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Bildungsbegriff 35 Transitiver, intransitiver und reflexiver Bildungsbegriff Werner Sesink Institut für Pädagogik. Technische Universität Darmstadt Pädagogisch gesehen geht es bei der Entwicklung eines Menschen immer um eine Entwicklung besonderer Qualität. Bezeichnet wird diese Qualität traditionell mit dem Begriff der Bildung. Die besondere Qualität, die mit dem Bildungsbegriff angesprochen wird, besteht darin, daß es um die Entwicklung eines Menschen in bezug auf seine Menschlichkeit gehen soll. Wenn wir versuchen zu bestimmen, was Bildung ist, kommt also das jeweilige menschliche Selbstverständnis ins Spiel: Worin sehen Menschen heute eigentlich ihre Menschlichkeit? Diese Frage kann niemand allein für sich beantworten. Denn menschliches Leben ist Zusammenleben; und die Sinnbestimmungen menschlicher Existenz müssen sich miteinander vermitteln. Was Menschsein bedeutet, ist abhängig von gesellschaftlicher Verständigung darüber, damit von Zeit und Ort, von kultureller Tradition und gesellschaftlicher Verfassung, vom Stand der Produktivkräfte und von der Reflexion auf dies alles. Es ist immer in Bewegung, vielfältig differenziert; auch in sich widersprüchlich. Daß man – was Techniker, Naturwissenschaftler, Mathematiker und Informatiker so oft als Verschwommenheit und Mangel an Präzision in der Pädagogik beklagen – den Bildungsbegriff nicht einfach definieren kann, liegt in der „Natur“ dieser „Sache“. Was Bildung ist, steht ständig zur Disposition; und eben dies noch ist Moment der Bildung: daß sie sich selbst bestimmt und deshalb nicht vorweg bestimmbar ist. Bildung ist nicht eine irgendwie von woanders – von Natur, gesellschaftlichen Institutionen oder Wissenschaft – her

Transitiver, intransitiver und reflexiver Bildungsbegriff · intransitive Begriff von Entwicklung. Für die intransitive Bedeutung von Entwicklung oder Bildung gibt es kein Verb

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Bildungsbegriff

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Transitiver, intransitiverund reflexiver Bildungsbegriff

Werner Sesink

Institut für Pädagogik.Technische Universität Darmstadt

Pädagogisch gesehen geht es bei der Entwicklung eines Menschenimmer um eine Entwicklung besonderer Qualität. Bezeichnet wirddiese Qualität traditionell mit dem Begriff der Bildung. Die besondereQualität, die mit dem Bildungsbegriff angesprochen wird, bestehtdarin, daß es um die Entwicklung eines Menschen in bezug auf seineMenschlichkeit gehen soll.

Wenn wir versuchen zu bestimmen, was Bildung ist, kommt also dasjeweilige menschliche Selbstverständnis ins Spiel: Worin sehenMenschen heute eigentlich ihre Menschlichkeit? Diese Frage kannniemand allein für sich beantworten. Denn menschliches Leben istZusammenleben; und die Sinnbestimmungen menschlicher Existenzmüssen sich miteinander vermitteln. Was Menschsein bedeutet, istabhängig von gesellschaftlicher Verständigung darüber, damit von Zeitund Ort, von kultureller Tradition und gesellschaftlicher Verfassung,vom Stand der Produktivkräfte und von der Reflexion auf dies alles. Esist immer in Bewegung, vielfältig differenziert; auch in sichwidersprüchlich. Daß man – was Techniker, Naturwissenschaftler,Mathematiker und Informatiker so oft als Verschwommenheit undMangel an Präzision in der Pädagogik beklagen – den Bildungsbegriffnicht einfach definieren kann, liegt in der „Natur“ dieser „Sache“. WasBildung ist, steht ständig zur Disposition; und eben dies noch istMoment der Bildung: daß sie sich selbst bestimmt und deshalb nichtvorweg bestimmbar ist. Bildung ist nicht eine irgendwie von woanders– von Natur, gesellschaftlichen Institutionen oder Wissenschaft – her

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bestimmte oder bestimmbare, sondern eine sich selbst bestimmendeEntwicklung.

Betrachten wir nun diesen Begriff genauer. Das dazugehörige Verbheißt bilden und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf einObjekt. Bildend ist eine Person, die eine andere Person bildet. Dasentspricht gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung,Erwachsenenbildung, Lehrerbildung usw. gesprochen wird, dann sinddamit normalerweise die Tätigkeiten von Personen gemeint, die alsBildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, angehendeLehrerInnen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner konsequentenFassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff.

Zu BildenderBildner

Gebildeter

bilden (transitiv)

gebildetwerden

Bildung

Abbildung 1: transitiver Bildungsbegriff

Aber es gibt auch eine andere Bedeutung von Bildung, worin Bildungintransitiv verstanden wird. Bildung meint dann eine Entwicklung auseigener Kraft. Auch das Wort Entwicklung hat ja dieseDoppeldeutigkeit, sowohl transitiv als auch intransitiv gemeint sein zukönnen. Ich kann etwas, zum Beispiel eine Schule, entwickeln. Indiesem Sinne wird heute viel von Schulentwicklung gesprochen. Dasist der transitive Begriff von Entwicklung. Und ich kann mich selbst

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entwickeln. Dann mache ich eine Entwicklung durch. Das ist derintransitive Begriff von Entwicklung. Für die intransitive Bedeutungvon Entwicklung oder Bildung gibt es kein Verb. Sie wird durch denZusatz der Reflexivform des Personalpronomens ausgedrückt: sichentwickeln, sich bilden.

Sich BildenderBildner

Gebildeter

Bildung ermöglichen,unterstützen

sich bilden(intransitiv)

Bildung

Abbildung 2: intransitiver Bildungsbegriff

Die intransitive Bedeutung von Bildung meint aber etwas anderes, alsdie Reflexivform unmittelbar ausdrückt. Sie verweist nämlich darauf,daß jene Trennung von Subjekt und Objekt der Bildung, wie sie auch inder Reflexivform noch ausgesprochen wird, nicht möglich ist, weil siedas Ganze dessen, was Bildung meint, nicht trifft, so wie es für dasVerb leben kein Objekt gibt in dem Sinne, daß ich einen anderenMenschen leben kann. Die reflexive Formulierung „Ich lebe mich“erschiene uns daher als eine absurde Formulierung. Vom intransitivenVerständnis des Begriffs Bildung wäre die Formulierung „Ich bildemich“ eigentlich ein ebenso abwegiger Ausdruck. Denn es meint, daßBildung ein spontanes, aus eigenem Antrieb und eigener Dynamik sichvollziehendes oder ereignendes Geschehen ist; eben wie das Lebenselbst, der es als Lebensäußerung zugehört wie das Atmen.

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Wir haben zwar keine andere Möglichkeit, die intransitive Bedeutungvon Bildung verbal auszudrücken als durch die Formulierung „sich bil-den“. Aber man sollte daran denken, daß diese reflexive oder selbstbe-zügliche Formulierung immer noch mißverständlich ist. Wir müssenuns Bildung in ihrer intransitiven Bedeutung als spontanes Geschehen,als Ereignis vorstellen.

Weil wir den intransitiven Bildungsbegriff nicht anders als in der Refle-xivform ausdrücken können, geht uns die Möglichkeit verloren, den re-flexiven Bildungsbegriff vom intransitiven Bildungsbegriffterminologisch abzusetzen. Es gibt zwei Möglichkeiten, den reflexivenBildungsbegriff zu bestimmen. Die erste Möglichkeit geht vomtransitiven Bildungsbegriff aus. Sie operiert entsprechend mit einerSpaltung in Subjekt und Objekt der Bildung. Bildung erscheint dann alseine Form von Selbst-bearbeitung. Ich würde es vorziehen, hierfür denmodernen Terminus der Selbstbezüglichkeit zu nehmen, der ja zu gernmit dem der Reflexivität verwechselt wird. Von Selbstbezüglichkeitwird zum Beispiel gesprochen, wenn ein Computerprogramm sichselbst aufruft. Denn dabei geht es ja eine Beziehung zu sich selbst ein.Und das – so behaupten manche – sei doch vergleichbar mit derReflexivität des Selbstbewußtseins, d.h. eines Bewußtseins, dasBewußtsein seiner selbst ist, also sich als Bewußtsein weiß.

Aber mit sich selbst etwas machen, zu sich selbst eine Beziehungaufzunehmen, macht noch keine Reflexivität aus. Ich kann mein Bildim Spiegel sehen, ohne mich zu erkennen. Ein äußerer Beobachter wirdsagen: Er sieht sich selbst; denn der Spiegel reflektiert sein Bild. Aberich schaue in den Spiegel und sehe möglicherweise jemand anderes. ZurReflexivität der Selbsterkenntnis gehört die Identifikation mit dem, wasich wahrnehme: Dies bin ich. Allein im Spiegel kann ich mich nichtselbst wahrnehmen; dazu muß das Spiegelbild in eine Beziehunggebracht werden zu dem, was ich in mir selbst spüre.

In Bezug auf die Reflexivität der Bildung heißt dies: Was ich in mirselbst spüre, ist die Spontaneität der Bildungsbewegung, ein

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ursprünglicher Drang nach Vermittlung. Dieser erfährt, wenn alles gutgeht, durch andere Menschen eine Resonanz. Und durch die Erfahrungdieser Resonanz wird einem Menschen eine Objektivierung seinerselbst und seiner Bildungsbewegung ermöglicht, durch die er sichbewußt zu sich, zu seiner Bildung verhalten kann.

Die sich bildende individuelle Vernunft nimmt die Spontaneität dereigenen Bildungsbewegung auf und bezieht sie auf die äußeren Bedin-gungen, auf die natürliche und soziale Welt. Sie bezieht sie daher auchauf die Einflüsse, die aus dieser Welt auf den einzelnen Menschen ein-wirken; insofern auch auf die von dort ausgehenden erzieherischen undbildenden Einflüsse. Die Vernunft vermittelt zwischen der spontanenBildungsbewegung, welche im intransitiven Bildungsbegriff gefaßtwird, und den bildenden Einflüssen von außen, welche im transitivenBildungsbegriff erfaßt werden. So wird Bildung reflexiv. Erst durchreflexive Vernunft wird Bildung sich selbst bestimmend.

Das Konzept der Programmierten Instruktion sieht die Computertech-nologie als Instrument ausschließlich intransitiv, nämlich technisch ver-standener Bildung vor. Doch ist dies ein Instrumentalismus der jeweilseingenommenen pädagogischen Haltung, nicht einer, welcher der Tech-nologie als solcher zwangsläufig innewohnte. Computertechnologiekann vielmehr eine ebenso große Bedeutung entfalten für dieintransitive Dimension von Bildung, wenn sie Räume eröffnet fürmenschliche Kreativität. Und schließlich bildet sie einen Spiegel, indem Menschen ihre eigenen Hervorbringungen im Prozeß ihrerEntwicklung distanzieren, betrachten, analysieren und bedenkenkönnen.

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