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DIE ZEITUNG DER SOZIALISTISCHEN JUGEND ÖSTERREICH. RECHTE HETZE UND IHRE FRÜCHTE Warum die FPÖ keine soziale Heimatpartei ist, son- dern eine Handlangerin der Reichen. Wohin rechte Hetze führen kann, schildert der Zeitzeuge, Freiheits- kämpfer und Überlebende des KZ Theresienstadt, Rudolf Gelbard. Ex-Bundesrat Konecny, Opfer eines Übergriffs nach dem WKR-Ball und der Blindheit der Polizei auf dem rechten Auge, spricht über die rechts- extreme Szene in Österreich. seite 4 LINKS IM DRUCK. Ausgabe 1/12 April 2012 www.sjoe.at Österreichische Post AG / Sponsoring.Post 02Z032957 S Der „Kony“-Schmäh Von blonden Kindern und fragwürdigen Schwarz-Weiß- Mustern. Schattenseiten der Internetkampagne „Kony 2012“ und die wahre Situation in Uganda. seite 24 ACTA ad ACTA Wie Pharmalobby und Unterhaltungs- industrie versuchen, der Ideenverbreitung und Freiheit im Internet den Riegel vorzuschieben. seite 28 Die nächste Krise steht vor der Tür Ganz Europa versinkt in Staatsschulden. Warum die Regierungen der EU-Staaten gerade auf den Abgrund zusteuern, der Fiskalpakt die Krise verschlimmert, und gerade alle den Gürtel enger schnallen - außer die Reichen. seite 14

Trotzdem 01/12

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Erste Ausgabe im Jahr 2012

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DIE ZEITUNG DER SOZIALISTISCHEN JUGEND ÖSTERREICH.

RECHTE HETZEUND IHRE FRÜCHTE

Warum die FPÖ keine soziale Heimatpartei ist, son-dern eine Handlangerin der Reichen. Wohin rechte Hetze führen kann, schildert der Zeitzeuge, Freiheits-kämpfer und Überlebende des KZ Theresienstadt, Rudolf Gelbard. Ex-Bundesrat Konecny, Opfer eines Übergriffs nach dem WKR-Ball und der Blindheit der Polizei auf dem rechten Auge, spricht über die rechts-extreme Szene in Österreich. seite 4

LINKS  IM  DRUCK.

Ausgabe 1/12April 2012

www.sjoe.at

Österreichische Post AG / Sponsoring.Post 02Z032957 S

Der „Kony“-SchmähVon blonden Kindern und fragwürdigen Schwarz-Weiß-Mustern. Schattenseiten der Internetkampagne „Kony 2012“ und die wahre Situation in Uganda.

seite 24

ACTA ad ACTAWie Pharmalobby und Unterhaltungs-

industrie versuchen, der Ideenverbreitung und Freiheit im Internet den Riegel vorzuschieben.

seite 28

Die nächste Krise steht vor der Tür

Ganz Europa versinkt in Staatsschulden. Warum die Regierungen der EU-Staaten

gerade auf den Abgrund zusteuern, der Fiskalpakt die Krise verschlimmert,

und gerade alle den Gürtel enger schnallen - außer die Reichen.

seite 14

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Kaum jemand konnte an der Inter-netkampagne „Kony 2012“ vorbei. Im 27-minütigen Video klärt ein weißer, guter US-amerikanischer Vater seinen süßen blonden Sohn über den bösen Kriegsverbrecher Kony auf, der im fernen Uganda abertausende Kinder verschleppt und entführt hat. Wenn ein 4-jäh-riger versteht, dass Kony ein Böse-wicht ist und gestoppt werden muss, dann müssen es alle ver-stehen. Stimmen Betroffener sind zweitrangig. Ebenso Ursachen des Kon!ikts und die Lebensum-stände der Bevölkerung vor Ort. Diese werden ausgeblendet. Ziel ist eine militärische Interventi-on der USA in Uganda – um das „Böse“ auszuradieren. Denn die Leute „da unten“ in Afrika sind ja

nicht fähig, den Karren selbst aus dem Dreck zu ziehen. Und schließ-lich muss den Bösewichten in der Welt der Garaus gemacht werden. Von einer selbsternannten Welt-polizei, die nur Gutes im Schilde führt. Es ist nicht nur erschüt-ternd, wie entmündigt und res-pektlos afrikanische Menschen im Video dargestellt werden – man spricht von ihnen stets in der dritten Person („our friend Jacob“). Als handle es sich dabei nicht um eigenständige Personen, sondern um „Hilfsprojekte“. Die Kamera "lmt möglichst nah das Gesicht dieser „Hilfsprojekte“, als handle es sich um Tiere im Zoo. All das verbunden mit dem Heili-genschein der „weißen HelferIn-nen“ – und dem Plädoyer für eine

militärische Aktion. Wer würde denn dieser zum Opfer fallen? Die Mitglieder der Kony-Armee? Sind das nicht genau jene Kinder, die von Kony entführt wurden? Ugan-da braucht keine Bomben und hat andere Probleme: Armut, Hunger, Krankheiten und fehlende Pers-pektiven. Wenn die Bewältigung dieser Missstände für westliche Nationen im Vordergrund stehen würde, wäre vielen eher geholfen. Denn Afrika wurde schon lange genug von einer aggressiveren Form des Paternalismus heimge-sucht: von Kolonialismus, Missio-nierung und Ausbeutung.

Die Trotzdem-Redaktion

Trotzdem 1/2012: Verlagspostamt: 1050 WienAufgabepostamt: 4020 Linz Zulassungsnummer: GZ 02Z032957 S

Herausgeberin: Sozialistische Jugend Österreich (SJÖ), Amtshausgasse 4, 1050 WienTel.: 01/523 41 23, Fax: 01/523 41 23-85, Mail: [email protected], Web: www.sjoe.atDVR: 0457582, ZVR: 130093029

Medieninhaberin: Trotzdem VerlagsgesmbH, Amtshaus-gasse 4, 1050 Wien. Geschäftsführerin: Sybilla kastner, Eigentümerin: SJÖ (100%), Tel.: 01/526 71 12, Fax: 01/526 71 12-85, Mail: [email protected]

Grundlegende Richtung: Das Trotzdem versteht sich als Medium zur Information von Mitgliedern, Funk-tionärInnen und SympathisantInnen der SJÖ. Das Trotzdem informiert über aktuelle politische Debatten und thema-tisiert jugend-relevante Ereignisse.

Chefredaktion: Boris Ginner, Wolfgang Moitzi

Lektorat: Boris Ginner

MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Nina Andree, Kilian Brandstätter, Bene-dikt Brunner, Mirza Buljubasic, Dorothee Dober, Anastasia Hammerschmied, Stefan Jagsch, Julia Jakob, Sybilla Kastner, Paul Majdzadeh-Ameli, Martin Oppenau-er, Louis Reumann, Daniel Riegler, Laura Schoch, Klaus Seltenheim, Leonie-Maria Tanczer, Irini Tzaferis

Produktion: NGL-Mediamondial, 3151 St. Georgen

Art Direktion, Grafik und Layout: Peter Rüpschl, [email protected] Grießler, [email protected]

Powered by: BMWFJ, gem. § 7 Abs. 2 B-JFG

02                                                  INHALT02                                                  INHALT

Inhalt

27 Minuten Gänsehaut

Editorial

Vorwort von Wolfgang Moitzi: Kämpfen lohnt sich!

Coverstory

FPÖ: Der Schmäh von der „sozialen Hei-matpartei“

Gegen Rechts: Rechte Lügen aufdecken

Interview mit Zeitzeuge Rudolf Gelbard: „In einer Salamitaktik ist das alles immer ärger geworden“

Interview mit Ex-Bundesrat Albrecht Konecny: „Wissen über den Nationalsozi-alismus wach halten!“

Innenpolitik

ÖBB-Diskussion: Privilegien"ktion und Halbwahrheiten

Wahlaltersenkung: „Wählen mit 16“ – eine Erfolgsstory!

Volksbegehren: Her mit dem Zaster – und deiner Unterschrift für ein gerechtes Steuersystem

Schwerpunkt

Interview mit Ökonom Jürgen Leibiger: „Die nächste Krise wird vorbereitet“

Krise/EU: Fiskalpakt – Ausweg oder neoliberaler Irrweg?

Buch/Film/Musik

Buch: Barbara Blaha & Sylvia Kuba – „Das Ende der Krawattenp!icht“

Film: David Wnendt – Die Kriegerin

Musik: Accept – Stalingrad

Pro / Contra

Was tun mit den Staatsschulden?

Internationales

Frankreich: „Kein Heilsbringer, aber ein Schritt in eine bessere Richtung“

Handyproduktion: Das blutige Geschäft mit den Handys

Überproduktion: „We eat the world“

“Kony 2012”: Seinen Kopf!

Frauen

Schönheit: Ich habe heute leider kein Foto für dich!

Gesellschaft

Netzpolitik: ACTA for made by Dummies

Kalender

Was war - Was kommt

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IMPRESSUM

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EDITORIAL              03EDITORIAL              03

n welcher Welt leben wir, wenn es kriminell ist, einen Zeitungsartikel weiterzu-

verwenden, es aber legal ist, ohne Vorliegen einer Begründung die Pri-vatsphäre von Millionen Menschen zu stören und das digitale Grundrecht des Datenschutzes zu beseitigen? In welcher Welt leben wir, wenn es kriminell ist, wichtige Forschungs-ergebnisse weiterzugeben, es aber legal ist, Produkte mit einer absicht-lich verkürzten Lebensdauer auf den Markt zu bringen?

In einer Welt, die viele ablehnen!

Denn vor wenigen Wochen gingen in ganz Europa Hunderttausende – vor-wiegend junge – Menschen auf die Straße, um gegen grenzenlose Über-wachung im Internet und die Krimi-nalisierung von Millionen Userinnen und Usern zu protestieren. Wenn jemand kriminell ist, weil er oder sie Medikamente kostengünstig in die Dritte Welt bringt, dann bin ich gerne kriminell. Dann wird kriminell sein zur P!icht jedes solidarischen Men-schen. Wir wissen aber, was wirklich kriminell ist: Die Vorenthaltung von Information. Unterbundene Weiter-verbreitung von Ideen. Die Bremsung des Fortschritts. Die Abschaffung des Datenschutzes. Die Gängelung des Internets und damit die weitere Einschränkung der Demokratie. Der Schutz der Pro"te weniger zulasten der Interessen und Bedürfnisse und oft sogar Lebenschancen der Mehr-heit.

ACTA, TRIPS, IPRED

Diese drei Initiativen haben unter-schiedliche Kürzel, aber ein und dieselbe Zielrichtung. Unter dem Deckmantel des Urheberrechts- oder Patentschutzes soll die Ideenverbrei-tung, der Austausch von Forschungs-ergebnissen und die freie Meinungs-äußerung im Internet erschwert werden. All das dient einzig und allein den Interessen der Großkon-zerne. Nicht die KünstlerInnen oder AutorInnen werden durch ACTA

geschützt, sondern die Großindustrie im Hintergrund. Die Medienverlage, die Unterhaltungsbranche und die Pharmalobby sind es, die hinter der Kulisse mit den Regierungen diesen Pakt ausgehandelt haben. Warum wohl - weil es ihre Interessen sind, die auf Kosten der Gemeinschaft gesi-chert werden sollen.

Aber der Widerstand hat sich gelohnt!

Auch in Österreich setzten zehntau-sende Jugendliche ein Zeichen für ein freies Internet. Das zeigt: Wenn wir viele sind, können wir einiges schaffen! Wir haben es geschafft, die Rati"zierung dieses Verwertungs-rechtabkommens zu stoppen. Wir Jungen haben im Internet protes-tiert und sind auf die Straße gegan-gen. Daher hatte und hat die Debatte rund um ACTA auch etwas Positives: Viele Jugendliche wurden politisiert

und sind gemeinsam für ihre politi-schen Interessen eingetreten. Jene Generation, von der gesagt wird, sie sei politikverdrossen und uninteres-

siert, hat sich organisiert, zusammen-geschlossen, gemeinsam gekämpft - und gewonnen.

Wenn Geld machtlos wird

Gegen den organisierten Kampf unzähliger Menschen für ein gemein-sames Ziel sind die Pharmalobby, die Unterhaltungsindustrie und Soft-

warekonzerne machtlos. Wenn Men-schenmassen auf der Straße ihre Rechte einfordern, nützt kein Geld der Welt. Das zeigt uns, dass alles veränderbar ist. Auch unser System und die Wirtschaftsordnung, die im Kern nichts anderes als die Diktatur einer reichen Minderheit über die überwältigende Mehrheit ist. Dieses ungerechte System ist von Menschen gemacht und kann daher auch von Menschen verändert werden. Denn der Kampf gegen Pro"tlogik und Marktwirtschaft im Internet muss auch mit dem Kampf für ein men-schenorientiertes Wirtschaftssystem einher gehen. Die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt müssen wieder mehr zählen als die Gewinne einzelner Großkonzerne und weniger Superreicher.

Vorwort von Wolfgang Moitzi

Kämpfen lohnt sich!In welcher Welt leben wir denn, wenn es kriminell ist, ein MP3 downzuloaden, es aber legal ist, aufgrund des Urheberrechtsschut-zes kostengünstige Medikamente zu verhindern und damit den Tod tausender Menschen in armen Ländern in Kauf zu nehmen?

Wolfgang MoitziVerbandsvorsitzender der SJÖ

Immer weniger Junge wollen sich den Mund verbieten lassen.

IAber der Widerstand

hat sich gelohnt! Auch in Österreich setzten zehn-

tausende Jugendliche ein Zeichen für ein freies

Internet.

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Während Strache dafür kämpft, dass Reiche auch weiterhin keine höheren Steuern zahlen müssen, sind ihm die Lebensum-stände der arbeitenden

Bevölkerung und die Zukunftschancen der Jungen herzlich egal.

Vermögenssteuer:…würde die Reichsten der Reichen zur Kasse bitten. Sie ist eine auf

das Vermögen, also das bewertbare Eigentum der Steuerpflichtigen,

erhobene Steuer. In Österreich wurde sie 1993

abgeschafft. Generell ist der Anteil vermögens-

bezogener Steuern (z.B. Kapitalverkehrssteuern, Grunderwerbssteuern,

Grundsteuer, Erbschafts- und Schenkungssteuer)

am BIP in Österreich sehr gering und zwischen 1980

und 2005 von 1,1 auf 0,5 Prozent zurückgegangen. Im EU-Durchschnitt ist er

mit 2,1 Prozent deutlich höher.

Flat Tax:…ist ein einheitlicher Steuersatz. Alle Einkom-men werden mit dem gleichen Steuersatz (z.B. 20 Prozent) besteuert. Dies führt dazu, dass höhere Einkommen deutlich weniger zahlen müssen als bisher und der Staat weniger Einnahmen verbucht. Eine typische Folge wären wiederum Kürzungen im Sozial- oder Bildungsbereich.

04                    COVERSTORY04                    COVERSTORY

FPÖ

ie FPÖ vertritt keinesfalls die Interessen der Arbei-terInnen, der Frauen, der

Familien, der Jugendlichen oder der Arbeitslosen. Einige Jahre FPÖ in der Regierung (2000-2006) haben das eindeutig bewiesen. Die laut Selbstbezeichnung „sozi-ale Heimatpartei“ sieht sich gerne als Expertin in Arbeitsmarkt- und Sozialfragen und als Vertrete-rin der armen österreichischen Familie. In Wirklichkeit ist die FPÖ aber Expertin darin Vorurteile zu schüren, Rassismus zu fördern und schlecht zu reimen. Was sie wirklich vertritt, sind die Interes-sen der Wirtschaft.

Was die FPÖ will?

Das Programm der FPÖ spricht eine deutliche Sprache: Die wirt-schaftspolitischen Forderungen belasten (vor allem weibliche) ArbeiterInnen und Arbeitslose und entsprechen den Interes-sen der Wirtschaftstreibenden. Betriebe sollen nicht entnomme-ne Gewinne nicht versteuern müs-sen. Es soll keine Vermögensteuer, dafür aber eine „Flat Tax“ einge-

führt werden und der Spitzensteu-ersatz soll gesenkt werden. Wer pro"tiert davon? Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung, denen ohnehin bereits 70 Prozent des Vermögens gehört. Wer verliert? All jene, die auf staatliche Leis-tungen angewiesen sind – also vor allem ärmere und Mittelschicht-Haushalte.

Gleichzeitig fordert die FPÖ, dass Monatseinkommen bis 1.000 Euro nicht mehr sozialversiche-rungsp!ichtig sind, indem die Geringfügigkeitsgrenze ange-hoben wird. Die Auswirkungen: Mehrere hunderttausend Men-schen verlieren den Anspruch auf Arbeitslosengeld, eine Pension und vor allem auf die Leistungen aus der Krankenversicherung. Diese Menschen müssten sich auf eigene Kosten selbst versichern. Nach Ansicht der FPÖ sollen vor allem „Leistungsbereite“ für Zusatzeinkommen von den Sozi-alversicherungsbeträgen befreit werden. Die Tatsache, dass es aber leider unzählige Menschen gibt, deren einziges Einkommen den monatlichen Betrag von 1.000 Euro nicht übersteigt, scheint in der Welt der „sozialen Heimatpar-tei“ nicht zu existieren.

Wer pro"tiert von dieser Rege-lung? Die Unternehmen, die für Einkommen bis zur Geringfü-gigkeit weniger an Sozialversi-cherungsbeiträgen zu entrich-ten hätten. Wer verliert? All jene Beschäftigte, die unter 1.000 Euro monatlich verdienen. Ein klassi-sches Beispiel dafür, dass die FPÖ vor allem ein Interesse hat:

Sozialabbau!

Einerseits ist die FPÖ verantwort-lich für die schärfste Verschlech-terung im Pensionssystem, die in der Zweiten Republik beschlossen wurde. Die Pensionskürzungsre-form 2003 kann folgendermaßen

zusammengefasst werden: Län-ger arbeiten, weniger Pension. Eine Verschlechterung, die vor allem die heute jungen Menschen trifft. Andererseits zeigte die FPÖ auch im Lehrlings- und Schulbe-reich ihr wahres Gesicht: Die Pro-bezeit der Lehrlinge wurde ver-längert, die Behaltefrist gekürzt. Zusätzlich dazu verlängerten die Blauen die Nachtarbeitszeit für Lehrlinge im Gastgewerbe. Gegen die explodierende Jugendarbeits-losigkeit rührte die FPÖ keinen Finger. Und auch den Kürzungen im Schulwesen stimmten die Frei-heitlichen zu. Doch anstatt diesen Irrweg zu kritisieren, träumen die

Blauen von weiteren Verschlech-terungen, etwa einer Kürzung der Familienbeihilfe für „undiszipli-nierte“ Jugendliche oder härtere Strafen für SchülerInnen.

Wolf im Schafspelz

Wenn sie erst an den Futtertrö-gen der Macht sitzt, sind der FPÖ Jugendliche und ArbeiterInnen herzlich egal. Wichtig zu wissen: In dieser Zeit war HC Strache schon stellvertretender Parteichef der FPÖ. Bei den Blauen handelt es sich nicht um VolksvertreterIn-nen, sondern um Volks- und vor allem JugendverräterInnen.

Irini Tzaferis

Der Schmäh von der „sozialen Heimatpartei“

Am liebsten präsentiert sich Straches FPÖ als Partei der “kleinen Leute”. Die Blauen rüh-men sich, die Sorgen der Menschen zu kennen und sich gegen die „Großen da oben“ zur Wehr zu setzen. Aber wie es halt mit der FPÖ so ist: Alles bloß Schall und Rauch.

Strache ist nichts ande-res als eine nützliche Handpuppe für jene,

die hinter ihm stehen, z.B. Industrielle und

Burschenschafter.

Andererseits zeigte die FPÖ auch im Lehr-lings- und Schulbereich ihr wahres Gesicht: Die Probezeit der Lehrlinge wurde verlän-

gert, die Behaltefrist gekürzt. Zusätzlich dazu verlängerten die Blauen die Nacht-

arbeitszeit für Lehrlinge im Gastgewerbe.

D

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Lüge 1: „Hitler hat wenigs- tens die Arbeitslosigkeit besiegt“

1933 gab es in Deutschland 6 Mio. Erwerbslose und die Zahl sank- aber vor allem aufgrund der Kriegsproduktion. Setzt man das Sinken der Arbeitslosigkeit in Relation zu den explodierenden Rüstungsausgaben (1932/33: 7,5 Prozent der Staatsausgaben, 1938/39: 60 Prozent), wirkt dieser „Erfolg“ nicht besonders berauschend. Nach dem Zusam-menbruch des NS-Regimes wurden die Ersparnisse der Deutschen herangezogen, um die Staatsschulden zu zahlen. Nicht zu vergessen: ArbeiterIn-nen wurden stark eingeschränkt – so wurden das Streikrecht oder die freie Wahl des Arbeitsmarkts verboten.

Lüge 2: „AusländerInnen nutzen unser Sozialsystem aus und kosten soviel Geld“

Das Gegenteil ist der Fall: Zuge-wanderte zahlen deutlich mehr an den Staat, als sie von ihm erhalten und "nanzieren somit „unsere“ Sozialleistungen mit. In Summe zahlen sie jährlich 1,5 Milliarden Euro mehr ein, als sie in Anspruch nehmen1. Die überwiegende Mehrheit der hier lebenden Menschen ohne öster-reichische Staatsbürgerschaft gehört zu jenen Altersgruppen, die während ihrer gesamten

restlichen Lebenszeit mehr in den öffentlichen Sektor einbe-zahlen, als sie daraus beziehen werden. Noch dazu bekommen sie weniger Sozialleistungen: » Bei Familienleistungen sind „AusländerInnen“ erst nach 5 Jahren ÖsterreicherInnen gleichgestellt. Unterhaltsvor-

schuss bekommen nur öster-reichische Kinder.

» Viele Zugewanderte haben keine oder nur sehr geringe Pensionsansprüche.

» Viele Leistungen (z.B. Wohn-beihilfe) bekommen Zugewan-derte erst nach mehrjährigem Aufenthalt

» Erschwerten Zugang haben Zugewanderte auch zur Sozialhilfe, höherer Bildung, Schul- und Studienbeihilfen

Lüge 3: „Ein rumänischer Pensionist, der in Rumänien lebt, erhält vom österreichi- schen Staat monatlich 720 Euro Ausgleichszulage, ohne jemals hier gearbeitet zu haben.“

Das ist völlig falsch. Für die Aus-gleichszulage muss nicht nur der rechtmäßige Aufenthalt in Öster-reich nachgewiesen werden, der/die Pensionist/in muss auch in Österreich gearbeitet (mindes-tens 15 Jahre) und das Pensions-antrittsalter erreicht haben (65 bei Männern, 60 bei Frauen). twick-lung neuer Finanzierungsfor-men für das Pensionssystem und um die Au!ösung und Richtigstellung alter und fal-scher Mythen!

Lüge 4: „AusländerInnen holen kranke Verwandte nach Österreich und lassen sie hier auf Kosten der Steuerzahlenden im Spital operieren.“

Angehörige sind nur mitversi-chert, wenn sie ihren gewöhn-lichen Aufenthalt in Österreich haben, sie müssen sich also län-gere Zeit hier aufhalten. Eine Spitalsbehandlung ohne akuten Anlass für Menschen, die nicht in Österreich leben, ist also nicht möglich. Notfälle werden selbst-verständlich behandelt, diese Behandlungen werden über eine Pauschalverrechnung mit dem jeweiligen Land abgegolten.

Lüge 5: „AusländerInnen stehlen E-Cards, mit denen sie sich Medikamente oder eine Behandlung beim Arzt erschleichen und so das System schädigen.“

Missbrauch kann nie zu 100% ausgeschlossen werden. Das Innenministerium kann für das Jahr 2010 aber nur von 4 Fällen berichten, in denen mit gestohle-nen Karten Leistungen aus dem Gesundheitssystem erschlichen wurden.

Lüge 6: „Die slowakische Betreuerin einer Bekannten kassiert für ihre zwei Kinder monatlich 350 Euro Familien- beihilfe, obwohl die Kinder bei der Großmutter in der Slowakei wohnen und auch dort zur Schule gehen.“

Für den Bezug der Familienbei-hilfe muss sich der Lebensmit-telpunkt der Eltern in Österreich be"nden und deren Kind(er) muss(müssen) mit ihnen zusam-men in einem Haushalt leben. Ausländische StaatsbürgerInnen (auch EU) müssen den Nachweis über den rechtmäßigen Aufent-halt laut Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz erbringen.

Nina Andree

Zugewanderte zahlen deutlich mehr an den Staat, als sie von ihm erhalten und finanzie-

ren somit „unsere“ Sozialleistungen mit.

1) AK Salzburg: Zuwan-derung, Sozialstaat und Arbeitsmarkt, Daten von 2009, S. 11.

COVERSTORY              05COVERSTORY              05

Rechte Lügen aufdeckenTagtäglich bekommen wir rechte Lügen aufgetischt – ob am Stammtisch, in der Zeitung oder in der Schule. Grund genug, diesem Ge!unker die Wahrheit gegenüberzustellen.

Gegen Rechts

Ausgleichszulage:...soll PensionistInnen mit Aufenthalt in Österreich ein Mindesteinkommen

sichern. Diese Zusatzzah-lung der Pensionsversiche-rung wird dann ausbezahlt, wenn die Pension geringer ist als der sogenannte Aus-

gleichszulagenrichtsatz, der jedes Jahr neu bestimmt

wird und derzeit 814,82 Euro beträgt.

Kein Wunder, dass die Armutsgefähr-dung unter Zuge-wanderten mehr als doppelt so hoch als unter Österreiche-rInnen ist. Sie müssen Jobs verrichten wie Altenpflege, Reinigungsarbeiten oder „am Bau“ und leisten damit harte und wichtige Arbeit, die obendrein mies bezahlt wird.

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KZ Theresienstadt:Im tschechischen Terezín wurde 1940 ein Gestapo-

Gefängnis und 1941 ein Sammel- und Durchgangs-

lager für Transporte der jüdischen Bevölkerung Böhmens und Mährens

in die Vernichtungslager nach Polen errichtet.

Von den rund 144.000 Inhaftierten starb etwa

ein Viertel an den entsetz-lichen Lebensumständen,

der Großteil wurde in andere Vernichtungslager

(Auschwitz) deportiert. Am 8. Mai 1945 wurde Terezín von der Roten

Armee befreit.

Interview

elbard war eines der wenigen Kinder, die das KZ Theresienstadt

überlebten. Als 11-jähriger wurde er deportiert, 1945 kehr-te er nach Wien zurück. Seine Erlebnisse werden im Doku-mentar"lm „Der Mann auf dem Balkon“ (2007) und im Buch „Die dunklen Seiten des Plane-ten. Rudi Gelbard, der Kämpfer“ (2008) geschildert.

TROTZDEM: Lieber Rudi. 67 Jahre nach Ende der Nazidik-tatur schwingen rechtsextreme Burschenschafter immer noch ihr Tanzbein in der Hofburg. Laut Umfragen liegt Österreich in Sachen Rassismus innerhalb der EU an der Spitze. Die FPÖ ist in Umfragen auf dem Sprung zur Nummer 1. Wie fühlt man sich da, wenn man die Gräuel des Nationalsozialismus miter-lebt hat?

Gelbard: Es ist mir wichtig, zuerst die wichtigsten Verbre-chen der Nazis aufzuzählen, damit wir wissen, wovon wir überhaupt reden. Erstens: Zwei Drittel der euro-

päischen Jüdinnen und Juden wurden ermordet – aus 24 verschiedenen Ländern. Von Norwegen bis zu den einsams-ten Inseln Griechenlands. Dar-unter eineinhalb Millionen

Babys, Kinder und Jugendliche – ermordet durch die Einsatz-gruppen A, B, C, D, die gleich nachgestoßen sind, nachdem die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion eingedrungen ist. In kürzester Zeit wurden dabei über eine Million Men-schen ermordet. Sie mussten das aber beenden, weil – so makaber die Gründe sind – es ihnen zu langsam ging und die Munition zuviel gekostet hat. Dann sind sie auf die Idee mit den Gasautos gekommen. Dabei wurden ca. 91.000 Men-schen ermordet. Das mussten sie dann beenden, weil die Menschen in ihrer Angst diese

Gaswagen beschmutzt haben. Durch einen Zufall ist dann der stellvertretende Kommandeur von Auschwitz, Hauptsturm-führer Fritzsch, auf die Idee gekommen, Baracken abzu-dichten und darin mit Zyklon B Vergasungen durchzufüh-ren. Es gab ja sechs Men-schen-Vernichtungsfabriken:

Der Lagerkomplex Auschwitz 2 (Birkenau), Auschwitz 1 und Auschwitz 3, wo sich die Indus-trie deppert verdient hat. Zum Beispiel die I.G. Farben, deren Generaldirektor Fritz ter Meer dort Pro"te rausgeschunden hat. Nach dem Krieg war er übrigens wieder Generaldirek-tor – von der Firma Bayer, da hat er einfach weiter Gewinne maximiert. Zu nennen sind noch Majdanek-Lublin, Treblinka, Sobibor, Kulmhof und Belzec.

Zweitens: Das Verbrechen an hunderttausenden Romas und Sinti. Das dritte Verbrechen war die Euthanasie. Hundert-tausende „nichtjüdische“ Geis-teskranke, etwa Taubstumme,

„In einer Salamitaktik ist das alles immer ärger geworden“

Der Zeitzeuge und aktive Freiheitskämpfer Rudi Gelbard sprach mit TROTZDEM über die Gräuel des Faschismus, die extreme Rechte heute, die antifaschistischen Kämpfe in der Nachkriegszeit und über freigesprochene NS-Massenmörder, die im Blumenmeer den Gerichtssaal verließen.

Ich war fast drei Jahre in Theresienstadt. Wenn man diese Verbrechen kennt, kann man es kaum glauben, dass es möglich ist, dass in Deutschland

zwischen 1990 und 2010 insgesamt 186 unschuldi-ge Menschen durch Neonazis getötet wurden.

06                      COVERSTORY06                      COVERSTORY

Zyklon B:Das Schädlingsbekämp-fungsmittel mit dem Wirkstoff Blausäure wurde zwischen 1942 und 1944 vor allem im Ver-nichtungslager Auschwitz in großem Umfang zum Massenmord benutzt.

I.G. Farben / Fritz ter Meer:Größtes deutsches Chemieunternehmen, das sich schon 1933 an einem Wahlfonds Industrieller an die NSDAP beteiligte. Während des Zweiten Weltkrieges bauten die I.G. Farben unter Fritz ter Meer ein Werk bei Auschwitz, in dem zur Substanzprüfung Menschenversuche statt-fanden und rund 25.000 ZwangsarbeiterInnen unter grausigen Umstän-den den Tod fanden.

Foto: www.sxc.hu, guby

I.G. Farbenwerk in Auschwitz-Monowitz um 1943.

G

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wurden hingerichtet. Viertens: Die grauenhaften medizini-schen Versuche. Eigentlich fast unbekannt ist das fünfte Ver-brechen: die Germanisierung, Eindeutschung. In Polen wurden ca. 20.000 Kinder zur Germani-sierung weggenommen, wenn sie blond und blauäugig waren. Dann natürlich das Verbrechen an den Homosexuellen, an den Zeugen Jehovas, die den Wehr-dienst verweigert haben, oder an vielen, vor allem polnischen, Priestern. Neuntens: Das Verbre-chen an den vielen politischen Gegnerinnen und Gegnern.

Ich war fast drei Jahre in The-resienstadt. Wenn man diese Verbrechen kennt, kann man es kaum glauben, dass es mög-lich ist, dass in Deutschland zwischen 1990 und 2010 ins-gesamt 186 unschuldige Men-schen durch Neonazis getötet wurden. Und da red ich jetzt nicht von den zehn, die dieser gerade erst aufgedeckten Neo-nazi-Mordgruppe zum Opfer "elen. Für uns ist das besonders erschütternd.

TROTZDEM: Du hast das Novemberpogrom 1938 in Wien miterlebt. Was kannst du uns über die damals herrschende Stimmung erzählen?

Gelbart: Schon im März, beim Anschluss, hat sich innerhalb von 20 Minuten die Stimmung total verändert. Bei jenen, die

man auf der Straße gesehen hat, ist eine unvorstellbare Eupho-rie ausgebrochen. Wir wurden angespuckt, die Leute haben uns Tritte gegeben. Die Kru-ckenkreuze des Austrofaschis-mus wurden abgebürstet, im Möbelgeschäft mussten Jüdin-nen und Juden bis zur Erschöp-fung Kniebeugen machen. Ich weiß ja nicht, wie viele Leute in der Wohnung hinter den Vor-hängen gestanden sind und sich gedacht haben: „Schrecklich –

aber was soll ich machen!?“. In der Diktatur Widerstand zu leisten, ist großartig – man soll-te es tun, aber es ist nicht ein-fach. Auffallend war, dass zum Beispiel die Prostituierten weit menschlicher zu uns waren als die bürgerlichen Nazifrauen. Möglicherweise weil sie auch Außenseiterinnen waren in der Gesellschaft. Es gab noch wei-tere Ausnahmen, zum Beispiel ein Schutzbündler oder zwei alte Monarchistinnen, die uns geholfen haben. Gelegentlich ist es schon vorgekommen, dass mir zum Beispiel wer in einem Haustor eine Schokolade gege-ben hat. Aber die Atmosphäre war schlagartig ganz anders: Rund 30.000 sind sofort in die KZs gekommen, vor allem nach Dachau. Wir durften in kein Kino, in kein Theater, es gab Ausgangssperren, nicht einmal Kanarienvögel durfte man haben. Dann der Juden-stern; in den Dokumenten ist das große J reingeschrieben worden. In einer Salamitaktik ist das alles immer ärger gewor-den. Im „Stürmer“, der ja sehr pornographisch war, wurden jüdische Männer dargestellt, wie sie die blonde, blauäugige, junge, arische Mädchen schän-den. Man kann sich diese Ver-hetzung nicht vorstellen.

TROTZDEM: Rudi, du warst auch nach dem Zweiten Welt-krieg jahrelang im antifaschis-tischen Widerstand aktiv. Wie sind die Auseinandersetzungen mit Nazis nach dem Fall Nazi-deutschlands weiter gegangen?

Gelbard: Schon ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1946, wurde bei einer Vorle-sung auf der Wiener Universität Beifall geklatscht, als von Pog-romen die Rede war. Oder 1948 die Gründung des „Schutzver-bands der Rückstellungsbetrof-fenen“ im Hotel Wimberger. Den haben wir gesprengt. Oder 1955 die Versammlung des rechten VdU und seinem Gründer Fritz Stüber unter dem provokan-ten Titel „Hungerrenten und die jüdischen Forderungen an Österreich“. Bei der „Schiller-Feier“ 1959 ist das rechte Wien zum ersten Mal wieder auf die Straße gegangen, vor allem die Verbindungen: Teutonia, Ger-mania, Gothia und – immer die härteste: die Olympia. Dann gab es in den 1950er Jahren auch den „Bund heimattreuer Jugend“ mit dem Kürzel BHJ, eine rechtsextreme Plattform unter dem Deckmantel des Frei-

heitsdichters Schiller. Da hat es eine große Überschneidung mit der FPÖ gegeben. Sicher sehr einprägende Momente waren die letzten Märztage 1965. Auf der ehemaligen Uni-versität für Welthandel (heutige Wirtschaftsuniversität, Anm. d. Red.) sorgte Taras Boroda-jkewycz, Professor für Wirt-schaftsgeschichte, mit seinen immer wieder angebrachten antisemitischen Einlagen für Gelächter und Beifall bei den Rechten, aber er entfachte Pro-test bei den demokratischen

Jungen. Am 31. März kam es in den Straßen der hinteren Stadt zu den schwersten Schlägerei-en. Dabei wurde der ehemalige KZ-Häftling Ernst Kirchweger vom Neonazi Günther Kümel, Mitglied der freiheitlichen Jugend, totgeschlagen. Der Ring freiheitlicher Studierender hat ja damals fast ein Drittel der Stimmen an der Universität gehabt. Auch in den frühen 1970ern ist es immer wieder zu Schlägereien an der Universi-tätsrampe gekommen. Darüber hinaus war ich auch bei den Protestdemonstrationen gegen die Freisprüche bei den Kriegsverbrecherprozessen dabei. Der Gebietskommandant von Wilna, Franz Murer, dessen Sohn dann auch Staatssekretär der FPÖ war, wurde freigespro-chen und hat in einem Blumen-meer den Gerichtssaal in Graz verlassen – das muss man sich ja einmal vorstellen. Oder der SS-Hauptsturmführer Novak, der als Transportof"zier im Eichmann-Kommando für die Deportation der Jüdinnen und Juden zuständig war. Also wir waren ununterbrochen unter-wegs damals. Auch die jüngeren Naziprozesse zu Küssel oder Schimanek hab ich mir ange-schaut. Das ist schon etwas Trauriges und Bedenkliches, wenn man das als Zeitzeuge erlebt. Und da red ich ja noch gar nicht von den rechtsextre-men Zeitschriften wie die Aula oder „Zur Zeit“, etwa Artikel von Gaskammerleugnern.

Rudolf Gelbard (geb. 4. Dezember 1930) setzt sich seit 1945 als Mitglied der Sozialdemokratischen FreiheitskämpferInnen

für die Aufklärung über die NS-Verbrechen ein.

Wien nach dem Anschluss an Nazi-Deutschland 1938: Zur Erniedrigung müssen Jüdinnen und Juden mit Bürsten die Straße reinigen. Plünderungen jüdischer Geschäfte, brennende Synagogen, Gewaltexzesse gegen die jüdische Bevölkerung, Verhaftungen und Depor-tation in die KZs folgten.

COVERSTORY              07COVERSTORY              07

Ohne Geld kein Hitler. Der Aufstieg der

NSDAP ist untrennbar mit finanziellen Spen-den von Industriellen und anderen Geldge-

bern wie der I.G. Farben oder des Stahlbarons Thyssen verbunden.

Neonazi-Mordgruppe:Vergangenen November wurde ein Neonazi-Trio

verhaftet, das 10 Jahre lang mordend durch Deutsch-

land zog. Die Terrorzelle aus Zwickau (Thüringen)

verfügte über beste Verbindungen in den Ver-

fassungsschutz und beging mindestens 10 Morde – an

6 Türken, 2 Deutschtürken, einen Griechen und einer

Polizistin.

Verband der Unabhängigen: Vorgängerpartei der FPÖ

Olympia:…ist eine deutschnationale Burschenschaft mit engen Verbindungen zum Rechtsext-remismus. In den 1960er Jahren war sie in Bombenanschläge in Südtirol verwickelt. Erst 2003 lud Olympia den Nazi-Lieder-macher Michael Müller zum „Nationalen Liederabend“ ein. Dabei wurden Lieder mit Text-stellen wie „Mit 6 Millionen Juden da fängt der Spaß erst an…“, (!) gesungen. Prominen-tes Olympia-Mitglied ist der 3. FPÖ-Nationalratspräsident Martin Graf.

Schutzverband der Rückstellungsbetroffenen:Nach 1945 sollten zumin-dest Teile des arisierten jüdischen Vermögens wieder zurückerstattet werden. Dagegen setzte sich dieser Verein zur Wehr. Die ProfiteurInnen der Enteignung und Arisie-rung während der NS-Zeit behaupteten gar, das jüdi-sche Vermögen sei „redlich erworben“ worden.

Page 8: Trotzdem 01/12

TROTZDEM: Braune Flecken hat es ja auch in der Sozialdemokratie gege-ben. Was sagst du zur Rolle der SPÖ punkto Vergangenheitsbewältigung?

Gelbart: Die SPÖ ist manches Mal ein schwacher Damm, aber sie ist ein Damm gegen den Faschismus. Ich habe immer zu jenen gehört, die dem besonders antifaschistischen Flügel angehört haben. Wir müssen anerkennen, dass Vranitzky 1986

die Koalition mit der rechten Hai-der-FPÖ aufgekündigt hat und die SPÖ seither auf diese zweite Option, also einer Regierung mit den Blau-en, verzichtet. Die Lehre, die uns die Genossen Hindels oder Blau mitge-geben haben, war schon, innerhalb der Partei – natürlich kritisch – zu agieren. Jene, die sich abgespalten haben, sind letzten Endes im politi-schen Niemandsland geblieben.

TROTZDEM: Eine Parallele zu den 1930er Jahren ist doch, dass rechtspopulistische Parteien und durchaus faschistische Kräfte Pro-!t aus einer Wirtschaftskrise ziehen können.

Gelbart: Natürlich arbeiten die Frei-heitlichen – wie es auch früher war – mit vereinfachenden Parolen und mit – oft antisemitischen – Ver-schwörungstheorien. Sicher gibt es

Probleme, die offen ausgesprochen gehören. Aber mit Verhetzung ist nichts lösbar.

Das Interview führteBoris Ginner

Die volle Version !ndest du auf unserer Homepage www.sjoe.at!

08                      COVERSTORY08                      COVERSTORY

„Wissen über den National- sozialismus wach halten!“

Der sozialdemokratische Ex-Bundesrat Albrecht Konecny wurde am 27. Jänner, dem Abend des WKR-Balls, von einem Rechtsextremen zusammengeschlagen. Im Gespräch mit TROTZDEM schildert Konecny den Übergriff, spricht über die rechte Szene in Österreich und zeigt auf, wie dagegen vorgegangen werden kann.

Interview

Albrecht Konecny beim Interview mit den TROTZDEM-

Redakteuren.

TROTZDEM: Lieber Albrecht, könntest du kurz schildern, wie es zu dem Vorfall bei der Demonstration gegen den WKR-Ball kam und was dir widerfah-ren ist?

Konecny: Ich bin mit dem ersten Demonstrationszug von der Uni-

versität zum Hrdlicka-Denkmal marschiert. Nach einiger Zeit bei dieser Veranstaltung wärmte ich mich in einem Café auf, um von dort anschließend heimzugehen. Da großräumig Absperrungen errichtet wurden, versuchte ich mein Glück in der Dorotheer-gasse, wo ebenfalls bereits eine

kleine Gruppe von Polizisten aufgestellt war, jedoch wollte ich es nichtsdestoweniger bei den Beamten probieren. Ca. zwölf Meter davor wurde ich von einem schätzungsweise 30-jährigen Mann mit einem Schlagring mit hakenkreuz-ähnlicher Gravur attackiert und

WKR-Ball: Der Ball des Wiener

Korporationsrings gilt als festliche Zusammen-

kunft rechtsextremer und deutschnationaler

Studentenverbindungen und findet jährlich in der

Hofburg statt.

Albrecht Konecnyunmittelbar nach dem Übergriff am 27. Jänner

Page 9: Trotzdem 01/12

bekam einen Hieb ins Gesicht und in die Brust, wodurch ich zu Boden ging. Ein Mädchen hat

für mich die Rettung verständigt, nachdem sie von den Polizisten eine Absage bekommen hat, mit der Begründung, dass deren Netz überlastet sei. Daraufhin kam ein Rettungsfahrzeug und brachte mich ins Krankenhaus.

TROTZDEM: Wurde der Täter gefasst?

Konecny: Nach detaillierter Beschreibung meinerseits wur-den mir zwei mögliche Verdäch-tige vorgeführt, die es jedoch nicht waren. Ich habe mir hau-fenweise Bilder von möglichen Tätern auf Polizeicomputern ansehen müssen, jedoch lei-der vergebens. Möglicherweise wird er bei erneuten Übergriffen geschnappt und dann meinen Beschreibungen zufolge zuge-ordnet.

TROTZDEM: Gibt es ein Verfah-ren gegen die Polizisten?

Konecny: Natürlich wurden diese Polizisten festgestellt - es gibt ja so etwas wie Einsatzpläne. Wie sich die Polizisten verantwortet haben, weiß ich nicht. Aber die Polizei hat ihren Ermittlungsbe-

richt schon vor einiger Zeit an die Staatsanwaltschaft geschickt. Getan hat sich bisher nichts, also wird es eine Anfrage an die Jus-tizministerin geben.

TROTZDEM: Du bist das berühmteste Opfer rechtsext-remer Gewalt in Österreich der jüngeren Vergangenheit. Wie schätzt du die rechte Szene und ihr Aggressionspotential ein?

Konecny: Es gibt die alten Hard-core-Nazis, die aus dem „Bund heimattreuer Jugend“ kommen. Diese sind nun entweder tot, abgetaucht oder wie Gottfried Küssel in der Szene eine gro-ße Nummer. Natürlich gibt es noch Restbestände an schlagen-den Verbindungen, die jedoch einen Bruchteil des damaligen Bestandes darstellen. Früher konnte der „Ring freiheitlicher Studenten“ 3.000 Menschen für Demonstrationen mobilisieren. Dagegen sind die 800 Ballbesu-cherInnen ein „Lercherl“. Heute hat sich das Potential eher auf das subproletarische Milieu verschoben. Diese Verwendung des Begriffs „Proletariat“ tut mir weh, aber es sind nun mal oft gescheiterte Existenzen der ArbeiterInnenschicht.

TROTZDEM: Wie soll man gera-de als SozialdemokratIn dem Rechtsextremismus begegnen?

Konecny: Es gibt nicht den einen Ansatz. Man muss das Wis-sen über den Nationalsozialis-mus wach halten. Sei es durch Denkmäler, Schulbildung und

Vorträge. Es ist eine schwierige Aufgabe, da es nicht nur die eine Stoßrichtung geben kann. Eine andere Möglichkeit, wie es bei-spielsweise beim Rapid-Fanclub funktioniert hat, war das gezielte Hineingehen in die Szene, durch Isolierung Einzelner und viel Zuwendung. Weiters sollte man auf politischer Ebene den Men-schen wieder eine gesellschaft-liche und existenzielle Sicher-heit bieten. Zum Beispiel durch umfangreiches Angebot an Jobs für Jugendliche.

TROTZDEM: Politischer Arm des heimischen Rechtsextremismus ist die FPÖ, die in Umfragen fast auf Platz 1 liegt. Wie sollte die Sozialdemokratie gegen den Aufstieg der Rechten aktiv wer-den? Blüht uns eine neue blau-schwarze Koalition?

Konecny: Kurz gesagt: Die ÖVP würde keinen Zweitversuch als einheitliche Partei überleben, da eine starke Persönlichkeit, wie Schüssel es war, auf Bun-desebene fehlt. Dieser wurde als Magier bezeichnet, weil er trotz Wahlverlust Bundeskanzler wer-den konnte.

TROTZDEM: Der WKR-Ball !n-det unter anderem Namen auch im Jahr 2013 in der Hofburg statt. Wirst du wieder aktiv dabei sein?

Konecny: Natürlich!

TROTZDEM: Und wie wirst du in Zukunft persönlich gegen Rechtsextremismus auftreten?

Konecny: Ich werde ein wenig schreiben und Referate halten. Aber ich werde mich nicht mehr prügeln, also von mir aus. (lacht)

Das Interview führten Daniel Riegler und

Paul Majdzadeh-Ameli

Das beste Mittel gegen Rechtsextremismus: Den Menschen auf politischer Ebene wieder

eine gesellschaftliche und existenzielle Sicher-heit bieten.Zum Beispiel durch umfangreiches

Angebot an Jobs für Jugendliche.

COVERSTORY              09COVERSTORY              09

Erfolgreiche Proteste gegen

tanzende Nazis in der Hofburg: Auf dem Heldenplatz wurde eine große

Gegenkundgebung abgehalten und mit einer Sitzblockade in der Herrengasse

gelang es, anreisen-de Ballgäste an der

Weiterfahrt zu hin-dern. Die Eröffnung des Balls verzögerte

sich.

Foto: www.sxc.hu, hdabed

Ring Freiheitlicher Studenten:

Die FPÖ-Studierenden-organisation wurde 1952 vom deutschnationalen

Terroristen Norbert Burger gegründet

und blieb bis 1974 die zweitstärkste Fraktion in der Österreichischen

HochschülerInnenschaft (ÖH). Heute hält der RFS in der Bundesvertretung

nur noch 1 Mandat.

Gottfried KüsselDer Rechtsextremist

und Holocaustleugner ist eine Schlüsselfigur

in der österreichi-schen und deutschen Neonaziszene. In den

1980er Jahren gründete er die rechtsextreme

Vereinigung VAPO, die u. a. Wehrsportübungen abhielt, an denen auch FPÖ-Obmann Strache teilgenommen haben soll. Der schon 1992

wegen Wiederbetäti-gung inhaftierte beken-nende Nationalsozialist

wurde im April 2011 erneut wegen Verhet-

zung und Verstoß gegen das Verbotsgesetz

verhaftet. Hintergrund waren Verbindungen zur Neonazi-Website „Alpen-Donau.info“.

Webtipp: Doku „Wahr-heit macht frei“: http://

www.youtube.com/watch?v=k69ccfmofXg

Page 10: Trotzdem 01/12

ie Ursache hierfür ist wohl in der Bildung der ersten ÖVP-FPÖ/BZÖ-

Bundesregierung vor über zehn Jahren zu suchen. Erstmals hielt damals ein bisher in Österreich noch nicht gekannter Neolibe-ralismus in der Politik Einzug. Die Privatisierung staatlichen Eigentums um jeden Preis (u. a. Austria Tabak, Post und BUWOG) waren damals Pro-gramm, um einmalig ein „Null-de"zit“ zu erreichen.

Anfang des Übels: Bundesbahn- strukturreformgesetz 2003

Vor diesem Hintergrund ist auch das von ÖVP und FPÖ beschlos-sene und völlig misslungene Bundesbahnstrukturgesetz 2003 (ÖBB-Reform) zu analy-sieren. Es diente mit seiner Zer-schlagung der ÖBB in einzelne Firmen wohl nichts anderem als der Vorbereitung einer Privati-sierung von zumindest Teilen der ÖBB. Unter dem Deckmantel der entfachten Privilegiendebat-

te wurden gesetzliche Eingriffe in das Dienstrecht der de"nitiv gestellten EisenbahnerInnen von Regierungsseite gefordert, um beim Personal zu sparen und die Personalvertretung zu schwächen.

Diese Forderungen wurden von der ÖVP bis heute immer

wieder aufs Neue erhoben. Die Hetzte gegen die ÖBB und die EisenbahnerInnen hat in den letzten Jahren teilweise noch an Intensität zugenommen - auch vor der bewussten Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen wird

nicht mehr zurückgeschreckt. Politische Bestrebungen, die Bahn so lange schlecht zu reden, bis sie für die Privatisierung sturmreif ist, sind offensichtlich.

Attacken auf die EisenbahnerInnen

Ein Beispiel ist der Versuch, den ÖBB-Beschäftigten die alleinige Verantwortung für das Anstei-gen der staatlichen Zuschüsse für die Bahn in die Schuhe zuzu-schieben. Dabei haben gerade die EisenbahnerInnen mit Ein-satz zur Erhöhung der Produk-tivität beigetragen und den von den ÖBB zuletzt angestrebten Sanierungskurs unterstützt.

Seitens der ÖVP wurden auch die mit Infrastrukturinves-titionen der ÖBB verbundenen rund 2 Milliarden Euro pro Jahr für die Konjunkturpakete kriti-siert. Aber gerade in Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 waren die staatlichen Investitionen in den Bahnausbau für die Wirtschaft

Privilegienfiktion und Halbwahrheiten

In der öffentlichen Diskussion um die ÖBB versuchen ÖVP, BZÖ und FPÖ seit mindestens einem Jahrzehnt, die ArbeitnehmerInnenvertretung der EisenbahnerInnen und angebliche Privilegien der ÖBB-Beschäftigten für den Bedarf an staatlichen Zuschüssen an das Unternehmen verant-wortlich zu machen. Mediale Verunglimpfung und öffentliches an den Pranger stellen der Eisen-bahnerInnen gipfeln immer wieder in einem regelrechten ÖBB-Bashing.

Die ÖBB sind die zweitpünktlichste Bahn Europas und haben 2011 einen

Rekordwert an Kun-dinnen und Kunden verzeichnet. Da die Bundesbahnen eine gemeinwirtschaft-liche Verpflichtung

erfüllen, sind sie nicht bloß anhand der

Gegenüberstellung von Gewinn und Ver-lust zu messen. Durch

die WESTbahn ist im Personenverkehr

ein gewinnorien-tierter Konkurrent hinzugekommen,

der sich jedoch nur die lukrative Strecke

Salzburg-Wien geschnappt hat.

Die Hetze gegen die ÖBB und die EisenbahnerInnen hat in den letzten Jahren teilweise noch an Inten-sität zugenommen - auch

vor der bewussten Verbrei-tung von Halbwahrheiten und Lügen wird nicht mehr

zurückgeschreckt.

ÖBB-Diskussion

10              INNENPOLITIK10              INNENPOLITIK

D definitiv gestellt:Unkündbares Arbeitsverhältnis

ASVG:Allgemeines Sozial-

versicherungsgesetz

Nulldefizit:…der Marketinggag des FPÖ/ÖVP-Finanzminis-ters Grasser zielte auf einen Gleichstand von Einnahmen und Ausga-ben. Zur einmaligen Errei-chung des Nulldefizits wurde Staatsvermögen (meist unter seinem Wert) verscherbelt, um schnell Geld in die Staatskasse zu schaffen. Dass der kurzfristige Profit einen langfristigen Verzicht auf Einnahmequellen bedeutet und dem Staat schadet, wurde bewusst in Kauf genommen.

BUWOG: Die „Bauen und Wohnen

GmbH“ ist ein österreichi-sches Wohnungsunter-

nehmen, das im Jahr 2002 auf Drängen des dama-

ligen Finanzministers Grasser privatisiert wurde. Wie 2007 bekannt wurde,

ging diese Privatisierung mit illegalen Absprachen, Provisionszahlungen und Untreue einher, wodurch

die Republik Österreich um bis zu 1 Mrd. Euro

geschädigt wurde.

Page 11: Trotzdem 01/12

und die Arbeitsplätze nicht wegzu-denken. Der Bund haftet als Eigen-tümer für die ÖBB, die für die Infra-strukturinvestitionen neue Kredite aufnehmen musste. Es ist logisch, dass dadurch auch die Schulden des Unternehmens angestiegen sind - zudem wurde dieses Programm auch von der ÖVP als Koalitionspartner in der Regierung mitbeschlossen.

Pensionslügen

Weitere Absurditäten wurden von ÖVP-AkteurInnen unter dem Titel „Reformen“ in Form von gezielt über die Medien verbreiteten Halb-wahrheiten über das Pensions- und Dienstrecht der EisenbahnerInnen

gestreut. Wahr ist vielmehr: Seit 1993 wurde das Dienst- und Arbeits-recht bei den ÖBB permanent dem Angestelltengesetz angenähert – natürlich unter Berücksichtigung der eisenbahnspezi"schen Notwen-digkeiten. So gilt seit 1996 für alle neu ins Unternehmen eingetretenen EisenbahnerInnen das ASVG und dessen Kündigungsregelungen gel-ten für diese wie für alle Angestell-ten in der gesamten österreichischen Arbeitswelt auch.

Betriebliche Pensionierungen

Bei den ÖBB-Pensionierungen muss klar zwischen „durch das Unterneh-men und Management in die Pensi-on genötigt“ und „freiwillig aufgrund

des gesetzlichen Anspruchs in Pen-sion gegangen“ unterschieden wer-den. Schließlich besteht laut Bun-desbahnpensionsgesetz (BBPG) die Möglichkeit, dass nicht mehr vom Unternehmen benötigte Eisenbah-nerInnen praktisch unabhängig von Alter und Dienstjahren „frühpensio-niert“ werden können.

Derartige Pensionierungen wer-den gerne aus parteipolitischen Zwecken hochgespielt. Aber Fakt ist, nicht alle ÖBB-MitarbeiterInnen freuen sich, wenn sie mit 53 Jahren oder jünger in Pension geschickt werden. Von den Möglichkeiten im BBPG wurde in den Regierungs-jahren der ÖVP-FPÖ-BZÖ-Koalition exzessiv Gebrauch gemacht. Tausen-de nicht mehr benötigte Beschäftig-te wurden aus Einsparungsgründen pensioniert. Seit 2004 (allgemeine Pensionsreform unter Schwarz-Blau) unterliegen die Eisenbahne-rInnen dem Pensionsgesetz wie alle anderen ASVG-Versicherten auch. Zudem wurde das frühmöglichste Pensionsantrittsalter der Eisenbah-nerInnen auf 61,5 Lebensjahre und 42 Dienstjahre angehoben. Die vol-le Pension in der Höhe von 83 Pro-zent des Aktivbezugs ist in Zukunft erst nach einer Gesamtdienstzeit von 45 Jahren zu erreichen, also im Alter von 63 Lebensjahren. Bei vor-zeitigem Pensionsantritt wirkt die Abschlagsregelung in der Höhe vom minus 15 Prozent.

Privilegienirrglaube

EisenbahnerInnen müssen auch Pensionssicherungsbeiträge bezah-len, die zuletzt auf bis zu 5,8 Prozent für Aktive und PensionistInnen (gilt auch für Witwenpensionen) ange-hoben wurden. Die Pensionssiche-rungsbeiträge sind auch höher als jene der BundesbeamtInnen. Mit anderen Worten bedeutet das, dass die EisenbahnerInnen in Summe einen um 5,8 Prozent höheren Pen-sionsbeitrag als die ASVG-Versicher-ten leisten müssen. Auch die de"nitiv gestellten ÖBB-Beschäftigten müs-sen – obwohl sie einen Kündigungs-schutz besitzen – den Arbeitslosen-versicherungsbeitrag in der Höhe von 3 Prozent entrichten und erhal-ten keine Abfertigung.

Summiert man die obigen Fak-ten, so bleibt unterm Strich von den viel zitierten Privilegien nichts übrig außer vielen dazu verbreiteten Halbwahrheiten und Unwahrheiten. Vielmehr ist festzuhalten: Wer heute von Privilegien der EisenbahnerIn-nen spricht, verdient sich den Titel „MärchenerzählerIn“.

Roman HebenstreitÖBB-Konzernbetriebsratsvorsitzender

vida-Gewerkschafter

Die SJ Sankt Pölten setzte am Haupt-bahnhof ein klares Zeichen gegen die Bahnliberalisierung.

FALSCH: Die ÖBB-Beschäftigen haben Privilegien.WAHR: Seit 1996 sind neu eintreten-de ÖBB-Beschäftigte den ArbeiterIn-nen und Angstellten in der Privatwirt-schaft gleichgestellt. Seit damals gibt es auch keine Pragmatisierung mehr.

FALSCH: Die ÖBB beschäftigen zu viel Personal.WAHR: In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der ÖBB-MitarbeiterInnen von 68.000 auf 42.000 reduziert worden. In derselben Zeit stieg die Zahl der Fahr-gäste auf 447 Millionen pro Jahr.

FALSCH: EisenbahnerInnen gehen mit 50 Jahren in Pension.WAHR: Seit 1996 gelten für alle neu eintretenden EisenbahnerInnen die Pensionsregelungen des ASVG, also die gleichen wie für ArbeiterInnen und Angestellte in der Privatwirtschaft. Das Pensionsrecht, das für jene ÖBB-BeamtInnen gilt, die vor 1995 bei der Bahn begonnen haben, wurde in den letzten 15 Jahren vier Mal reformiert. Das Pensionsalter wurde an jenes der BeamtInnen angeglichen. Eisenbahne-rInnen können künftig frühestens mit 61,5 Jahren in Pension gehen. Aber nur, wenn sie 42 Jahre gearbeitet haben.

FALSCH: EisenbahnerInnen arbeiten kürzer.WAHR: ÖBB-Beschäftigte haben eine 40-Stunden-Woche. In der Pri-vatwirtschaft gilt mittlerweile in den meisten Bereichen eine 38,5-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit.

FALSCH: EisenbahnerInnen kassieren für alles hohe Zulagen.WAHR: Natürlich gibt es für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit Zuschläge, genauso wie in der Privatwirtschaft. Diese Zuschläge liegen allerdings durch-schnittlich um ein Drittel unter jenen der Beschäftigten in der Privatwirtschaft.

FALSCH: EisenbahnerInnen bekom-men alle eine Abfertigung!WAHR: Leider Nein. Alle sogenann-ten „pragmatisierten“ MitarbeiterIn-nen bekommen keine Abfertigung. Diese erhalten alle Neueintretenden wie im ASVG auch.

FALSCH: EisenbahnerInnen dürfen nicht versetzt werden.WAHR: Für ÖBB-MitarbeiterInnen gelten dieselben Spielregeln wie für Beschäftigte in der Privatwirtschaft.

FALSCH: EisenbahnerInnen zahlen keine Arbeitslosenversicherung.WAHR: Alle EisenbahnerInnen zahlen gleich hohe Beiträge in die Arbeitslo-senversicherung ein wie Beschäftigte in der Privatwirtschaft.

FALSCH: Die ÖBB-Pensionen belas-ten das Budget der Republik.WAHR: Die meisten ÖBB-Beschäftig-ten zahlen wesentlich höhere Pensions-beiträge als Versicherte in der Privat-wirtschaft. Die ÖBB-PensionistInnen müssen von der Pension außerdem einen Pensionssicherungsbeitrag bezah-len. Die Pension wird nicht, wie sonst üblich, von der Sozialversicherung, sondern direkt von den ÖBB bezahlt.

FALSCH: Die ÖBB verschleudern Steuergeld.WAHR: Heute zum Glück nicht mehr. Aber zwischen 2000 und 2006 war das wirklich so. In dieser Zeit haben von der schwarz-blauen Koalition politisch eingesetzte ÖBB-Manager hunderte Millionen Euro an der Börse verzockt. Seit 2003 gab es auch mehr „Führungs-kräfte“ als je zuvor. Das alles hat der Bahn eine falsche Politik eingebrockt.

FALSCH: Die ÖBB müssen privati-siert werden.WAHR: Ein Verkauf der ÖBB bedeu-tet das Ende für die Bahn der Österrei-cherInnen. Überall dort, wo die Bahn an private Investoren verkauft wurde, ging das zu Lasten der BahnkundInnen und deren Sicherheit. Unterm Strich kostet ein Ausverkauf der Bahn uns SteuerzahlerInnen unendlich viel mehr als er bringt. Auch der Verkauf der ÖBB-Kraftwerke käme Steuerzah-lerInnen und KundInnen teuer, weil die ÖBB dann kostenintensiv Strom zukaufen müssten.

FALSCH: Die Gewerkschaft regiert die ÖBB.WAHR: Gerade diejenigen, die das behaupten haben in ungekannter Art und Weise die ÖBB zu ihrem „Privilegienstadl“ gemacht. Zwischen 2000 und 2006 wurden haufenweise Manager, Berater und Experten poli-tisch motiviert in die ÖBB gedrückt. Resultat: Mehr „Häuptlinge“, Millio-nengagen, Bonuszahlungen - und ein Debakel nach dem anderen.

FALSCH: Bei den ÖBB gibt es zu viele freigestellte BetriebsrätInnen.WAHR: Die Anzahl der BetriebsrätIn-nen bei den ÖBB entspricht selbstver-ständlich vollständig dem Arbeitsver-fassungsgesetz.

FALSCH: Die ÖBB sind ein Fass ohne Boden.WAHR: Nirgendwo in der Privat-wirtschaft macht der Eigentümer sein Unternehmen und seine Beschäftigten öffentlich so schlecht, wie manche PolitikerInnen die ÖBB. Über 447 Millionen Fahrgäste benützen jährlich die Bahn. Österreich braucht die Bahn, mehr als je zuvor.

Dichtung und Wahrheit über die ÖBB und ihre MitarbeiterInnen.

INNENPOLITIK              11INNENPOLITIK              11

Wer heute von Privilegi-en der EisenbahnerInnen spricht, verdient sich den

Titel „MärchenerzählerIn“.

Roman Hebenstreit ÖBB-Konzernbetriebsratsvorsitzender

vida-Gewerkschafter

Page 12: Trotzdem 01/12

12              INNENPOLITIK12              INNENPOLITIK

Wahlaltersenkung

or 10 Jahren durften im Burgenland erst-mals 16-jährige über die

Zusammensetzung der Gemeinde-räte mitentscheiden. Im Gespräch mit TROTZDEM schildert der damalige SJ-Landesvorsitzende des Burgenlands, Fritz Radels-päck, die Entwicklung von „W16“.

Fritz: „Ausgehend von einer Ini-tiative der SJ Niederösterreich, beschlossen wir im Burgenland eine massive Kampagne zu star-ten, um das Thema der Wahlal-tersenkung zu forcieren. Dank der SPÖ-Mehrheit im Burgenland hatten wir es etwas leichter die-ses Thema zu positionieren und darauf hin zu arbeiten. Trotz-dem wehte uns nicht nur von Seiten der JVP, welche nicht nur im Burgenland sondern bundes-weit zu diesem Zeitpunkt ener-gisch gegen die Wahlaltersen-kung auftrat, sondern auch aus den Reihen der SPÖ Skepsis und Ablehnung entgegen. Am Rande einer Landesvorstandsklausur der SJ Burgenland gelang uns, Landeshauptmann Niessl mit Pro-Argumenten zu überzeu-gen. Danach wurde das Thema auch von der SPÖ übernommen. Während wir als SJ Burgenland mit der Informationskampagne die Schulen des Landes abklap-perten und „Probewahlen“ bei den Jugendlichen durchführten, begann der SPÖ-Klub Burgen-land das Thema für den Land-tag aufzubereiten. Schließlich gelang es, dass „Wählen mit 16“ auf Gemeindeebene im Burgen-land möglich wird.

TROTZDEM: Wie war die politi-sche Positionierung zur Wahl-altersenkung seitens anderer Parteien und Jugendorganisati-onen?

Fritz: Neben der SPÖ waren auch die Grünen und die Medienver-treterInnen des Landes bei die-sem gesellschaftspolitischen Thema sofort „mit im Boot“. Während die FPÖ Burgenland sich relativ wankelmütig dar-stellte und lediglich kolportierte, dass die Jugendlichen das nicht interessieren würde, schoss die JVP damals aus allen Rohren gegen die Wahlaltersenkung. Wenn ich heute daran denke, muss ich noch schmunzeln. Es ist für mich unbegrei! ich, wie man als Jugendorganisation mit der Begründung der „Unreife Jugendlicher“ gegen einen der-artigen demokratiepolitischen

Fortschritt sein konnte. Heute will die JVP die Wahlaltersen-kung als „ihre Er" ndung“ dar-stellen. Faktum ist aber, dass die-ses Thema vom SJ-Verbandstag bereits im Jahr 1986 in Antrags-form an die Bundes-SPÖ heran-getragen und die Umsetzung gefordert wurde.

TROTZDEM: Was waren die Aus-wirkungen der Umsetzung von „Wählen mit 16“ im Burgenland?

Fritz: Die SkeptikerInnen wur-den durch den Urnengang bei den burgenländischen Kommu-nalwahlen im Jahr 2002 eines Besseren belehrt. Weder blieben die Jugendliche der Wahl fern, noch wählten sie überproportio-nal anders als die Erwachsenen und bewiesen nicht, wie von der ÖVP unterstellt, irgendeine Art von „Unreife“. Das Gegenteil war der Fall. Die Parteien mussten feststellen, dass Jugendliche ab 16 Jahren nicht nur im Sinne des Gesetzes strafmündig sind, sondern dass sie sehr wohl auch demokratisch mündig sind. Die Bundespolitik musste weiters erkennen, dass von der jun-gen WählerInnenschaft keine „Gefahr“ ausgeht, sondern dass diese am Meinungsbildungspro-

zess und bei Wahlen zu beteili-gen ist. Immerhin geht es um die Zukunft Österreichs, und wer ist die Zukunft, wenn nicht die heu-tige Jugend?

Das Interview führte Kilian Brandstätter,

SJ-Landesvorsitzender im Burgenland

„Wählen mit 16“ – eine Erfolgsstory!

Eine langjährige Forderung der Sozialistischen Jugend ist heute zur bundesweiten Normalität geworden. Begonnen hat die Umsetzung der Wahlaltersenkung im Burgenland.

„Wählen mit 16“ in Österreich

Seit 2007 dürfen StaatsbürgerInnen in Österreich schon mit 16 (statt wie früher mit 18) Jahren wählen. Auch bei Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragun-gen sind 16-jährige stimmberechtigt. Das passive Wahlalter wurde auf 18 Jahre gesenkt (früher 19). Die Wahlaltersen-kung gilt auch auf Landes- und Gemeindeebene, wobei „Wählen mit 16“ auf diesen Ebenen in einzelnen Bundes-ländern wie dem Burgenland bereits vor 2007 ermöglicht wurde.

Damit ist Österreich in Europa der erste Staat, in dem man schon im Alter von 16 Jahren wählen darf. „Wählen mit 16“ ist auch in Brasilien, Kuba und Nicaragua möglich. In Deutschland haben einzelne Bundesländer auf Landesebe-ne das Wahlalter 16 eingeführt.

Die Bilanz zeigt: Die Wahlbeteiligung der 16- und 17-jähri-gen entsprach meist der allgemeinen Wahlbeteiligung.

Factbox

V

„W16“ …hieß der plakative

Aufhänger der Wahlalter-senkungs-Kampagne der Sozialistischen Jugend. Jahrelang trommelte die SJ für „Wählen mit 16“, bis die Position von der

SPÖ übernommen und in den Regierungsverhand-lungen 2007 umgesetzt

wurde.

Page 13: Trotzdem 01/12

ie Staatsverschuldung Österreichs ist seit dem Ausbruch der Krise im

Jahr 2008 von 59 auf mittlerweile über 72 Prozent des BIP gestie-gen. Der Staat muss also zu Geld kommen – aber wie? Auf der einen Seite stehen all jene, die meinen, der Staat müsse sich ausgabensei-tig sanieren. Was auf den ersten Blick vernünftig erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als fatal. Denn ausgabenseitiges Sanieren heißt, dass Leistungen im Sozialsystem, dem Bildungs- und Gesundheitswesen gekürzt werden. Überwiegend Maßnah-

men, die den Lebensstandard der breiten Bevölkerungsschicht sen-ken. Auf der anderen Seite stehen jene, die für eine einnahmenseitige Sanierung eintreten. Zusätzliche Einnahmen sollen vor allem von jenem reichsten Prozent der Bevöl-kerung geholt werden, welches über 33,7 Prozent des Gesamtver-mögens (Geldvermögen, Immobili-en und Beteiligungen) verfügt.

Umverteilungsfunktion des Steuersystems

Somit würde auch eine der zentra-

len Aufgaben des Steuersystems, nämlich seine umverteilende Wirkung, gestärkt werden. Denn diese ist im heimischen Steuer-wesen derzeit kaum gegeben. Im Wesentlichen erfüllt nur einer der drei größten Geldbringer im österreichischen Steuer- und Abgabensystem die Aufgabe der Umverteilung: Bei der Lohn- und Einkommenssteuer werden immerhin 87 Prozent der Steu-erleistung vom obersten Drittel der EinkommensbezieherInnen erbracht. Doch dabei bleibt es nicht, denn die Verteilung der übrigen Steuern hat so negative Auswirkungen, dass dieser Effekt wieder zunichtegemacht wird. Die gesamten Verbrauchssteu-ern, durch die Höchstbeitrags-grundlage aber auch die Sozial-versicherungsabgaben, belasten untere Einkommen stärker als hohe. Bei einer Zusammenschau aller Steuern ergibt sich daher folgendes Bild: In Österreich zah-len das oberste, das mittlere und das unterste Einkommensdrittel einen in etwa gleich hohen Steu-er- und Abgabensatz. Von einer Umverteilung durch das Steuer-system kann also nicht gespro-chen werden.

Sozialstaat als Armutsbekämpfung

Steuereinnahmen sind vertei-lungspolitisch unverzichtbar. Denn die öffentlichen Ausgaben bringen dem untersten Einkom-mensdrittel deutlich mehr als es einzahlt, und auch das mittlere Einkommensdrittel pro" tiert. Sichtbar wird die wichtige Ver-teilungswirkung sozialstaat-licher Leistungen auch, wenn man diese statistisch wegdenkt. Ohne Sozialtransfers würde die Armutsquote auf 24 Prozent steigen, streicht man noch die Pensionen weg sogar auf 42 Pro-

zent. Öffentliche Ausgaben sind derzeit das wichtigste Instrument der Umverteilung, das dem Staat zur Verfügung steht. Doch genau durch die Kürzungspolitik und das Schonen der Vermögenden in Österreich und Europa wird einerseits die Verteilungswirkung der sozialstaatlichen Leistungen in Zukunft erschwert und ande-rerseits ganz Europa in eine wirt-schaftliche Depression kippen. Dies betonte auch Harvard-Pro-fessor Martin Feldstein im Jänner 2012: „Die politischen Führer Europas stehen möglicherweise kurz davor, einen ! skalpolitischen Plan zu vereinbaren, der, wenn er umgesetzt würde, Europa in eine umfassende Depression zwingen könnte.“

Soziale Gerechtigkeit und wirt-schaftlicher Aufschwung können nur mit einer Umgestaltung des Steuersystems herbeigeführt werden. Daher unterstützt die SJ Österreich auch das Volksbegeh-ren für Steuergerechtigkeit, des-sen Kernforderung ist, Vermögen höher zu besteuern1. Damit soll ein erster Schritt gegen die Ungleich-verteilung in Österreich gesetzt werden!

Volksbegehren

Spitzeneinkommen zahlen zwar eine höhere Lohnsteuer, niedrige Einkommen aber mehr indirekte Steuern (Umsatz- und Verbrauchssteuern) und Sozialversiche-rungs-Beiträge.

Her mit dem Zaster – und deiner Unterschrift für ein gerechtes Steuersystem!

Die Frage, wer die Kosten für die Krise zahlen muss, ist brennend! Für uns ist klar: Nicht wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, sondern die Banken und Vermögenden!

Verbrauchssteuern:…belasten den Ge- oder Verbrauch bestimmter Waren mit einer Steuer (z.B. Energiesteuer, Mine-ralölsteuer, Tabaksteuer).

Höchstbeitragsgrundlage:Darunter ist eine monat-

liche Einkommens-schwelle zu verstehen,

oberhalb derer das Einkommen von Versi-

cherten zur österreichi-schen Sozialversiche-

rung beitragsfrei bleibt. Versicherungsbeiträge

werden also nur auf den-jenigen Teil des monat-

lichen Einkommens erhoben, der unterhalb

dieser Schwelle liegt.

Volksbegehren für Steuer-gerechtigkeit:liegt seit 2. April in allen Bezirks- und Gemeindeäm-tern zur Unterschrift auf.

Wolfgang Moitzi

Zusätzliche Einnahmen sollen vor allem von jenem reichsten Prozent der Bevölkerung geholt werden, welches über 33,7 Prozent

des Gesamtvermögens (Geldvermögen, Immobilien und Beteiligungen) verfügt.

INNENPOLITIK              13INNENPOLITIK              13

D

1) Österreich ist eines der Schlusslichter bei der Vermögens-besteuerung. Der Anteil von Vermö-genssteuern muss zumindest auf den EU-Durchschnitt von 2 Prozent des BIP angehoben werden.

BIP:Bruttoinlandsprodukt

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14                            SCHWERPUNKT14                            SCHWERPUNKT

„Die nächste Krise wird vorbereitet“

Wohin die derzeitige „Fortsetzung der neoliberalen Strategie der Vorkrisenjahrzehnte mit schär-feren Mitteln und einigen Schönheitskorrekturen“ führt, erklärt Dr. Jürgen Leibiger im Interview mit TROTZDEM.

er deutsche Ökonom räumt in seinem Buch „Bankrotteure bitten zur Kasse“ mit Mythen

über die Staatsverschuldung auf, die gerade quer durch Europa eine Welle der Hochkonjunktur erleben.

TROTZDEM: Ihr aktuelles Buch behan-delt die derzeit laufende Debatte über Auswege aus der sogenannten „Staatsschuldenkrise“. Vor 2 Jahren noch mit fetten Geldspritzen vor dem Untergang bewahrte Finanzinstitute und die Finanzmärkte spielen heute Roulette mit den europäischen Staa-ten und drängen auf Sparpolitik. Wie konnte es dazu kommen?

Leibiger: Die hohe Verschuldung des Staates bei privaten GläubigerInnen führt zu einem Abhängigkeitsverhält-nis. Größe und ökonomische Stellung bestimmter Banken oder anderer Finanzinstitute machen es in der Tat schwierig, sie einfach fallen zu las-sen, ohne dass der Wirtschaft großer Schaden entsteht. Leider waren die Rettungsaktionen kaum mit der Ein-schränkung der Macht dieser Akteu-rInnen zum Beispiel mittels schärferer Au!agen und wirksamer Regulierung verbunden. So konnte das Roulettespiel

erneut beginnen und Staatsschulden-papiere liegen nun mal auch auf dem Rouletttisch. Wer welche hat, will so viel wie möglich herausholen.

TROTZDEM: Wie entstehen Staats-schulden, was ist damit verbunden und wer sind die GläubigerInnen?

Leibiger: Staatsschulden sind das Resul-tat einer politischen Entscheidung jetzt und durch frühere Regierungen. Da können sehr vielfältige Kalküle unter verschiedensten Bedingungen eine Rolle spielen. Vereinfacht kann man sagen, dass die jeweilige Regierung mehr ausgeben will oder muss, als sie über Steuern, Abgaben usw. einnimmt oder dass sie weniger einnimmt, als sie ausgibt, weil die Steuern oder das Wachstum zu niedrig sind und sie die Steuern nicht erhöhen kann oder will. Kredite können durchaus sinnvoll sein, das hängt auch davon ab, was mit den Mitteln "nanziert wird und welche Form diese Kredite haben. Auch die Frage der GläubigerInnen spielt dabei eine Rolle. Das sind Banken, Versiche-rungen, Fonds, darunter auch Pensi-onsfonds, vermögende Privathaushal-te und nicht zuletzt bestimmte Staaten wie China oder Japan.

TROTZDEM: Seit dem Beginn der neoliberalen Transformation in den 1970er Jahren wuchs auch das Niveau der Staatsverschuldung. Nicht also mit dem Sozialstaat, der ja schon während der „keynesianischen Ära“ zwischen 1945 und 1975 installiert wurde, sondern erst später wurde damit eine Verschuldungsspirale in Gang gesetzt. Was waren die Faktoren für diese Entwicklung?

Leibiger: In der von Ihnen angespro-chenen Ära des Neoliberalismus war das Wachstum deutlich niedriger als in den Nachkriegsjahrzehnten bis Mitte der 1970er Jahre und die Arbeitslosig-keit und ihre Kosten stiegen stark an. Die Senkung der Steuern auf Unter-nehmens- und Vermögenseinkom-men wurde durch höhere Steuern

und Abgaben beim Faktor Arbeit und höhere Mehrwertsteuern zwar kom-pensiert, aber mit dem Anstieg dieser

Massensteuern wird natürlich die Nachfrageentwicklung gebremst. Die-se Disproportionalität kommt auch in der wachsenden Vermögensblase, eine der Ursachen häu"ger und schwerer Finanzkrisen, zum Ausdruck. Trotz des Sparkurses der Regierungen wurde auf diese Weise die Basis der Staatsein-nahmen so stark geschwächt, dass der Schuldenberg ständig wuchs.

TROTZDEM: Wem nützen Rezepte wie die „Schuldenbremse“ eigentlich? Wer hat ein Interesse an krassen Budget-kürzungen und restriktiver Haus-haltspolitik?

Leibiger: Natürlich sind es zuerst die GläubigerInnen des Staates, die dar-an interessiert sind, dass der Staat die jeweils fälligen Zinsen und Schulden bedient. Da soll er ja auf gar keinen Fall sparen, denn diese Ausgaben sind ihnen sakrosankt. Dafür soll er halt an anderer Stelle sparen, bei Sozialausgaben, bei der Bildung oder bei öffentlichen Investitionen. Zwar werden dadurch der Staat und das Gemeinwesen langfristig geschwächt, aber die BesitzerInnen von heute fälli-gen Anleihen interessiert das weniger, denn sie wollen jetzt Cash sehen. Im

Das Casino an den Finanzmärkten geht ungebremst weiter. Nun werden ganze Volkswirtschaften

am Roulettetisch verzockt.

Interview

Foto: www.sxc.hu, guitargoa

D

Trotz des Sparkurses der Regierun-gen wurde die Basis der Steuerein-nahmen so stark geschwächt, dass der Schuldenberg ständig wuchs.

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SCHWERPUNKT              15SCHWERPUNKT              15

Übrigen steht hinter der restrikti-ven Haushaltspolitik die Ideologie, dass der Staat sowieso viel zu groß geworden sei und die genannten Bereiche wie Soziales, Kultur, Bildung usw. besser privat und gewinnorientiert betrieben wer-den sollten. Mit der verfassungs-rechtlichen Schuldenbremse hat man jetzt ein Instrument geschaf-fen, wo die Regierung diese Stra-tegie quasi automatisch und ohne lästige politische Diskussion von Fall zu Fall realisieren kann oder muss.

TROTZDEM: Ist das Niveau der Verschuldung deshalb ange-wachsen, weil ab den späten 1970er Jahren darauf verzich-tet wurde, „Klassenkampf“ zu betreiben, also Steuererhöhun-gen für Vermögende (bzw. deren steigende Gewinne) vorzuneh-men?

Leibiger: Es wurde ja gar nicht auf Klassenkampf verzichtet. Was ist es anderes als Klassen-kampf, wenn die Arbeit höher und das Kapital geringer besteu-ert werden? Das Problem ist viel-mehr, dass die Gewerkschaften geschwächt waren und fälschlich wohl auch darauf vertrauten, dass diese Politik zu höheren Wachs-tumsraten und höherer Beschäf-tigung führe.

TROTZDEM: Die Finanzwirt-schaft hat längst die politischen Entscheidungsstrukturen ausge-hebelt. In Italien oder Griechen-land wurden "ugs ehemalige Goldman-Sachs-Angehörige als Ministerpräsidenten installiert.

Leibiger: Das Gemeinwesen, um es mal so pauschal zu sagen, muss nach Wegen suchen, wie es die demokratische Initiative und sei-ne Souveränität zurückgewinnt. „Reclaim the Budget“, heißt die Parole. Mein aktuelles Buch habe ich ja mit einem Rückblick auf das Frankreich von 1789 begon-nen, wo die Staatsverschuldung und die Forderung des Königs nach höheren Steuern sofort zur grundlegenden Frage führte, wer eigentlich der Souverän sein soll. Und am Anfang der nordamerika-nischen Revolution wenige Jahre zuvor stand die demokratische Forderung „no taxation without representation“. Sie merken die Bedeutung dieses Zusammen-

hangs auch daran, dass ange-sichts des "nanziellen Dilemmas innerhalb der EU heute die Verfas-sungsfrage gestellt wird.

TROTZDEM: Was hat der deut-sche Leistungsbilanzüberschuss mit den De!ziten der südlichen EU-Länder zu tun?

Leibiger: Na ja, wo es Überschüsse gibt, da gibt es woanders De"zi-te. Das sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Deutsch-land betreibt mit seinen niedrigen Lohnstückkosten eine Dumping-politik. Ein ökonomisch schwa-ches Land wie Griechenland gerät dann hoffnungslos ins Hintertref-fen. Der de"zitäre Staatshaushalt dieses Landes ist ja auch Ausdruck dieses Konkurrenznachteils, der zu einer schwachen Einnahme-basis der öffentlichen Haushalte führt. Hinzu kommen eine ganze Reihe durchaus hausgemachter Ursachen, die man nicht kleinre-den darf. Nicht nur die deutschen Überschüsse sind das Problem. Wir dürfen schon kritisch auf Gep!ogenheiten schauen, bei denen sich wie in Griechenland ein paar Familien in die politische und ökonomische Macht teilen.

TROTZDEM: Welche Fehler wur-den im Zuge der Schaffung der Eurozone begangen?

Leibiger: Das ist eine komplexe Frage, ich will nur zwei Aspekte herausheben: die fehlende demo-kratische Legitimation und die fehlende "nanzpolitische Unter-setzung der Gemeinschaftswäh-rung. Der Euro ist ein Elitenprojekt im Interesse vor allem der inter-national agierenden Konzerne, die sich innerhalb der Euro-Zone des Wechselkursrisikos entledigt haben und einen Gegenpol zur Leitwährung Dollar brauchten. Ja, auch wir BürgerInnen haben ein paar Vorteile davon, aber das sind eigentlich „peanuts“. Wenn sich innerhalb eines Währungs-raumes die einzelnen Regionen stark auseinanderentwickeln, muss eigentlich ein "nanzieller

Ausgleich zwischen ihnen erfol-gen, sonst werden die schwachen Regionen in die Verschuldung getrieben. Sie können ja nicht mehr mit der Abwertung ihrer Währung reagieren. Wir haben aber keinen solchen Ausgleich, weil es keine abgestimmte europäische Finanz-politik gibt. Und eine solche Politik bedürfte einer starken politischen Legitimation. Es gibt jedoch keine ausreichende demokratische Legi-timierung.

TROTZDEM: Wer pro!tiert von steigender Staatsverschuldung?

Leibiger: Wenn mit öffentlichen Krediten etwas Vernünftiges angestellt wird, kann das Gemein-wesen durchaus auch pro"tieren. Natürlich pro"tieren diejenigen, die dem Staat das Geld leihen, stärker, denn sie kriegen das ver-zinst zurück. Sie pro"tieren auch in anderer Hinsicht. Denn was wäre die Alternative einer Kredit"nan-zierung öffentlicher Ausgaben? Doch wohl höhere Steuern bei denjenigen, die über ausreichen-de Vermögen verfügen, um dem Staat Kredite zu geben. Außerdem

nehmen bestimmte AnlegerInnen die ziemlich risikoarmen Staats-anleihen gerne in ihr Portefeuille zum Ausgleich anderer, riskante-rer Anlagen auf. Und nicht zuletzt pro"tieren die Versicherer von Staatsanleihen, weil sie höhere Prämien für die Credit Default Swaps kassieren können. Bezah-len müssen all das die „einfachen“ SteuerzahlerInnen. Den Letzten beißen die Hunde.

TROTZDEM: Obwohl die Gewinne der Unternehmen sprudelten und die Gewinnquote stark anstieg, ist die Investitionsquote zurück-gegangen. Dies entzaubert den Spruch der österreichischen

No taxation without representation : Die Parole „Keine Besteuerung ohne (gewählte politische) Vertretung“ ist ein Grund des amerika-nischen Unabhän-gigkeitskriegs. 13 ehemalige Kolonien wollten keine Steu-ern mehr an die bri-tische Krone zahlen, weil sie dort nicht politisch vertreten waren. Auch in der französischen Revo-lution wurde diese Forderung erhoben, weil die Mehrheit der BürgerInnen zwar abgabepflichtig war, aber keine Mitwir-kungsrechte besaß.

Es wurde ja gar nicht auf Klassenkampf verzichtet. Was ist es anderes als Klas-

senkampf, wenn die Arbeit höher und das Kapital geringer besteuert werden?

sakrosankt: heilig, unantastbar

„Bankrotteure bitten zur Kasse“

Verlag: PapyRossa (Köln 2011)

Umfang: 220 SeitenKosten: EUR 16,90

(Amazon)

Dr. Jürgen Leibiger … ist Dozent für Volks-wirtschaftslehre an der

Sächsischen Verwal-tungs- und Wirtschafts-

akademie Dresden.

Disproportionalität:unausgeglichenes Ver-hältnis

Deutschland betreibt mit seinen niedrigen Lohnstückkosten eine Dumpingpolitik. Ein ökonomisch schwaches Land wie Griechen-land gerät dann hoffnungslos ins Hintertreffen.

Credit Default Swaps:… sind eine Art Kreditver-sicherung, die es erlaubt, Ausfallsrisiken von Krediten oder Anleihen zu handeln. Damit ist das Kreditrisiko von der zu Runde liegenden Kre-ditbeziehung getrennt, womit der separate Handel dieses Risikos möglich wird.

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16                            SCHWERPUNKT16                            SCHWERPUNKT

Wirtschaftskammer „Gehts der Wirtschaft gut, gehts uns allen gut“. Wohin ist denn dieses Geld verschwunden?

Leibiger: Die Antwort haben Sie in Ihrer Frage ja schon angedeu-tet. Die wachsenden Privatver-mögen sind eine Kehrseite der öffentlichen Verschuldung. Und gesunken ist die Investitions-quote nur bezüglich bestimmter Bereiche. Natürlich kann Geld auch verschwinden, das ist in der Krise auch der Fall gewesen. Das Finanzvermögen ist hinge-gen inzwischen geradezu explo-diert und bildet eine gefährliche Finanzblase. Den Spruch Ihrer Kammer "nde ich übrigens gar nicht so schlecht, wenn man zur „Wirtschaft“ auch die Arbeitneh-merInnen zählt, die den Reich-tum schaffen. Leider herrscht ein ziemlich krudes Verständnis des-sen vor, was „Wirtschaft“ ist.

TROTZDEM: Welche Maßnahmen zur Entschuldung wären aus Ihrer Sicht anzupacken?

Leibiger: Das kann von Land zu Land durchaus verschieden sein. Aber im Kern muss die Einnah-meseite der öffentlichen Haushal-te verbessert werden, was durch Wachstum und vor allem durch höhere Steuern bei Spitzenver-dienerInnen und Vermögenden geschehen müsste. Auch die GläubigerInnen könnten allmäh-lich ausgewechselt werden, um sich aus der Abhängigkeit von der vermögenden Finanzmarktelite zu befreien. Das könnte mit Hilfe der Zentralbank als „lender of last

resort“ geschehen. Und schließ-lich bleibt auch immer der Weg, der bezüglich bestimmter Banken in der Krise gegangen worden war: Verstaatlichung. Öffentliche Schulden und private Forderun-gen heben sich dann auf.

TROTZDEM: Griechenland ist wohl das prominenteste und tragischste Beispiel der europä-ischen Schuldenkrise. Medienbe-richten zufolge konzentrieren dort 2.000 Familien rund 80 Prozent des Vermögens in ihren Händen. Dennoch wird unten gespart - auf Druck von IWF, EU und besonders Deutschland. Warum raten die zu einer Krisen-Verschlimmerungs-strategie? Wie kann Griechenland gerettet werden?

Leibiger: Was die Verschlimme-rungsstrategie anbelangt, so sollte nicht vergessen werden, dass die vorherrschende ökono-mische Lehre das keineswegs so sieht. Nach dieser Lehre, die das Handeln der meisten Regierun-gen bestimmt und die Anhänge-rInnen in fast allen politischen Lagern, an Universitäten und in den Medien hat, ist das Sparen nun mal die logische Konsequenz zu hoher Verschuldung und dient der „Gesundung“ der Wirtschaft. Außerdem geht es immer darum, für wen sich etwas verschlim-mert und wann dieser Effekt ein-tritt. Was kümmert einen reichen Anleger, dessen Staatsanleihe im Januar 2012 fällig wird, dass der Staat seiner Verp!ichtung dadurch nachkommt, dass er die Kindergarten"nanzierung kürzt, an denen dieser Anleger gar nicht

partizipiert, weil seine Kinder pri-vat untergebracht sind?

TROTZDEM: Wird am Ende der europäische Wohlfahrtsstaat (bzw. seine letzten Überreste) auf dem Altar der Finanzmärkte geopfert?

Leibiger: Alles, was in diesem Zusammenhang bisher in den Euro-Ländern politisch geschah, ist die Fortsetzung der neolibera-len Strategie der Vorkrisenjahr-zehnte mit schärferen Mitteln und einigen Schönheitskorrekturen. Damit wird faktisch die nächs-te Finanz- und Konjunkturkrise vorbereitet. Sie ist unter diesen polit-ökonomischen Verhältnis-sen letztlich unvermeidbar. Eine Verringerung der Schuldenlast wird es also, abgesehen von kurzfristigen Schwankungen, im Großen und Ganzen kaum geben. Insgesamt sind damit schärfere politische und soziale Spannun-gen vorprogrammiert und was dann passiert, hängt stark von den sich entwickelnden Kräfteverhält-nissen ab.

“lender of last resort”:Kreditgeber der letzten

Zuflucht – eine Instituti-on, die dann als Kredit-geberin oder Garantin einspringt, wenn nie-

mand anders mehr bereit ist, Kredite zu geben. Im

nationalen Bankwesen ist dies meist die Zentral-

bank, auf supranationaler Ebene der Internationale

Währungsfonds (IWF).

Vorherrschende ökonomische Lehre:…die Neoklassik dominiert(e) bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 und wieder seit den 1970er Jahren das öko-nomische Denken. Sie ist eine „reine“ Ökonomie nach dem Vorbild der Naturwissenschaften und blendet politische, historische und gesell-schaftliche Einflüsse aus. Die Politik wird aus der Wirtschaft verbannt – im Mittelpunkt steht das universelle Individuum des zweckrationalen „homo oeconomicus“.

Das Interview führte Boris Ginner

Alles, was in diesem Zusammenhang bisher in den Euro-Ländern politisch geschah, ist die Fortsetzung der neoliberalen Strategie der Vorkrisenjahrzehnte mit schärferen Mitteln und einigen Schönheitskorrektu-ren. Damit wird faktisch die nächste Finanz- und Konjunkturkrise vorbereitet.

Krise/EU

Fiskalpakt – Ausweg oder neoliberaler Irrweg?

Am 2. März unterzeichneten fast alle Regierungen der EU-Staaten den „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ – auch Fiskalpakt genannt.

Dieser zwingt die teilneh-menden Staaten dazu, das strukturelle De"zit unterhalb

einer Grenze von 0,5 Prozent des nominellen BIP zu halten. Verfehlt ein Staat dieses Ziel, greifen die EU-

Kommission und der Rat in die Bud-gethoheit ein, der „souveräne“ Staat wird fremdbestimmt. Zusätzlich muss über Budgetpläne berichterstattet und müssen neue Schuldaufnahmen vorab gemeldet werden.

Neoliberaler Irrweg?!

Die EU schlägt damit einen vollkom-men falschen Weg ein. Sparen hat in Zeiten von wirtschaftlicher Rezession noch nie zum Aufschwung geführt.

Durch die Kürzungspolitik haben die Menschen weniger Geld zum ausge-ben, was zum Sinken der Kaufkraft und der Binnennachfrage führt. Da das Wachstum damit gebremst wird, führt dies schließlich sogar zu höheren

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SCHWERPUNKT              17SCHWERPUNKT              17

Schulden. Ein solches Verhalten zog nach dem Schwarzen Freitag 1929 und den danach folgenden Sparmaßnahmen unter US-Präsident Hoover (1929-33) und dem deutschen Reichskanzler Brüning (1930-32) eine Depres-sion nach sich. Anstatt die Kon-junktur anzukurbeln, verfolgt Europa dieselben Denkmuster wie in den 1930ern. Dieser „töd-liche Cocktail“ könnte wieder ähnliche Konsequenzen haben. Doch „Merkozy“ haben aus der Geschichte anscheinend nichts gelernt.

Alternativen?!

Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form stellt eine reine Symptom-Kur dar, noch dazu eine kontra-produktive. Tiefgreifende Ver-änderungen wären nötig. Eine Möglichkeit wäre die direkte Kreditvergabe der EZB an Staa-ten statt an Banken, die diese Kredite mit höheren Zinsen an Staaten weitergeben. Dadurch könnte die Schie! age innerhalb des Euro-Raums behoben wer-den, was europäische Integrati-on fördern würde. Die Kontrolle

Griechenlands durch die „Troika“ (EU-Kommission, IWF, EZB) hat dazu geführt, dass Löhne gekürzt, Staatsbedienstete entlassen und damit Arbeitslosigkeit und Armut massiv erhöht wurden. An einer nachhaltigen Entwick-lung scheint kein Interesse zu bestehen. Die Schuldenbremsen, die im Fiskalpakt zwingend vor-geschrieben sind, schränken den Handlungsspielraum der Politik weiter ein.

Ausweg statt Irrweg?!

Wir brauchen einen anderen Fis-kalpakt, der in die Richtung eines sozialeren Europas zielt. Es gibt mehrere Möglichkeiten dafür, wie zum Beispiel Mindeststeu-ersätze, um den Steuerwettlauf innerhalb der EU abzudrehen. Auch ein Mindestanteil vermö-gensbezogener Steuern könnte auf EU-Ebene vorgeschrieben werden. Es bleibt zu hoffen, dass der neoliberale Spuk in Europa ein nahes Ende hat!

Die Regierungen Europas steuern weiter unbeirrt auf den Abgrund zu.

strukturelles Defizit:…ist jener Teil des Staats-defizits, der nicht auf konjunkturelle Schwan-kungen zurückzuführen ist. Es entsteht, wenn neue Aufgaben ohne Abbau bestehender Auf-gaben zur Überlastung des Staatshaushaltes führen.

Mirza Buljubasic, Sebastian Schuller

Höhere Zinsen:Für 10-jährige Staatsan-leihen zahlt Österreich

2,8 % Zinsen, Italien 5%, Spanien 5,3%, Portugal

12,6% und Griechen-land gar 20,6% (Stand

26. März)

Rezession:Wirtschaftsabschwung/Konjunkturtief

Depression:Extremform der

Rezession

EZB:Europäische Zentralbank

IWF:Internationaler

Währungsfonds

„Resisting austerity, constructing a social Europe!“

Was sagen Maite Morren, Vorsitzende unserer Schwesterorganisation ANIMO Belgium und David Lizoain Bennett, internationaler Sekretär der „Juventudes Socialistas de Catalunya“ (JSC) zur Krise in Europa?

David Lizoain Bennett

“Following the first “rescue” of Greece in the spring of 2010, the Zapatero government was informed of the necessity of complying strictly with the deficit targets laid out by the Stability and Growth Pact. Since then, Spain has embarked on a path of “austerity”, a euphemism for cuts to the welfare

state, and “structural reforms”, a euphemism for stripping away social protections. It was explained to the public that these reforms were necessary in order to “restore confidence”. This orthodox neoliberal adjustment has pushed (youth) unemployment to record European highs, and has done nothing to improve Spain’s economic situation.

Zapatero’s choice to embark upon this course led to a collapse of Spain’s progressive majority, the rise of the “indignados”, and the PSOE obtaining the worst result in its modern history in the elections of November 2011. The Partido Popular (PP) now has an absolute majority at almost all levels of government. They will continue to impose austerity.

The cuts to social protections have been complemented by a limitation of democracy. Since sovereign populations do not back endless cuts, Europe’s right-wing leaders have chosen to restrict their power rather than change course, as we have seen in the cases of Greece and Italy. In the absence of a broad and renewed alliance between the social left and the political left in Spain, progressive forces will be in no condition to resist the austerity agenda and construct an alternative.”

Maite Morren

„The debate on Europe finally seems to be opened in Belgium. At stake are our social policies and our system of automatic wage indexation, which protects the purchasing power of our citizens. It́ s clear that at this moment, Euro-pe is suffering from a very painful form of balanced budget funda-

mentalism. And this, despite the fact that we can only get out of this crisis if we invest, not only in the economy, but also in people and a sustainable and social model for work and life.“

Gastkommentar

Bis dato relativ wenig mitbekommen von der Krise haben Europas Vermögende…

Welche Krise?

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Das Ende der Krawattenpflicht von Barbara Blaha

& Sylvia Kuba

Taschenbuch: 192 SeitenVerlag: Czernin(5. März 2012)

Sprache: DeutschKosten: EUR 19,80

(Amazon)

BUCHBUCH Barbara Blaha & Sylvia Kuba: „Das Ende der Krawattenp!icht“Weltweit gelangen immer mehr Frauen in politische Spitzenfunktionen, trotzdem sind Politikerinnen dort die Ausnahme: Machtpo-sitionen werden fast ausschließlich von Kra-wattenträgern besetzt.

Warum ist es so zäh, an der Politik gleich-berechtigt teilzuhaben? Wie weiblich dür-fen Frauen in politischen Spitzenpositionen sein? Wie männlich müssen sie agieren, um in der Öffentlichkeit zu bestehen? Wie gehen sie mit stereotypen Rollenerwartungen um

und welchen Einfluss haben diese auf die Politik?Barbara Blaha und Sylvia Kuba versuchen Antworten zu geben, indem sie das Unsicht-bare anhand zahlreicher Beispiele analysie-ren: die informellen Regeln der politischen Kultur, die geschlechtsspezifische Wirkung von Inszenierungsstrategien in Auftreten und Körpersprache bis hin zur Auswirkung der medialen Berichterstattung auf die Politik.Dieses Buch macht all das Unsichtbare sicht-bar. Es rückt die ungeschriebenen Gesetze der Machtpolitik ins Licht der Öffentlichkeit: um sie zu diskutieren und damit auch zu ver-ändern – mit dem Ziel, dass Frauen wie Män-ner in Zukunft die gleichen Chancen haben, in der Politik mitzumischen.

Barbara Blaha

Stalingradvon Accept

Label: Nuclear BlastErscheinungsdatumCD/Vinyl: 6.4.2012

Accept: StalingradEins ist klar: Accept gehört neben Judas Priest und Iron Maiden zu jenen Bands, die den klassischen Metal im Eigentl ichen geprägt haben. 100.000 verkaufte Alben, Platz 4 in den deutschen Albumcharts, über 50 Mal „Album des Jahres“ - um nur drei Punkte ihres Erfolges aufzuzählen.

Nachdem ihre letzten Alben einen Voll-treffer landeten, sind Accept natür-lich unter großem Druck gestanden.

Doch die deutsche Heavy-Metal-Band liebt Herausforderungen; somit machten sich Wolf Hoffman & Co. gleich ans Werk und schrieben mit all ihrem Metaler-Blut und ihrer Leidenschaft ihr neues Album. „Sta-lingrad“ ist der Beweis dafür, dass richtiger Metal sich immer steigern kann. Innerhalb der ersten drei Sekunden bebt das Herz

eines jeden Fans, wenn die ersten donnern-den Riffs und rauen Vocals zu hören sind. Der Track „Stalingrad“ hat ein ganz beson-deres melodisches Soli parat, was wohl beim Live-Auftritt im Mittelpunkt stehen wird. So manch andere Tracks wie „Against the World“ kann man leicht autobiographisch auffassen, was auch niemanden wundert. Mit diesem Album haben Accept nicht nur viele neue Fans dazu gewonnen und ihre alten Fans mehr als glücklich gemacht - sie haben sich auch garantiert die Bühne auf den zukünftigen Festivals gesichert. ACCEPT that!

Dorothee Dober

MUSIKMUSIK

18                                      BUCH  /  FILM  /  MUSIK18                                      BUCH  /  FILM  /  MUSIK

Die KriegerinDrama, 106 Min.Deutschland, 2011

Regie : David Wnendt

Die KriegerinTiefe Einblicke in die Neonazi-Szene bie-tet Regisseur David Wnendts Drama „Die Kriegerin“. Im Zentrum steht die 20-jäh-rige Supermarkt-Kassiererin Marisa, die hemmungslos zuschlägt, wenn sie mit ihren Freunden Jagd auf „AusländerInnen“ macht.

Jung, weiblich, rechtsradikal. Der Film the-matisiert die Rolle heranwachsender Frau-en in der Neonazi-Szene in Ostdeutschland.

Als die Spirale aus Hass, Gewalt und Fremden-feindlichkeit eskaliert und Marisa (Alina Levs-hin) mit ihrem Auto zwei Flüchtlingskinder anfährt, beginnt die Hauptdarstellerin Zweifel an ihrer rechtsextremen Gesinnung zu bekom-men. Die 15-jährige Svenja (Jella Haase) aus bürgerlichem Hause "ndet dagegen verstärkt Anschluss zur rechten Clique, feiert auf Nazi-Partys und kämpft für „nationalen Widerstand“.

Ein Film, der in Zeiten rechtsextremer Mord-banden in Deutschland höchst aktuell ist. Weni-ger beleuchtet wird der Beitrag des Rassismus in der breiten Öffentlichkeit zum Aufstieg der Rechten. Die Darstellung der Angehörigen der rechten Szene als prügelnde, dumme und sau-fende Glatzen dient nicht gerade einer selbst-kritischen Beleuchtung der Gesellschaft. Der Erklärung der Hintergründe rechter Gewalt hätte Wnendt mehr Aufmerksamkeit widmen können.

Sybilla Kastner

FILMFILM

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Was tun mit den Staatsschulden?Im Zuge der Krise und der Rettung der Banken und des gesamten Systems explodierte in nahezu allen Ländern die Staatsverschuldung. Wir stehen nun vor der zentralen Frage, wer diese Kosten der Krise zahlen muss.

Staatsschulden

PRO  /  CONTRA              19PRO  /  CONTRA              19

Staatsschulden streichen!In ganz Europa werden heu-te Sparpakete geschnürt. Das Kapital ruft das „Ende des euro-päischen Sozialstaats“ aus. Ver-mögensbezogene Steuern sind bestenfalls Kosmetik für diese Politik der rigorosen Vernichtung des Sozialstaats. Die Sozialde-mokratie hat leider vor der bür-gerlichen Sparlogik kapituliert.

Wir hingegen müssen diese Logik ablehnen, wenn wir die sozialen Errungenschaften der Vergangen-heit verteidigen wollen. Was wir heute in Griechenland sehen, ist die traurige Zukunft für ganz Europa. Die Staatsschulden sind dabei ein gewaltiger Umverteilungsmecha-nismus hin zum Finanzkapital. Bei der Bildung, der Gesundheit, den Pensionen und den öffentlichen Diensten wird gekürzt, um die Schul-den bedienen zu können. Der einzige Ausweg aus der Misere ist die Weige-rung, die Schulden zu zahlen. Aber ist die Verteilung der Staats-schulden nicht zu untransparent? Wären von der Weigerung die Staatsschulden zu zahlen nicht auch kleine SparerInnen betrof-fen? Tatsächlich sind die Staats-schulden genau aufgeschlüsselt. Laut der österreichischen Bundes-!nanzagentur werden die Schul-den der Republik Österreich zu 72 % von verschiedenen Finanzin-stituten und zu 13 % von Versiche-rungen und Pensionsfonds gehal-ten. Die „KleinanlegerInnen“ sind mit 3 % klar die kleinste Gruppe1. Im Falle von erwiesener sozialer Bedürftigkeit sollten sie natürlich entschädigt werden. Die Beschäftigten des besetzten

Krankenhauses in Kilkis (Grie-chenland) haben vollkommen recht, wenn sie sagen: “Die Ban-ken erzählen uns tagein tagaus, dass du und ich, unsere Kinder und Enkelkinder für diese Schulden mit unserem persönlichen und dem nationalen Vermögen, mit unse-ren Leben bezahlen müssen. Wir schulden den Banken gar nichts. Im Gegenteil, sie schulden den Men-schen einen großen Teil ihrer Pro!-te.” Wenn wir die permanente Spar-politik verhindern wollen, müssen wir eine Bewegung aufbauen, die dieses Diktat der „Märkte“ brechen kann. Kapitalismus bedeutet Krise und Chaos. Dass der kapitalistische Finanzsektor eine Streichung der Staatsschulden kaum überstehen würde, zeigt ja nur, dass dieses System völlig parasitär ist. Des-halb verbinden wir die Forderung „Wir zahlen die Schulden nicht“, mit dem Programm zur Verge-sellschaftung des Finanzsektors, der von den Schulden, die nur gemacht worden sind, um ihn zu retten, pro!tiert. Das wäre der erste Schritt, um mit dem Kapita-lismus Schluss zu machen.

Erst die Finanzkrise sorgte für einen kräftigen Anstieg der

Staatsschulden – auch in Öster-reich (zwischen 2007 und 2011

von 60,7 auf 72,2 Prozent).

Benedikt Brunner

PROPRO CONTRACONTRA

Kapitalismus beseitigen, nicht nur die Staats-schulden!Alle Staatsschulden der Welt auf einen Schlag streichen – klingt her-vorragend. Griechenland ohne Not, viele afrikanische und lateiname-rikanische Staaten von der Geißel des Schulden-Frondienstes befreit und auch in unserem kleinen Land könnte das bewährte „Duo Infer-nale“ Faymann/Spindelegger mit großem Pomp Investitions- statt Sparprogramme verkünden.

Jetzt soll man mir nicht vorwerfen, ich fände eine solche Utopie nicht reizvoll. Wenn aber – wie die Funke-Strömung argumentiert – die derzei-tige kapitalistische Krise dermaßen tiefgreifend ist, dass sie bloß durch massive Senkung des Lebensstan-dards des Weltproletariats systemin-härent gelöst werden kann, könnte doch die Staatsschuldenstreichung den nationalen Ökonomien wieder die Luft zur Produktivkraftentfal-tung geben, die die Krise abschnürt. Eine Forderung zur Rettung des Sys-tems also? Eine trotzkistische Strö-mung als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus? Wohl kaum.Also doch eine vordergründig „revolutionäre“ Forderung, weil sie das System ins Wanken bringen soll. Kapitalismus ohne Kredit (die Streichung der gesamten weltwei-ten Staatsschulden liefe darauf hin-aus) ist – das lehrt uns Marx – nicht denkbar. Das Getriebe vernichten, in dem man ihm das Motoröl vorent-hält? Das liefe auf eine Systemtrans-formation durch einen Eingriff von

oben hinaus, das spielt’s nicht. Den Kapitalismus kann nur eine große Bewegung von unten vernichten – und die wird sich, entsprechende Größe und Stärke vorausgesetzt, hoffentlich nicht mit der Streichung der Staatsschulden begnügen.Es bliebe noch ein letzter Grund, die Staatsschuldenstreichung zu propagieren: Wenn man davon aus-ginge, dass über diese Forderung die Lohnabhängigen in großem Stil für eine Systemumwälzung organi-siert werden könnten. Das ist eine Einschätzungssache, ich sehe aber derzeit keine größeren Anzeichen, die dafür sprächen. Unterm Strich bleibt also: Inhaltlich gibt die Staats-schuldenstreichung per se keine allgemein befriedigende Forderung her, als Hauptlosung des Proletariats taugt sie wohl auch nicht wirklich. Im Übrigen bin ich der Meinung, der Kapitalismus (und nicht nur die Staatsschuld) gehört beseitigt.

Die Schuldenquoten zeigen: In den Jahrzehnten der neoliberalen

Sparpolitik (ab den 1980ern) wuchsen die Staatsschulden

stärker als z.B. in den 1960ern und 70ern, als der Sozial- und Wohl-

fahrtsstaat ausgebaut wurde.

Stefan Jagsch

1) Quelle: zuwi.at/themen/staatsschulden/die-verschuldung-des-staates-österreich-im-detail/

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MJS:Mouvement des Jeunes

Socialistes

Frankreich

m Mai wählt Frankreich einen neuen Präsiden-ten, der entweder zum

zweiten Mal Nicolas Sarkozy heißen wird, oder François Hol-lande, der Kandidat der Sozia-listischen Partei. In aktuellen Umfragen deutet alles auf eine Stichwahl zwischen diesen beiden hin. Weder der Rechts-extremen Marine Le Pen noch dem Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon wird zugetraut, in die Stichwahl zu kommen. Mit den Terroranschlägen von Tou-louse und der Ergreifung des Attentäters, dem Kontakte zu radikal-islamistischen Terror-organisationen nachgesagt wer-den, hat sich die Ausgangslage verkompliziert, wie Guillaume erläutert. Gleichzeitig sei aber noch nicht absehbar in welche Richtung das für den Wahl-kampf ausschlaggebend ist.

Soziale Probleme im Mittelpunkt

Den Kern der Wahlkampagne von Francois Hollande bilden soziale Themen. Etwa die ext-rem hohe (Jugend-)Arbeitslo-sigkeit vor allem in den Außen-bezirken der großen Städte, nicht leistbare Wohnräume oder mit der Krise argumentier-

te und zur Umverteilung nach oben genutzte Kürzungen in den verschiedensten Bereichen sozialer Leistungen. Man könn-te ja annehmen, dass Hollan-de angesichts der miserablen Lebensstandards der untersten sozialen Schichten siegessicher in die Wahlauseinandersetzung gehen kann. Wie Guillaume aber erläutert, fühlen sich gera-de diese Schichten von der Poli-tik dermaßen im Stich gelassen, dass ihre Wahlbeteiligung ins Bodenlose sinken könnte.

Die für die Koordination der Jugendkampagne verantwort-liche MJS fokussiert sich vor allem auf die Mobilisierung

der ärmeren Schichten. Kür-zungen der konservativen Sar-kozy-Regierung und der Abbau regionaler Infrastruktur (von Post über Polizei bis zum Nah-verkehr) haben deren Situation schrittweise verschlechtert und zu Ausschreitungen geführt, die auch weltweit Beachtung fanden. Hollande meint, dass es kein Gerede mehr über die-se katastrophalen Zustände braucht, sondern dass die sozi-alen Verhältnisse nun verbes-sert werden müssten – etwa durch massive Investitionen in Bildung und Beschäftigung.

Merkozy abwählen

In Europa sorgt natürlich

die durch einen Sieg Hollan-des mögliche Sprengung der konservativen Einheitsfront Merkozy für gespannte Auf-merksamkeit. Laut Guillaume verfolgt Hollande das Ziel, der europäischen Linken wieder Mut einzuhauchen. Dies äußert sich z.B. in seiner Ankündigung, den Fiskalpakt aufzuschnüren. Konkrete Ausführungen dazu sind allerdings spärlich gesät. Laut der MJS lehnt Hollande den von neoliberalen „ExpertInnen“ ausgearbeiteten Pakt bedin-gungslos ab; und fordert statt-dessen einen Pakt für Beschäf-tigung und soziale Sicherheit. Eine Nicht-Unterzeichnung des Fiskalpakts durch den zukünf-tigen französischen Präsiden-ten hätte wohl den Aufschrei der gesammelten Konservati-ven Europas zur Folge.

Eine Wende in Frankreich wäre ein erster Schritt in Richtung einer stärkeren, koordinierten linken Oppositionspolitik in Euro-pa. Hollande verspricht zwar kei-ne revolutionären Umwälzungen, aber die stärkere Thematisierung sozialer Probleme, um die Umver-teilung von unten nach oben zu stoppen bzw. umzukehren und das auch auf europäischer Ebene zu diskutieren.

So ernüchternd der Zustand der europäischen Linken auch ist und so unambitioniert Hol-landes Programm für Kriti-kerInnen gelten mag: Sowohl ein französischer Präsident Hollande, als auch eine auf absehbare Zeit eintretende Wende in Deutschland, nähren zumindest die Hoffnung, dass die ArbeiterInnenbewegung aus ihrem Dornröschenschlaf langsam, aber doch erwacht. Wir bleiben gespannt!

Kein Heilsbringer, aber ein Schritt in eine bessere Richtung

Ein erfrischend ehrliches Gespräch mit dem internationalen Sekretär der MJS France, Guillaume Renaud, über die anstehenden Wahlen in Frankreich.

Quelle: www.sxc.hu, guby

Deutschland:Laut allen Umfragen hat die schwarzgelbe Koaliti-on keine Mehrheit mehr in Deutschland. Die FDP, der liberale Koalitionspartner Merkels, dürfte gar aus dem Bundestag fliegen.

„Merkozy“ steht für die konservative Achse Merkel-Sarkozy, die in den letzten Monaten

die europäische Politik bestimmt hat.

Hollande verspricht zwar keine revolutionären

Umwälzungen, aber die stärkere Thematisierung sozialer Probleme, um die Umverteilung von unten

nach oben zu stoppen bzw. umzukehren und das auch auf europäischer Ebene zu

diskutieren.

François Hollande …ist Kandidat der Parti Socialiste (PS) für die Präsidentschaftswahl.

Klaus Seltenheim

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Chinesische Arbeite-rInnen protestieren

gegen die miserablen Arbeitsbedingungen

beim Apple-Zulieferer Foxconn.

Foxconn …ist Auftragsfertiger für elektronische Produkte

und einer der größten Apple-Zulieferbetriebe.

Foxconn verfügt über 1,2 Mio. Beschäftigte und

hat nach zunehmendem öffentlichen Druck die

Wochenarbeitszeit von 60 auf 49 Stunden gesenkt.

Handyproduktion

enn damit in den reichsten Ländern der Welt schon Kleinkinder

mit den modernsten Handys telefonieren können, wird von Apple und seinen Konkurrenten Ausbeutung, Sklaverei und jah-relanges Blutvergießen in Kauf genommen.

Mein Handy und Selbstmorde in China

Im Juni 2010 erregte Foxconn, der weltweit größte Zulieferer für Elektrogeräte, die Aufmerk-samkeit der Medien, nachdem insgesamt 13 MitarbeiterInnen des Unternehmens Selbstmord begangen hatten. Die meisten von ihnen waren vom Dach des Firmengebäudes in der chine-sischen Stadt Shenzen gesprun-gen. Ihre KollegInnen äußerten sich daraufhin in Interviews zu den Arbeitsbedingungen bei Foxconn und gaben an, monat-lich über 100 Überstunden

machen zu müssen, obwohl in China nur 36 erlaubt sind. In 15-stündigen Schichten wer-den bei Foxconn im Stehen die Produkte von Sony, Apple oder Dell zusammengebaut.

Pausen gibt es keine, und während der Arbeit ist es sogar verboten miteinander zu spre-chen. Unter den Arbeitsauf-seherInnen herrscht militäri-scher Drill. Die ArbeiterInnen haben nur einen freien Tag in der Woche, den sie in über-füllten Unterkünften oft ohne Strom und !ießendem Wasser verbringen müssen. Um das Firmengebäude zu verlassen, brauchen viele eine Sonderge-nehmigung. Diese unmenschli-chen Arbeitsbedingungen und miserable Aussichten auf eine bessere Zukunft trieben bereits mindestens 13 Menschen in den Freitod. Die Reaktion von Fox-conn: Nach der Selbstmord-welle 2010 mussten alle Mitar-beiterInnen des Unternehmens ein Dokument unterschreiben, in welchem sie sich dazu ver-p!ichteten, sich nicht selbst zu töten und Foxconn die Erlaub-nis gaben, sie in eine psychiatri-sche Anstalt einzuweisen, falls das Unternehmen sie als suizid-gefährdet einstuft. Außerdem wurden Netze um das Firmen-gebäude in Shenzen gespannt, in der Erwartung so Selbstmor-de zu verhindern.

Mein Handy und der Krieg im Kongo

An unseren Handys klebt aber noch mehr Blut: Denn unsere Abhängigkeit von ihnen hält seit 14 Jahren den größten Krieg Afrikas am Laufen. Welches Elend die Computer- und Mobil-funkindustrie in Kauf nimmt, zeigt sich aber nicht nur an der Ausbeutung in Niedriglohnlän-dern; sie geht einher mit einem

blutigen Rohstoffkrieg im zent-ralafrikanischen Staat Kongo.

Damit ein Handy funkti-oniert, braucht es Coltan, ein Mineral, das besonders im Osten Kongos vorkommt. Dort liefern sich kongolesische, aus-ländische Regierungstruppen und diverse Rebellengruppen seit Jahren Kämpfe um den Zugang zu den reichhaltigen Bodenschätzen. Die Einnamen aus dem am Ende der 90er Jah-re einsetzenden Coltan-Boom dienen der Finanzierung eines jahrelangen Stellungskrieges. Zahlreiche Jugendliche und auch Kinder brachen ihre Schulaus-bildung ab, um in den Bergwer-ken einen Arbeitsplatz zu "nden. Geld für die BergarbeiterInnen in den Coltan-Minen bleibt aber kaum übrig.

Weder gibt es Kontrollen der rbeitsbedingungen, noch Maßnahmen gegen die Kin-derarbeit in den Coltan-Minen. Opfer der kriegerischen Ausei-nandersetzungen sind beson-ders Frauen: Laut UN wurden allen im Jahr 2006 rund 27.000 Frauen und Mädchen Opfer sexueller Misshandlung. Ein – wenn auch kleiner – Lichtblick: Deutsche ForscherInnen haben es geschafft, ein Verfahren zu entwickeln, durch das Mobilte-lefonherstellerInnen feststel-len können, woher das Coltan kommt, das sie kaufen. Um Apple & Co. dazu zu bringen, dieses Verfahren in Anspruch zu nehmen, ist Druck seitens der KonsumentInnen nötig. Weiters muss der Verkauf von Coltan aus Blutminen gesetzlich verboten werden!

Das blutige Geschäft mit den Handys

Bereits im Juni soll Apple das „iPhone 5“ vorstellen. 4,6 Zoll Display, LTE-Chip und viele Extras sollen das iPhone noch praktischer und schneller machen. Das klingt alles ganz toll. Nicht so toll ist, was sich im Hintergrund abspielt.

Die ArbeiterInnen haben nur einen freien Tag in der Woche, den sie in überfüllten Unterkünften oft ohne Strom und fließendem Wasser verbrin-

gen müssen. Um das Firmengebäude zu verlas-sen, brauchen viele eine Sondergenehmigung.

Anastasia Hammerschmied

Shenzhen…die 12-Millionen-

Metropole befindet sich im Süden Chinas und ist

nur durch einen Fluss von Hongkong getrennt.

ColtanAus dem Colombo-

Tantalit (kurz: Coltan) wird das Metall Tantal gewonnen, das in der

Mikroelektronik höchst gefragt ist. Es dient der Herstellung von Kondensatoren für

Mobiltelefone, Laptops, Digicams, Spielkonsolen oder Flachbildschirmen.

Wo – wie im Kongo – staatliche Kontrolle fehlt, ist die Produk-tion mit inhumanen Arbeitsbedingungen und Umweltschäden

verbunden.

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We Eat the WorldGanz gleich ob natürliche Ressourcen, Grundnahrungsmittel oder Energieversorgung: Im Kapi-talismus wird selbst Lebensnotwendiges zur Ware und einer pro"torientierten Verwertungslo-gik unterworfen. Bedürfnisse der Menschen oder die ökologische Tragfähigkeit unseres Planeten spielen dabei keine Rolle.

ungerkatastrophen, Raubbau an der Natur sowie unmensch-liche Lebensbedingungen,

Kriege und schwerwiegende klima-tische Veränderungen sind Folgen und Ursachen zugleich. Der folgende Artikel unternimmt den Versuch einer Bestandsaufnahme horrender global-politischer Ungleichheiten.

Der Markt regelt sich selbst. Mehr privat, weniger Staat. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Der Stärkere setzt sich durch. Die stumpf-sinnigen Glaubenssätze und Begriffe des neoliberalen Marktevangeliums entbehren nicht nur den tatsächlichen gesellschaftlichen, machtpolitischen und ökonomischen Bedingungen, sie haben in der Realität für Abermillionen

von Menschen und den gesamten Pla-neten katastrophale Folgen. Produkti-on, intellektuelle sowie technologische Innovationen und Tausch bzw. Handel, also die gesamtgesellschaftliche Repro-duktion, dienen im Kapitalismus nicht der Versorgung aller Menschen, son-dern der Pro"tmaximierung.

Ökonomie als Selbstzweck

Darüber hinaus beuten die Regierun-gen und Konzerne der nördlichen bzw. westlichen Hemisphäre (s.g. Industrie-länder) seit der Kolonialzeit noch immer unbehelligt ganze Territorien aus. Ohne Rücksicht auf gesellschaftliche, entwick-lungspolitische und ökologische Verlus-te. An den Rohstoff- und Getreidebörsen wird überdies munter auf fallende und

steigende Preise spekuliert – Weizen und Milch sowie andere lebenswich-tige Güter werden dadurch für breite Bevölkerungsschichten in armen Regi-onen unleistbar, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern an den Rande der Exis-tenz gedrängt. Die Ökonomie als syste-mischer Selbstzweck und Machtfaktor, dem sich menschliche Grundbedürfnis-se und die Natur unterzuordnen haben.

Hunger und Verschwendung

Chronische Unterernährung betrifft laut der Welternährungsorganisation FAO weltweit 925 Millionen Menschen. Jährlich sterben rund fünf Millionen Kinder unter fünf Jahren an den Fol-gen von Unterernährung, während weltweit ein Drittel der produzier-

ten Nahrungsmittel verloren geht. Es handelt sich um eine Menge von rund 1,3 Milliarden Tonnen jährlich. In den reicheren Staaten wird Essen einfach

weggeworfen, in den ärmeren Staaten summieren sich die Verluste bereits bei Produktion, Lagerung und Transport. Obwohl die technischen Möglichkeiten und die weltweiten Produktionskapa-zitäten locker ausreichen würden, um

Die Jatropha-Pflanze ist besonders beliebt

bei Agrotreibstoff-Unternehmen wie

„Bedford Biofuels“. Die Öl produzieren-

de Pflanze boomt besonders in asiati-schen Ländern wie

den Philippinen, aber auch afrikanische Länder wie Kenia

setzen auf Jatropha-Plantagen. Für die Herstellung eines

Liters Biotreibstoffs werden 20.000 Liter

Wasser benötigt.

Überproduktion

Jährlich sterben rund fünf Millio-nen Kinder unter fünf Jahren an

den Folgen von Unterernährung, während weltweit ein Drittel der

produzierten Nahrungsmittel verloren geht.

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alle Menschen satt zu machen und Dürreperioden und Ernteausfälle vielerorts auszugleichen.

„Es ist genug für alle da“

Aktuell etwa sind in der westaf-rikanischen Sahelzone bis zu 13 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Der westafrikanische Staat Niger steht ebenfalls vor einer schweren Hungerkrise. Eine Stu-die mehrerer Hilfsorganisationen im Westen und Osten des Landes ergab, dass die Lebensmittelvorrä-te von 70 bis 90 Prozent der Bevöl-kerung voraussichtlich noch vor der nächsten Ernte aufgebraucht sein werden. Die Wasserspeicher zur Versorgung von Gemüsefel-dern sind leer. Angesichts der mas-siv steigenden Lebensmittelpreise haben nur die Wenigsten das Geld, sich Getreide zu kaufen. Beispiele wie diese gibt es viele. Jahr für Jahr. Die Welt sieht zu. Kaum eine Regie-rung der Welt nimmt sich dieser Problematik ernsthaft an. Das ist in der kapitalistischen Systemlo-gik auch nicht vorgesehen. Für die Agrarexpertin Marita Wiggerthale ein unerträglicher Umstand: „Es ist genug für alle da, aber trotzdem hungert bereits heute jeder Sieb-te auf der Welt.“ Die Regierungen

hätten „viel zu lange die Interessen von Konzernen und mächtigen Eliten über die Bedürfnisse von uns sieben Milliarden Menschen gestellt, die die Nahrungsmittel produzieren und konsumieren“. Josef Schmidhuber von der FAO und Mitautor des Klimaberichts der Vereinten Nationen, meint etwa, „dass wir die Produktions-kapazität für neun Milliarden Men-schen allemal haben“.

Ungerechte Besitzverhältnisse

Ohne umgehendes Umsteuern werde die Zahl der Hungernden in den kommenden Jahrzehnten um „hunderte Millionen“ steigen, schätzt die NGO Oxfam. Rund 70 Prozent der Unterernährten, berichtet die FAO, meist verarmte kleine LandwirtInnen oder Tage-löhnerInnen in Dörfern, erleiden vielmehr die Folgen ungerechter Besitzverhältnisse, steigender Kosten für Saatgut, Dünger und P!anzenschutzmittel und sin-kender Preise für ihre Produkte, zudem eines vielfältigen Raub-baus an der Natur. 30 Prozent der Mangelernährten sind vor solchen Verhältnissen in die Slums großer

Städte ge!üchtet, wo sich ihre Lage oft kaum verbessert. Von 1980 bis 2000 sanken die internationalen Hilfsgelder für die ländliche Ent-wicklung auf fast die Hälfte. Auch der FAO-Etat der wird laufend gekürzt.

Handelspolitik als Machtinstrument

Aus den sogenannten Industri-eländern werden Nahrungsmit-tel durch Subventionierung des Exports so billig in Entwicklungs-länder eingeführt, dass der Preis unter den einheimischen Erzeu-gungskosten liegt. Die EU nutzt über ihre Agrarimporte etwa 35 Millionen Hektar an Acker!äche außerhalb ihres Territoriums. Das entspricht etwa der Fläche von Deutschland. Damit können kleine ProduzentInnen in armen Regio-nen unmöglich konkurrieren. Sie stellen die Produktion zur Versor-gung des einheimischen Marktes ein und verarmen. Nachdem die EU zum weltgrößten Nahrungs-mittelexporteur und zweitgrößten -importeur aufgestiegen ist, erhöht sie mit ihren Einfuhren den Hunger in der Welt. Der Brotweizenpreis lag im April 2010 z.B. noch um die 130 Euro pro Tonne, zu Beginn 2011 bewegte er sich auf 280 Euro zu, hat sich damit also mehr als verdoppelt. Die viel gepriesene Handelspolitik der EU fungiert in diesem Zusammenhang einerseits als macht- und wirtschaftspoliti-sches Unterdrückungsinstrument, andererseits als entwicklungspoli-tischer Hemmschuh und Ausdruck westlicher (mitunter rassistischer) Überlegenheitsansprüche.

„Land Grabbing“

Einverleibung im Ausland liegen-der Gebiete praktizieren aber auch andere Regierungen und Konzer-ne. Private oder staatliche „Anle-gerInnen“ suchen anderswo nach Acker!ächen. Besonders oft kom-men sie aus bevölkerungsreichen Ländern wie China, Südkorea oder Saudi-Arabien, die selbst über wenig fruchtbaren Boden verfü-gen. Dieses „Land Grabbing“ führt mitunter dazu, dass für ortsansäs-sige Bäuerinnen und Bauern aus-reichend Land für die Versorgung der lokalen Bevölkerung fehlt. Das birgt auf Perspektive natürlich sozialen Sprengstoff in sich. Es ist kaum vorstellbar und auch nicht wünschenswert, dass afrikanische oder südamerikanische Bauern ruhig bleiben, wenn ihre Familien Hunger leiden, während neben ihrem Dorf auf den Feldern aus-ländischer „Investoren“ die Nah-rungsp!anzen üppig gedeihen. In

Afrika etwa sind die NutzerInnen des Landes meist nicht die Besitze-rInnen. Kambodscha und Uganda sind Beispiele dafür, dass Eliten ihre Macht nutzen, um sich große Land!ächen anzueignen und an europäische, amerikanische, chi-nesische oder arabische Konzerne verhökern. Die VerliererInnen sind immer die gleichen: die Kleinbäue-rinnen und Kleinbauern.

Fleischkonsum und Biosprit

Darüber hinaus fallen solchen Landnahmen oft auch riesige Flächen Regenwald und andere wertvolle Ökosysteme zum Opfer. Es gibt einen immer höheren Nut-zungsdruck, ausgelöst durch das Bevölkerungswachstum; überdies werden den KonsumentInnen in den Industrieländern immer grö-ßere Mengen Fleisch zum Konsum angeboten. Deshalb werden mehr Flächen für den Anbau von Fut-termitteln gebraucht. Außerdem steigt die Nachfrage nach Ener-giep!anzen. Stichwort „Biosprit“, wenngleich der Begriff in diesem Kontext wohl eher zynisch anmu-tet. 79.000 Quadratkilometer Agrarland sind in den vergange-nen 30 Jahren weltweit unbrauch-bar geworden. Das ist eine Fläche, so groß wie Österreich. Wir hatten im selben Zeitraum Zugewinne von 25.000 Quadratkilometern. Doch für dieses Neuland wurden oft wertvolle Ökosysteme wie der Regenwald unter den P!ug genom-men.

FAO:Food and Agriculture Organization – UNO-Organisation für Land-wirtschaft und Ernährung

Seit den 1980er Jahren müssen die ärmsten Län-der mehr Nahrungsmittel importieren als sie expor-tieren. Ihre Rohstoffe und Agrarflächen eignen sich verstärkt transnationale Agrarkonzerne an, die damit Profit machen.

„Land grabbing“ in Uganda:

Mindestens 22.000 Kleinbäuerinnen und Kleinbauern

wurden vertrieben, weil die Regierung ihre Ländereien an

Großunternehmen verkaufte oder ver-pachtete. Niemand ging aus freien Stü-

cken, niemand wurde entschädigt.

Oxfam:…ist kein Pharmaunter-nehmen, sondern eine

seit 1942 tätige Hilfs- und Entwicklungsorganisati-on („Oxford Committee

for Famine Relief“), die sich weltweit gegen Hun-

ger, Armut und soziale Ungerechtigkeit einsetzt.

Biosprit:Getreide, Raps, Mais, Soja oder Zuckerrüben können auch zu „Biosprit“ verarbeitet werden. In den letzten Jahren zeigte sich immer deutlicher ein Zusammenhang zwischen steigendem Ölpreis und steigendem Preis für Getreide und Zucker. Weil immer mehr Betriebe an die Industrie verkaufen, werden die Nahrungsmit-tel knapper und steigen die Preise. Die Ernährung der Armen konkurriert damit mit dem Autoan-trieb der Reichen.

Landnahme:Inbesitznahme oder Besie-delung eines Territoriums

„Die Früchte gehören euch allen, aber der Boden gehört niemandem.“

Martin Oppenauer

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Seinen Kopf!So schnell kann‘s gehen: 80 Millionen Klicks auf Youtube. Für ein 30-minütiges Video wahrscheinlich ein Rekord. Auf Facebook entkam man „Kony 2012“ beinahe nicht mehr. Der Ruf nach einer „Video-Block“-Funktion wurde immer lauter. Warum die Kampagne einen schalen Beigeschmack verursacht.

ie Kampagne „Kony 2012“ ist heftig umstritten. Einerseits, weil sich der Bösewicht im

Video, der Warlord und Rebellenchef Joseph Kony, seit Jahren nicht mehr in Uganda aufhält, der (Werbe-?)Spot also schon veraltet ist. Andererseits, weil die Drahtzieherin der Internet-kampagne, die NGO „Invisible Child-ren“, unverantwortlich mit ihren Spendengeldern umgehen soll. Kri-tik an der Methodik des Videos blieb jedoch weitestgehend ausgespart.

Manipulation?

Wieso ist der Kurz"lm so schnell bekannt geworden? Womit haben die Filmemacher gearbeitet? Eine Szene prägt sich den Zuschauenden besonders genau ein: Dem Sohn des Regisseurs wird ein Bild gezeigt und erzählt, dass der Mann auf dem Foto, Kony, böse sei. Er entführe Kinder, gebe ihnen ein Gewehr und lasse sie auf Menschen schießen. Ohne nach-zufragen, glaubt der Sohn natürlich

sofort seinem Vater: „We should stop him.“

Ähnlich wie das Kind verhielten sich auch viele PosterInnen: Einmal das Video gesehen, schon geshared. Und wenn man die Welt wirklich verändern will, postet man es noch seinen besten FreundInnen auf die Pinnwand. Das beworbene „Action Kit“ um 30 $ könnte man ja auch noch online erwerben! Ein Klick, gekauft. Inhalt: zwei Armbänder, Buttons und ein paar Plakate mit Kony als Motiv

zum Aufkleben. „Moment mal!“, denkt sich jetzt vielleicht der kritische Geist. „Ich kann doch nicht das Gesicht eines Menschen in meiner ganzen Stadt plakatieren, nur weil ich ein einziges Video über ihn gesehen hab!“ Offen-bar doch. Die mitreißende Wirkung des Videos ist nicht zu verleugnen. Sämtliche Informationsbeschaffung von außerhalb scheint lächerlich und über!üssig. Man weiß es einfach: Kony ist böse! Wie in „Die Welle“ von Morton Rhue erfasst das Video die

Weiße AmerikanerInnen retten arme hilflose afrika-

nische Kinder. Oder sind „Invisible Children“ nur die

nützlichen Idioten, um noch mehr Waffen und Militär nach

Zentralafrika zu schicken? Das Video soll nicht Inter-esse am Konflikt und den

Problemen in Uganda wecken. sondern strotzt vor Paterna-lismus. Stimmen Betroffener

kommen kaum vor.

„Kony 2012“

D

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Social-Media-Welt und spaltet sie in BefürworterInnen und Kri-tikerInnen.

All jene, die dagegen anschreiben, setzen sich in den Augen der BefürworterInnen automatisch dafür ein, dass es weiterhin KindersoldatInnen gibt. Auf der gerechten Seite ste-hen die USA, die Regierung Ugan-das und die AktivistInnen, auf der ungerechten Seite steht Kony mit seiner „Lord’s Resistance Army“. Die Geschichte lehrt uns jedoch: Es gibt nicht nur Gut und Böse. BefürworterInnen der Kampa-gne behaupten weiter: Selbst wenn die Argumentation und die Organisation fragwürdig sind, die „Sache“, wofür sie sich einsetzen, sei doch durchaus gut.

Für eine gute Sache?

Geht es „Invisible Children“ wirk-lich um Gerechtigkeit? Einmal abgesehen von den unverhältnis-mäßigen Ausgaben für eine NGO stellt sich die Frage nach deren Forderungen. » „Make Kony famous“ – Nicht die KindersoldatInnen stehen im Vordergrund, es ist Kony.

Man soll auf jede Hauswand sein Gesicht plakatieren und über ihn reden. Kony, Kony, Kony. Das Rekrutieren von KindersoldatInnen verkommt zu einer bösen Sache, ausge-führt von Kony allein. Ohne ihn gäbe es die „Lord’s Resistance Army“ nicht. Doch stimmt das? Seit wann verändern sich die Verhältnisse wesentlich, wenn man den Kopf einer Organisa-tion abschlägt?

» „We will ! ght war“, ruft ein ergreifender Chor von Kinder-stimmen im Video. Doch wie und womit wollen sie Krieg bekämpfen? Einige Minuten später verkündet der Regis-seur Russel, dass der Frie-densnobelpreisträger Barack Obama ein Kontingent von 100 Spezialeinheiten nach Uganda

schicken will. Kon! ikte mit Krieg bekämpfen also. Das hat bisher noch nie besonders gut funktioniert. Zur Auffrischung: „Bombing for peace is like fucking for virginity!” Alle Akti-onen von „Invisible Children“ haben übrigens das Ziel, den Druck auf PolitikerInnen zu

erhöhen, damit die SoldatIn-nen nicht abgezogen werden. Doch ist eine Intervention der USA wirklich wünschenswert? Wenn man sich die Situation im Irak und in Afghanistan anschaut, kann man das wohl eher anzweifeln. Nach unzähli-gen Jahren Krieg ist ein Ab! a-chen der Gewalt nicht in Aus-sicht – im Gegenteil: Die Gewalt ist auf einem höheren Level als vor der Intervention!

Plumpe Propaganda

„Kony 2012“ ist letzten Endes leider nichts mehr als ein plum-pes Stück Propaganda, welches die neue Social-Media-Welt inte-griert hat. Natürlich steht außer Frage, dass es wichtig ist, auf die Situation der Menschen in jenen Regionen aufmerksam zu machen, über die in westlichen Medien nur allzu oft der Mantel des Schweigens gehüllt wird. Aber nicht einmal das schafft der Kurz" lm wirklich, denn neben der Tatsache, dass das Video-material teilweise aus dem Jahr 2003 stammt und damit zweifel-los veraltet ist, werden die Suda-nesische Volksbefreiungsarmee und die Armee Ugandas als wah-re Heilsbringerinnen dargestellt. Beide sind jedoch selbst mit Vor-würfen über Misshandlungen und Plünderungen konfrontiert. Außerdem wurden im Video eini-ge Zahlen nach oben hin verän-dert: So verfügte Kony etwa zu keinem Zeitpunkt über 30.000 KindersoldatInnen.

Natürlich ist jedeR einzelne KindersoldatIn eineR zu viel. Und zweifellos gehört Kony vor ein Gericht. Aber ob das Finden und Verurteilen einer einzelnen Per-son etwas an der tatsächlichen Lage der Bevölkerung ändert, ist mehr als fraglich. Dringender wären Maßnahmen, die direkt den Menschen helfen – zum Beispiel der Ausbau von medi-

zinischer Versorgung und die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen.

Es bleibt zu hoffen, dass viele der BefürworterInnen der Kony-2012-Kampagne sich auch wei-terhin für die Situation in Zent-ralafrika interessieren – und, während sie sich durchs Internet

klicken, auch auf einige kritische Seiten stoßen, die sie dazu brin-gen, ihre Meinung zu re! ektieren.

Louis Reumann,Julia Jakob

Politik in Uganda

Seit 1986 wird Uganda von Präsident Museveni regiert. Dieser wird mit Wahlfälschungen in Verbindung gebracht, lässt Opposi-tionelle verhaften und Homosexuelle verfolgen. Musevenis brave Befolgung der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) führte dazu, dass 1998 schon 70 Prozent aller früheren Staatsunternehmen einer Privatisierungswelle zum Opfer fielen. Zudem spielt Ugandas Regierung auch im benachbarten Kongo eine zweifelhafte Rolle: Ugandische Streitkräfte beteiligen sich an der Plünderung und Ausbeutung der begehrten kongolesischen Bodenschätze. Auch die „Lord´s Resistance Army“ von Rebell Kony wildert im Kongo.

Wirkliche Probleme

Die wirklichen Probleme, unter denen die ugandische Bevöl-kerung leidet, sind Krankheiten wie das „nodding disease“, eine Schüttellähmung des Kopfes, unter der tausende Kinder leiden. Auch das Malariafieber ist weit verbreitet. Dazu kommen hohe Schulgebühren und fehlende Bildung, grassierende Armut und hohe Korruption. Auch auf sicherheitspolitischer Ebene lauern Gefahren: Da wären etwa die in der ehemaligen Hauptstadt Entebbe gelagerten, ungesicherten Proben höchst gefährlicher Biostoffe wie Marburg- oder Ebolavirus. Oder die Beteiligung an der militärischen Beseitigung der islamistischen al-Shabaab-Miliz in Somalia, die tödliche Vergeltungsanschläge zur Folge hatte.

Auswirkungen von „Kony 2012“

Die durch die Internet-Kampagne erreichte kurzfristige Medien-öffentlichkeit und Aufmerksamkeit dient in erster Linie dazu, die Präsenz von US-Spezialkräften in Uganda zu rechtfertigen. Seit Oktober 2011 jagen US-Elitesoldaten den Rebellenchef. Immer wieder wird Kritik laut, „Kony 2012“ liefere nur einen Vorwand für militärische Interventionen in Zentralafrika. Seit der Entdeckung von Ölreserven vor 3 Jahren würden die USA danach trachten, ihre Präsenz in der Gegend zu verstärken. Keine Freude mit „Kony 2012“ hat Ugandas Tourismusbranche, die Buchungseinbrüche befürchtet.

Factbox

Achse des Bösen? Kony in einer Reihe mit Osama Bin Laden und

Adolf Hitler (!). Die Kampagne zeichnet

ein einfaches Bild von Gut und Böse, ohne auf tatsächliche Ursachen und Lebensumstände in Uganda einzugehen.

Niemand weiß, ob Kony überhaupt noch am

Leben ist.

Im ostafrikanischen Bin-nenstaat Uganda leben 31 Millionen Menschen.

„Lord´s Resistance Army”:Die „Widerstandsarmee

des Herrn”wurde 1987 als paramilitärische Gruppe

unter Kony gegründet, kämpft für die Errichtung

eines Gottesstaats und soll tausende Kinder

entführt haben.

Konflikte mit Krieg bekämpfen also. Das hat bisher noch nie besonders gut funk-

tioniert. Zur Auffrischung: „Bombing for peace is like fucking for virginity!”

INTERNATIONALES              25INTERNATIONALES              25

Als das fleischgeworde-ne Böse wird der Rebel-lenführer Joseph Kony im Video dargestellt. Die Kampagne erwähnt mit keinem Wort die elenden Zustände im Norden Ugandas, die überhaupt den Nährbo-den für Konys Armee geschaffen haben.

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eineR von uns ist gefeit davor, in irgendeiner Art davon beein!usst zu wer-

den. „Schönheit“ ist schon lange eine Kategorie, die wir nicht selbst bestimmen. De"niert wird sie von anderen.

Ausgangslage: „Schönheit“ verändert sich.

Was wann schön war, wurde immer wieder neu de"niert. Würde eine Frau, die der heutigen Wunschvor-stellung entspricht, auf einem baro-cken Fest herumlaufen, sie wäre wohl die Aufregerin des Abends. KeineR der Gäste würde sie wohl als „schön“ bezeichnen. Dass es im Barock als erstrebenswert galt, eine sogenannte korpulente Figur zu haben, ist hinlänglich bekannt. Wer es sich leisten konnte, zu fei-ern, zu essen und einem „lustvol-len“ Lebensstil zu frönen, konnte ja gar nicht extrem dünn sein. Aber auch hier bröckelt die Fassade, wenn wir genauer hinsehen: In der Öffentlichkeit sollten auch damals

Frauen ihre Körper so bearbeiten, dass sie sich von männlichen Zeit-genossen abheben und dadurch in der altbekannten Logik auch „schö-ner“ aussehen.

Von der Wespentaille…

Gemeint sind Korsette, die allen eine Wespentaille gezaubert haben. Dass das Tragen dieser Kleidungsstücke für die Gesundheit nicht sonderlich zuträglich war, liegt auf der Hand. Aber mit Schönheitsidealen wur-de nicht erst im Barock begonnen, auch in den Epochen davor wurde den Menschen auferlegt, wie sie im Idealfall auszusehen haben. Schon immer war es so, dass jene, die nicht der Norm entsprechen, „rausfallen“. Dabei waren Frauenkörper zu jeder Zeit im Fokus. Mal war es wichtig, besonders weiblich zu sein, dann wieder sollte frau möglichst in der Öffentlichkeit nicht auffallen.

…zur Unauffälligkeit

Im christlich geprägten Mittelalter

beispielsweise war jedes Augen-merk auf Körperlichkeit verpönt, für Frauen war es oberstes Gebot, nicht zu provozieren. Wir kennen Kunst-werke der Renaissance, einer Zeit, in der die vorangehende Lebensart auf den Prüfstand gestellt wurde – allerdings mit Normierungen, die vielleicht nur beim zweiten Blick auffallen. Die Darstellung unver-hüllter Körper war wieder erlaubt, der Rumpf durfte ruhig Rundungen haben, Arme und Beine sollten aber recht grazil wirken und besonders wichtig war ein blasser Teint. War der nicht gegeben, konnte mit diver-sen – eher ungesunden – Hilfsmit-teln aufgehellt werden.

Schlank, dünn, dürr.

Machen wir einen Sprung ins letzte Jahrhundert, in dem sich die Vorstellungen von Schönheit oft geändert haben. Dennoch ist seit Jahrzehnten ein klarer Trend erkennbar, der wohl schön langsam seinen Höhepunkt erreicht hat: Wir sollen besonders eines sein, näm-

lich dünn. Ikonen, an denen wir uns orientieren sollen, haben sich in den letzten 50 Jahren ständig ver-ändert. Marilyn Monroe zum Bei-spiel hatte Kleidergröße 42, für uns heute eigentlich schwer vorstellbar. Wir bekommen ständig vermittelt, dass bei Größe 36 eigentlich Schluss sein sollte. Die Next-Topmodel-Castings laufen jährlich im Fernse-hen. Dort werden junge Frauen zu „Mädchen“ gemacht. Wer zu „nor-mal“ ist, darf sowieso schon nicht

mitmachen, wer nicht !eißig genug an der Selbstaufgabe arbeitet, !iegt raus. Passt eigentlich ganz gut in die herrschenden Verhältnisse.

Schönheit

Ich habe heute leider kein Foto für dich!

Wöchentlich !iegt eines der Topmodels aus der gleichnamigen Show, weil sie nicht genug geleistet hat. Von Plakatwänden grinsen uns extrem dünne, aber natürlich wunderschöne Frauen entgegen, die irgendwelche Produkte bewerben, mit denen sie in der Regel eigentlich gar nichts zu tun haben.

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Foto: www.sxc.hu, cesarpb

Bei “Next Topmodel” sind unmenschliche Maße à la Barbiepup-pe gefragt. Schon junge Frauen mit einer Körpergröße 1,76 Metern und einem Gewicht von 52 Kilo sind „zu dick“.

Die Next-Topmodel-Castings laufen jährlich im Fernsehen. Dort werden junge Frauen zu „Mädchen“ gemacht. Wer zu

„normal“ ist, darf sowieso schon nicht mitmachen, wer nicht flei-ßig genug an der Selbstaufgabe

arbeitet, fliegt raus.

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Problem: „Schönheit“ und ihre Folgen

Langer Rede, kurzer Sinn: Die sich ständig ändernden Schönheitsideale suchen wir uns nicht selber aus, sie pas-sen in die gesellschaftlichen Verhältnisse und werden recht geschickt konstruiert. In ers-ter Linie sind davon – wie seit eh und je – Frauen betroffen, aber Schönheitswahn macht auch vor Männern nicht halt. Die gute Nachricht: Was nicht immer so war wie es ist, kön-nen wir verändern. Dass der Handlungsbedarf bei dem Thema dringend notwendig ist, zeigen einige Zahlen: 90 Pro-zent der Frauen weltweit sind mit ihrem Körper unzufrieden, 25 Prozent der 7- bis 10-jähri-gen Mädchen in Europa haben bereits Erfahrungen mit Diä-ten und 92 Prozent der jungen Frauen in Österreich haben einen normalen BMI, aber füh-len sich dennoch zu dick. Das Diktat um die Schönheit hat Formen angenommen, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben, die kaum wer erreichen kann und die krank machen. Wir müssen was tun!

Masterplan: „Schönheit“ verändern

Dass das Private politisch ist, wissen Feministinnen schon lange. Wenn die wohl privates-te Sache der Welt, der eigene Körper, von der Welt, in der wir leben, dermaßen geformt und beeinträchtigt werden soll, dann muss die Politik handeln. Es ist nicht einfach, als einzel-ne Person zu sagen: „Schön-heitsideal, mir egal!“ Leichter fällt das natürlich, wenn man

dabei nicht allein ist und es Räume gibt, in denen wir uns frei bewegen können, egal ob unser Körper irgendwelchen Vorstellungen entspricht oder eben nicht. Räume, in denen Aussehen nicht das Erste ist, über das wir uns und andere de"nieren. Aber das kann nicht alles sein! Es ist nicht die Aufga-be von jungen Frauen allein, sich gegen diese herrschenden Ver-hältnisse zu wehren. Immerhin leben, arbeiten, lernen wir ja in der „normalen“ Welt, die uns vorschreiben will, wie wir zu sein haben. Da kann sich nicht jedeR immer widersetzen und selbstbewusst aus der Rolle fallen. Die informellen Regeln, wie sehr wir unsere Körper bearbeiten müssen, brauchen Gesetze, die Schranken aufzei-gen und sagen: Es reicht.

Kämpfen lohnt sich.

In Israel wurde dieses Jahr ein Gesetz beschlossen, mit dem Werbungen gewisse Regeln gesetzt werden. Werden Men-schen abgebildet, die mit Pho-toshop bearbeitet wurden und in dieser Form gar nicht exis-tieren könnten, muss künftig eine Kennzeichnung darauf hinweisen. Außerdem wurde ein Mindestgewicht für Models festgeschrieben, das noch immer gering ist, aber nicht mehr tödlich enden kann. In mehreren europäischen Län-dern wird mittlerweile offen diskutiert, Gesetzesvorschlä-ge werden erarbeitet und das Thema bekommt schön lang-sam die Aufmerksamkeit, die es dringend braucht. In Österreich dreht sich die Uhr wieder mal etwas langsamer. Aber immerhin: Hier wird an

Gesetzen zum Themenkomplex Schönheitsoperationen gear-beitet, wo es zumindest eine Altersgrenze geben soll. Eine Debatte über Werbungen und den Schönheitswahn abseits des OP-Tisches gibt es noch nicht. Aber die Diskussionen werden kommen. Die Frauen, die die Forderungen aufstellen stehen in den Startlöchern.

Gesetzestexte allein ändern aber immer noch keine Gesell-schaft. Körperbewusstsein und Sexualität müssen auf eine fort-schrittliche Weise in der Schule Thema sein. Es ist nicht jede ihres eigenen Glückes Schmie-din, nein, hier ist der Staat an der Reihe zu garantieren, dass junge Menschen lernen, ein gutes Gefühl für ihre Bedürf-nisse und ihren Körper zu ent-wickeln. Wenn wir in einer Welt leben, in der sich 92 Prozent der normalgewichtigen jungen Frauen zu dick fühlen, dann muss gehandelt werden. Wir machen einen Anfang und

meinen, „Schönheitsideal, uns egal!“. Wenn es dir auch reicht, dann mach mit – gemeinsam kämpfen wir gegen die derzeit diktierten Vorstellungen von Schönheit und ändern damit auch ein kleines bisschen die Welt.

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Wespentaille:…galt als anzustreben-des Ideal und steht für eine besonders schmale, betonte Taille, wobei die Verschmälerung oftmals durch Gürtel, Corsagen oder Korsetts erfolgt.

BMI:Der Body Mass Index

ist eine Maßzahl für die Bewertung des

Körpergewichts eines Menschen in Relation zu

seiner Körpergröße.

Räume:Nicht nur in Österreich haben sich in den letz-ten Jahren feministische Gruppen gegründet, die der Dickenfeindlichkeit und der Dünnenbejube-lung den Kampf ange-sagt haben, bei uns wäre das die „ARGE Dicke Weiber“. Sie treffen und vernetzen sich, stellen Forderungen auf und führen der Öffentlich-keit vor, was Frauen angetan wird, die nicht in das Wunschschema passen. Solche Räume machen wir uns aber auch selbst, zum Beispiel mit dem feministischen Seminar der SJ Öster-reich, for girls only.

Laura Schoch

Topmodel-Show Ausgehend vom US-Format “America´s Next Topmodel” sind die Topmodel-Shows auch auf Europa übergeschwappt. Seither geistern Begriffe wie „Casting“, „Catwalk“, „Briefing“ und „Shooting“ durch Europas Wohnzimmer. Das Prinzip ist immer dasselbe: Ein Topmodel (in Deutschland etwa Heidi Klum) sucht eine würdige Nachfolgerin. Das Erfolgsrezept der Show ist es, Gefühle zu produzieren und Emotionen zu schüren (z.B. jemanden zum Weinen bringen). Oftmals werden einzelne Kandidatinnen als „die Böse“ oder „Zicke“ gehandelt – es zählt der Unterhaltungswert. Scheinbare ExpertInnen bewerten die Kandidatinnen und geben oft menschenunwür-dige Feedbacks („Du hast keine Persönlichkeit“, „Du läufst wie ein Elefant“). Junge Frauen werden für höhere Einschaltquoten bloßgestellt, was viele in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Identität erschüttert. Die Staffeln beginnen oft damit, dass die Kandidatinnen umgestylt werden – andere bestimmen, wie die Frauen auszusehen haben. Dennoch treibt der Drang nach Berühmtheit, die Suche nach Idolen und der Wunsch der Traumverwirklichung der Sendung weiter Kandidatinnen zu. Jenen Kandidatinnen, die rausfliegen, verkündet die Moderato-rin: „Ich hab heute leider kein Foto für dich.“

Factbox

Die SJ-Castingshow „Austria´s Next Topfmodel“ machte Station in St. Pölten.

Wenn wir in einer Welt leben, in der sich 92 Prozent der normalgewichtigen jungen Frauen zu dick fühlen, dann muss gehandelt werden.

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rgendwie haben sie schon recht – all diese „Politike-rInnen“ und die sogenannte

„Content-Ma"a“ . In den letzten Jah-ren sind die CD- sowie DVD-Verkäufe eingebrochen, arme KünstlerInnen wie Anna F. verdienen plötzlich nur mehr 100.000 Euro im Jahr und im Endeffekt nutzt die Mehrheit von uns Streaming-Seiten oder Downloadka-näle. Richtig schämen sollte man sich, wenn man das hört! Und betrachtet man das von dieser Seite: Ja, dann ist es kein Wunder, dass man nach einem Instrument sucht, den bösen down-loadenden Jugendlichen die Hände zu binden und sie an den gewohnten Verkaufsmarkt zu fesseln.

Schön vor der eigenen Haustüre kehren

Bevor ich auf ACTA eingehe, ist es einmal wichtig festzuhalten, dass die Musik- und Filmindustrie schon zum Teil selbst für die für sie nicht zufriedenstellende Situation mitver-antwortlich ist: Nach Jahren der Glo-balisierung und Digitalisierung will niemand mehr auf die ein Jahr ver-spätete Übersetzung von „Dr. House“ oder das CD-Album irgendeiner Band warten. Hält man den europäischen Markt nicht gezielt mit verspäteten Release-Zeiten an der kurzen Leine? Führt das nicht genau dazu, dass europäische Fans wir verrückt auf

die Streaming-Seiten ausweichen? Hat sich die Musik- und Filmindust-rie nicht jahrelang gegen Programme wie iTunes gewehrt und auf die 15 bis 20 Euro teuren CDs beharrt, gleich-wohl die Menschen vielleicht nur den Ö3-Hit von Rihanna und nicht ihr ganzes Album kaufen wollten? Und sträubt sich dieses „Business-Modell“ nicht bis heute vor progressiven Ide-en, die sich am Konsumverhalten im Internet orientieren?

Und jetzt zur „Mama“ laufen?

Jetzt, nachdem das Vordringen des Internets mit all seinen Nebenwir-kungen in den letzten 15 Jahren ver-schlafen wurde, ist es schon etwas verlogen, mit dem Zeige"nger zu kommen, bei den großen Industrie-staaten an die Türe zu klopfen und um Hilfe zu winseln. Tja, da hat das „Big Business“ wohl selbst keine Strategie entwickelt. Und bis das nicht geschafft ist, sollen die Menschen offenbar wie-der brav auf konventionellem Weg überteuerte Produkte kaufen.

Ääätsch – Ihr habt hier nichts mitzureden!

ACTA selbst ist ein multilaterales Handelsabkommen, das Produkt-piraterie und Urheberrechtsverge-hen eindämmen – am besten sogar komplett verhindern soll. So stellen

es sich die BefürworterInnen zumin-dest vor. Das Abkommen ist nicht nur aufgrund seines Inhalts, sondern auch aufgrund der Art des Zustande-kommens höchst fraglich. Denn aus-gehandelt wurde es zwischen der EU und 10 weiteren Staaten, fernab der Öffentlichkeit und unter erheblichem Ein!uss der Unterhaltungs- und Softwareindustrie, der Pharmabran-che und den Verbänden aus Verlags-wesen und Markenschutz. Dieser Aspekt der Intransparenz bildet einen (von vielen) Kritikpunkt(en) an dem Pakt. Selbst dem Europäischen Parlament als Mitgesetzgeberin auf EU-Ebene war lange Zeit der kon-krete Inhalt dieses Abkommens nicht bekannt. Die Masse gegen das System – oder umgekehrt?

Fakt ist, dass die aktuelle ACTA-Dis-kussion eine fundamentale Kritik an der aktuellen Wirtschaftsordnung darstellt, was aber leider von vielen Anti-ACTA-AktivistInnen noch nicht realisiert wurde. In der aktuellen Offensive seitens des „Big Business“ geht es darum, das Feld des Internets voll und ganz marktwirtschaftlichen Logiken zu unterwerfen. Die Entrüs-tung unter vielen Jugendlichen zeigt, wie groß die Angst vor einer Gän-gelung und marktwirtschaftlichen Umkrempelung des Internets ist. Die

bisherigen Vorteile Internets sollen gewahrt bleiben – das scheint für viele Anti-ACTA-AktivistInnen alles zu sein. Dabei wirft ACTA auch die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit

auf. Denn künftig könnte durch die unzureichende De"nition von Kopie und Fälschung auch wichtige Generi-ka unter das ACTA-Abkommen fallen, die infolge nicht mehr verkauft wer-den könnten. Dies hat fatale Folgen für die Behandlung von Krankheiten in Entwicklungsländern, wo man primär auf diese (billigeren) Medika-mente angewiesen ist.

Ja – es geht um eine Systemfrage: „Gemeinwohl oder Pro"te für einzel-ne?“ Leben wir in einem Wirtschafts-system, in dem die Bedürfnisse und das Wohl aller im Zentrum stehen? Dann sollte weiterhin billige Generika in Entwicklungsländern vertrieben werden können. Dann sollte das Inter-net weiterhin freien und unkompli-

Fakt ist, dass die aktuelle ACTA-Diskussion eine funda-mentale Kritik an der aktuellen Wirtschaftsordnung darstellt, was aber leider von vielen Anti-ACTA-AktivistInnen noch nicht

realisiert wurde.

Netzpolitik

ACTA for Dummies“Schon wieder ein Artikel über ACTA…“ - Das denke ich mir zumindest gerade. Schon oft durch-gekaut, auf 2 Demos gewesen, Anträge dazu geschrieben und eigentlich von der aktuelleren Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung überschattet. Gerade deshalb geht es hier um neue Gedanken zur Politik im Netz.

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zierten Zugang zu Musik, Filmen und Information bieten.

Der lange Weg zum EuGH

Nichtsdestotrotz hat Österreich als eines von weiteren 22 EU-Ländern das Abkommen bereits unterzeichnet. Zwar bedeu-tet dies noch nicht, dass ACTA in Stein gemeißelt ist, jedoch erschwert es die Situation für das EU-Parlament, welches nun eigentlich am Zug wäre den Pakt entweder zu unterstützen oder in den Papierkorb wandern zu lassen. Nachdem ein Hickhack zwischen EU-Kommission, EU-Parlament, NGOs und der Zivil-gesellschaft ausgebrochen war, und zusätzlich dazu doch große Menschenmassen quer durch Europa gegen das Abkommen auf die Straße gingen, wurde vielen in Brüssel doch plötzlich mulmig bei ACTA. Also was tun? – Natürlich: Ein weiteres Organ wurde eingeschalten, nämlich der Europäische Gerichtshof (EuGH), der das Papier auf seine Rechtsmäßigkeit prüfen sollte. Dabei ging es wohl in erster Linie darum, KritikerInnen kurzzeitig ruhig zu stimmen und Zeit zu gewinnen. Dennoch muss das EU-Parlament vor Sommer-pause über ACTA abstimmen. Dies hat der Handelsausschuss des Parlaments am 27. März beschlossen. Da das Abkom-men schon von vielen Ländern unterzeichnet wurde, kann es im EU-Parlament aber nur noch im Gesamtpaket abgestimmt werden. Es besteht somit keine Möglichkeit, einzelne Punkte im

Pakt zu verändern oder heraus-zustreichen. Für jene Abgeordne-ten, die entschlossenes Vorgehen gegen Produktpiraterie befür-worten, kann dies bedeuten, dass sie schlicht für das Gesamtpaket stimmen, obwohl ACTA nicht in all seinen Facetten geteilt wird und vieles offen bleibt.

Wohin die Diskussion gehen müsste

Aufgrund der zuvor genannten Umstände und vieler mehr, kann nur ein Veto gegen ACTA in Fra-ge kommen. Zumindest sollte

man das erwarten. Auch viele SPÖ-Abgeordneten auf lokaler, nationaler und nun auch auf EU-Ebene sind gegen das Abkom-men - und das ist gut so! Es gilt sich zusammenzuschließen und gemeinsam laut gegen dieses höchst fragwürdige Papier auf-zutreten. Trotz alledem bleiben selbst bei einem „Nein“ zu ACTA viele Fragen offen:Wie kann sichergestellt werden, dass KünstlerInnen in Zukunft angemessen wertgeschätzt werden, ohne einem Geschäfts-modell ausgeliefert zu sein, das nur dazu dient, ManagerInnen, WerbeproduzentInnen und Ver-marktungshaien das Geld in den Rachen zu schieben? Ein schlich-tes Nein zu ACTA genügt nicht – es braucht im selben Atemzug auch Antworten auf solche Fra-gen. Bei ACTA geht es nicht nur um „unser“ Internet am Compu-ter, sondern um unterschiedli-che gesellschaftliche Fragen wie etwa Verteilungsgerechtigkeit und den Zugang zu Ressourcen und Informationen. Damit rüt-teln wir mit unserer Kritik an ACTA an den Grundfesten unse-res Systems, das darauf aufbaut Pro" te zu maximieren, anstelle Fragen des „Gemeinwohls“ ins Zentrum zu Setzen.

ACTA ad ACTA

Dank ACTA diskutiert nun eine breite Öffentlichkeit über Netzpolitik und all die damit zusammenhängenden Frage-stellungen. Wir müssen unsere Stimme deshalb gegen ACTA erheben, weil man gerade ver-

sucht, elementarste Grundrech-te wie Privatsphäre und Daten-schutz abzuschaffen. Und zwar zugunsten von Pro" ten und der Vormachtsstellung gewinnori-entierter Unternehmen und der Vermarktungsbranche.

Deshalb: Seien wir die „Space Invaders“, die dieses Papier verhindern und öffnen wir uns als SJ für weitere netzpoliti-sche Agenden. Darum bleibt nur mehr zu sagen: Möge die Macht mit uns sein - ACTA ad Acta!

Leonie Tanczer

Wie kann sichergestellt werden, dass Künstle-rInnen in Zukunft angemessen wertgeschätzt

werden, ohne einem Geschäftsmodell ausgelie-fert zu sein, das nur dazu dient, ManagerInnen,

WerbeproduzentInnen und Vermarktungshaien das Geld in den Rachen zu schieben?

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JA NEIN

22 EU-Staaten unterzeichnen ACTA in Tokio (außer Zypern, Estland, Slowakei, Deutschland, Niederlande)

Entwurf verö!entlicht

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RechtsausschussBerichterstatterin: Marielle Gallo(EVP)

EntwicklungsausschussBerichterstatter: Jan Zahradil(EKR)

Ausschuss für Internationalen HandelBerichterstatter: David Martin(S&D )

Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie Berichterstatterin: Amelia Andersdotter(Grüne)

Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und InneresBerichterstatter: Dimitrios Droutsas(S&D)

Europäischer Gerichtshof

ACTA tritt in Kraft, wenn es von allen Mitgliedsstaaten rati"ziert wird

ACTA scheitert in der EU

EmpfehlungEntscheidung

Überweisung (optional)

Plenarsitzung

Meinungen

O#zielle Verhandlungen

Beginn der Gespräche

Finale Fassung

EP will, dass alle ACTA-Dokumente verö!entlicht werden

Australien, Kanada, Japan, Marokko, Neuseeland, Singapur, Südkorea und die USA unterzeichnen ACTA

ACTA wird o#ziell an das EP überwiesen

2. F

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Quellen: Europäisches ParlamentEuropäische Kommission

EUROPÄISCHES PARLAMENT

Die Grafik veranschaulicht die Entstehungsgeschichte von ACTA sowie den weiteren Entscheidungsprozess

(Quelle: www.europarl.europa.eu)

ACTA:Anti-Counterfeiting Trade Agreement (Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen

Generika: …sind Arzneimittel, die eine wirkstoffgleiche Kopie eines bereits unter einem Markennamen auf dem Markt befindlichen Medikaments sind.

Menschenmassen mit Anti-ACTA-Handschil-dern und Guy-Fawkes-Masken gehörten zum Landschaftsbild vieler Staaten im Februar die-ses Jahres. Die Maske bezieht sich auf den britischen Offizier Guy Fawkes (1570-1606), der versuchte, das eng-lische Parlament in die Luft zu sprengen, um die Befreiung politisch Gefangener sicherzu-stellen. Das Symbol der Widerstandsbe-wegung geht auf den Comic und Film „V wie Vendetta“ zurück.

Page 30: Trotzdem 01/12

30                    KALENDER30                    KALENDER

Exkursion

Auschwitz Studienreise

Auch das Jahr 2012 begann für 30 AktivistInnen der Sozialistischen Jugend wieder mit einer spannenden Studienriese in das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz/Birkenau. Neben Gesprächen mit Zeit-zeugInnen standen auch Workshops und Diskussionsrunden zu den Themen Rechtsextremismus oder Faschismus, sowie die Besichti-gung des Lagerkomplexes und eine Exkursion nach Krakau auf dem Programm. In dem 1940 auf Befehl von Heinrich Himmler errich-teten Lager kamen über eine Million Jüdinnen und Juden, sowie Zigtausende Roma und Sinti, unzählige „aus politischen und anderen Gründen“ Deportierte und sowjetische Kriegsgefangene ums Leben.

Seminar

Wintersportfest

Über 300 Jugendliche aus Niederösterreich, Oberösterreich, dem Burgenland und der Steiermark kamen Ende Jänner in der Jugend-herberge Hüttau zum Wintersportfest zusammen. Den Teilneh-merInnen bot sich ein regelrechtes „Winter-Wonderland“. Neben dem nahegelegenen größten Skigebiet Österreichs sorgte auch die Therme amadé für Unterhaltung.

Demonstrationen

NEIN zu ACTA

Jänner und Februar waren geprägt von österreichweiten Protes-ten gegen das geplante Produktpiraterieabkommen „ACTA“, an denen sich federführend auch die Sozialistische Jugend beteilig-te. In fast allen Landeshauptstädten wurden Demonstrationen organisiert, zusätzlich dazu bündelte die SJ auch innerhalb der

SPÖ die Proteststimmung gegen ACTA und veröffentlichte einen Offenen Brief, den zahlreiche FunktionärInnen der Sozialdemo-kratie unterzeichneten. Der Widerstand gegen ACTA (und ähnli-che Projekte wie IPRED) wird auch in den kommenden Wochen und Monaten weitergehen.

Seminar

FEMSEM 2012

Rund um den Weltfrauenkampftag, dem 8. März, ging auch heuer wieder das feministische Seminar (kurz: Femsem) der Sozialisti-schen Jugend über die Bühne. Rund 70 Frauen aus ganz Österreich verbrachten von 16. bis 18. März ein gemeinsames Wochenende voller Feminismus, Filmabenden, Spielen, Spaß, Partys und span-nender Workshops. Einer der Höhepunkte des diesjährigen Fem-sems war die Diskussion mit SPÖ-Bundesfrauengeschäftsführerin Andrea Mautz. Das Video "ndest du im Youtube-Channel der SJÖ.

Bildungsveranstaltung

Krisengipfel

Anlässlich der Spar- und Kürzungsoffensive, die gerade Europa überrollt, rief die SJ am 24. März einen Krisengipfel im Bruno-Kreis-ky-Forum ins Leben. In den spannenden Workshops „Deutschland und die Euro-Krise“, „Ungleichverteilung in Österreich“, „Arbeits-welt in der Krise“ und „Ökonomische Ungleichgewichte“ und „Wege aus der Staatsverschuldung“ diskutierten Jugendliche gemeinsam mit ÖkonomInnen aus dem In- und Ausland. Bei der Podiumsdis-kussion am Abend debattierten u. a. die deutsche Volkswirtin Frie-derike Spiecker, Dr. Jörg Flecker von der FORBA Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt, Elisabeth Springler von der FH des BFI Wien, Staatssekretär Andreas Schieder und MEP Hannes Swoboda.

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KALENDER              31KALENDER              31

Volksbegehren

Volksbegehren für Steuergerechtigkeit

Auf allen Gemeinde- und Bezirksämtern liegen seit 2. April die Unterstützungserklärungen für das „Volksbegehren Steuerge-rechtigkeit – Menschen entlasten. Vermögen besteuern“, zur Unterschrift auf. Nimm dir 15 Minuten Zeit und unterschreib für die Einführung von Vermögenssteuern.

Maikundgebungen

Fackelzug

Einen Tag vor den traditionellen Maikundgebungen am Tag der Arbeit, hält die Sozialistische Jugend Wien am 30. April wieder ihren Fackelzug durch die Wiener Innenstadt ab. Passend zur derzeitigen Jugendumfrage der SJ Wien wird der Fackelzug unter dem Motto „Raise your voice – für mehr Demokratie“ von der Oper (Treffpunkt 20 Uhr) zum Rathausplatz ziehen, wo es wieder eine große Abschlussparty geben wird.

Seminar

Antifa-Seminar

Der krönende Abschluss des Antifa-Monats 2012 ist das antifa-schistische Seminar der Sozialistischen Jugend. Heuer "ndet das Antifa-Seminar von 11. bis 13. Mai im Europacamp in Weißen-bach/Attersee statt. Gemeinsam mit 200 Jugendlichen aus ganz Österreich können die TeilnehmerInnen die Chance nützen, sich in 13 verschiedenen Workshops fortzubilden. Zusätzlich dazu erwartet das Antifa-Seminar heuer wieder internationale Gäste, etwa die Falken aus Deutschland oder ANIMO Belgien. Zeitzeu-gInnengespräche und eine Exkursion stehen auch auf dem Pro-gramm. Jetzt anmelden unter www.sjoe.at!

Gedenkveranstaltung

Befreiungsfeier

Die Teilnahme an den Befreiungsfeierlichkeiten im ehemaligen KZ Mauthausen ist traditionell ein Fixpunkt im SJ-Jahrespro-gramm. Heuer beteiligen sich wieder hunderte SJ-Mitglieder an der Gedenkfeier am 13. Mai.

Bildungsveranstaltung

Internationales Seminar

Die Bedeutung von internationaler Politik wächst in Zeiten von Globalisierung, weltumspannenden Produktionsketten und glo-balen wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten. Höchste Zeit für ein internationales Seminar, auf dem sich Interessierte u. a. in den Themen EU, arabische Revolution, Entwicklungspolitik oder US-Wahlkampf weiterbilden können. Das internationale Seminar "ndet im Gartenhotel Altmannsdorf statt.

Kulturveranstaltung

Festival des politischen Liedes

Ein Highlight für Musikbegeisterte ist das Festival des politischen Liedes – heuer u. a. mit der Linzer Hip-Hop-Band Texta, der deutsch-türkisch-italienischen Rapgruppe Microphone Ma"a, der italienischen Streetpunkband Los Fastidios oder der deutschen Rapperin Sookee. Wer sich das entgehen lässt, ist selbst schuld!

Internationales Seminar

ECOSY Summer Camp

Mehrere tausend AktivistInnen sozialistischer und sozialdemokra-tischer Jugendorganisationen aus ganz Europa tummeln sich zwi-schen 13. und 20. Juli im wunderschönen kroatischen Savudrija. Ein toller Mix aus politischem Programm, Diskussionen, internati-onaler Vernetzung, Party und Meergenuss ist zu erwarten.

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Trotzdem 1/2011 – Die Zeitung der Sozialistischen JugendVerlagspostamt: 1050 Wien – Aufgabepostamt: 3432 Tulln

P.b.b. Zulassungsnummer: GZ 02Z032957 S

DEN RECHTEN DIE ZÄHNE

ZEIGEN!

WAS DIE SOZIALISTISCHE JUGENDFÜR DICH ERREICHT HAT:

JUGENDPOLITIK: Wählen ab 16 Jahren, damit Jugendliche mehr Mit-

sprache haben Verkürzung von Präsenz- und Zivildienst auf 6 bzw. 9

Monate Rezeptfreie „Pille danach“ in der Apotheke

ARBEIT/LEHRE: Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen bis 18 Jah-

ren! Keine unbezahlten Praktika im ö! entlichen Dienst

mehr Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsplätze, damit

mehr und bessere Lehrplätze zur Verfügung stehen

BILDUNG Abscha! ung der Studiengebühren Kostenlose Berufsmatura für alle Lehrlinge

WOFÜR SICH DIE SJ EINSETZT: Betriebe zahlen Lehrlingsinternatskosten Freifahrt mit allen Ö! s für Lehrlinge, SchülerIn-

nen und Studierende Anhebung der Lehrlingsentschädigung Verkürzung der Probezeit für Lehrlinge, Verlänge-

rung der Behaltefrist Höhere Steuern für Reiche, weniger Steuern für

ArbeiterInnen Verbot unbezahlter Praktika Freier Bildungszugang Sicheres Pensionssystem für Junge statt Altersarmut

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ANTIFASEMINARÜber 200 Jugendliche aus Österreich und Deutschland beteiligen sich jedes Jahr am Antifaschismus-Seminar der Sozialistischen Jugend Österreich.

11. " 13. MAI 2012

WEISSENBACH AM ATTERSEEEUROPACAMP

Das inhaltliche Programm, das den " emenkomplex Faschismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus behandelt, bietet wie immer für jeden und jede etwas.

Zum Abschluss dieses Seminar-Wochen-endes nehmen wir gemeinsam immer an den BEFREIUNGSFEIERN des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen teil.

CHECK THIS OUT:

Melde dich zum Seminar an! www.sjoe.at

Mach mit beim Netzwerk gegen Rechts! www.gegenrechts.at

Adde uns! www.facebook.com/sjoe.at

Von 11. bis 13. Mai geht das Antifa-Seminar im Europacamp in Wei-ßenbach/Attersee über die Bühne – mit 200 Jugendlichen aus ganz Österreich und zahlreichen inter-nationalen Gästen. Anmeldungen sind direkt auf Facebook möglich: www.facebook.com/antifaseminar.

Heuer erwarten dich 12 verschie-dene Workshops zu den Themen Faschismus, Rechtsextremismus oder Antifa vor Ort, ein Gastrefe-rat mit Flo Wenninger (Institut für Zeitgeschichte) und ein Zeitzeugen-gespräch mit dem Freiheitskämpfer Rudi Gelbard.

Zum Abschluss nehmen wir am Sonntag, dem 13. Mai, gemeinsam wieder an den traditionellen Befrei-ungsfeiern im ehemaligen KZ Maut-hausen teil.

Das diesjährige ECOSY Summer-camp " ndet am kroatischen Meer in Savudrija statt. Unzählige Work-shops, spannende Diskussionen, interessante Menschen, Spaß, Meer und eine Woche lang gelebter Sozialismus.

Das klingt gut?! - Na dann, meld dich gleich an: www.sjoe.at!

TeilnehmerInnenbeitrag: 190 Euro (bis 1. Mai 2012) 220 Euro (ab 1. Mai 2012)

11. - 13. Mai 2012, Weißenbach (Oberösterreich)

ANTIFA-Seminar & Befreiungsfeier

13. - 20. Juli 2012, Savudrija (Kroatien)

ECOSY Summer Camp

Her mit dem Zaster! Her mit der Marie! Unterstützungserklärungen für das Volksbegehren kannst du noch bis 15. Juni an deinem Gemein-

de- oder Bezirksamt unterschreiben.

Bis 15. Juni 2012

Volksbegehren für Steuergerechtigkeit

Ich will...

mich für das Antifa-Seminar anmelden

mich für das Ecosy-Summercamp anmelden

Materialien zur Antifa-Kampagne

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