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Z. Jagdwiss. 35 (1989), 184-191 © 1989Verlag Paul Parey, Hamburg und Berlin ISSN 0044-2887 Uber eine besondere Form unechter Mehrstangenbildung beim Reh (Capreolus capreolus L.) 1 Von H. HARTWIG, H. KIERDORF, K61n und U. KIERDORF, G6ttingen 1 Einleitung Unter dem Sammelbegriff Mehrstangigkeit werden Geweihmif~bildungen zusammenge- faf~t, die in ihrer ~iuf~eren Erscheinungsform und in den Ursachen ihrer Entstehung heterogener Natur sind. Man unterscheidet zwischen echter Mehrstangigkeit, bei der jede Stange einem eigenen, gesonderten Rosenstock aufsitzt, und unechter Mehrstangigkeit, bei der ein gemeinsamer Rosenstock mehrere Stangen tr~igt. Dabei kann jeder Stange eine gesonderte Rose zugeord- net sein (s. u.a. KIERDORFund KIERDORF1985) oder es ist an der Stangenbasis nur eine, alien Stangen einer Stirnseite gemeinsame Rose vorhanden. Als Ursache unechter Mehrstangigkeit wird meist ,,~iuf~ereGewalteinwirkung auf den jungen Kolben" angenommen (OLT und STR6SE 1932, S. 15). Eine solche ungezielte Traumatisierung wird in der Regel zu unregelm~iffigen und asymmetrischen Bildungen Anlag geben. Daneben treten aber auch Mehrstangengeweihe auf, die zun~ichst zwar unregelm~iSig erscheinen, bei genauerer Bet/'achtung aber Regelm~igigkeiten aufweisen, welche sich in Beziehung zur Normalarchitektonik des Geweihes setzen lassen. Diese Art Mehrstangigkeit sei an einem Rehgeh6rn erl~iutert, welches von Herrn H. D. Stricker im Raum Immendingen (Baden-Wfirttemberg) erbeutet und der Forschungsstelle ffir Jagd- kunde und Wildschadenverhfitung des Landes Nordrhein-Wesffalen, Bonn, zur Begutach- tung vorgelegt wurde. 2 Beschreibung der Mif~bildung Der Bock, der das Geh6rn trug, ist nach dem Zahnbefund (die Dauerpr~imolaren sind noch nicht vollstiindig hochgewachsen) als J~ihrting einzustufen, trug also das erste Folgegeweih. Das Geweihgewicht liegt mit 229 g (langer Sch~idel) deutlich fiber dem bei J~ihrlingen fiblichen Durchschnittswert, was auf eine luxurierende Geh6rnbildung schlief~en l~i~t. Abbildung 1 zeigt die Gesamtansicht des Objektes. In Abbildung 2a und b sind die rechte und linke Geh6rnh~ilfte getrennt dargestellt, um die in der Gesamtansicht st6renden Uberschneidungen zu vermeiden. Die rechte Geh6rnh~ilfte (Abb. 2a) ist der besseren Vergleichbarkeit halber seitenverkehrt wiedergegeben. Die Abbildungen der beiden Geh6rnh~ilften lassen gut ausgebildete Rosen erkennen. Von der Rfickseite des Geh6rns betrachtet (Abb. 3), zeigen die Auf~enseiten der Rosen luxurierende Strukturen. Distalw~irts der Rosen, gegen diese durch eine taillenf6rmige Einschnfirung abgesetzt, folgt jederseits ein kurzer, einheitiicher Stangenabschnitt. Aus diesem erheben sich bei beiden Geh6rnh~ilften je drei Spief~e, deren Anordnung und relative Linge gewisse Gesetzm~if~igkeiten aufweisen. Die Basen der Spief~esind beiderseits so hintereinander angeordnet, dag sie ungef~ihr zwei Reihen bilden, die rechts und links parallel zur sagittaten Mediane verlaufen. Auf den retativ kurzen Vorderspief~ folgt als i Herrn Dr. E. UECKERMANN zum 65. Geburtstag. U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0044-2887/89/3503-0184 $ 02.50/0

Über eine besondere Form unechter Mehrstangenbildung beim Reh (Capreolus capreolus L.)

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Z. Jagdwiss. 35 (1989), 184-191 © 1989 Verlag Paul Parey, Hamburg und Berlin ISSN 0044-2887

Uber eine besondere Form unechter Mehrstangenbildung beim Reh (Capreolus capreolus L.) 1

Von H. HARTWIG, H. KIERDORF, K61n und U. KIERDORF, G6ttingen

1 Einleitung

Unter dem Sammelbegriff Mehrstangigkeit werden Geweihmif~bildungen zusammenge- faf~t, die in ihrer ~iuf~eren Erscheinungsform und in den Ursachen ihrer Entstehung heterogener Natur sind.

Man unterscheidet zwischen echter Mehrstangigkeit, bei der jede Stange einem eigenen, gesonderten Rosenstock aufsitzt, und unechter Mehrstangigkeit, bei der ein gemeinsamer Rosenstock mehrere Stangen tr~igt. Dabei kann jeder Stange eine gesonderte Rose zugeord- net sein (s. u.a. KIERDORF und KIERDORF 1985) oder es ist an der Stangenbasis nur eine, alien Stangen einer Stirnseite gemeinsame Rose vorhanden.

Als Ursache unechter Mehrstangigkeit wird meist ,,~iuf~ere Gewalteinwirkung auf den jungen Kolben" angenommen (OLT und STR6SE 1932, S. 15). Eine solche ungezielte Traumatisierung wird in der Regel zu unregelm~iffigen und asymmetrischen Bildungen Anlag geben. Daneben treten aber auch Mehrstangengeweihe auf, die zun~ichst zwar unregelm~iSig erscheinen, bei genauerer Bet/'achtung aber Regelm~igigkeiten aufweisen, welche sich in Beziehung zur Normalarchitektonik des Geweihes setzen lassen. Diese Art Mehrstangigkeit sei an einem Rehgeh6rn erl~iutert, welches von Herrn H. D. Stricker im Raum Immendingen (Baden-Wfirttemberg) erbeutet und der Forschungsstelle ffir Jagd- kunde und Wildschadenverhfitung des Landes Nordrhein-Wesffalen, Bonn, zur Begutach- tung vorgelegt wurde.

2 Beschreibung der Mif~bildung

Der Bock, der das Geh6rn trug, ist nach dem Zahnbefund (die Dauerpr~imolaren sind noch nicht vollstiindig hochgewachsen) als J~ihrting einzustufen, trug also das erste Folgegeweih. Das Geweihgewicht liegt mit 229 g (langer Sch~idel) deutlich fiber dem bei J~ihrlingen fiblichen Durchschnittswert, was auf eine luxurierende Geh6rnbildung schlief~en l~i~t.

Abbildung 1 zeigt die Gesamtansicht des Objektes. In Abbildung 2a und b sind die rechte und linke Geh6rnh~ilfte getrennt dargestellt, um die in der Gesamtansicht st6renden Uberschneidungen zu vermeiden. Die rechte Geh6rnh~ilfte (Abb. 2a) ist der besseren Vergleichbarkeit halber seitenverkehrt wiedergegeben.

Die Abbildungen der beiden Geh6rnh~ilften lassen gut ausgebildete Rosen erkennen. Von der Rfickseite des Geh6rns betrachtet (Abb. 3), zeigen die Auf~enseiten der Rosen luxurierende Strukturen. Distalw~irts der Rosen, gegen diese durch eine taillenf6rmige Einschnfirung abgesetzt, folgt jederseits ein kurzer, einheitiicher Stangenabschnitt. Aus diesem erheben sich bei beiden Geh6rnh~ilften je drei Spief~e, deren Anordnung und relative Linge gewisse Gesetzm~if~igkeiten aufweisen. Die Basen der Spief~e sind beiderseits so hintereinander angeordnet, dag sie ungef~ihr zwei Reihen bilden, die rechts und links parallel zur sagittaten Mediane verlaufen. Auf den retativ kurzen Vorderspief~ folgt als

i Herrn Dr. E. UECKERMANN zum 65. Geburtstag.

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0044-2887/89/3503-0184 $ 02.50/0

Unechte Mehrstangenbildung beim Reh 185

l~ingster der Mittelspielg und dahinter, t~in- ger als der vordere, aber kiirzer als der mittlere, der RiickspiefL Der Mittelspief~ der rechten Geh6rnh~ilfte l~i~t nahe der Spitze einen Ansatz zur Gabe|ung er- kennen.

An der gemeinsamen Basis der Spief~e ist jeweils eine Zone mit sehr deutlicher, z.T. hypertropher Perlung ausgebildet, so dab sich, vor allem in R~ckansicht des Geh6rns (Abb. 3), der Eindruck einer doppelrosen- artigen Bildung ergibt. Bei der linken Ge- h6rnh~ilfte ist aul~er den drei Hauptspiel%n noch ein kteines, seitw~irts gekr/~mmtes ,,akzessorisches Ende" vorhanden, das zwi- schen Vorder- und Mittelsprofl aus dem Basalteil des Geh6rns hervorw~.chst (Abb. 1 u. 2b).

3 Diskussion

Aufgrund ihrer Anordnung und relativen Abb. 1

LSnge liegt es nahe, die Spief~e des mif~ge- bildeten Geh6rns mit den drei Enden der normalen Sechserstange des Rehgeweihs zu vergleichen. Diese Enden entspringen de/n Stangenschaft normalerweise nicht in gleicher H6he (wie bei dem vorliegenden Objekt), sondern entwickeln sich zeitlich nacheinander und daher r~iumlich voneinander getrennt durch Anlage weiterer Wachstumsscheitel.

Zur Veranschaulichung eines der Prinzipien, die der Geweihverzweigung zugrundelie-

Mittelspr~ ;kr~TS°risches

"~',ti~= ~ gemeinsamer Basalabschnitt ~ Rose

Mittel- : sproB ~ / / ROck- //

Vorder- / sproB x~ / spro8 /.. / /

:z ::¢: : /

'~ ~" ' ~gemeinsamer

~ " ~ ~x'~ Rose Abb. 2a. Lateralansicht der rechten Geh6rnh~ilfte Abb. 2b. Lateralansicht der linken Geh6rnh~ilfte (seitenverkehrte Wiedergabe)

186 H. Hartwig, H. Kierdorf und U. Kierdorf

gen, hat HOVVMANN (1959) darauf hinge- wiesen, daf~ man sich, zun~ichst rein hypo- thetisch, die normale Sechserstange des Rehgeh6rns (Abb. 4a) als ein Biindel von drei ,,Knochenstrahlen" vorstellen kann, die im Bereich des Stangenschaftes zusam- mengefafk sind, sich aber friiher oder sp{i- ter als selbst~indige Sprosse aus dem Biindel 16sen k6nnen (Abb. 4b). Jeder Knochen- strahl kann sich jedoch auch getrennt und unabh~ingig von den anderen entwickeln.

Abb. 3 Abbildung 4c zeigt schematisch einen von der Rose an selbst~indigen Vordersprof~,

nur Mittel- und Riicksproi~ beteiligen sich am Aufbau des Stangenschaftes. In Abbildung 4d ist der Rficksprof~ selbst~indig entwickelt, und in Abbildung 4e sind alle drei Sprosse von vorneherein unabh~ingig zur Entwicklung gelangt; ein gemeinsamer Stangenschaftab- schnitt ist nicht ausgebiidet.

Unter Zugrundelegung der HorFMANNschen Vorstellungen entspricht die von Herrn Stricker vorgelegte Geh6rnmit~bildung weitgehend dem Typ der Abbildung 4e, allerdings mit dem Unterschied, daf~ in dem Schema die drei selbst~indig gebliebenen Knochenstrah- len (Spief~e) unmittelbar aus der Rose hervorgehen, w~ihrend bei dem Naturobjekt ein kurzer, gedrungener, dem Stangenschaft vergteichbarer Abschnitt zwischen Rose und Spiet~e eingeschaltet ist.

a b c d e

Abb. 4. (Nach HOFFMANN 1959, ver~indert)

Wenn es sich, wie angenommen, bei den drei Spief~en um die drei vorzeitig setbst~indig gewordenen Enden der Sechserstange handelt, dann ist die Bezeichnung ,,Mehrstangig- keit" fiir diese Art von Mit~bildung problematisch. Man sollte sich, wenn man den Begriff beibeh~ilt, darfiber klar sein, dai~ in diesem Fall die Stangen ihrem morphotogischen Weft nach eher Sprosse sind.

Obwohl HOFFMANN (1959) nicht n~iher auf die Frage eingegangen ist, wodurch sich die von ihm postulierten, im Stangenschaft zusammengefai~ten und als Sprosse freiwerdenden Knochenstr~inge voneinander unterscheiden, ist kaum anzunehmen, daft er dabei an stoffliche oder strukturelle Unterschiede gedacht hat, sondern eher an den Determina- tionszustand verschiedener Bereiche des Kolbengewebes.

Experimentelle Untersuchungen (BUBENIK und PAVLANSKY 1959) am Reh weisen darauf hin, dal~ der friihe Kolben kein ,harmonisch ~iquipotentielles System" (DRIESCtt) ist, sondern daf~ verschiedene Bereiche von unterschiedlichen Entwicklungstendenzen 2 beherrscht werden. Die genannten Autoren spalteten fr(ihe Kolbenanlagen und verhinder- ten in geeigneter Weise, dat~ die Spalth~ilften wieder zusammenwuchsen. Erfolgte die Spakung der Kolbenanlage in der Sagitralebene, so dal~ die rechte vonder linken Kolben- h~ilfte getrennt wurde (Abb. 5a), dann entwickelte sich aus jeder Spakh~ilfte eine normale Sechserstange mit Vorder-, Mittet- und R/icksproi~. Eine solche experimentell erzeugte Doppelbildung zeigt Abbildung 6. Wurde die Kolbenanlage dagegen in transversaler

-' Das Wort .Entwicklungstendenzen" soil den Sachverhalt beschreiben, nicht erkl~iren.

Unechte Mehrstangenbildung beim Reh 187

Richtung gespalten, so daf~ eine vordere und eine hintere SpaltMlfte entstanden (Abb. 5b), dann resuitierten daraus unter anderem Doppelbildungen, die in Abbildung 7 dargestellt sind. Abbildung 7a zeigt als Ergebnis einer solchen Transversalspaltung eine Miflbildung, die weitgehend der schematischen Darstellung in Abbildung 4c entspricht: der aus der vorderen Spalth~ilfte hervorgegangene Vordersprof~ ist von der Rose an selbst~indig. Der aus der hinteren Spalth~ilfte entstandene Tell bildet zun~ichst einen Stangenschaft, der sich erst relativ welt distal in Mittel- und R6ckspro8 aufgabek.

transversale ~"~i )

Abb, 5

. '

® sag it tale Spaltung

Mittel~proB

VordersproB

17' a

ROckspro8 >~,

yon M i t t e l - u. R~icksproB gebildeter Stangenschaft

M ittelsproB

VordersproB '~t . . . . .

b ~ J Abb. 7. (Aus BUBENIK und PAVLANSKY 1959,

verandert)

i~ Abi[ 6~'(Aus BUBENIK 1966) Das Ergebnis der transversalen Spaltung der Kotbenanlage l~it~t darauf schlief~en, dal~ in

den beiden Spalth~iiften schon frfih unterschiedliche Entwicklungstendenzen vorherrschen. Die vordere SpakMlfte tendiert zu VordersproG, die hintere zu Mittel- und R6cksproG bildung. In einer Art ,Anlageplan" k6nnen diese unterschiedlichen Entwicklungstenden- zen innerhaib der frfihen Kolbenanlage des Rehes durch verschiedene Punktraster wieder- gegeben werden (Abb. 8). Die grobe Punktierung wiirde die Tendenz zur Vordersprof~bit- dung veranschaulichen, die mittlere Punktst~irke kennzeichnet den Bereich mit Tendenzen zur Mittelsproi~bildung, und im fein punktierten Tell herrschen Tendenzen zur Riick- sprof~bildung vor (Abb. 8a).Dies wiirde in etwa den drei von HOFFMANN (1959) postulier- ten ,Knochenstr~ingen" entsprechen. Spaltet man die junge Kolbenanlage sagittal (Abb. 5a u. 8b), dann erh~ilt jede Spalth~lfte sowohl Vorder- als auch Mittel- und R6cksprof~mate-

188 H. Hartwig, H. Kierdorf und U. Kierdorf

rial. So gelangen an jeder der beiden Stangen, die aus dieser Spaltung hervorgehen, alle drei Sprosse zur Ausbildung (Abb. 6). Spaltet man die friihe Kolbenanlage transversal (Abb. 5b und 8c), so daf die vordere Spalth~ilfte nur Vorderspro~-, die hintere dagegen Mittel- und Riicksprofmaterial erh~ilt, entsteht eine Doppelbildung, wie sie in Abbildung 7a dargestellt ist. Das in Abbildung 7b wiedergegebene Ergebnis einer transversalen Spaltung weicht von Abbildung 7a insofern ab, als auf~er dem vonder Rose an selbst~indi- gen Vordersprol3 ein weiterer Vordersprol3 an der aus der hinteren Spalth~itfte hervorge- gangenen Stange entstanden ist. Solche Bildungen k6nnen zustande kommen, wenn bei der Spaltung der Kolbenanlage der hinteren Spalth/ilfte etwas Vordersprot~material zugeteilt wurde, d. h. wenn der Teilungsspalt nicht genau die Materialgrenze getroffen hat, sondern durch das Vordersprot~material verl~iuft. Es kann aber auch an das Wirken von Regula- tionsmechanismen gedacht werden. Daft die Determination der Koibenanlage gewisse Regulationen zul~ift, dal~ also die Entwicklung der Geh6rnstange teits determinative, tells regulative Ziige tr~igt, geht daraus hervor, dai~ bei der sagittalen Spaltung des frLihen Kolbens (Abb. 5a u. 8b) keine Stangenh/ilften entstanden, sondern jede Spatth~ilfte sich zu einer Ganzbildung entwickelte.

hinten RL~ckspro8

@ O MittetsproB

VordersproB

R.

sagittale ~ ~ M. Spaltung V.

transversale M. Spaltung ~ V.

vorn

, u . o r , e - rende

/ 4 ~J

Abb. 8 Abb. 9. (Aus RA~S~ELD 1923, verfindert)

Die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen von Goss (1961) am Sikahirsch (Cervus nippon) lassen ebenfalls darauf schliefen, dat~ die junge Anlage der Geweihstange iiber ein morphogenetisches Regulationsverm6gen verfLigt, welches jedoch mit zunehmen- dem Kolbenwachstum rasch abnimmt. So hatte die operative Entfernung der hinteren H~ilfte eines ca. 2,5 cm hohen Kolbens zur Fo|ge, daf start einer kompletten Stange nur der Augspro~ zur Ausbildung gelangte. Wurde der gleiche Eingriff dagegen an einem jungen, gerade auf der Abwurffl~iche etablierten Regenerationsblastem vorgenommen, dann entwickelte sich aus dessen verbliebener vorderer H~ilfte neben dem Augsprof~ auch ein Abschnitt der nach hinten oben weisenden Geweihstange.

Die Resultate welterer Untersuchungen von Goss (1961) legen auf~erdem die Vermu- tung nahe, dat~ die M6glichkeit zur Manifestierung verschiedener Entwicktungstendenzen innerhalb der fr/.ihen Kolbenanlage in Beziehung zur Gesamtmasse des vorhandenen Blastemmaterials steht.

Unechte Mehrstangenbitdung beim Reh 189

F/ir die Entwicklung des Cervidengeweihes sind hormonale Einflfisse in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Ein Testosteronimpuls aktiviert das f/ir die Bildung der primiiren Stirnauswfichse bereitliegende Gewebe. Abwurf und Neubildung des Geweihes erfolgen unter hormonaler Kontrolle, und auch bei der Ausbildung der normalen Geweiharchitek- tonik scheinen hormonale Einfl/.isse eine RolIe zu spielen (BvBENIK 1983).

Beim Reh tritt die Bedeutung der miinnlichen Sexualhormone ffir ein normales Geweih- wachstum vor allem im Zusammenhang mit der Per/ickenbildung in Erscheinung. Ohne steuernden Einflufl der Androgene entwickelt sich kein normales Geh6rn, sondern eine unf6rmige Wucherung. Entfernt man von solchen Gebilden die ~iuf~6ren Weichteile, dann kommen oft geh6rn~ihnliche Perfickenskelette zum Vorschein, bei denen vor allem das Luxurieren der Auiqenstrukturen auff~illt (s. u.a. BUBENIK 1966, S. 131, Abb. 46 u. S. 141, Abb. 54). Insbesondere im Bereich des auf die Rose folgenden unteren Stangenabschnittes entstehen Mufig ringwulstartige Bildungen mit unterschiedlicher Auf~enstruktur. Eine besonders bizarre Form zeigt Abbildung 9. Ringwfilste mit weniger exzessiver Oberfl~i- chengestaltung leiten zu rosen~ihnlichen Bildungen fiber, so da~ doppelrosenartige Gebilde entstehen.

Solche rosenartigen Verformungen der Stangenbasis, verbunden mit St6rungen der Geweiharchitektonik sind nicht nur von Per/ickenskeletten, sondern auch von normal ausgereiften und verfegten Rehgeh/Srnen bekannt und wiederholt beschrieben worden (HARTWm 1981, 1983, UECKERMANN 1984). Es ist naheliegend anzunehmen, daf~ sich derartige Geh6rne unter gest6rten hormonalen Bedingungen zunlichst in Richtung auf eine Perficke zu entwickeln beginnen. Wenn sich der hormonale Status dann spiiter normali- siert, kann das Geh6rn zwar ausreifen und gefegt werden, bleibt aber in seiner Architekto- nik gest6rt. Diese St6rung wird vor allem in einem zu frfihen Selbst~indigwerden der Sprosse und in einer rosenartigen Verdick/mg der Stangenbasis deutlich. Solche Geh6rne erwecken den Eindruck, daf~ alles, was an Oberflachenstruktur fiir einen Stangenschaft von normaler L~inge ,,vorgesehen" war, auf einen kurzen Basalabschnitt zusammenge- dr~ingt wurde, well wegen des verfrfihten Selbstandigwerdens der Sprosse der Stangen- schaft eine extreme Verkfirzung erfuhr.

Bei Mehrstangengeh6rnen, deren Entstehung hier auf hormonate St6rungen zurfickge- ffihrt wird, finden sich neben den drei Hauptsprossen, die den drei Enden der normalen Sechserstange des Rehgeh6rns entsprechen, h~iufig Nebensprosse, die klein bieiben (Abb. 1 u. 2b), gelegentlich aber auch stangeniihnlich werden und dann das ffir diese Mif~bildung typische Bild verwischen k6nnen. Diese im normalen Bauplan des Rehgeh6rns nicht auftretenden, zus~itzlichen Enden entspringen meist in unregelm~il~iger Anordnung aus Wucherungen der Geh6rnbasis. Die Tendenz zur Wucherung und Endenbildung ist dem Geweihbildungsgewebe des Rehes offenbar eigen, wird aber bei normater hormonaler Konstellation in Grenzen gehalten und in die entsprechenden Bahnen gelenkt.

4 Schluflbetrachtung

in der frfihen Kolbenanlage des Rehgeh6rns scheint die sp~itere Aufgabe der verschiedenen Blastembereiche in groben Zfigen festgelegt zu sein. Die Manifestierung der Merkmale, d.h. die Ausbildung der typischen Sechserstange erfolgt wahrscheinlich unter hormonaler Kontrolte. Testosteronmangel ffihrt zu atypischen Bildungen (Perficke). Ist eine derartige Androgen-Insuffizienz w~ihrend der Friihentwicklung der Kolben gegeben, kommt es zu Ans~tzen von Per/ickenbildung in Form von oft rosenartigen Wucherungen an der Geh6rnbasis. Auch das vorzeitige Selbstiindigwerden der Enden scheint unter diesen Bedingungen ausgei6st zu werden, d.h. die den einzelnen Bereichen der Kolbenanlage innewohnenden Entwicklungstendenzen werden gleichzeitig und nicht, wie im Normal- fall, nacheinander realisiert. Die Androgene Mtten beim Rehbock demnach die Aufgabe,

190 H. Hartwig, H. Kierdorf und U. Kierdorf

zuniichst in niedriger Konzentration, w~ihrend friiher Phasen der Kolbenentwicklung, das Geweihwachstum zu ziigeln und auf diese Weise die arttypische Ausformung des Geh6rns zu gew~ihrleisten und erst sp~iter in h6herer Konzentration das Wachstum der Stangen zu stoppen.

Sind zu Beginn der Geh6rnbildung die hormonalen Bedingungen gest6rt und normali- sieren sie sich sp~iter, dann k6nnen zwar die angelegten Wucherungen und das verfr/ihte Selbst~indigwerden der Enden nicht rfickgiingig gemacht werden, aber das Geh6rn reift normal aus und wird zeitgem~if~ gefegt. So jedenfalls stellen wir uns das Zustandekommen dieses Typs von Mehrstangengeh6rnen vor.

Daf~ Mehrstangigkeit auch andere als hormonale Ursachen haben kann, wurde eingangs schon erw~ihnt. Verdacht auf hormonal bedingte Mehrstangigkeit liegt dann vor, wenn rechte und linke Stange in gleicher oder ~ihnlicher Weise v o n d e r Mif~bildung betroffen, wenn jederseits drei Hauptstangen erkennbar sind, die in sagittal paramedianer Reihe, also hintereinander stehen, und wenn die Stangenbasis Wucherungen oder stark betonte Auf~enstrukturen aufweist.

Danksagung Die Verfasser danken Herrn J. JACOBt fiir die Anfertigung der Zeichnungem

Zusammenfassung

Das Mehrstangengeh6rn eines Rehbockes wird beschrieben und die M6glichkeit einer hormonalen Bedingtheit dieter Mif~bildung diskutiert. Die yon HOFFMANN (1959) entwickelte Vorstellung, daf~ sich die Enden des Rehgeh6rns von der Rose an selbst~indig entwickeln k6nnen, im Normalgeschehen aber streckenweise zu einem Stangenschaft zusammengefaf~t sind, werden in Beziehung zu Ergebnis- sen experimenteller Geweihforschung gesetzt, und auf dieser Basis die Vermutung ge~iuf~ert, daf~ bereits in der frfihen Kolbenanlage des Rehgeh6rns die sp~itere Aufgabe der verschiedenen Btastembe- reiche bei der Ausbildung der arttypischen Form der Geweihstange festgelegt ist. Gest/~tzt wird die Annahme, daf~ es sich bei der Ursache des beschriebenen Typs unechter Mehrstangigkeit um die Folgen einer vorfibergehenden, Androgen-Insuffizienz w~ihrend der frfihen Entwicklung der Kolben handelt, dutch einen Vergleich mit Periickenskeletten.

Summary On a special form of multiple-beam formation in roe deer (Capreolus capreolus L.)

The multiple-beam antlers of a roe buck are described and the possibility of a hormonal cause of this malformation is discussed. The hypothesis of HOFFMANN (1959) that the tines of the roe deer antlers can emerge independently from the coronet, but normally are joined proximally to form the shaft region of the antler beam, is related to the results of experimental research on antler development. On the basis of this, it is assumed that already in the early antler bud the functions of the different blastematic regions are determined in respect to the development of the species-specific form of the beam. The hypothesis that the presented case of multiple-beam formation was caused by a transient androgen-insufficiency during an early stage of antler formation is supported by comparison with wig-antler skeletons.

R~sum~ A propos d'une formation particuli~re de bois ~ plusieurs merrains chez le Chevreuil (Capreolus

capreolus L.)

Le bois de Chevreuil ~i plusieurs merrains est d&rit et la possibilit8 d'un conditionnement hormonal de cette malformation fair t'objet d'une discussion. Le concept d&elopp8 par HOFFMANN (1959), selon lequeI tes pointes des bois peuvent se d~velopper de fa~on ind~pendante k partir des meules tout en &ant normalement appel&s ~ se souder en un faisceau confluant, est confront~ avec les r&ultats de la recherche expSrimentale sur les apophyses frontales des cervicornes. On en d~duit l'hypoth&e que, chez le Chevreuil, la rSsorption ultSrieure des diff~rents blast~mes, d'ofi proc~de la formation typique

Unechte Mehrstangenbildung beim Reh I91

des merrains, est fix& d& les d~buts de la formation du velours. Cette conception, suivant laquelle la formation de ce faux polypode r~sulte d'une insuffisance hormonale passag&e au debut de la phase du refait, est confort& par une comparaison avec les squelettes de brocards ,~ perruque~.

Trad.: S. A. DE CROMBRUGGHE

Li te ra tur

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