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TULSIDAS Gebete eines Hindu

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TULSIDAS

Gebete eines Hindu

Herausgegeben und übersetzt von

Hubert Hänggi

Diederichs

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifi zierte Papier Munken Premium

Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

© 2010 Diederichs Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Weiss/Zembsch/Partner, Werkstatt/Münchenunter Verwendung eines Motives © picture-alliance/Selva/Leemage

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-424-35027-2

www.diederichs-verlag.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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Inhalt

Dank7

Einführung 9

Vinaya Patrika 37

Kommentar zu Vinaya Patrika 141

Zur Aussprache173

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Dank

Neben meiner verehrten Lehrerin Prof. Madeleine Biar-deau, die mir seinerzeit in Paris den Weg in die Hindu-Mythologie geebnet hat, möchte ich meinem langjährigen Freund, dem Hindumönch Rambihari Sarana danken, der mich auf vielen Wallfahrten begleitete und mit dem Leben der Hindus vertraut machte. Schließlich bin ich auch D. P. Misra, Professor für Hindi an der Kashi Vidyapith Universi-tät von Benares, zu Dank verpfl ichtet, der mir bei besonders schwierigen Stellen der Vinaya Patrika behilfl ich war. Poesie lässt sich leider kaum wirklich übersetzen. Dazu bräuchte es einen Tulsidas.

Hubert Hänggi im Juli 2010

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Einführung

Das Werk des indischen Dichters und Philosophen Tulsidas (1532−1623) ist für die Spiritualität der Hindus bis heute von großer Bedeutung. Die schönsten und bedeutsamsten Verse aus seinem Vinaya Patrika, den Bittbriefen an Rama, die im vorliegenden Band direkt aus dem Hindi übersetzt und erläutert werden, möchten den großen Poeten und sei-ne Hingabe zur Lehre des Rama im deutschen Sprachraum über den Kreis von Indologen hinaus bekannt machen.

Im Hinduismus ist die persönliche Gotteserfahrung (anubhava) letztes Kriterium des Glaubens und sogar der Heiligkeit. Obwohl die heiligen Schriften der Hindus, die Veden (Wissen), diese Erfahrung letztlich nicht zu vermit-teln vermögen, so ermöglichen sie dem Außenstehenden zumindest ihre theologische Refl exion. In dieser »Nieder-schrift des Unaussprechlichen« eröff nen sich die Sprache, die Glaubenssymbole und Glaubensformeln der Hindus. Sie gibt wieder, was die Rishis (Seher) erfahren und erkannt ha-ben: Shruti, das Gehörte, und Smriti, das Erinnerte oder auch die Tradition aus schriftlicher und mündlicher Über-lieferung.

Wenn Tulsidas schreibt: »In diesem schlechten Zeitalter [Kaliyuga] braucht es weder Yoga noch Opfer noch Erkennt-

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nis; ein einziges Hilfsmittel [genügt]: die Eigenschaften Ra-mas zu besingen« (Ramacaritmanasa 1.103), versammelt er die wesentlichen Aspekte dieses Wissens in einem einzigen Satz. Der Dichter schenkt seinen Glauben der Verehrung und Hingabe, sprich der Religion der Bhakti, die auch Vinaya Patrika zugrunde liegt. Nichtsdestotrotz sollen auch die wei-teren genannten Lehren, der Weg der Erkenntnis und der Weg des Yoga sowie die Karma-Lehre, nachfolgend in aller Kürze erläutert werden.

KARMAN

Wie überall auf der Welt suchen auch die Menschen in In-dien seit jeher nach dem letzten, unvergänglichen Glück. In der alten vedischen Zeit herrschte der Glaube, dieses Glück sei durch (Opfer)taten (karman) zu erlangen. Dabei wurde das Opfer stets mit Blick auf ein defi niertes irdisches Ziel − reiche Ernte, einen Sohn etc. − oder ein überirdisches Ziel – die himmlischen Freuden (svarga) zu erreichen − dar-gebracht. Der Glaube an einen direkten Zusammenhang zwischen der richtig ausgeführten (Opfer)tat und dem Er-halt der angestrebten Frucht stand im Vordergrund, die Gott-heiten hingegen, denen Opfer dargebracht wurden, nahmen eine untergeordnete Position ein. Durch stets wiederholte Opfer sollten Raum und Zeit, die Weltordnung, das Ganze (brahman) gewissermaßen konstruiert und dadurch Un-sterblichkeit erlangt werden.

Weise und Gottessucher begannen sich mit diesem aus-geprägten Ritualismus auseinanderzusetzen. Sie wussten, war die Wirkung einer Opfertat aufgebraucht, waren die

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»Verdienste« des Tuns aufgezehrt, so kam es unweigerlich zur Wiedergeburt, denn so heißt es in der frühen Chandogya Upanishad (8,1,6): »Wie sich hier auf Erden das, was durch (Opfer)taten erreicht wurde [karmajita], erschöpft, so ver-geht auch in der anderen Welt, was durch gute Werke ver-dient wurde [punyajita].« Es stellte sich ihnen daher die Frage: Kann das ewig Bleibende überhaupt durch vergäng-liche Opfertaten erreicht werden? Sie folgerten, Brahman, das Ganze, sei ein substantielles Sein und wiesen die Opfer-tat bzw. das Tun (karman) aus zwei Gründen zurück:1. Eine an sich endliche, vergängliche Tat, auch wenn sie

immer wieder durchgeführt wird, kann nicht das Un-endliche, Unvergängliche, das ewige Sein erreichen las-sen oder schaff en. Es ist nicht ausreichend, im Kreislauf der zyklischen seit für eine begrenzte Dauer in einem durch eine Opfertat erlangten Himmel zu verweilen, es soll dem wiederholten Tod entgangen werden. Ent-sprechend lehrt die Katha Upanishad 4,2: »Die Weisen, welche die Unsterblichkeit erkannt haben, suchen nicht inmitten des Unstabilen das Stabile.«

2. In jedem Tun steckt eine Begierde. »Tun ist mühsam« und der Mensch täte nichts, würde er sich von seinem Handeln keinen Gewinn versprechen. Folglich ent-springt jede Opfertat der Begierde und mit ihr dem Anhaften an diese Welt. Der Mensch bleibt im Kreislauf der Wiedergeburt gefangen.

Opfertaten sind also unvollkommen. Zwar können sie zu Erfolg und Reichtum führen, ja sogar zu überirdischem Glück, sind aber die durch gute Taten verdienten Freuden des Himmels (svarga) ausgekostet, kommt es zur Wiederge-

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burt in ein Leben, dessen Wertigkeit durch das aufgehäufte Karma, sprich die Gesamtheit aller zurvor begangener Taten, bestimmt wird. Letztlich binden böse wie gute Taten den Menschen an den Kreislauf der Welt – aber allein ihm zu entrinnen ist das eigentliche Glück. Zu den drei Zielen des Menschen, dem materiellen Erfolg (artha), dem körperlich-geistigen Genuss (kama) und der Erfüllung gesellschaftlich-religiöser Pfl ichten (dharma), tritt deshalb als viertes und höchstes Ziel die Befreiung (moksha) vom Übel der Wie-dergeburt hinzu.

Die Befreiung des WeltverzichtersUm kein Karma aufzuhäufen, muss man vom Tun lassen. Dies ist die Entdeckung des Weltverzichtes, die Entdeckung des Hinduismus. Da das Leben in der menschlichen Gesell-schaft mit der Erfüllung von Pfl ichten einhergeht, muss, wer sich auf diesen Weg der Befreiung begibt, die Gemeinschaft verlassen. Der Weltverzichter nimmt deshalb Abschied von seiner Familie und seiner Kaste, er wandert ohne festen Wohnsitz umher, lebt vom Almosen und konzentriert sich einzig und allein auf das Bleibende. In der Hindutradition gibt es zwei Wege zur Befreiung: den Weg der Erkenntnis und den Weg des Yoga.

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DER WEG DER ERKENNTNIS

Der Weg der Erkenntnis ist eine geistliche Erfahrung ohne jede Zweiheit: Dem Schüler wird vom Meister ein Wissen vermittelt, das Wirkliches von Unwirklichem, Sein von Schein, Absolutes von Bedingtem zu unterscheiden vermag. Die letzte Wirklichkeit der Wirklichkeit wird im eigenen Innern entdeckt, im Selbst (atman). Dem Sanskritwort »at-man« entstammt auch das deutsche »Atem«, der Lebens-hauch, und obwohl es oftmals mit »Seele« übersetzt wird, ist »Selbst«, das Bleibende im Menschen, treff ender.

Ziel des Hindu auf dem Weg der Erkenntnis ist die Er-fahrung der Einheit vom eigenen Selbst und dem absoluten Urgrund (brahman) der ganzen Welt. Eine bekannte Formel dafür lautet: »Das bist du« (tat tvam asi). Zu erkennen, »At-man ist Brahman« oder »Ich bin Brahman« (brahmasmi), ist  gerade darum eine befreiende Erkenntnis, weil es im Grunde nichts zu befreien gibt: Es geht »nur« darum, zu re-alisieren, dass das Selbst schon immer unbegrenzt, ohne jede Bestimmung, ohne jede menschliche Eigenschaft, unverän-derlich, unendlich und ewig ist. Weder gute noch schlechte Taten berühren das Selbst. Der Weg der Erkenntnis ist Be-freiung durch die Einsicht, dass man frei ist.

Mundaka Upanishad 3,2,8: »Wie die strömenden Flüsse im Ozean verschwinden, namenlos, formlos, so geht der Wissende in den höchsten Purusha [Mann] ein, namenlos, formlos. Wer dieses höchste Brahman erkennt, wird zu Brah-man.«

Katha Upanishad 2,22: »Wenn der Weise erkannt hat, dass der große, weite Atman körperlos im Körper ist, dass er in den Ruhelosen Ruhe ist, so leidet er nicht mehr.«

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Brihadaranyaka Upanishad 4,4,19: »Es gibt keine Viel-heit. Von Tod zu Tod geht jener, der in ihm [brahman] Ver-schiedenheit zu sehen meint. Das Atman muss man in seiner Einzigkeit [ekadha] sehen, den Unvergänglichen und Be-ständigen.«

Brihadaranyaka Upanishad 4,4,22−23: »Nach ihm [At-man] streben jene, die ihren wahren Ort suchen, die Bettel-mönche in einem unsteten Wanderleben. [...] Es [Atman] wird nicht größer durch gute Taten, noch wird er geringer durch schlechte Taten [...] Den es Erkennenden beherrscht weder Angst wegen des Schlechten, das er tat, noch Hoff -nung aus dem Guten, das er tat [...] Weder Getanes noch Unterlassenes [kritakrite] setzen ihm zu [...] Das ist die Grö-ße des Brahman: Taten können es weder vergrößern noch vermindern.«

Atman und Brahman, diese Einheit kann theologisch verschieden interpretiert werden. Die Shankara (8. Jh.) lehr-ten die strenge Nicht-Zweiheit (advaita), die absolute Ein-heit von Atman-Brahman. Andere, wie Ramanuja (11. Jh.), vertraten eine spezifi zierte Nicht-Zweiheit, in der Gott und Welt eine Einheit bilden wie Körper und Seele, also die Welt als Leib Gottes. Madhva (13. Jh.) schließlich, der allzu oft als »schlechter« Philosoph vernachlässigt wurde, lehrte die Du-alität (dvaita), also die Zweiheit von Gott und Welt.

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DER WEG DES YOGA

Auch im Yoga geschieht die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburt durch das fortschreitende Eingehen des Übenden in das Absolute. Yoga ist das Herzstück des Glau-bens der Hindus, sodass die Glaubensformel »Gott ist Yogi« gebraucht wird.

Das Wort »Yoga« bedeutet »Verbindung« und ist eine Ablei tung aus der Sanskritwurzel »yuj-« (verbinden). Das deutsche »Joch« leitet sich ebenfalls daraus ab: Zwei Zugtie-re unter das Joch zu spannen meint nichts anderes, als sie miteinander zu verbinden. Da Yoga »alle Kräfte miteinander verbinden« will, heißt es auch »Konzentration«. Der Yogin zieht zunächst seine Sinne aus der Zerstreuung und von al-len äußeren Gegenständen zurück. Er kann dazu die Augen schließen und ein äußeres Objekt in einem inneren Bild weiter in sich tragen. Daraufhin übergibt er dieses innere Bild dem die Sinneseindrücke ordnenden Verstand (manas). Die darauf folgenden Bewusstseinsstufen führen ihn jenseits des Ich-Bewusstseins (ahamkara), jenseits von Raum und Zeit bis hin zum Eingang in das absolute Purusha (Männ-liche), den göttlichen Yogi, der in der »Herzenshöhle« des menschlichen Yogi wohnt.

Hat der Yogi das Ich-Bewusstsein (ahamkara, wörtlich dem »Machen eines Ichs«), das Individuationsprinzip, hinter sich gelassen, entwickelt er Kräfte und Eigenschaften, die ihm das Wissen von Vergangenem und Zukünftigem zu-gänglich machen. Er kann nun gleichzeitig an verschiedenen Orten sein.

In den Yogasutren des Patanjali heißt es: »Yoga ist Stillle-gen der Bewegungen des Bewusstseins« (1,2). Eine andere

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Formel, die den Rhythmus des Yoga beschreibt, lautet: »Man  betrachtet als Yoga die unbewegliche Position der Sinne. Dann ist man ohne jede Zerstreuung. Denn Yoga ist ›Erscheinen und Verschwinden‹ (prabhavapyayau)« (Katha Upanishad 2,3,11). Ein Blick auf die hinduistische Kos-mogonie zeigt, dass der menschliche Yogin lediglich den höchsten Purusha nachahmt, der als der große Yogin die Welten aus sich entlässt − in ihnen »erscheint« − und sie beim totalen Untergang wieder in sich zurücknimmt − »verschwindet«.

Werden und Vergehen der Welt wird als Akt des Yoga verstanden. Der höchste Purusha bringt allein durch seine Anwesenheit die Urmaterie Prakriti (weibliches Urprinzip), die Quelle aller Aktivität und Veränderung, in Bewegung. Es kommt zur Emanation einer Schöpfung (srishti). Zunächst entsteht Mahan (das Große), die Ebene der Buddhi (des Weltgeistes). Mahan wird von den Drei Eigenschaften (guna) strukturiert, die alle Wesen bestimmen: das Helle (satya), das Dunkle (tamas) und das Leidenschaftliche (rajas) – in den Göttern überwiegt das Helle, in den Tieren das Dunkle, in den Menschen das Impulsive, Leidenschaftliche.

Auf Mahan folgt das Individuationsprinzip Ahamkara (Machen eines Ichs). Dies ist die Ebene, auf der sich der Pu-rusha als kosmisches Ego konstituiert. Der höchste Purusha individualisiert sich in Brahma, dem Schöpfergott, der seine Schöpfung beginnt. Er ist voll Begierde, was seine Handlung antreibt. Mit der Individuation des Purusha in Brahma kommt die sogenannte Urschöpfung (prakriti sarga) zum Abschluss.

Das Leben von Brahma dauert 100 göttliche Jahre. Da-nach kommt es zur Resorption, zum Yoga-Akt des »Ver-

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schwindens«. Die Zeit von der Urschöpfung bis zur totalen Aufl ösung bildet den großen Kreislauf der transmigrieren-den Gottheit. Im hundertjährigen Leben des Brahma wech-seln sich Tag und Nacht ab. Ein Jahr zählt 360 Tage, genannt »kalpa« (aus der Wurzel »klip-« für »formen«). Im Wechsel von Tag und Nacht ereignet sich eine teilweise Zerstörung und teilweise Neuschöpfung. Die Zeitspanne von der teil-weisen Neuschöpfung zur teilweisen Aufl ösung bildet den so genannten »kleinen Kreislauf«.

Während der Nacht ruht der Gott auf der Welt-schlange, die im Ozean schwimmt und den Namen »Shesa« (Rest) trägt. Wenn er am Morgen aus dem Yoga-Schlaf er-wacht, wächst aus seinem Nabel, der Weltmitte, eine Lotus-blume. Aus ihr erklingt ein Ton (shabdabrahma) und es er-scheint der Schöpfergott Brahma: ein neuer Tag Brahmas beginnt.

Ein Kalpa ist aufgeteilt in 1000 Mahayuga (Großes Yuga), ein Mahayuga wiederum umfasst jeweils 4 Zeitalter (yuga). Die Bezeichnungen dieser Zeitalter entstammen dem Wür-felspiel, bei dem Shiva und Parvatia um das Geschick der Welt spielen: Der volle Viererwurf ist das goldene Zeitalter Kritayuga, welches 4000 göttliche Jahre, fl ankiert von je 400 Jahren der Morgen- und Abenddämmerung, umfasst. Der Dreierwurf, Tretayuga, zählt 3000 Jahre und 300 Jahre der Morgen- und Abenddämmerung, der Zweierwurf, Dvapa-rayuga, 2000 Jahre plus 200 Jahre der Morgen- und Abend-dämmerung. Das schlechte Zeitalter Kali yuga schließlich hat 1000 Jahre, fl ankiert von je 100 Jahren der Morgen- und Abenddämmerung. Ein Mahayuga umfasst also insgesamt 12000 Jahre der Götter, ein Kalpa demnach 1000 mal 12000 Jahre der Götter mit je 360 Tagen (ein Tag der Götter ist

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gleich einem Menschenjahr). Die Gegenwart liegt im schlechten Zeitalter Kaliyuga, genau zwischen einer Ur-schöpfung und einer totalen Aufl ösung.

Am Ende eines Tages von Brahma entfacht der Weltzer-störer Shiva mit sieben Sonnen die Drei Welten (Himmel, Erde und Unterwelt). Sobald die Wesen im Himmel die Hit-ze des Brandes spüren, steigen sie über höhere Regionen bis zum Ort Brahmas auf, wo sie mit Brahma bis zu seinem Lebens ende verweilen um am Ende des großen Kreislaufs in der totalen Aufl ösung zum höchsten Purusha zu gelangen. Der Weltenbrand wird von einer Flut gelöscht und aus dem verbleibenden Rest der Welt geht eine neue (Teil)schöpfung hervor.

Der nachtschlafende Gott, der alle Wesen in sich trägt und bewahrt, ist der Welterhalter Vishnu, der in dieser Form Narayana genannt wird. »Nara« (Mann) ist ein Synonym von Purusha, »ayana« bedeutet »Lauf«. Narayana ist also jener, der alle in sich trägt, die ihren Lauf auf Purusha ausgerichtet ha-ben. Wie die totale Aufl ösung am Ende eines Lebens von Brahma, so ist auch die teilweise Zerstörung am Ende eines Tages von Brahma ein Akt des Yoga. Narayana nimmt alle Wesen in sich auf und ist im Yogaschlaf ganz bei sich, wach und ohne jede Zerstreuung.

Die dreifache Form Trimutri − Brahma, der Schöpfer, Vishnu, der Erhalter, und Shiva, der Zerstörer − ist der teil-weisen Schöpfung und teilweisen Aufl ösung zugeordnet. Als Yogi können Shiva und Vishnu mit dem höchsten Purusha identisch sein, nicht so aber Brahma, der als Schöpfergott voll Begierde ist und damit kein Yogi.

Ziel des Yoga des menschlichen Yogis ist Samadhi, die absolute Ruhe, die vollkommene Ebenheit des Geistes.

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Verharrt er in diesem Zustand, ist er tot. Wenn es von einem Yogi heißt: »Er hat dort samadhi genommen«, bedeutet dies also nichts anderes als: »Er ist dort gestorben«. Da der Yogi aber Freude am Leben empfi ndet, kehrt er aus der absoluten Ruhe wieder ins Bewusstsein zurück, er »erscheint« wieder in der Zerstreuung. Doch die Erfahrung von Samadhi hat den Yogi verändert: Er ist nicht länger ein von Begierden umgetriebener Mensch. Sein Geist ist eben, alles ist ihm gleichgültig.

Sowohl die Gotteserfahrung durch Erkenntnis als jene durch Yoga ist nur dem Weltverzichter zugänglich, damit aber die Welt weitergehen kann, muss die Mehrheit der Menschen Tag für Tag ihren Pfl ichten nachgehen. Diesen Menschen ist es daher nicht möglich, die nötige Konzen-tration für den Weg der Erkenntnis oder den Weg des Yoga aufzubringen. Doch auch für sie gibt es einen Weg zur Be-freiung: Bhakti, die Hingabe.

DIE BEFREIUNG DER MENSCHEN IN DER WELT: DIE BHAKTI

Jeder Tat wohnt eine Begierde inne, die der Befreiung des Handelnden im Wege steht. Wenn aber die Begierde von der erhoff ten Frucht der Tat genommen und auf eine Gottheit gerichtet wird, so entsteht Verzicht. Ebendies geschieht in der Bhakti, der Religion der Verehrung und Hingabe, einer Religion für die Menschen in der Welt. »Bhaga« bedeutet »Teil«, »Bhakti« bezeichnet die Beziehung zwischen dem Bhagavan, dem teilgebenden Herrn, und dem Bhakta, dem teilnehmenden Menschen.

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Der klassische Text der Bhakti-Religion ist die berühm-te Bhagavadgita, der Gesang des Bhagavan. Die Bhagavadgita ist ein kleiner Teil des großen indischen Epos Mahabharata. Es schildert einen Bruderkrieg: Der gute Prinz Arjuna will nicht gegen die eigenen Verwandten kämpfen, doch sein Wa-genführer Krishna, eine der Erscheinungsformen der höchs-ten Gottheit, erklärt ihm, dass er als Prinz verpfl ichtet ist zum Wohl der Welt zu kämpfen. Da in diesem Gesang die Religion der Bhakti erstmals ausführlich dargestellt wird, wird die Gita manchmal auch als Evangelium der Hindus bezeichnet.

In der Bhagavadgita lehrt Krishna: Wer Taten verrichtet, ohne nach der entlohnenden Frucht zu schielen, wer statt-dessen seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erscheinungs-form des höchsten Purusha richtet, der wird auch von die-sem aufgenommen. Ein solcher Bhakta (Verehrer) braucht nicht darauf zu warten, dass Purusha beim Weltuntergang am Ende des Kreislaufs als großer Yogi alles in sich »verschwin-den« lässt, denn durch die Verehrung des Purusha – Rama ist eine Erscheinungsform des Purusha − ist der Bhakta schon bei ihm.

»Ein Blatt, eine Blume, eine Frucht oder Wasser mir mit Bhakti dargebracht: Das nehme ich an. Das mit Bhakti Ge-opferte vom Reinen im Geiste. Was immer du tust, was immer du isst, alles, was du opferst und schenkst, jedes Bußwerk − mach es zur Opfergabe für mich, oh Sohn der Kunti [Arjuna]. So wirst du befreit von den Banden der guten und schlechten Früchte der Taten. Das Selbst, solchem Verzicht und Yoga ver-pfl ichtet, kommt befreit zu mir.« (9,26−28)

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Wer eine Tat ausführt, ohne dabei an die Frucht der Tat zu denken, der ist Sannyasin, ein Weltverzichter auf dem Weg der Erkenntnis. Zugleich ist er auch eher ein Yogin als je-ner, der kein (Opfer-)feuer unterhält und keine Riten exer-ziert.

»Der Yogi ist erhaben über Asketen, sogar erhaben über jene, die Erkenntnis haben; er ist erhaben über jene, die Opfer dar-bringen. Daher werde Yogi, oh Arjuna. Doch von allen Yogis ist in meinen Augen jener der vollkommene, der sein inneres Selbst in mir versenkt und mich mit tiefem Glauben liebt.« (6,46)

»Seine Lebensführung sei noch so schlecht, wer mich mit Bhak-ti verehrt, der gilt als gut [sadhu], denn er ist auf dem rechten Weg. Er wird bald ein Dharmatman und fi ndet beständigen Frieden. Du sollst wissen, dass meine Verehrer niemals zu-grunde gehen. Jene, die bei mir Zufl ucht nehmen, seien sie auch von niederer Geburt wie Frauen, Vaishyas oder Shudras, erlan-gen das höchste Ziel.« (9,30−32)

Die Religion der Bhakti übersetzt also das Ideal des Welt-verzichts in einen Weg zur Befreiung für die Menschen in der Welt. Sie hat nicht nur das vedische Opfer transformiert, sondern den Glauben an Wiedergeburt völlig in den Hin-tergrund gedrängt, reicht es doch aus, mit Bhakti den Na-men einer Gottheit anzurufen, um bei ihr zu sein und somit dem Kreislauf von Geburt und Tod zu entrinnen.

Die Bhakti ist oft sehr emotional und die Gebete der großen Bhakta-Heiligen zeigen, dass sie ein Weg tiefster Gotteserfahrung ist. Tulsidas Vinaya Patrika ist einer der schönsten Belege dafür.

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Die LilaEin Höhepunkt der Bhakti-Frömmigkeit ist die Lila, das Spiel Gottes, das mit Rama oder Krishna gespielt wird. Das Spiel gehört zu den Grundbegriff en des Hinduismus und bietet sich auch als Antwort auf die Frage nach dem Grund für eine Schöpfung an: So spricht Badarayana im Brahmasu-tra: »Brahman ist nicht Ursache der Welt aus einem Motiv heraus. Vielmehr ist die sichtbare Welt reines Spiel« (2,1,32). Der große Meister Shankara, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts die Nicht-Zweiheit (advaita) lehrte und einen kaum zu überschätzenden Einfl uss auf die Hindu-theologie, insbesondere auf den Neohinduismus, ausübte, bemerkt zu diesem Vers, dass erfahrungsgemäß zwar kein Mensch etwas unternimmt, ohne mit seinem Tun ein Ziel zu verfolgen, dass dies aber nicht für das absolute Brahman gelten kann, sonst würde es begehren und wäre nicht un-endlich glückselig. Brahman ist nach der Schrift reine Freu-de, »sat-cid-ananda« (Sein-Bewusstsein-Freude). Shankara meint, dass Brahman Leuten in hohen Positionen gleiche, die keine unerfüllten Wünsche haben und sich dem Spiel hingeben können. Die schöpferische Tätigkeit Brahmans verläuft ohne Ziel und folgt wie die Atmung nur der eige-nen Natur. Sie ist ein Überfl ießen der inneren Freude (an-anda).

Shankara weiß, dass damit die Frage nach der Beziehung zwischen Gott und Welt, zwischen dem Einen, Unendlichen und Unveränderlichen und dem Vielen und Veränderlichen, nicht gelöst ist und sagt weiter: »Und schließlich darf nicht vergessen werden, dass diese heilige Off enbarung (shruti) von der Schöpfung (srishti) nicht die höchste Realität zum Gegenstand hat, da sie sich auf der Ebene der praktischen

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Wahrheit, der von ›Unwissenheit‹ (avidya) gebildeten Na-men und Formen, befi ndet, und dass sie aufzeigen will: Brahman ist das Selbst (atman) von allem und jedem.« In anderen Worten: Die heiligen Schriften wollen nicht über die Welt lehren, sondern über das absolute Brahman, das Eine ohne jede Zweiheit.

Diese Aussage führt mitten in das System des Shankara. Er untersuchte die Verlässlichkeit menschlicher Erkenntnis und befand, dass Irrtümer vorkommen, so wie jemand im Halbdunkel ein Stück Seil für eine Schlange halten kann. Den Schriften folgend forderte er dazu auf zu unterscheiden zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen. Nur das Bleibende sei wirklich: entweder Brahman als das letzte ob-jektive Absolute oder Atman (Selbst) als das letzte subjektiv-innerlich entdeckte Absolute.

Laut Shankara ist die Welt zwar nicht reine Illusion, nicht »Nicht-Existenz« (abhava) oder Leere (shunya), wie seine Gegner, die Vertreter des buddhistischen Idealismus behaup-ten, doch sie ist auch nicht »wirklich« im letzten Sinn des Wortes. Die Welt ist nur aus Sicht der Praxis des niederen Wissens (apara vidya) real und wirklich, für das höhere Wissen (para vidya) ist sie »unwirklich«. Der praktischen Er-fahrungswelt des Vielen letzte Wirklichkeit zuschreiben, ist Unwissenheit (avidya). Die Unwissenheit, welche die Wahr-heit verschleiert und Unwahrheit aufkommen lässt, ist das Werk von Maya.

Nicht nur im System Shankaras sind Maya und Avidya zentrale Begriff e − Shankara gebraucht beide Ausdrücke oft als Synonyme −, Maya ist auch ein Grundbegriff der Hin-dutheologie und spielt eine ähnliche Rolle wie die Lila. Das Wort »Maya« stammt − wie das deutsche »messen« − von

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Hubert Hänggi SJ, Tulsidas

Gebete eines HinduHerausgegeben und übersetzt von Hubert Hänggi

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 176 Seiten, 13,5 x 21,5 cm4 s/w AbbildungenISBN: 978-3-424-35027-2

Diederichs

Erscheinungstermin: August 2010

Der indische Dichter und Philosoph Tulsidas (1532 – 1623) wanderpredigte als Asket die Lehredes Rama. Seine psalmenartigen Dichtungen sind für die Spiritualität der Hindus bis heute vongroßer Bedeutung. Die schönsten und philosophisch bedeutsamsten Verse des Zyklus „VinayaPatrika“ werden erstmals direkt aus dem Hindi übersetzt und anschaulich erläutert. Der Leserlernt anhand der Verse die Opfer- und Karma-Lehre ebenso kennen wie den Grundgedankender Erkenntnis durch Weltverzicht und den Weg des Yoga.