH be-endet und setzte uns von dem in Kenntnis,was ich längst wusste. »Gruelfin!«, rief sie.

»Aruma Cuyt hat uns nach Gruelfin ge-schickt!«

*

»Du wusstest nichts davon?«, vergewis-serte ich mich, obwohl ihre Reaktion fürsich sprach.

Sie trat dicht vor mich. »Was immer Aru-ma Cuyt dazu bewogen hat, uns zu betrügen,ich war nicht eingeweiht.« Empörung standihr ins Gesicht geschrieben.

»Was hast du im Gespräch mit dem Kom-mandanten der MARKASCH erfahren?«

»Sein Name ist Sabylchin. Er hat uns er-wartet. Aruma Cuyt hat ihm unsere Ankunftangekündigt. Mehr weiß ich noch nicht.«

»Ich muss mit ihm sprechen«, verlangteich.

Carmyn Oshmosh nickte. »Ihm blieb an-geblich noch keine Zeit, die Situation einzu-schätzen. Er sagte, er wurde durch ArumaCuyts Ankündigung selbst überrascht. Saby-lchin wird sich in Kürze wieder bei uns mel-den, bat uns, bis dahin abzuwarten.« Sie lä-chelte bitter. »Das heißt, eigentlich war esweniger eine Bitte als vielmehr ein Befehl.«

Uns blieb nichts anderes übrig, als zu ge-horchen. In mir kochte es. Cuyt hatte michbetrogen, seine Freundschaft war nur ge-spielt. Es war ihm wohl sicherer erschienen,mich anzulügen, als zu versuchen, mich zuüberzeugen. Also hatte er mich schlicht vorvollendete Tatsachen gestellt.

Seine Methode war hinterhältig, aber ef-fektiv. Oder wärst du freiwillig hierher nachGruelfin gesprungen anstatt die Milchstraßeaufzusuchen?

Die Funkerin Ypt Karmasyn meldete sicherneut zu Wort: »Soeben wurde eine Nach-richt freigegeben, die schon vor unseremAufbruch in die Bordsysteme eingespeistworden ist.« Dann griff sie nach einer Fla-sche, die in einer Spezialhalterung an ihremSitz steckte. Darin befand sich ein Getränkvon sämiger Konsistenz. Die Funkerin nahmeinen kräftigen Schluck.

»Auf meine Konsole!«, befahl die Kom-

Todeszone Schimayn 31

mandantin. Jetzt, da sie gefordert war, warnichts mehr von ihrer Unscheinbarkeit übriggeblieben. Sie entschied schnell und effek-tiv, konnte sich auf die neuen Begebenheitensofort einstellen. Ich wunderte mich nichtmehr, wie sie ihren Rang erreicht hatte.

Sie rief mich zu sich. »Die Botschaftstammt von Aruma Cuyt und ist an dichadressiert.«

Ich stellte mich neben Carmyn Oshmosh,die in ihrem Stuhl saß.

Auf dem Hauptbildschirm der Konsole er-schien das Gesicht des Kommandanten derCAVALDASCH.

»Atlan«, sprach er mich an, als sei es kei-ne Aufzeichnung, sondern der Beginn einesGespräches. »Was ich getan habe, ist mirnicht leicht gefallen. Du weißt inzwischen,dass ich zu einer List gegriffen habe, unddafür entschuldige ich mich ausdrücklich.Ich habe nicht aus egoistischen Gründen sogehandelt, sondern aus Liebe zu meinemVolk. Und aus einer Notwendigkeit heraus.Es war keine einfache Entscheidung. Ichmusste sie schnell treffen, und ich konntekaum jemanden befragen. Nur ein Beraterstand mir beiseite. Du kennst Eide Symtoschnicht, aber ich möchte betonen, dass er mitmir einer Meinung war.« Aruma Cuytschwieg und schloss die Augen.

Seine Worte arbeiteten in mir. Was halfenmir die Beteuerungen des Kommandanten?Nach wenigen Sekunden redete er weiter.

»Ich sagte dir in unserem Gespräch, dassich nicht an Zufall und Schicksal glaube.Dennoch scheint es, als habe es so sein sol-len, dass ausgerechnet ich dich auf diesemverlassenen Planeten gefunden habe. Mirsteht ein Pedopeiler zur Verfügung und da-mit die Möglichkeit, dich nach Gruelfin zuschicken. Ich bitte dich um Vergebung, undich betone noch einmal, dass ich es einzigund allein aus Liebe zu meinem Volk und zumeiner Heimat getan habe. Gruelfin brauchtdich. Ich habe unehrenhaft gehandelt, unddiese Schuld wird immer auf mir lasten. Ichbitte dich, den Ganjasen in der MAR-KASCH jede dir mögliche Unterstützung

zukommen zu lassen, denn sie haben einewichtige Aufgabe zu erfüllen. Du genießteinen guten Ruf unter den Angehörigen mei-nes Volkes, und du verfügst über gewaltigeErfahrung. Ich wiederhole meinen Appell,Atlan: Hilf meinem Volk!«

Jetzt erst öffnete Cuyt die Augen wieder.Bis jetzt war seine Stimme hart gewesen,doch nun wurde sie unsicher, als schäme ersich dessen, was er zu sagen hatte.»Kommandant Sabylchin von der MAR-KASCH ist soeben durch einen vollautoma-tisierten Funkspruch angewiesen worden, dirunter keinen Umständen die Rückkehr nachDwingeloo zu erlauben oder den Weg in dieMilchstraße zu ermöglichen. Es gibt nochetwas, das ich dir berichten muss. Ein Boteteilte unserem Volk mit, dass möglicherwei-se sogar Ovarons Bewusstsein in Gefahr sei.Nicht nur alle Völker der Cappins brauchendeine Hilfe, sondern auch der Ewige Ganjo,dein ehemaliger Weggefährte. Suche Kom-mandant Sabylchin auf, er wird dir mehrdarüber berichten.«

Wieder schwieg er kurz. »Ich wünsche diralles Gute und jeden nur denkbaren Erfolg.Und bitte vergiss nicht, dass ich mir darüberim Klaren bin, was ich getan habe.« Danachwurde der Bildschirm dunkel.

Carmyn Oshmosh warf mir einen bedeu-tungsvollen Blick zu, dann wandte sie sichan Ypt Karmasyn. »Ist soeben ein automati-sierter Funkspruch abgegangen?«

Die Funkerin bejahte. »Als die Wiederga-be der Botschaft Aruma Cuyts begann«, prä-zisierte sie. »Ich konnte es nicht verhindern,denn …«

»Ich weiß«, unterbrach die Kommandan-tin. »Ich will sofort unterrichtet werden,wenn sich Sabylchin wieder meldet! Bis da-hin warten wir auf dieser Position ab.«

Sie wandte sich an mich. »Wir sollten unszurückziehen. Wir müssen ungestört reden.«

Carmyn Oshmosh führte mich in einenwinzigen Raum. Auf einem Beiboot von 70Metern Länge wie der AVACYN blieb we-nig Platz für alles, was nicht dringend not-wendig war, zumal sich zurzeit zehn Besat-

32 Christian Montillon

zungsmitglieder an Bord befanden.»Ich bin genauso überrascht wie du«, ver-

sicherte sie.»Davon bin ich überzeugt.« Wir standen

nahe zusammen, die schmucklosen Metall-wände des kleinen Raumes im Rücken.

Carmyn Oshmosh sah zu mir auf. Obwohlsie nicht gerade klein war, überragte ich sieum einige Zentimeter. »Vor dem Sprungglaubten wir, den Pedoleitstrahl der SYVE-RON in der Milchstraße angepolt zu haben.Aruma Cuyt muss die Kennung der CA-VALDASCH hier in Gruelfin verfälscht ha-ben. Er hat uns ebenso getäuscht wie dich.«

»Eine groß angelegte Irreführung, die erin kürzester Zeit plante«, folgerte ich bitter.Ich hatte mich nur wenige Stunden an Bordseiner CAVALDASCH aufgehalten.

»Ich kann verstehen, dass er so handelte.«Sie lächelte flüchtig. »Auch wenn ich esnicht gutheiße.«

»Er sprach davon, dass Ovarons Bewusst-sein in Gefahr sein könnte. Was weißt dudarüber?«

»Ich höre zum ersten Mal davon. Auchder Bote, den Aruma Cuyt erwähnte, ist mirunbekannt.«

Ihre Antwort überraschte mich nicht. Ichverknüpfte viele Erinnerungen mit Ovaron.Vor langer Zeit hatte er einen Zellaktivatorgetragen, der in seinem Fall zu einem qual-vollen körperlichen Ende geführt hatte. DiePedotransferfähigkeit vertrug sich nicht mitdem Zellaktivator, so dass er nach Jahren, indenen er nur in einer Nährflüssigkeit überle-ben konnte, schließlich im Jahr 3580 alterZeitrechnung starb. Später stellte sich her-aus, dass sein Geist immer noch existierteund letztendlich mit Hilfe eines Gängers desNetzes nach Gruelfin zurückkehren konnte.Ich hatte seit vielen Jahrhunderten nichtsmehr von ihm gehört. Es hieß, dass … Derplötzliche Alarm riss mich aus meinen Erin-nerungen.

*

Carmyn Oshmosh und ich rannten zurück

in die Zentrale. Dort war hektische Aktivitätausgebrochen.

Myreilune gab hastig einen Ausweichkursein.

Ypt Karmasyn, die pockennarbige Orte-rin, meldete: »Der Pedopeiler wird angegrif-fen.«

Um uns loderte der Weltraum in grellenFarben. Ein ganjasisches Schiff der KELTA-TRON-Klasse von 450 Metern Länge ver-ging unter dem konzentrierten Beschuss dernoch unbekannten Angreifer. Dicht nebender AVACYN explodierte es. Glühende undin der eisigen Kälte des Vakuums sofort er-löschende Trümmerteile sausten in alleRichtungen.

Myreilune hatte bereits unsere Schutz-schirme aktiviert. Ein winziges Trümmer-stück des zerstörten Schiffes verdampfte imzweifach gestaffelten Hochenergie-Hybrid-schirm. Doch davon spürten wir nichts.Nicht die geringste Erschütterung durchliefdie Zentrale.

Wieder bewies Carmyn Oshmosh ihreFührungsqualitäten. Sie stellte sich sofortauf die neue Situation ein. Angesichts desum uns herum tobenden Kampfes behielt sieeinen kühlen Kopf. »Ich brauche genaue Da-ten!«, befahl sie in Richtung Ypt Karma-syns.

Dann wandte sie sich an mich. »Deine Er-fahrung kann uns helfen.«

Das war eine weise Entscheidung. Ichversuchte mir einen Überblick zu verschaf-fen.

Die Orterin meldete: »Bei den Angreifernhandelt es sich um Takerer. Sie sind in derÜberzahl, und noch weitere Einheiten fallenaus dem Hyperraum. Die MARKASCH hatkaum eine Chance.«

»Das ist nicht unser Kampf!«, rief Myrei-lune. In der Stimme der Pilotin flackerte Pa-nik auf. »Niemand von uns sollte hier sein!«

Die Takerer bildeten ebenso ein Volk derCappins wie die Ganjasen. Ich erlebte zumersten Mal einen Teil jenes Bruderkrieges,der Gruelfin mit Chaos und Tod überzogund der auf die Intrigen der Lordrichter zu-

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rückging. In Dwingeloo hatte ich bereits da-von gehört. Und genau deswegen hatte Aru-ma Cuyt mich hierher geschickt. Mitten hin-ein in die Hölle. War es also doch unserKampf oder zumindest der aller Ganjasen?Ich war der einzige Nicht-Cappin an Bord.

Der Pedopeiler hatte das Feuer auf dieAngreifer längst eröffnet. Strahlenschüssejagten durch den Weltraum.

»Weitere Einheiten fallen aus dem Hyper-raum«, meldete die Orterin. »Ebenfalls take-risch. Sechs 800-Meter-Raumer. Außerdem…«

Ich hörte nicht hin. Unwillkürlich durch-zuckte mich ein Gedanke. Es war genau wiebei meinem ersten Pedotransmittersprungnach Dwingeloo. Nur dass diesmal einigeMinuten vergangen waren, ehe der Angriffbegann. Damals stürmten Truppen der Gar-byor die ERYSGAN, heute kämpfte Cappingegen Cappin. Doch es schien auf dasselbeEnde hinauszulaufen – die Zerstörung desPedopeilers.

»Kontakt zur MARKASCH«, rief YptKarmasyn. »Kommandant Sabylchin.«

»Atlan«, ertönte die markige Stimme desGanjasen.

Ich bemerkte, dass er mich als Verant-wortlichen ansprach, nicht Carmyn Osh-mosh. »Es bleibt keine Zeit. Schließ dichuns an. Hilf uns bei der Verteidigung. DerPedopeiler darf unter keinen Umständen zer-stört werden. Sabylchin Ende.«

Die Verbindung brach ab.»Mehrere Treffer! Noch halten die

Schutzschirme«, setzte Carmyn Oshmoshihre Besatzung in Kenntnis. Auf die Kompe-tenzfrage ging sie nicht ein. Dann gab sieweitere Befehle. »Ausweichkurs! Feuer aufdie Takerer eröffnen!«

Die Schlacht hatte begonnen.

7.An Bord der TIA: Zeit und Vergänglichkeit

Abenwosch-Pecayl 966. triumphierte. Erhatte Recht behalten! Es war lohnenswertgewesen, in der Nähe des Pedopeilers zu

bleiben und zu beobachten.Der Stellvertretende Kommandant der

TIA meldete, dass etliche Schiffe aus demHyperraum gefallen waren und das Feuerauf die CAVALDASCH eröffnet hatten.»Dort hat eine Schlacht begonnen, Aben-wosch. Bei den Angreifern handelt es sichebenfalls um Cappins. Genaueres konntenwir bislang nicht herausfinden. Mehrere Ein-heiten der Ganjasen sind bereits gefallen.Auch ein Schiff der Angreifer explodierteunter konzentriertem Beschuss.«

»Ich brauche weitere Einzelheiten, Mali-ug!«

»Noch läuft die Ortung«, vertröstete die-ser seinen Anführer. »Die ersten Schüssesind erst vor wenigen Augenblicken abge-feuert worden.«

»Ich verlange, dass ich bald über alles in-formiert werde. Du trägst die volle Verant-wortung. Um welches Volk handelt es sichbei den Angreifern, mit wie vielen Einheitensind sie aufgetaucht? Welchen Verlaufnimmt die Schlacht?«

Der Stellvertretende Kommandant bestä-tigte und entfernte sich.

Abenwosch blieb im Beratungsraum desneuen Flaggschiffes zurück. Er war nicht al-lein. Nach wie vor befand sich der alte Ol-mon bei ihm. In den letzten Stunden war erihm nicht von der Seite gewichen.

»Ich merke, dass du immer unruhigerwirst.«

Abenwosch lehnte sich mit dem Rückengegen die Wand und sah zu dem alten Juclaauf, der ihm in den sich überschlagenden Er-eignissen zu einem Ruhepol geworden war.Zum einzigen Ruhepunkt, der ihm Sicher-heit gab. Abenwosch stieß ein kurzes La-chen aus. In der Tat überschlugen sich seineGedanken. »Wie sollte es anders sein? Diesist mein erster Tag als Abenwosch, gesternstarb mein Vater. Seitdem habe ich einengroben Fehler begangen, habe dennoch denClan vor der Vernichtung bewahrt, und …«

»Und du hast einen Berater gewonnen«,unterbrach der Greis die hektisch vorge-brachte Aufzählung. »Mich, den du noch vor

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zwei Tagen für deinen Feind gehalten hast.«»Feind ist wohl kaum das richtige Wort.«»Du warst der Meinung, ich sei nicht für

dich, also war ich in deinen Augen gegendich.« Olmon verschränkte die Arme vor derBrust. »Dein Feind.«

In Abenwoschs erschöpfter Seele regtesich tatsächlich etwas. Olmon bezeichnete esals Unruhe. Er selbst nannte es Kampfeswil-len, die Lust, zu töten und seinen Aggressio-nen freien Lauf zu lassen. Das zu tun, wozuer als Jucla bestimmt war.

Sein Inneres war aus dem Gleichgewichtgeraten, seit er während der Konfrontationmit Kommandant Sabylchin seine Ohnmachteingestanden hatte. Ein taktischer Rückzugentsprach nicht der Mentalität der Juclas.Alles in ihm hatte danach gedrängt, in einenKampf ohne Rückkehr zu ziehen und so vie-le Gegner wie möglich mit in den Untergangzu reißen.

»Du schweigst, Abenwosch?«»Ich denke darüber nach, was ich bin.

Welchen Weg ich eingeschlagen habe. Undob es richtig ist, wie ich handle.«

»Was richtig oder falsch ist, wirst du nichtin der Hektik erkennen. Ich sagte es dirschon bei unserer Begegnung in den Tuileri-en: Gerade du brauchst Ruhe. Wer Verant-wortung trägt, muss nach der Wahrheit stre-ben. Nur dann findest du die Weisheit, diedu benötigst, um den Clan zu führen. Unddie Wahrheit wiederum liegt in der Schön-heit verborgen, die sich dir erst erschließt,wenn du innehältst. Du darfst deine Ent-scheidungen nicht übereilt treffen.«

Philosophie, dachte Abenwosch verächt-lich. Es gelang ihm jedoch nicht mehr soeinfach wie noch vor kurzem, die Worte desAlten abzutun. Er spürte, dass Wahrheit inOlmons Worten steckte. Diese Gewissheitbrachte sein Inneres noch stärker in Aufruhr.

Sein ganzes Leben lang war er der Mei-nung gewesen, das Alter sei die Zeit derSchwäche und Nutzlosigkeit. Zuletzt hatte erdie ultimative Bestätigung seiner Worte imLeben seines Vorgängers gefunden.

Früher, als er noch seinen Geburtsnamen

Scytim getragen hatte, hatte er mit der Uner-schütterlichkeit jugendlichen Ungestüms ge-wusst, dass die Lösung aller Probleme in derHand seiner eigenen Generation lag. Damalswar ihm klar gewesen, dass jeder, der dasEnde des dritten Lebensjahrzehnts erreichte,die Existenzberechtigung verwirkt hatte.Vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, sei-nem Vater Pelyr. Denn dieser hielt seinenKörper durch hartes Training beweglich undstark, so dass er noch einige Jahre lang eingutes Gefäß für seinen flexiblen Geist bildenwürde. Scytim, pflegte sein Vater immer zusagen, es wird Zeit! Zeit für einen Wechsel,Zeit …

*Sechs Jahre zuvor

»… dass der Abenwosch abgelöst wird.Doch noch ist es nicht so weit, mein Sohn.Noch heißt es warten.«

»Warten und beobachten! Und dann,wenn es so weit ist, zuschlagen.« Der sechs-jährige Scytim wusste genau, was sein Vaterhören wollte. Er hatte es ihm oft genug ge-predigt.

Pelyr lächelte milde. »So ist es, meinSohn. Du hast gut aufgepasst.«

Scytim sah zu seinem Vater mit Bewun-derung auf. »Ich verinnerliche deine Lehre.Alles andere wäre Dummheit.«

»Ich muss in die Zentrale. Die TIA istausgewählt worden, einen Raubzug zu lei-ten.«

»Darf ich dich begleiten?« Scytim fühltein seinem Magen das gewisse Ziehen, dassich immer einstellte, wenn Aussicht aufKampf und Blut bestand. Er konnte es kaumerwarten, selbst in einen Bodeneinsatz ge-schickt zu werden und seine Fähigkeitennicht nur im Training einzusetzen. Er wollteendlich einem Gegner in die Augen sehen,wenn der Blick brach und der Lebensfunkedarin erlosch. Er sehnte sich danach, eineKehle durchzuschneiden und nicht gezwun-gen zu sein, den im Kampftraining Besieg-ten aufstehen und wegziehen zu lassen. Die

Todeszone Schimayn 35

Erregung ließ seine Finger zittern.Pelyr schüttelte den Kopf. »Gedulde dich,

Kind.«Scytim hasste es, wenn sein Vater ihn so

nannte. Er war kein Kind mehr! Die Zeit derUnmündigkeit war längst vorbei. Andere inseinem Alter hatten den Kampfrausch be-reits erleben dürfen, hatten getötet oder wa-ren selbst getötet worden. Der Gedanke dar-an schreckte Scytim nicht. War es nicht vielbesser zu sterben, als untätig abzuwarten?

Er schluckte die scharfe Erwiderung, dieihm auf der Zunge lag, hinunter. Diese Dis-kussion hatte er schon viel zu oft geführt.

Einmal hatte er sich in ein Beiboot ge-schlichen, das auf Raubzug ging. Er war be-reit gewesen! Er hatte sich nicht aufhaltenlassen wollen, egal was sein Vater sagte.Über die Konsequenzen hatte er sich keineGedanken gemacht; und sie waren hart ge-wesen. Er hatte die Strafe für etwas tragenmüssen, was nie geschehen war, denn er warnoch vor dem Start des Beibootes entdecktworden. Sein Vater hatte ihn gezüchtigt,körperlich und seelisch. Scytim erinnertesich genau an jede Einzelheit, aber am deut-lichsten sah er die Enttäuschung im GesichtPelyrs vor sich.

Dieser Anblick war es, der verhinderte,dass er noch einmal gegen den Willen seinesVaters handeln würde. Strafen konnte er er-tragen, Wunden würden heilen, Dunkelhaftging vorüber; aber der Ausdruck in den Au-gen seines Vaters verfolgte ihn noch heutein seinen Träumen.

»Für dich habe ich etwas Besseres vorge-sehen, Scytim. Geh, suche Lakim auf.«

»Den Sohn des Abenwosch?«Pelyr lächelte schmallippig. »Ich habe ein

besonderes Kampftraining für dich arran-giert. Sieh es als Ehre an. Du wirst gegenLakim kämpfen.« Seine Stimme klang lau-ernd. »Besiege ihn, Scytim. Demütige ihnvor allen, die zusehen. Zeig, dass die geneti-sche Herrscherlinie nicht alles ist. Lakim istals Nachfolger seines Vaters ausersehen,aber …«

»Er ist ein Schwächling«, rief Scytim im-

pulsiv.Sein Vater ging nicht darauf ein. »Du

kannst heute ein Zeichen setzen, mein Sohn!Tu das, was niemand sonst wagt: BesiegeLakim! Wirf ihn zu Boden, verletze ihn, lasssein Blut fließen. Es wird sich rasch im gan-zen Komplex herumsprechen, und das sollder Anfang sein, den Glauben in die geneti-sche Herrscherlinie zu zerstören.« Pelyrwandte sich ab. »Ich vertraue auf dich.«

Scytim sah den breiten Rücken seines Va-ters, die Uniform, die sich eng über dieSchultern spannte. Den von grauem Haarbedeckten Nacken. »Ich werde dein Vertrau-en nicht enttäuschen.« Denn schon baldwirst du der Abenwosch sein, und ich, deinSohn, werde dir irgendwann in die Herr-scherposition folgen, wenn wir eine neue ge-netische Linie geschaffen haben!

Scytim blieb allein zurück und versuchte,der Gefühlsflut in seinem Inneren Herr zuwerden. Er war enttäuscht, nicht mit in denKampf ziehen zu dürfen, aber gleichzeitigverspürte er Begeisterung über das bevorste-hende Treffen und die Auseinandersetzungmit Lakim. Dazu gesellte sich immer stärke-rer Blutdurst.

Dem Wunsch seines Vaters würde er nurallzu gerne entsprechen. Er hatte nicht dengeringsten Zweifel daran, dass er Lakim be-siegen konnte.

Demütige ihn … wirf ihn zu Boden … ver-letze ihn … lass sein Blut fließen … Scytimzog den Wurfdolch, bewunderte die glatte,reflektierende Schneide. Er ließ die Klingeohne jeden Druck über seinen Handballengleiten. Das Metall drang trotzdem durchseine oberen Hautschichten. Scytim lächelte,hob den Dolch und ballte die Hand. Dunkelquoll sein Blut zwischen den Fingern hin-durch und tropfte zu Boden.

Es sollte nicht das letzte Blut sein, dasheute fließen würde.

Er fieberte dem Kampftraining in der Ver-sammlungshalle des Flaggschiffs entgegen,einem großen Raum, dessen einziger Ein-richtungsgegenstand eine erhöhte Plattformwar, auf der die Trainingskämpfe stattfan-

36 Christian Montillon

den.Dutzende Neugierige fanden sich ein, um

den Kampf zu beobachten.Scytim ließ den Blick schweifen. Wenn

bekannt wäre, was heute geschehen wird,wären nicht nur Dutzende gekommen, son-dern Hunderte. Es war bei weitem nicht dererste Schaukampf, den der Sohn des Aben-wosch ausfocht, aber es würde der erste wer-den, in dem die ungeschriebene Regel ge-brochen wurde. Denn bislang hatte der Sie-ger von vornherein immer festgestanden –Lakim.

Keiner hatte es je gewagt, über den Herr-schersohn zu triumphieren, denn so war esTradition. Deshalb hatten sich alle besiegenlassen, so getan, als seien sie unterlegen.

Schwächlinge! Erbärmliche Feiglinge!Die beiden Gegner bestiegen unter

großem Geschrei der Zuschauer die Platt-form und stellten sich auf ihre Positionen.

»Möge der Bessere gewinnen«, sprachLakim die traditionellen Worte.

Scytim musterte ihn verächtlich.Lakim war zwar zwei Jahre älter und eini-

ge Zentimeter größer als er, aber er war ha-ger und schwächlich. Syctim lachte. Wel-cher Hohn aus den festgelegten Eröffnungs-worten sprach!

»So soll es sein«, antwortete er und führteden Dolch in einem Halbkreis vor seinemKörper, zog dann die Hand an, legte sie anseine Brust und knickte das Handgelenk, sodass die Klinge auf seinen Gegner wies.

Lakims Mundwinkel zuckten. Die letztenWorte entsprachen nicht dem Ritual. Nachdem ersten Satz verlief der Kampf üblicher-weise schweigend.

Scytim hoffte, dass dem Weichling schonin diesem Moment klar wurde, dass diesesMal alles anders kommen würde. Er stürmtelos, stieß die Waffenhand nach vorne.

Noch ehe sein Gegner begriff, was gesch-ah, schlitzte die Klinge seine Oberbeklei-dung über der Schulter auf und schnitt ihmeinige der schwarzen Haare ab. Gleichzeitigschlug Scytim mit der Linken zu, rammteLakim die Faust in die Magengrube.

In derselben Bewegung rannte er an sei-nem Gegner vorbei, wirbelte herum, warfden Dolch in die Luft. Er überschlug sichmehrfach, ehe Scytim ihn mit der Linkenwieder auffing.

»Was ist, Lakim?«, rief er höhnisch.»Willst du noch lange Maulaffen feilhal-ten?«

Einer der Zuschauer schrie auf, er-schrocken, verwundert, begeistert. Beiläufigund zufrieden erkannte Scytim, dass es sichum Lamain handelte. Die unnahbare La-main, von der er mehr als einmal geträumthatte. Aufgeregtes Stimmengemurmel mach-te sich unter den Zuschauern breit.

Lakim krümmte sich unwillkürlich,streckte sich nur mühsam wieder. Sein Blickhuschte zu seiner Schulter, sah die zerschnit-tene Kleidung. Die Klinge hatte seine Hautnicht einmal geritzt. »Du wagst es …«

»Möge der Bessere gewinnen«, unter-brach Scytim kalt. »Hast du das nicht selbstgesagt?«

Lakim brüllte voll Zorn, als er losstürmte.Sein Angriff war plump, Scytim parierte

mühelos. Er riss das Knie hoch, rammte esLakim zwischen die Beine. Dieser schnapptenach Luft und stöhnte.

Scytim warf den Dolch erneut in die Luft,stieß mit beiden Handballen gegen LakimsBrust und fing die Waffe auf, ehe sie zu Bo-den fallen konnte. Lakim taumelte zurück,die Augen fassungslos geweitet. Er trat überden Rand der Plattform, verlor den Halt undstürzte. Hart schlug er rücklings auf, auchder Kopf prallte auf den Boden.

Scytim lachte höhnisch. »Ist das alles,was du zu bieten hast?«

Lakim stöhnte, rollte sich zur Seite underhob sich. Sein Gesicht verzerrte sich zu ei-ner Grimasse des Hasses. »Du willst echtenKampf? Du sollst ihn haben!« Er drehte sichzu den Zuschauern um. »Raus hier! Alleraus!« Ein dünner Blutfaden rann aus sei-nem Mundwinkel über das Kinn.

»Du willst nicht, dass jemand deine Nie-derlage sieht?«, fragte Scytim.

»Niemand soll sehen, was hier geschehen

Todeszone Schimayn 37

wird. Dies ist kein Training mehr, Scytim!«»Das kommt mir gerade recht.« Alles in

ihm schrie nach Blut. Sein klares Denkenwar ausgeschaltet. Demütige ihn … wirf ihnzu Boden … verletze ihn … lass sein Blutfließen … »Was ist?«, schrie Lakim. »Habtihr es nicht gehört? Raus! Ich bin der Sohndes Abenwosch, und ich befehle es euch!«

Scytim lachte. Ein Kampf ohne Regelnwar genau nach seinem Geschmack. Viel-leicht würde die Gier in seinem Inneren end-lich gestillt werden.

Einer nach dem anderen verließ die Halle.Scytim wusste, dass sich die Nachricht vonden Ereignissen bereits jetzt im ganzenKomplex verbreitete. Das Ergebnis desKampfes würde nicht geheim bleiben. Damiterfüllte Scytim die Bitte seines Vaters. Undlag es an ihm, dass Lakim mehr forderte?

Bald waren die beiden allein. Lakim klet-terte wieder auf die Plattform.

»Du hast keine Chance«, sagte Scytimkalt.

»Ich war bis jetzt immer siegreich.«»Weil jeder dich gewinnen ließ. Bist du

so erbärmlich, dass du das nicht einmalweißt?«

Lakim spuckte Schleim und Blut auf denBoden. »Pass auf, was du sagst.«

»Und du solltest darauf achten, was ichtue.« Scytim ging einen Schritt auf seinenGegner zu. »Wir werden den anderen nichttöten. Das ist die einzige Grenze.«

Lakims Blick flackerte. »Die einzigeGrenze«, wiederholte er. Während des letz-ten Wortes schleuderte er seinen Dolch.

Scytim war darüber völlig überrascht undreagierte zu spät. Die Klinge drang ihm inden linken Oberarm. Lakim lachte trium-phierend.

Du bist ein Narr!, dachte Scytim trotz derSchmerzen, die in ihm explodierten. Jetztwar Lakim waffenlos. Er zog den Dolch ausseinem Arm und unterdrückte einen Schrei.Sein linker Arm wurde taub, der Ärmel sei-ner Uniform füllte sich mit warmer, schwe-rer Nässe. »Das hättest du nicht tun sollen!«,schrie er und steckte den Dolch in die Schei-

de, die er an seinem Bein trug. »Nun habeich zwei Klingen und du keine.«

Doch da zog Lakim eine zweite Waffe.»Dies ist ein Kampf ohne Regeln«, spotteteer. »Du kannst aufgeben, wenn du willst.«

»Es ist nicht erlaubt, das Kampftrainingmit mehr als einer Waffe zu beginnen! Dubist ein erbärmlicher Betrüger.«

»Sei vorsichtig, wie du mit dem Sohn desAbenwosch redest. Gib auf, Scytim. DeineWunde …«

»Ich besiege dich auch mit einem Arm.«Scytim stürmte vor, blind vor Zorn.

Lakim wich zur Seite aus.Damit hatte Scytim gerechnet. Er wirbelte

herum, trat Lakim voll in die Kniekehlen.Sein Gegner stürzte. Scytim war einen Au-genblick später über ihm. Rasend vor Wutrammte er seine Faust in Lakims Gesicht. Esknirschte, und Blut schoss dem Getroffenenaus Mund und Nase.

Scytim presste Lakims Waffenhand mitdem Knie auf den Boden. Der Sohn desAbenwosch zappelte hilflos unter ihm, hu-stete, spuckte einen Blutschwall aus. Scytimschlug erneut zu. Das Nasenbein brach.

Dann erhob sich Scytim, blickte auf denWimmernden hinab. »Nicht einmal mitschmutzigen Tricks gewinnst du«, sagte erverächtlich. Er spürte den Schmerz seiner ei-genen Verletzung nicht. Triumph erfüllteihn, als er in das unmenschlich verzerrte Ge-sicht seines Gegners blickte.

Als Lakim sich zur Seite drehte und auf-stand, lachte er.

»Du willst weiterkämpfen?«Lakim atmete schwer. »Ich werde dich tö-

ten, Scytim.« Seine Stimme klang gepresst,spiegelte den Rausch ungezügelter Kampf-leidenschaft wider, der auch Scytim ergrif-fen hatte.

»Versuche es.«Lakim stürmte mit gesenktem Kopf heran.

Scytim wartete eiskalt ab, hob den Wurf-dolch. Er umklammerte den Griff der Waffe,seine Nägel bohrten sich in die Haut desHandballens.

Beide Gegner wollten nur noch eins: den

38 Christian Montillon

anderen töten. Leben auslöschen. Den Tri-umph des Sieges schmecken.

Lakim brüllte, rannte ungedeckt weiter.Er rammte den Kopf gegen den verletzten,blutigen Arm seines Gegners.

Scytim jaulte vor Schmerz auf. SeineWaffenhand zuckte instinktiv hinab, traf aufWiderstand. Mehr bemerkte er nicht. SeineWahrnehmung verschwand hinter dunklenWellen.

Er schrie, stürzte, wusste nicht, ob dieSchreie, die er hörte, nur von ihm stammten.Alles um ihn herum erlosch, klang plötzlichseltsam gedämpft. Jede Farbe verlor ihreExistenzberechtigung.

Es wurde schwarz.Als er wieder zu sich kam, lag er in der

Medostation der TIA. Mühsam öffnete erdie Augen. Das Licht einer grellen Lampebohrte sich wie Dolche durch die Augen insein Gehirn. Es dauerte lange, bis er be-merkte, dass die Lampe nur einen schwa-chen, trüben Schein abstrahlte.

Sein Vater stand neben ihm. »Ihr hättetbeide sterben können«, tadelte er. »Fast hät-te dein Arm amputiert werden müssen. Eswird Monate dauern, bis du ihn wieder voll-ständig einsetzen kannst.«

»Und Lakim?«, ächzte Scytim.»Dein Dolch steckte bis zum Schaft in

seinem Rücken, als man euch fand. Nur eineNotoperation rettete sein Leben.«

Scytim atmete schwer. Er schloss die Au-gen und lächelte. Dieses Mal lag keine Ent-täuschung in der Stimme seines Vaters.

Sondern Anerkennung.

*Gegenwart

»Ich erkenne an, dass du einige gute Ent-scheidungen getroffen hast«, sagte Olmon.»Dennoch wird dir keine andere Wahl blei-ben, als dir Ruhe zu gönnen. Mein Rat andich ist, innezuhalten.«

»Es gilt abzuwarten, welche NachrichtenMaliug bringen wird«, antwortete Aben-wosch ausweichend.

»Ich sehe es in deinen Augen, dass derKampftrieb in dir groß ist. Dennoch darfstdu dich nicht in die Schlacht, die dort drau-ßen tobt, einmischen. Überwinde deine ge-netische Bestimmung, Abenwosch-Pecayl966. Überwinde dich selbst.«

Abenwosch sah zu seinem Berater auf.»Vielleicht wäre es klug zu kämpfen?«

»Klug wäre es abzuwarten. Lass die bei-den Parteien sich gegenseitig schwächenoder auslöschen. Dann sieh, ob du leichteBeute machen kannst. In den Wirren desMachtwechsels musstest du bereits zu vieleüberhastete Entscheidungen treffen. Du hastselbst gesehen, wohin das führte.«

Nachdenklich musterte Abenwosch seingreises Gegenüber. »Das komplette Lebeneines Juclas besteht aus Eile und Hast. Nie-mand hat Zeit. Wir leben schneller als alleanderen Cappins. Wir bewegen uns schnel-ler als sie, wir schlafen weniger Stunden amTag, wir …«

»Wir lassen unser ganzes Dasein vomTod bestimmen?« Olmon sank ächzend aufeinen Stuhl.

»Was willst du damit sagen?«»Warum tun wir Juclas all das, was du ge-

rade aufgezählt hast? Es gibt nur einen ein-zigen Grund dafür: Wir wissen, dass wirfrüh sterben werden. Wir vergreisen, wennandere Cappins noch nicht einmal in derBlüte ihrer Jahre angelangt sind.«

Abenwosch schwieg. Was hätte er auchsagen sollen?

»Ich habe Studien betrieben«, sagte Ol-mon überraschend. »In vielen Kulturen heißtes, man solle bedenken, dass man sterbenwird, auf dass man klug wird. Für uns giltumgekehrt: Wir müssen uns nicht bewusstmachen, dass wir morgen sterben. Das wis-sen wir alle. Wir müssen uns darüber imKlaren sein, dass wir heute leben.«

»Was nutzt mir dein Gerede?«Abenwosch kam nicht dazu, weiteren Wi-

derspruch vorzubringen. Das Schott desRaumes glitt zur Seite. Maliug stürmte inden Raum. »Wir haben die Angreifer identi-fiziert. Es gibt keinen Zweifel«, meldete er

Todeszone Schimayn 39

mit bebender Stimme.»Was hast du zu sagen?«, unterbrach Ol-

mon. Sein Blick war dabei auf das Gesichtdes jungen Abenwosch fixiert.

Der Stellvertretende Kommandant derTIA beachtete den Alten nicht. »Es sind Ta-kerer!«

Abenwosch schloss die Augen, stieß dieLuft aus und schlug mit der Faust gegen dieWand. »Takerer«, presste er heraus.

Es waren die Takerer gewesen, die in ver-derblichen genetischen Experimenten vorJahrtausenden die Juclas geschaffen hattenund sie zu ihrem kurzen, von Aggressionengesteuerten Leben voller Kampf verdamm-ten. Die Takerer, ihre schlimmsten Feinde.Das personifizierte Böse. »Ist der Kampfmo-dus unserer Schiffe hergestellt?«

Maliug lächelte kalt. »Der Komplex istvöllig aufgelöst, Abenwosch.«

»Bedenke, was du tust!«, rief Olmon.Abenwosch beachtete ihn nicht. Alles Re-

den über Philosophie und Selbstbeherr-schung war mit einem Mal bedeutungslosgeworden. Sein Herzschlag beschleunigtesich. Dort draußen tobte ein Kampf der Ta-kerer gegen die Ganjasen.

Es spielte keine Rolle mehr, was der über-hebliche Kommandant des PedopeilersMARKASCH ihm angetan hatte. Sabylchinkämpfte gegen die Takerer, und damit warer zu einem Verbündeten geworden.

»Wir verlassen den Ortungsschutz derSonne und greifen in den Kampf ein«, ent-schied Abenwosch. »Tod den Takerern!«

»Wir wissen nichts über die genaueKampfstärke der Takerer«, wandte Olmonvon Panik erfüllt ein. »Selbst wenn wir un-sere Schiffe den Ganjasen zur Seite stellen,sind die Takerer möglicherweise überlegen.Dort draußen tobt ein Krieg zwischen mäch-tigen Schiffen, die unsere alten Raumer zer-stören können! Maliug, wie viele Einheiten…«

»Schweig!«, unterbrach ihn Abenwoschrigoros. »Die Zeit des Redens ist vorbei. DieZeit des Kampfes ist angebrochen!« Er ver-ließ zusammen mit Maliug den Raum und

lief in die Zentrale des Flaggschiffes, umden Angriff zu koordinieren.

*

»Juclas des Ercourra-Clans!Ich bin erst seit einem Tag euer Anführer,

und ihr habt das Recht zu erfahren, warumich den Angriff befehle. Wir sind Cappins,und doch unterscheiden wir uns von all denanderen Völkern, die sich unsere geneti-schen Brüder nennen.

Wir sind dazu verdammt, ein Leben zuführen, in dem innere und äußere Reife ein-ander entgegenlaufen. Seit unser Volk vorJahrtausenden gezüchtet wurde, sind wirdarauf konditioniert zu kämpfen. Wir ver-danken all unser Leid den Takerern. All un-ser Hass bündelt sich in diesem Namen.

Dort draußen sind viele der verhasstenTakerer. Dort draußen ist der Feind! Er be-kämpft die Ganjasen, die ebenfalls nicht un-sere Freunde sind, denn ein Jucla kennt kei-ne Freunde außerhalb seines Volkes. Aberdie Ganjasen sind nun unsere Verbündetendenn sie kämpfen gegen den Feind.

So wie wir.Unser Leben dient ab jetzt nur noch ei-

nem einzigen Ziel: Tod den Takerern!Wir sind schwach, unsere Schiffe sind alt,

aber wir haben dem Feind eines voraus: Wirhaben Leidenschaft! Wir hassen aus der tief-sten Tiefe unseres Herzens!

Wo er Technik hat, um uns zu zerschmet-tern, haben wir Wagemut und den Einsatzunseres Lebens. Wir wissen, dass wir ster-ben werden, aber dieses Wissen soll unsnicht mehr bremsen, sondern uns vorantrei-ben.

Denn wenn wir heute sterben, dann soll esso sein.

Wir kennen keine Angst! Wir ziehen los!Für uns! Für alle Juclas!

Tod den Takerern!«

*

Tausend Juclas in den 733 Schiffen des

40 Christian Montillon

Ercourra-Clans schrien:Tod den Takerern.

8.Atlan: Zeuge

Um uns tobte die Schlacht mit gnadenlo-ser Härte.

Die Angreifer gingen mit aller Gewaltvor. Immer wieder nahmen sie einen Raum-er der Ganjasen unter konzentrierten Punkt-beschuss, bis dessen Schutzschirm überlastetwurde und zusammenbrach.

Sieben Schiffe der Ganjasen waren bereitsexplodiert, ihre Besatzungen einen grausa-men, sinnlosen Tod gestorben. Sie waren dieOpfer eines Bruderkriegs, der von den Lord-richtern heimtückisch verursacht wordenwar. Jene wahren Verursacher dieses Leidshielten sich im Verborgenen. Meine Verach-tung gegen sie verstärkte sich in diesenschrecklichen Momenten noch mehr.

Im Gegenzug konnten erst drei Raumerder Takerer vernichtet werden, darunter kei-ne einzige der größeren Einheiten.

Carmyn Oshmosh bot ein Bild absoluterKonzentration. Sie gab der Pilotin Myreilu-ne Angriffs- und Ausweichkurse vor, erteilteFeuerbefehle und wandte sich immer wiederan mich.

Wenn ich es für nötig hielt, befahl ich zu-sätzlich. Allerdings erfüllte sie ihre Aufgabemit Bravour, so dass ich kaum in Aktion tre-ten musste. Meist bestätigte ich ihre Vorga-ben, was ein verwegenes Blitzen in ihre Au-gen zauberte.

Das Schott öffnete sich, und ein weiteresBesatzungsmitglied betrat die Zentrale derAVACYN.

Als die Kommandantin den Neuankömm-ling bemerkte, zuckten ihre Mundwinkel. Ih-re Mimik versteinerte. »Myreilune, ich über-trage dir das Kommando. Weiterhin Angriff.Bei Kontakt mit dem Kommandanten desPedopeilers wende dich augenblicklich anAtlan oder mich.«

Die Pilotin bestätigte. Ich zweifelte nichtdaran, dass sie der Aufgabe gewachsen war.

Carmyn Oshmosh wies auf die eingetrete-ne kahlköpfige Cappinfrau. »Komm her. Eswurde Zeit, dass du hier auftauchst.«

Schon aus der Entfernung sah ich deut-lich, dass mit ihrem Gesicht etwas nichtstimmte. Als sie näher trat, wurde es offen-sichtlich. Ihre linke Gesichtshälfte wiesschreckliche Verbrennungsnarben auf. DieHaut war ledrig rot. Was immer ihr wider-fahren war, es hatte sie ein Ohr und ein Au-ge gekostet. Dass sie überhaupt noch lebte,musste auf eine außergewöhnlich zähe Kon-stitution zurückzuführen sein. Ein camoufla-gegefärbter, hervorspringender Metalltrich-ter glänzte anstelle des Ohrs. Das linke Augewar künstlich und leuchtete in grellem Rot.Ihr natürliches Auge war schwarz. Die er-setzten Organe verliehen ihr ein unheimli-ches, cyborghaftes Aussehen.

Es muss sich um Kaystale handeln, Offi-zierin zur besonderen Verwendung, machtemir der Logiksektor klar. Carmyn Oshmoshhat dir von ihr erzählt. Sie ist Takererin.

»Kommandantin«, sagte Kaystale undwandte sich dann mir zu, begrüßte mich mitNamen.

Carmyn Oshmosh hatte mir von der einzi-gen Takererin an Bord berichtet, als wir unsnoch an Bord der CAVALDASCH in Dwin-geloo befunden hatten. Damals war nochnicht klar, welche Brisanz in diesen Wortenlag. Eine Takererin an Bord eines Ganjasen-Schiffes, das gegen ihr eigenes Volk kämpf-te … In Friedenszeiten hätte das keinerleiProbleme verursacht, doch jetzt könnte esverhängnisvolle Auswirkungen haben.

»Sie wird uns keine Schwierigkeiten be-reiten«, versicherte die Kommandantin, alshabe sie meine Gedanken gelesen.

»Ich bin eine Kämpferin«, ergänzte Kays-tale kühl. »Für mich zählt, wer mein akuterAnführer ist. Ihm bin ich absolut loyal.« Sieblickte mich an. Das Glühen ihres Kunstau-ges hätte so manchem zartbesaiteteren Ge-müt einen Schauer über den Rücken gejagt.»Gegen wen der Kampf geht, spielt keineRolle. In diesem Fall kann ich jedoch mögli-cherweise von besonderem Nutzen sein. Ich

Todeszone Schimayn 41

kenne mein Volk wie kein anderer an Bord.«Carmyn Oshmosh stimmte zu. »Halte

dich bereit. Es ist möglich, dass wir deinerHilfe bedürfen.«

Die Antwort bestand in einem leisenQuietschen.

Ich bemerkte, dass es von einigen Metall-gliedern stammte, die drei Finger ihrer rech-ten Hand ersetzten. Kaystale ballte sie zurFaust.

»Deshalb bin ich hier.«Ehe ich weitere Fragen stellen konnte,

drang Myreilunes Ruf durch die Zentrale.»Mehrere Treffer. Unser Schutzschirm istgeschwächt. Funktionsweise bei sechzigProzent.«

»Ausweichmanöver! Weg von hier!«, riefdie Kommandantin.

»Kontakt mit Kommandant Sabylchinvom Pedopeiler!« Das war Ypt Karmasyn.

»Ich nehme das Gespräch an«, stellte ichklar und versuchte, die bohrenden Kopf-schmerzen zu ignorieren, die wieder stärkergeworden waren.

»Atlan«, erklang eine gehetzte Stimme.»Wir werden verlieren. Flieh mit der AVA-CYN. Ich werde wieder Kontakt mit dir auf-nehmen, und zwar …«

»Was?«»Verbindung unterbrochen«, informierte

die Funkerin. Wieder setzte sie die Flaschemit dem sämigen Getränk an.

»Mehrere Schiffe der Takerer folgen uns.Wir liegen weiterhin unter Beschuss.« –»Zwei weitere ganjasische Einheiten zer-stört.« – »Schutzschirme bei vierzig Pro-zent.«

Die Meldungen überschlugen sich.»Wir nehmen einen kurzen Hyperraum-

sprung vor!«, befahl die Kommandantin.»Und kehren anschließend sofort zurück«,

ergänzte ich.Ich hörte Kaystale rau lachen. Sie ist eine

Söldnerin. Kampf gefällt ihr.»Wir werden eingekesselt. Ein Entkom-

men in den Hyperraum ist unmöglich«, mel-dete Ypt Karmasyn.

»Dreißig Prozent!«

»Feuer!«, befahl ich. »Auf das Takerer-schiff der KYNOVARON-Klasse.« Der Ex-trasinn hatte es als die Schwachstelle in derfeindlichen Linie erkannt. Es wurde bereitsvon einem Ganjasenraumer attackiert.

»Zusammenbruch der Schirme steht un-mittelbar bevor!«

Unter dem gemeinsamen Feuer versagtendie Schutzschirme der Takerer. Das Schiffverging in einer Feuerlohe. Myreilune nutztesofort die Chance, jagte die AVACYN in ei-nem haarsträubenden Manöver durch dienoch glühenden Teile, ehe sich die Lückewieder schließen konnte.

»Eintritt in den Hyperraum in fünf Sekun-den … drei … jetzt.«

Etwas von der inneren Anspannung fielvon mir ab, als wir den Normalraum verlie-ßen.

»Rücksturz«, meldete Myreilune nachwenigen Augenblicken. »Ich programmiereeinen Kurs zurück zum Schlachtfeld. Entfer-nung wenige Lichtminuten.«

Ich widerrief meinen diesbezüglichen Be-fehl nicht. Ich würde nicht eher fliehen, bisich wusste, wo ich wieder auf KommandantSabylchin treffen konnte. Außerdem wollteich das Wenige an Kampfkraft, das dieAVACYN zu bieten hatte, zum Schutz desPedopeilers nutzen. Die Umstände hatten dieGanjasen zu unseren Verbündeten, die Take-rer jedoch zu unseren Gegnern gemacht.

Ist es richtig, dass wir auf einer Seite indie Schlacht eingreifen?

Diese bittere Frage hätte der Logiksektornicht erst stellen müssen. Ich fragte mich ge-nau das, seit der erste Schuss gefallen war.Was wusste ich schon über die Hintergründedes Kampfes? Im Moment blieb keine ande-re Möglichkeit, als diese Überlegung auszu-klammern.

»Warum gibt es keine Angriffe durch Pe-dotransferer?«, fragte ich Carmyn Oshmosh.

Die meisten Cappins waren fähig, diesechsdimensionale ÜBSEF-Konstante einesanderen Lebewesens anzupeilen und es zuübernehmen, indem sie in dessen Körperüberwechselten. Warum versuchten keine

42 Christian Montillon

Takerer, zentrale Stellen der Ganjasen zuübernehmen und umgekehrt?

Die Kommandantin blickte mich erstauntan. »Du weißt nichts von den Abwehrmaß-nahmen? Die Pediaklasten …«

Weiter kam sie nicht. »Erneuter Hyper-raumeintritt!«, gellte Myreilunes Stimme.»Und … Rücksturz.«

Wir befanden uns ein wenig abseits deseigentlichen Schlachtfeldes. Uns bot sich eindüsterer Anblick. Während unserer kurzenAbwesenheit hatte sich die Situation nochweiter verschlimmert. Die Worte Komman-dant Sabylchins fanden ihre grausame Be-stätigung. Die Ganjasen waren eindeutig un-terlegen. Das Feuer auf den Pedopeiler hattesich noch weiter verstärkt.

Dann entdeckte ich etwas Ungewöhnli-ches. Eine Unzahl weiterer, bislang unbe-kannter Schiffe war aufgetaucht.

Die Orterin bestätigte diesen Eindruck,der sich mir im Chaos der schematischenProjektion bot. »Ältere Cappinraumer nochunbekannter Zuordnung haben auf Seitender Ganjasen in die Schlacht eingegriffen!Mehrere hundert Einheiten. Ständig treffenneue ein.«

Schiffe der Takerer explodierten reihen-weise, ehe sich deren Kommandanten aufdie neue Situation einstellen konnten.

*

Die Schlacht erreichte apokalyptischeAusmaße. Zu den sich erbittert bekriegendenGanjasen und Takerern hatte sich eine bis-lang unbekannte dritte Partei gesellt.

»Ich brauche Details über die Neuan-kömmlinge«, rief Carmyn Oshmosh.

»Ich arbeite daran«, antwortete Ypt ha-stig.

»Die Schiffe sind alt«, sagte Kaystale ne-ben mir. Ihre künstlichen Finger quietschtenunablässig. Sie trommelte damit unruhig aufihren Beinen herum. »Es handelt sich zwei-fellos um Cappins.«

»Die Schiffe weisen die typische Eiformauf«, stimmte ich zu. »Mehr kannst du nicht

dazu sagen?«Wenn überhaupt jemand an Bord, dann

sie, kommentierte der Extrasinn. Sie ist eineSöldnerin, die im Laufe ihres Lebens wohlschon vielen Herren gedient hat.

Kaystale fuhr mit den Metallgliedern ihrerFinger über die verbrannte Gesichtshälfte.Mit einem hohlen Klingen stießen sie an denMetalltrichter des Ohres. »Ich habe einigeserlebt, aber hier kann ich dir nicht weiterhel-fen. Sollten wir aber jemals in einen KampfMann gegen Mann verwickelt werden, wer-den dir die Augen übergehen. Ich wendemeine eigenen Methoden an, um mich mei-ner Gegner zu entledigen.«

»Sie hat einen schmutzigen Kampfstil«,sagte Myreilune.

Kaystale stieß einen grimmigen Laut aus.»Ich kann die Kennungen der Schiffe

nicht zuordnen«, teilte Ypt das magere Er-gebnis ihrer Bemühungen mit. »Es tut mirLeid, ich …« Sie brach ab und las gehetztdie Informationen, die in ihrer Station ein-gingen. Schon wieder griff sie dabei nachder Flasche an ihrem Stuhl.

»Was trinkt sie da immerzu?«, fragte ichdie Kommandantin verwundert.

»Ein Symbiontengetränk, das angeblichdie Konzentration stärkt. Sie schwört darauf.In Krisensituationen schüttet sie es ständigin sich hinein.«

Ohne aufzusehen, rief die Orterin: »DerWiderstand der Ganjasen ist nahezu erlo-schen. Die unbekannten Schiffe verzeichnenjedoch gewaltige Erfolge. Immer wiederstarten sie selbstmörderische Aktionen. Eskam zu mehreren Kollisionen.«

»Selbstmordattentäter?«, vergewisserteich mich.

»Kleine Schiffe reißen auf diese Art we-sentlich größere Einheiten der Takerer mitsich in den Untergang.«

Kaystales Mundwinkel zuckten. Das roteGlühen ihres Kunstauges schien sich zu in-tensivieren. »Sehr effektiv. Allerdings zeugtes von Wahnsinn.«

Inzwischen konzentrierte sich der Angriffder Takerer auf den Pedopeiler. Salve um

Todeszone Schimayn 43

Salve schlug in die geschwächten Schutz-schirme ein. Es war nur noch eine Frage derZeit, bis die 800 Meter langen Schiffsgigan-ten der ABENASCH-Klasse fielen.

»Wir setzen alles daran, die Zerstörungdes Pedopeilers zu verhindern«, entschiedich. »Wir greifen wahllos Schiffe an, die aufdie MARKASCH feuern. Wir zerstören sieoder lenken ihr Feuer zumindest auf uns.Danach fliehen wir sofort.«

»Und ich will augenblicklich Kontakt mitKommandant Sabylchin auf der MAR-KASCH!«, verlangte Carmyn Oshmosh.

In diesem Moment verging ein Teil einesder Pedopeilerschiffe in einer gewaltigenExplosion. Die Hülle zerriss in einem Dut-zende von Metern umfassenden Gebiet. DieTriebwerkssektion! Damit war Flucht fürden Pedopeiler unmöglich geworden.

Myreilune hatte längst einen Kurs einge-geben, der uns näher an das Geschehen her-anbrachte. Die AVACYN eröffnete das Feu-er auf ein Schiff der KELTATRON-Klasse,das nahezu zehnmal so groß wie unser Bei-boot war und unablässig den Pedopeiler be-schoss.

Unsere Schüsse zeigten kaum Wirkung.»Damit werden wir sie nicht aufhalten

können«, sagte ich grimmig.Plötzlich raste eines der neu aufgetauch-

ten Cappinschiffe heran und jagte unge-bremst mitten in die feindliche Einheit. Der450 Meter lange Raumer verging in einerFeuerhölle. Ich konnte darüber keinen Tri-umph empfinden. Dort draußen waren so-eben mindestens achtzig Takerer gestorbenund die Besatzung des Selbstmordschiffesebenfalls.

»Weiter! Wir wenden uns dem nächstenAngreifer zu!«, befahl die Kommandantinkühl, ohne auch nur eine einzige Sekunde zuverlieren.

Ich bewunderte ihre Professionalität. Siebetrachtete das Sterben um sie herum mitder notwendigen Distanz.

Doch es war bereits zu spät. Der Pedopei-ler war verloren.

»Fluchtkurs!«, schrie Myreilune, während

ihre Finger über die Sensoren ihrer Stationhuschten.

Ich hörte, wie etwas zersplitterte. YptKarmasyns Flasche verbreitete ihren schlei-migen Inhalt über den Boden der Zentrale.Die Orterin war bleich geworden. Und dasaus gutem Grund.

Die Schutzschirme des Pedopeilers warenendgültig zusammengebrochen. VieleSchüsse trafen nun gleichzeitig die Hülle desRaumgiganten. Überall an der Oberflächeloderten Feuer auf. Die Hülle brach an meh-reren Stellen. Fluchtkapseln setzten sich ab.

Myreilune flog unsere AVACYN in grö-ßere Entfernung zum Pedopeiler.

Hinter uns erschütterten gewaltige Explo-sionen das Kontinuum. Die Teilschiffe derMARKASCH zerbarsten. Die Fluchtkapselnwurden ebenso mit in den Untergang geris-sen wie mehrere Schiffe der Ganjasen undTakerer, die sich nicht in ausreichender Ent-fernung befanden.

Dank Myreilunes schneller Reaktion be-fand sich die AVACYN in Sicherheit. Wirließen ein flammendes Inferno hinter uns zu-rück. Mit Sabylchin und seiner Mannschaftstarb auch jede Möglichkeit, mehr über dieHintergründe zu erfahren, welche AbsichtenKommandant Aruma Cuyt gehegt hatte, in-dem er mich nach Gruelfin schickte.

*

Das Sterben war noch nicht zu Ende.Immer noch wurden kleinere Schiffe zer-

stört, als gewaltige Bruchstücke des Pedo-peilers sie mit voller Wucht trafen und dieAußenhüllen zerschmetterten. Immer nochversagten Schutzschirme unter gegneri-schem Feuer.

»Die Reste des ganjasischen Verbandesverlieren den Mut und ziehen ab«, meldeteYpt Karmasyn und ergänzte: »Niemand hatversucht, mit uns Kontakt aufzunehmen.«

»Die Kommandanten Aruma Cuyt undSabylchin haben mich als äußerst wichtigePersönlichkeit angesehen«, meinte ich zuCarmyn Oshmosh, »aber im Moment ist die

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AVACYN ein Schiff wie jedes andere.«»Jeder versucht, sein eigenes Leben zu

retten«, kommentierte Kaystale das Gesche-hen. Ihr war deutlich anzuhören, was sie vonder Flucht der Ganjasen hielt. Jemand wiesie hätte niemals so gehandelt.

Die Cappinschiffe unbekannter Herkunftflohen nicht. Sie setzten ihre kühnen undselbstmörderischen Angriffe auf die Takererfort. Mit dem Mut der Verzweiflung zerstör-ten sie Einheit um Einheit des Feindes.

Es ist unlogisch. Sie sind technisch unter-legen.

Im Lauf der nächsten Minuten wandeltesich das zahlenmäßige Verhältnis zu Ungun-sten der Takerer. Obwohl die Streitmachtder Unbekannten stark dezimiert wurde, fie-len noch mehr Einheiten der ehemaligen Ag-gressoren.

»Wir sollten von hier verschwinden«,raunte Carmyn Oshmosh mir zu. Die Zerstö-rung des Pedopeilers hatte sie hart getroffen.Seitdem hatte sie mir das Kommando ganzübergeben und sich in jene stille, unschein-bare Ganjasin zurückverwandelt, als die ichsie kennen gelernt hatte.

»Wir bleiben«, widersprach ich. Ich woll-te das Geheimnis der unbekannten Cappin-schiffe lüften. Wer hatte hier so beherzt ein-gegriffen und bereitete den Takerern eineebenso radikale wie schmachvolle Niederla-ge?

Ihr Erfolg resultiert aus einer immensenLeidenschaft, analysierte der Logiksektornüchtern. Tiefgehende Emotionen motivierensie und treiben sie zu Höchstleistungen an.

Bald stand der Ausgang der unglaubli-chen Schlacht fest. Das letzte Schiff der Ta-kerer explodierte.

Die technisch veralteten Schiffe der Un-bekannten trugen den Sieg davon. Doch derBlutzoll, den sie dafür hatten zahlen müssen,war groß.

9.An Bord der TIA: Blutzeit

»Fast vierhundert unserer Schiffe sind

vernichtet«, vernahm Abenwosch-Pecayl966.

Er wusste nicht, wer es gesagt hatte. DerKampfrausch hielt ihn immer noch im Griff.Abenwosch umklammerte mit beiden Hän-den die Seiten des Kommandopults. SeinAtem ging schwer, seine Herzfrequenz ver-ringerte sich nur langsam.

Er erinnerte sich, dass der Verlauf derSchlacht auch an der TIA nicht spurlos vor-übergegangen war. »Wie ist unser Zu-stand?«, presste er hervor. Der Durst nachBlut und Tod klang langsam ab.

»Keine nennenswerten Schäden.« Daswar Maliugs Stimme, erkannte Abenwosch.Seine Gedanken klärten sich. »Die Schutz-schirme waren nur einige Augenblicke langüberlastet. In dieser Zeit sind mehrereSchüsse in Sektion …«

Abenwosch hörte nicht weiter zu. EineListe kleinerer Schäden interessierte ihnnicht. Für ihn zählte nur eins: Die Takererwaren besiegt. Die Juclas hatten den Siegdavongetragen. Sie hatten die verhasstenFeinde bis auf den letzten Mann ausgerottet.

Er löste seine verkrampften Hände, schüt-telte sie herzhaft und lehnte sich zurück.

Plötzlich schoss ihm eine Erkenntnisdurch den Kopf: Der Sieg über die Takererwar keinesfalls das einzig Wichtige. Er warder Abenwosch! Er war verantwortlich füralle Juclas des Ercourra-Clans.

Fast vierhundert unserer Schiffe sind ver-nichtet, hämmerte es nun unablässig hinterseiner Stirn. Fast vierhundert unserer Schif-fe sind vernichtet.

»Wie viele Schiffe sind noch voll einsatz-bereit?«

»345«, meldete Maliug. Sein Stellvertre-ter auf der TIA schien offenbar bei klareremVerstand zu sein als er selbst.

»Beschädigt?«, fragte Abenwosch knapp.»Kaum ein Dutzend.«Weil ein Jucla sich nicht besiegen lässt.

Weil ein beschädigtes Schiff immer noch füreine Kollision nutzbar ist. Und ein weitererGedanke: Weil der Kampf uns zu wildenKreaturen macht, die die Kontrolle über

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sich verlieren.Mehr als die Hälfte der Juclas des Ercour-

ra-Clans waren tot. Dieser Verlust konntekeinesfalls durch die Beute, die die ausge-glühten Wracks der feindlichen Einheitenboten, aufgewogen werden. Aber die Take-rer sind tot. Der Feind ist vernichtet!

Abenwosch erhob sich. »Maliug, du über-nimmst die Koordination. Kümmere dichdarum, dass sich die verbliebenen Schiffesammeln. Ich werde später zu den Überle-benden sprechen.« Ohne die Bestätigung ab-zuwarten, verließ er die Brücke.

Er wanderte durch die stillen Gänge derTIA. Szenen der Schlacht blitzten vor sei-nem inneren Auge auf:

Ein riesiger Takererraumer vergeht unterdem konzentrierten Feuer von acht Jucla-schiffen. Wenigstens hundert Feinde sterbenin einem einzigen Augenblick.

Die TIA ist getroffen. Abenwosch hat ei-ne Entscheidung zu fällen. »Wie stark ist derSchaden?« Von der Antwort hängt die Zu-kunft ab. Er bereitet alles vor, das Schiff aufKollisionskurs zu bringen.

Abenwosch spricht mit Kommandant Ja-rim von der KALAR. Plötzlich ist die Ver-bindung tot. Die KALAR besteht nur nochaus einer Trümmerwolke.

Die Meldung lässt auf sich warten. Aben-woschs Herz hämmert in mörderischer Ge-schwindigkeit. Er selbst gibt den Kurs ein,der eine Takerer-Einheit ins Verderben rei-ßen wird.

»Keine größeren Schäden. Waffen undSchutzschirme voll einsatzfähig.« – Aben-wosch ändert den Kurs, vergisst im Blut-rausch, was eben geschehen war … … ne-ben der TIA treibt das Wrack eines Ganja-senraumers. Ein Dutzend Rettungskapselnvergeht in einer Salve der Takerer.

Abenwosch erreichte sein Ziel, kehrte ge-danklich in die Gegenwart zurück. Schonauf dem Gang waren die Zerstörungen deut-lich zu erkennen. Maliug hatte gemeldet,dass es geringe Schäden gegeben hatte. Of-fenbar auch hier. Gerade hier.

Abenwosch stand vor einem Schott. Das

sonst glatte Metall wies nach außen gewand-te Ausbeulungen auf. Von innen musstengewaltige Kräfte eingewirkt haben. Er öffne-te, trat hindurch.

Keine nennenswerten Schäden, hatte esgeheißen. Für das Schiff mochte das gelten.Für Abenwosch nicht. Denn auch wenn inden letzten Stunden Tausende Juclas gestor-ben waren, so traf ihn dieser Anblick härterals alles andere.

In der engen Kabine lag der alte Olmon inseinem Blut. Der Boden neben ihm war auf-gebrochen, die Wände waren durchlöchert.Olmons Augen waren weit aufgerissen, docher nahm nichts mehr wahr. Die Pupillen wa-ren ins Unendliche erweitert. Ein gezacktesBruchstück zerfetzten Metalls ragte aus sei-ner Brust.

*

Abenwosch verließ die Kabine. Sein Ge-sicht war steinern. »Er war alt«, flüsterte ervor sich hin. »Er wäre sowieso bald gestor-ben.« Dann dachte er zurück. Früher war erdavon überzeugt gewesen, dass ein Jucla amEnde des dritten Lebensjahrzehnts seineExistenzberechtigung verlor.

Früher.Als man ihn noch nicht Abenwosch nann-

te. Als er nur Scytim gewesen war, der jun-ge, niemandem verantwortliche Sohn desKommandanten der TIA – Pelyr, der ein Op-fer der Machtkämpfe geworden war.

Es schien Abenwosch, als sei diese ZeitEwigkeiten entfernt. Dabei trug er die Lastseines Amtes erst so kurz. Waren es zweiTage? Oder schon drei? Während derSchlacht hatte er jegliches Zeitgefühl verlo-ren. Wenige Stunden, die die jugendlicheNaivität in ihm für immer ausgelöscht hat-ten. Er war zwölf Jahre alt, doch innerlichwar er älter geworden. Viel älter.

Wieder dachte er an seinen Vater. DasWenige, was dir an innerer Reife noch fehlt,wirst du bald erlangen, wenn du erst einmaldie Verantwortung übernommen hast. WieRecht er behalten hatte.

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Abenwosch-Pecayl 966. schloss die Au-gen. Noch eine weitere Stimme erklang inihm, die des alten Olmon … auch wenn unsnicht viel Lebenszeit zur Verfügung steht.Wir sprachen vor kurzem bereits darüber,dass man sich für manche Dinge Zeit neh-men sollte … Abenwosch ignorierte denWahlspruch der Juclas und nahm sich Zeitzu trauern.

*

Stunden später erreichte er seine Kabine.Er öffnete seinen Schrank und griff nach

einigen Folien. Er hatte sie aus dem persön-lichen Raum seines verstorbenen Vorgän-gers genommen, als sie im Ortungsschattender Sonne abgewartet hatten. Seine Hinter-lassenschaft. Die letzte Botschaft des Aben-wosch-Pecayl 965.

Abenwoschs Finger zitterten, als er zu le-sen begann. Wie anders diese Zeilen plötz-lich klangen. Als er sie zuletzt gelesen hatte,waren sie ihm wie Narretei erschienen, dassenile Gejammer eines unmündigen Greises.

Ich spüre es. Die Dunkelheit naht. DerTod eilt mit Riesenschritten herbei. Wennich mich niederlege, so fürchte ich, nie wie-der aufzustehen. Esse ich, habe ich Angst, eskönnte die letzte Mahlzeit sein. Sehe ich einNeugeborenes, denke ich an meine eigeneKindheit, die viel zu schnell vergangen ist.

Eine völlig neue Bedeutung blitzte zwi-schen diesen Zeilen auf. Und so las er wei-ter, las von Tod, Selbstzweifeln und Äng-sten. Von Hass und von der genetischen Be-stimmung des Volkes zu kämpfen.

Epilog 1:Nachricht

Eine Funknachricht riss Abenwosch ausder Lektüre. Maliug nahm Kontakt zu ihmauf. »Die Ganjasen sind nicht vollständiggeflohen. Nur ein einziger Kommandant istoffenbar kein Feigling.«

Abenwosch schwieg. Die zuletzt gelese-nen Zeilen hielten ihn nach wie vor in ihrem

Bann. Maliug würde schon sagen, was ermitzuteilen hatte.

»Dieser Kommandant sendet pausenloseine Nachricht. Er bittet, mit dem Anführerder unbekannten Cappinschiffe sprechen zudürfen.«

Abenwosch erhob sich, legte die Hinter-lassenschaft seines Vorgängers zurück inden Schrank. »Gibt es einen Grund, warumich Kontakt aufnehmen sollte?«

Maliug zögerte. »Es ist deine Entschei-dung, Abenwosch-Pecayl 966.«

»Aber ich frage dich. Was würdest dutun?«

»Ich würde mir anhören, was er zu sagenhat, und dann entscheiden, ob ich sein Schiffvernichte. Die Ganjasen sind nicht mehr un-sere Verbündeten. Die Takerer sind tot, dieVerhältnisse haben sich gewandelt.«

»Ich nehme das Gespräch an«, entschiedAbenwosch. »Wie lautet der Name desKommandanten?«

»Er nennt sich Atlan.«

Epilog 2:

Aus der letzten Aufzeichnung des Aben-wosch-Pecayl 965.

Hass und Tod umgeben mich selbst imAlter, in meinen letzten Lebenstagen. Es wä-re kühn, von Wochen oder gar Jahren zusprechen. Das Ende lässt nicht mehr langeauf sich warten, ich spüre es, ich weiß es.

Olmon, mein Freund, spricht immerzuvon Schönheit und von Wahrheit. Er ver-bringt seine verbliebene Zeit damit, sie zusuchen. Er hat Recht, aber er ist ein Träu-mer. Die Wirklichkeit wird auch ihn einesTages einholen. Er sagt, Leben sei lebens-wert, auch jetzt noch.

Aber was hat das Alter mir gebracht?Man kämpft schon um meine Nachfolge.Auch mein Sohn ist davon nicht ausgenom-men. Ich sehe die Anzeichen einer Rebelliongegen die genetische Herrscherlinie. Lakimwird der Leidtragende sein, denn er ist zuschwach, um einen Sturm zu überstehen. Ichhoffe nur, ich kann vor ihm sterben, um

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nicht vor seiner Leiche stehen zu müssen.Kampf. Immer wieder Kampf. Wenn wir

keine anderen Gegner haben, kämpfen wirmit unserem eigenen Volk, Jucla gegenJucla.

Ja, ich glaube, wenn am Ende der Zeitennur noch ein einziges Intelligenzwesen im

Universum existiert, wird es gegen sichselbst kämpfen, anstatt einfach nur zu leben.

ENDE

E N D E

Die Versammlungvon Hans Kneifel

Durch die Vernichtung des Pedopeilers MARKASCH sieht sich Atlan vorerst jeder Mög-lichkeit beraubt, in die Milchstraße zurückzukehren. Seine Einmischung in die kriegerischenAuseinandersetzungen innerhalb der Sombrero-Galaxis scheint unvermeidbar. Atlan benötigtnun dringend mehr Informationen.

Im Ercourra-Clan leckt man sich die Wunden, schließlich hat man über die Hälfte derSchiffe verloren. Von der Weichen stellenden Begegnung unseres Arkoniden mit deren Clan-Oberhaupt erzählt Altmeister Hans Kneifel.

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Infoblock "info": Lesermagazin

Diesmal ohne lange Vorrede gleich zum zweitenTeil unserer Betrachtung von Atlans literarischemWerdegang. Inzwischen sind wir im April des Jahres1981 angelangt … Mit dem Jubiläumsband 500 (DieSolaner von William Voltz) kehrt die ATLAN-Serienach ihrem Ausflug in die Fantasy wieder zur hartenScience Fiction zurück. Nachdem Atlan im Jahr 3588a. D. gemeinsam mit dem Kosmokratenroboter Lairedas Fernraumschiff BASIS verlassen hat, um als Aus-erwählter einen direkten Kontakt mit den Mächten hin-ter den Materiequellen aufzunehmen (PR-Band 982),bleibt er über 200 Jahre verschollen. Als er schließlichan Bord des legendären Hantelraumschiffs SOL auf-taucht, hat er jegliche Erinnerung an diese Zeit verlo-ren.

Der Zyklus »Die Abenteuer der SOL«, der dieHandlungsjahre 203 bis 220 NGZ umfasst, schildert inseinen ersten 100 Romanen zunächst den Kampf At-lans gegen die chaotischen Zustände an Bord desHantelraumschiffs sowie die Auseinandersetzung mitHIDDEN-X, einem Fragment der negativen Superin-telligenz Seth-Apophis. Die Hefte 600 bis 674 be-schreiben schließlich den Kampf gegen Anti-ES undAtlans Odyssee in der Namenlosen Zone. Die Expo-seredaktion liegt von Band 500 bis Band 509 bei Wil-liam Voltz, von Band 510 bis Band 532 bei MarianneSydow und ab Band 533 bei Peter Griese. Persönlichhabe ich diesen Zyklus noch in bester Erinnerung,weil er meinen eigenen Einstieg in die Serie markiert.

Im September 1984 erscheint ATLAN-Roman Nr.675 (Hexenkessel Alkordoom von Peter Griese) undmit ihm der erste Band des neuen Zyklus »Im Auftragder Kosmokraten«. Atlan wird dort aus seiner Rolleals Orakel von Krandhor gerissen, die er seit demJahr 3811 a. D. innehat und von den Kosmokraten indie Galaxis Alkordoom versetzt. Dort nimmt er denKampf gegen den abtrünnigen Mächtigen Vergalo undseine Helfer auf, die mit dem künstlich erschaffenenPsi-Wesen EVOLO an einer furchtbaren Waffe ba-steln.

Bis Heft 699 trägt Peter Griese die Verantwortungfür die Exposes, dann beginnt eine Zeit des stetigenWechsels. Von Band 700 bis Band 707 ist wieder Ma-rianne Sydow an der Reihe. Die Bände 708 bis 760teilen sich Sydow und Griese jeweils in Viererblöckenund ab Band 761 bildet Peter Griese ein Pärchen mitH. G. Ewers.

Mit Band 700 wird die Handlung zudem nach nur 25Heften von Alkordoom überraschend in die GalaxisManam-Turu verlagert; ab Band 750 (EVOLO von Pe-ter Griese) trägt die Serie auch einen neuen Untertitel.Statt »Im Auftrag der Kosmokraten« heißt es nun sch-licht »Das große SF-Abenteuer«. Atlan besiegt erstEVOLO und dann auch dessen Ableger, die dreiSchwarzen Sternenbrüder. Danach folgt der großeSchock für alle Fans: Mit Band 850 wird die ATLAN-Se-rie im Jahr 1988 eingestellt. Immerhin erscheint imOktober desselben Jahres noch ein PR-Taschenbuch(Am Rande des Universums), in dem ExposeautorPeter Griese einige jener Ideen verwendet, die er

nicht mehr in die ATLAN-Serie einbringen konnte.Zehn Jahre wird es still um Atlan, auch wenn er na-

türlich in den PERRY RHODAN-Heften nach wie voreine tragende Rolle spielt. Im Oktober 1998 ent-schließt sich der Verlag dann jedoch, eine so genann-te Miniserie zu starten. 12 Heftromane um den un-sterblichen Arkoniden – der »Traversan-Zyklus«. Dortwird Atlan in das Jahr 5772 v. Chr. verschlagen. Dadie entsprechende Zeitmaschine defekt ist, muss ernach Arkon vorstoßen, um die notwendigen Ersatztei-le für eine Reparatur zu besorgen. Der Zyklus wird eingroßer Erfolg und unter anderem auch in Buchformnachgedruckt.

Trotzdem dauert es weitere knapp fünf Jahre, bisman das Experiment wiederholt – diesmal von Beginnan mit der Absicht, bei ausreichenden Verkaufszahlenweitere Miniserien folgen zu lassen. Im Frühjahr 2003erscheint mit »Attentat auf Arkon« von Uwe Anton(der, unterstützt durch Rainer Castor, auch als Expo-seautor fungiert) das erste Heft des »Omega Centau-ri-Zyklus«. Die Handlung ist im Jahr 1225 NGZ ange-siedelt, das dem Jahr 4812 alter Zeitrechnung ent-spricht. Man nutzt damit die zeitlichen Lücken, diesich mit PR-Roman 1800 (Zeitraffer von Robert Feld-hoff) anbieten. Da auch Omega Centauri von den Le-sern angenommen wird, startet schon im Sommer2004 die nächste 12er-Staffel, diesmal unter dem Titel»Obsidian«. Die Handlung schließt direkt an den vor-angegangenen Minizyklus an; die Hefte erscheinenvierzehntäglich.

Von nun an geht man auch zur durchgehendenNummerierung über. Band 1 des Folgezyklus »DieLordrichter« trägt die Nummer 13. Auch die Handlungist praktisch längst eine fortlaufende (so spielen dieBände 1-50 allesamt innerhalb eines Handlungsjah-res), auch wenn die 12er-Zyklen beibehalten werden.Die nächsten drei Staffeln heißen Dunkelstern, Intra-welt (hier wechselt die Exposeredaktion von Uwe An-ton zu Michael Marcus Thurner) und Flammenstaub.Die neue ATLAN-Serie hat sich endgültig etabliert.

Ich hoffe, dieser kurze Abriss hat euch Spaß ge-macht und konnte einen groben Überblick über diewechselvolle Geschichte der Atlan-Publikationen ver-mitteln. Es ist schön, dass der alte Arkonide endlichwieder eine Heimat hat und dazu habt natürlich auchihr, die treuen Fans und Leser, beigetragen. Freuenwir uns also gemeinsam auf die Abenteuer, die dieZukunft für Atlan und seine Gefährten bereithält. Da-mit genug von mir; jetzt kommt ihr zu Wort.

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