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Uber Inf~mtilismus und Idiotie. Von W. Weygandt. (Eingegangen am 5. Juni 1913.) Die yon der statistischen Kommission des Deutschen Vereins fiir Psyehiatrie vorgeschlagene Neueinteilung der psychischen Krankheits- formen l~13t selbs~verst~ndlich an verschiedenen Punkten die Begrenzt- heir des heutigen Standes psychiatrischer Forschung erkennen. Ganz besonders deutlich tritt dies hervor in den Gruppen 18: ,,Imbecillit~t und Debiliti~t", sowie 19: ,,Idiotie". Zun~chst sind die beiden Gruppea lediglich gradue]l unterschieden, wie etwa manisch-depressive Ver- anlagung und manisch-depressive Psychose oder z. B. leichte und schwere Hirnarteriosklerose. Dann aber beriihren sich die beiden Gruppen auch mit einigen anderen in mannigfacher Weise. W~hrend die dys- thyreoiden St6rungen, obwohl sie in ihrer Mehrzahl bereits im Laufe der Kinderheitsentwicklung auftreten, zu der besonderen Gruppe 10 zusammengefagtt sind und auch wohl die kindliche Paralyse als zur Gruppe 7 geh6rig gedacht ist, sind die syphilitischen Idiotieformen yon der Hirnsyphilis ira sp~teren Alter (Gruppe 6) abgetrennt. Noch gr6i3ere Schwierigkeit hat offenbar die Einzelgliederung der Idiotie bereitet. Bei der Nebeneinanderstellung yon syphi]itischer, encephalitischer und hydrocephaler Idiotie ist hervorzuheben, dai~ manchmal gerade die syphilitische Idiotie auch einen Hydrocephalus, unter Umst~nden auch encephalitische Erscheinungen hervorbringt und da/3 weiterhin auch gelegentlieh Encephalitis und Hydrocephalie bei einem und demselben Fall, ohne syphilitische Grundlage, eng verbunden sind. Besonders groi] ist in dieser Gruppe ,,Idiotie" der unvermeidliche Sammeltopf der ,,sonstigen Formen" geworden. Bei jedem Versuch der Systematisierung und Klassifizierung auf naturwissenschaftlichem Gebiet miissen wir uns dariiber im klaren sein, dait ein Schema, das die logischen Prinzipienreiter restlos befriedigt, so gut wie nirgends durchgefiihrt werden kann. Vollends wird man bei einem in so raschem FluB der Entwicklung begriffenen Gebiet wie einer medizinischen ,Spezialdisziplin derartige utopische Anspriiche nicht stellen kSnnen. Die so beliebte und scheinbar so exakte Grup- pierung in endogene und exogene Krankheiten scheitert sehr bald den

Über infantilismus und idiotie

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Uber Inf~mtilismus und Idiotie.

Von W. Weygandt.

(Eingegangen am 5. J u n i 1913.)

Die yon der statistischen Kommission des Deutschen Vereins fiir Psyehiatrie vorgeschlagene Neueinteilung der psychischen Krankheits- formen l~13t selbs~verst~ndlich an verschiedenen Punkten die Begrenzt- heir des heutigen Standes psychiatrischer Forschung erkennen. Ganz besonders deutlich tritt dies hervor in den Gruppen 18: ,,Imbecillit~t und Debiliti~t", sowie 19: ,,Idiotie". Zun~chst sind die beiden Gruppea lediglich gradue]l unterschieden, wie etwa manisch-depressive Ver- anlagung und manisch-depressive Psychose oder z. B. leichte und schwere Hirnarteriosklerose. Dann aber beriihren sich die beiden Gruppen auch mit einigen anderen in mannigfacher Weise. W~hrend die dys- thyreoiden St6rungen, obwohl sie in ihrer Mehrzahl bereits im Laufe der Kinderheitsentwicklung auftreten, zu der besonderen Gruppe 10 zusammengefagtt sind und auch wohl die kindliche Paralyse als zur Gruppe 7 geh6rig gedacht ist, sind die syphilitischen Idiotieformen yon der Hirnsyphilis ira sp~teren Alter (Gruppe 6) abgetrennt.

Noch gr6i3ere Schwierigkeit hat offenbar die Einzelgliederung der Idiotie bereitet. Bei der Nebeneinanderstellung yon syphi]itischer, encephalitischer und hydrocephaler Idiotie ist hervorzuheben, dai~ manchmal gerade die syphilitische Idiotie auch einen Hydrocephalus, unter Umst~nden auch encephalitische Erscheinungen hervorbringt und da/3 weiterhin auch gelegentlieh Encephalitis und Hydrocephalie bei einem und demselben Fall, ohne syphilitische Grundlage, eng verbunden sind. Besonders groi] ist in dieser Gruppe ,,Idiotie" der unvermeidliche Sammeltopf der ,,sonstigen Formen" geworden.

Bei jedem Versuch der Systematisierung und Klassifizierung auf naturwissenschaftlichem Gebiet miissen wir uns dariiber im klaren sein, dait ein Schema, das die logischen Prinzipienreiter restlos befriedigt, so gut wie nirgends durchgefiihrt werden kann. Vollends wird man bei einem in so raschem FluB der Entwicklung begriffenen Gebiet wie einer medizinischen ,Spezialdisziplin derartige utopische Anspriich e nicht stellen kSnnen. Die so beliebte und scheinbar so exakte Grup- pierung in endogene und exogene Krankheiten scheitert sehr bald den

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praktischen F~tlen gegenfiber. Denken wir nur an die Alkoholisten, die wohl in letzter Linie einem exogenen, toxisehen Faktor ihre Krank- heit verdanken, aber doch zum guten Teil infolge einer endogenen Minderwertigkeit aus der Zahl s~mtlicher Trinker zu Pr~dilektionsopfern geworden sind.

Noch schwieriger wird die ~tiologische Analyse im Bereich der Jugendlichen. Sehr verdienstvoll sind die kritisehen ErSrterungen, die in dieser Hinsieht durch t I ig ie r 1) angestellt wurden. Er betont, dab yon endogener Erkrankung nur gesprochen werden kann, wenn der Akt der Vererbung mit dem AbschluB der Verschmelzung der Geschlechts- zellen bereits vollendet ist, w~hrend alle fibrigen Krankheitsursachen, mSgen sie ante, intra oder post partum den werdenden Organismus treffen, als exogen zu bezeiehnen sind; mit dieser Definition jedoch sei bei drei Viertel der jugendlichen Schwachsinnsf~lle eine kombinierte Wirkung von endogenen und exogenen Faktoren zuzugestehen. Weiter weist er darauf hin, dab manchmal, wie bei der Sachsschen amaurotisch- famili~ren Idiotie, das Hauptmoment wohl endogen sei, aber doeh exogene Faktoren wie ein schw~ehendes Milieu noch hinzutreten; andererseits kommt es vor, dab eine exogene Sch~dlichkeit, wie die der Hydrocephalie zugrunde liegende entzfindliehe Erkrankung, doeh auch wieder bei besonders disponierten Individuen in voller Schwere zur Geltung kommt. Seine eigenen feinsinnigen Klassifikationsversuehe gehen einmal yon pathogenetiseh-~tiologischen Gesichtspunkten, dann yon klinisch-anatomischen aus; ja, in letzterer Hinsicht sucht er das ganze Gebiet nach acht verschiedenen Einteilungsprinzipien zu gliedern.

Verstehen wir unter Idiotie und Imbecillit~t alle F~lle, in denen die geistige Entwicklung vor erlangter Reifung eine irgendwie geartete StSrung erleidet, so mfissen unter dieser Definition auch jene Krank- heiten zusammengefa~t werden, fiber deren spezielle J~tiologie wir im klaren sind, wie die Schilddrfisenerkrankungen und die Paralyse im Kindesalter. Berfihrungen mit verschiedenen Gruppen yon psychischen StSrungen bei Erwaehsenen sind unvermeidlich, aber doch bleibt den Idioten und Imbecillen die s~mtliehe F~lle umschlieBende Eigenart, dab eben bei ihnen die Psyche nie zur vollen Reife gelangt ist und ge- langen kann, durch welche Sch~dliehkeit auch immer die StSrung erfolgt sein mag. Um so wichtiger ist eine solche Betrachtungsweise, als gerade die leichteren Formen sieh vielfach in praxi der endgfiltigen Pr~zisierung entziehen. Die rein graduelle Einteilung in Idiotie, Im- becillit~t und Debilit~t beh~lt ihren praktischen Wert, daft aber hie davon abhalten, in ]edem einzelnen Falle naeh der Grundlage des Leidens

1) Zur Klassifikation der Idiotie und zur Pathologie ihrer selteneren Formen. Deutsche Zeitsehr. f. Nervenheilk. 34, 235. 1910.

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zu forschen, um so mehr als auch in leichteren F~llen, so bei Hilfs- schiilern, oft genug eine ganz spezielle Fixierung mSglich ist.

Weder die Morphologie noch die Psychologie allein reichen zum Einteilungsprinzip aus. Die Histologie kommt gewShnlich erst post mortem in Betracht. Eine wichtige Beihilfe stellt neuerdings die Sero- logie dar. Im Laufe der Zeit sind diese natiirliehen Formen oder klini- schen Gruppen, deren Vorl~ufer vor mehr als 100 Jahren die Ab- trennung des Kretinismus durch die Gebriider We n t z el u. a. darstellt, immer mehr differenziert worden, zun~chst durch die Forschung von Gr ies inger , B o u r n e v i l l e , Schiile, I r e l a n d , K r a e p e l i n , Sommer , Bar r und anderen Autoren.

Wenn ich heute nach mehreren friiheren Versuchen eine neue Grup- pierung unternehme, so liegt der Anlal~ darin, daI~ neben manchen sonstigen Forschungen, so der serologischen Feststellung syphilidogener Erkrankungen, vor allem die Lehre des Infantilismus und der inneren Sekretion sowohl hinsichtlich verschiedener Formen leichter Ent- wieklungsstSrungen, wie auch hinsichtlich maneher sehwerer Idiotie- formen weitere Ausblicke ermSglicht hat. Manche F~lle lassen erkennen, dai~ neben einer pathologischen EntwicklungsstSrung aueh noeh rein infantilistische Merkmale im Sinne einer blol~en Hemmung vorliegen.

Es ergibt sieh gegenw~rtig ungezwungen folgende Klassifikation, bei der jeweils einige verwandte Gruppen zusammengefai~t sind:

Historische Gruppen Schwachsinn durch Erziehungsmangel . . 1 Sehwachsinn dureh Sinnesmangel . . . . 2

Endogener Sehwachsinn: Mikrencephalie, Hirnanlagehemmung . 3

Sehwachsinn auf ent- ztindlicher Grundlage: Hirnentziindung . . . . . . . . . . . 4

(Encephalitisehe Mikrencephalie, Mikrogyrie, atrophisehe Sklerose und Gliose, Poren- cephalie.)

Hirnhautentzfindung . . . . . . . . . . 5 Hydrocephalie . . . . . . . . . . . . 6

Endogene Gruppen: Amaurotische famili~re Idiotie und ver- wandte Gruppen . . . . . . . . . . 7

TuberSse hypertrophische Sklerose . . . . 8 Mongoloide Degeneration . . . . . . . . 9

Infantilismus. A: Dystrophischer

Infantilismus durch 1. Milieu Unterern~hrung, Intestinal- stSrung u. a . . . . . . . . . . . . . 10

II. Vitium cordis (Pulmonal und Mitral) III. Alkohol, Blei und andere Gifte

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XVII . 40

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B: Glandul~rer Infantilismus :

IV. Infektionskrankheiten (Lues, Tuberkulose, Malaria u. a.)

I . Status thymicolymphaticus und Idiotia thymica . . . . . . . . . . . . . 11

I I . Dysthyreoidismus : . . . . . . . . . . 12 a) Hyperthyreoidismus (Basedow) b) Myx6dem und thyreoprive

Degeneration Hypo- c) endemischer Kretinismus thyreoidismus d) strumSser Schwachsinn

I I I . Dysgenitalismus . . . . . . . . . . 13 (Hypergenitalismus)

IV. Dyspituitarismus . . . . . . . . . . . 14 a) Akromegalie mit Schwaehsinn b) Dystrophia adiposogenitalis c) Hypophys~trer Zwergwuchs

(Anhang: Dyspinealismus) V. Dysadrenalismus . . . . . . . . . . 15

VI. Pluriglanduli~rer Infantilismus . . . . 16 Syphilidogene Idiotie, Imbecillit~t, Debilit~t 17

(Syph. Infantilismus und infantile Paralyse) Alkohologene Entwicklungsst6rung . . . 18 Athetotischer Schwaehsinn . . . . . . . 19 Chorea und psyehische EntwicklungsstSrung 20 Spasmophflie und Epilepsie mitSchwachsinn 21 Rhachitis mit Schwachsinn . . . . . . . 22

Skeletterkrankungen Chondrodystrophie mit Schwachsinn . . 23 Turmseh~idel mit Sehwachsinn . . . . . 24 Dementia praecox mit psychischer Entwick-

lungsstSrung . . . . . . . . . . . . 25 Friihformen

von Psychosen und Dementia infantilis (praeeoeissima) . . . 26 Manisch-depressives Irresein im Kindesalter 27

Psychoneurosen Hysterisch-degeneratives Irresein im ,, 28

Neurasthenie im Kindesalter . . . . . . 29 S o n s t i g e s : Tuberkulose, Tumoren usw., Sklerosis multiplex

infantilis, spinale Kinderl~hmung, famili~re erbliche Spinalparalyse, amyotrophische Lateralsklerose, W e s t p h a l - S t r i i m p e l s e h e Pseu- dosklerose, F r i e d r e i e h s c h e Ataxie, M 6 b i u s s c h e r infantiler Kern- sehwund, t temidystrophia faciei, traumatische Idiotic . . . . . 30

Die beiden ersten Gruppen haben im wesentlichen nur noch h i - s t o r is e he s I n t e re s s e. In Deutschland, das kaum noch Analphabeten kennt, k6nnen F~lle von vollst~ndigem E r z ieh u ngs m a n g el als aus-

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geschlossen gelten, wenn schon durch ein die Erziehung erschwerendes Milieu gelegentliehes Zuriickbleiben vorkommt und aueh zum Eintr i t t in die Sic k i n g e r s c h e n FSrderklassen fiihren kann. Die beriihmten historischen F~lle wie K a s p a r H a u s e r , der Wilde von Kronstad~ und der von Aveyron, P e t e r v o n H a m e l n usw. stellten verwilderte Imbecille dar.

Geistiges Zuriickbleiben durch S i n n e s m a n g el betrifft wohl noch F~lle von T a u b s t u m m b li n d e n, die h~ufiger sind, als man gewShn- lich glaubt, und nicht alle eine so intensive Ausbildung erlangen k0nnen, wie Laura Bridgman und Helen Keller. Die ganz iiberwiegende Mehr- heit der Taubstummblinden ist jedoch an sich idiotisch.

Als Geistesschw~che infolge von A n l a g e h e m m u ng des Hirns wur- den friiher die meisten F~lle yon Idiotie aufgefal~t. Eingehende Analyse hat die relative Zahl aufterordentlich eingeschr~nkt. Selbst die Mikren- cephalie ist zum grol]en Teil durch erworbene Sch~dlichkeiten ent- ~iindlicher Art bedingt. Man ist geneigt, als Kriterien fiir Hirnanlage- hemmung anzusehen:

1. erhebliche erbliehe Belastung; 2. besonders Idiotie bei mehreren Geschwistern; 3. schwere Degenerationszeichen; 4. besonders sehwere Hirndefekte. Ganz ausreichend ist keines dieser Kriterien. Bei der Iiir Idiotie

so wichtigen alkoholisehen Belastung seitens der Erzeuger findet sich doch vielfaeh eine encephalitische oder choreatische oder epileptische oder etwa kretinSse Erkrankung, also Formen, bei denen ~ul]ere Sch~d- lichkeiten angenommen werden miissen und der erblichen Belastung nur die Bedeutung hinsichtlich einer angeborenenWiderstandsunf~higkeit gegen jene Einfliisse zukommt. J~hnlich steht es mit der Erkrankung von Gesehwistern; die Literatur zeigt z .B. auch F/s von Hydro- cephalus bei drei und mehr Geschwistern. Schwere Degenerationszeichen sind wohl ein bemerkenswerter Fingerzeig, kommen aber nicht nur bei Idioten und Imbecillen vor, sondern auch einerseits bei erworbenem Sehwachsinn, dann aber aueh gelegentlich bei psyehisch ganz Normalen, wie Polydaktylie und Hasenscharte, selbst ein Kaudalanhang in der Kreuzbeingegend. (Die demonstrierten Abbildungen zeigen u. a. zahl- reiche schwere Degenerationszeichen bei lediglich Imbecillen aus der Hilfsschule.)

Sogar sehr schwere Hirndefekte, wie sie u .a . yon H. V o g t 1) be- sehrieben worden sind, beweisen an sich noch nichts gegen eine inter- kurrente SchKdliehkeit in der Embryonalperiode: Das Him eines Zweij/s wog 125 g, hatte keinen Balken, nur Andeutung von

1) ~ber die Anatomie, das Wesen und die Entstehung mikroeephaler Mill- bildungen. Wiesbaden 1905.

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Windungen, zahlreiche Heterotopien, Ankls an das Monotremen- him, aber doch muBte schlieSlich angesiehts des histologischen Befundes Unterbrechung der Hirnentwicklung auf Grund einer lokalen Sch~dlieh- keit, nicht aber eine aus abnormer Anlage hervorgehende MiBentwick- lung des Hirns angenommen werden. Auch H i l t y 1) h~lt in seinem Fall neben Keimvergiftung die Bedeutung zufs mechanischer Momente in der ersten Embryonalzei~ nicht fiir ausgeschlossen.

Wohl spricht am ehesten fiir Anlagehemmung ein famili~res Auf- treten der Mikrencephalie, wie bei den Geschwistern Becker~), wenn auch hier an den Hirnen mehrfach pathologische Prozesse festzustellen waren. In einer yon P i l c z a) beschriebenen Familie waren 4 Geschwister mikrocephal, 6 hydrocephal; eine der Schwestern hat te wieder vier schwachsinnige Kinder.

Wichtiger noch ist die Gruppe der Idiotie infolge e n t z t i n d l i c h e r H i r n e r k r a n k u n g , vor allem der E n c e p h a l i t i s , die anscheinend bei den verschiedensten Infektionskrankheiten auftreten kann. Lokali- sation und Intensit~t der Erkrankung variieren ungemein, in manchen Fs bleibt die Psyche intakt, in anderen liegt neben L~hmung tiefer B15dsinn mit epileptischen Anf~llen vor und auch in sp~teren Jahr- zehnten kann der Proze~ noch Fortschritte machen. Eine strenge, prinzipielle Trennung zwischen Encephalitis, diffuser Sklerose und Gliose, Rindenatrophie, Mikrogyrie und der lediglich wegen der Lokali- sation des Herdes charakteristischen Porencephalie ist undurchftihrbar. Einer meiner F~lle zeigt Zwergwuchs, Spasmen der Beine und geringen Hypogenitalismus ; er entsprach am ehesten dem yon B o u r n e v i l l e beschriebenen N a n i s m e d i p l S g i q u e und ist wohl encephalitisch mit Beeinflussung der Hypophysis aufzufassen.

GrSl]er ist die Bedeutung der H y d r o c e p h a l i e , die in leichtester Entwicklung die Psyche kaum alteriert und in mittelschweren F~llen vielfach symptomatische Epilepsie aufweist. Ein Fall in Hamburg mit 85 cm Sch~detumfang konnte bis in sein erwachsenes Alter noch aul~erhalb der Anstalt leben.

Bekanntlich kommt auch Hyd~ocephalie mit Hirnentwicklungs- hemmung verbunden vor, also in Form einer t{ y d r o mi kr e n c e p h a lie. Ferner finder sich gelegentlich eine Kombination yon Porencephalie mit Hydrocephalie: Bei einem mir bekannten Falle t ra t im 4. Jahr nach mehrt~gigem Erbrechen eine rechtsseitige L~hmung ein; er ist 20 Jahre alt, der Kopf hat einen Umfang yon 67,5 cm, eine Ls

1) Geschichte und Gehirn der 49j/ihrigen Mikrocephalin Cacilie Gravelli. Wiesbaden 1906.

~) D a n nen b e r ge r, Die Mikrocephalenfamilie Becker in Biirgel. Klinik f. psych, u. nervSse Krankh. 7. 1912.

3) Jahrb. f. Psych. u. Neuroh 18.

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von 22, eine Breite von 19,5 cm; die Reflexe des spastisch-paretischen rechten Armes und Beines sind gesteigert.

Zu beachten ist die nicht ganz seltene Kombination mit Hydro- rhaehis, Hydromyelie und Spina bifida. Meningitis serosa kann gelegent- lich dureh Druck vom Infundibulum her auf die Hypophyse die sparer zu erSrternde Degeneratio adiposogenitalis hervorrufen, die auch bei Porencephalie gelegentIieh angedeutet ist; offenbar ist durch die Hypo- physissch~digung aueh der bei Hydrocephalen nicht ganz seltene Zwerg- wuchs bedingt.

7. Auf die a m a u r o t i s e h e fami l i~ re I d i o t i e mit ihren Unter- formen will ich hier nicht n~her eingehen, so sehr sie aueh als die ge- schlossenste Gruppe imponiert und histologisehes Interesse darbietet.

8. Die t u b e r S s e h y p e r t r o p h i s c h e Sk le rose mu$ aueh als Ausdruck einer Anlagest5rung aufgefaSt werden. Die FKlle sind zahl- reicher, als man gewShnlieh annimmt. Bei allen ganz schweren Epilepsie- f~llen muB die Aufmerksamkeit wenigstens nach jener Richtung hin gesch~irft sein. Die Mil~bildungen, besonders Hautaffektionen, vielfach Adenoma sebaceum, gelegentlich angeborener Herzfehler, sowie die durch Nierenmil~bildung bedingten Albuminurie, ferner auch die plumpe, tier blSde Physiognomie erlauben manchmal schon die Diagnose intra vitam. Mehrfach handelt es sich nur um Formes frustes.

9. Der Mo ngolis mus stellt eine in sich wohl abgeschlossene Gruppe dar, die kSrperliche und psychisehe Eigenart aufweist. Anamnese wie auch Histologie lassen eine angeborene Affektion im strengen Sinne an- nehmen, ja geradezu als Keimsehw~che kSnnte die Degeneration be- zeichnet werden. Sekund~re Sch~dliehkeiten treten manchmal hinzu; zwei der mir bekannt gewordenen F~lle wiesen aueh positiven Wasser- mann auf. Nach dem Gesamthabitus erinnern die Mongoloiden an die durch StSrungen der inneren Sekretion bedingten F~,lle von Infantilismus.

Unter I n f a n t i l i s m u s ist das Zurtickbleiben der geistigen und kSrperlichen Entwicklung auf mehr weniger kindlichem Standpunkte zu verstehen. Freflich kann neben der Unteren~wicklung auch eine MiB- entwicklung vorkommen. Friiher wurde, vor allem von franzSsischen Autoren, der dystrophisehe Infantilismus infolge von Infektion, Stoff- wechselstSrung, Vergiftung, als Type L o r a i n dem thyreogenen Infan- tilismus als dem Type B r i s s a u d , Meige oder H e r t o g h e gegentiber- gestellt. Es kommen aber neben der Thyreoidea auch alle mSglichen anderen Organe aus dem System der Driisen der inneren Sekretion in Betraeht. A n t o n unterseheidet den partiellen von dem generellen Infantilismus und nennt in letzterer Gruppe neben dem dystrophisehen den dysthyreoiden, den dysgenitalen, den anderweitig glandul/ir be- dingten, den mongoloiden Infantilismus. Ich mSchte, unter Abtrennung letzterer Form, die oben aufgeftihrte Einteilung vorschlagen.

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Der durch das sch~dliehe Milieu, vor allem die Unterern~hrung bedingte, aber auch wohl heredit~r beeinfluBte Infantilismus tritt uns vor allem in Waisenh~usern, Hilfsklassen, Fiirsorgeanstalten usw. ent- gegen. Im Vergleieh zu den normalen Kindern wohlhabender Eltern zeigen jene ZSglinge nicht etwa nur Blut- und Fettarmut, sondern vielfach eine Hemmung ihrer Gesamtentwicklung, die einem Zuriiek- bleiben von 3--5 Jahren gegeni]ber der lqormalstufe entspricht; viel- fach erweeken 15--16-J~hrige den Eindruck von 10--12-J~hrigen.

t t e r t e r schilderte einen intestinalen Infantilismus auf Grund fremd- a~tiger, sch~dlicher Darmbakterien; einen entsprechenden Fall beschrieb neuerdings Dearborn1): Im dritten Monat Breehdurehfall, sodann Hinf~lligkeit, Wachstumshemmung, reduzierte Ern~hrung trotz Amine, Bauchauftreibung; Gehen erst im 5. Jahr, ohne Rachitis; die ersten Z~hne fielen bald aus. Mit 9 Jahren Schulbesuch, ohne Ausdauer, holte aber das NStige nach ; mit 13 Jahren KSrperl~nge 98 cm, Gewicht 15 kg; hinreiehend intelligent; tt~moglobin 36%, sp~ter 50%.

Hier w~re aueh der yon L e r e b o u i l l e t besehriebene Infantilismus auf Grund von hypertrophiseher bili~rer Lebercirrhose und der von B y r o m Bramwel l geschilderte Infantilismus panereaticus zu er- w~hnen.

Den P u l m o n a l i n f a n t i l i s m u s repr~sentieren Kinder mit diesem .Herzfehler , die in kSrperlicher Hinsicht mehrere Jahre hinter der Norm zuriickbleiben und psychisch recht tier stehen; ein 6]~hriger Fall von F e r r a n i n i war nur 81 cm groB.

M i t r a l i n f a n t i l i s m u s zeigt leichtere Entwieklungshemmung des Organismus ohne StSrung der Proportionen, versp~tete Haar- und Sexualentwicklung, bei m~{~iger geistiger Schw~ehe.

Auf den syphilitisch bedingten Infantilismus gehe ich sparer ein in Verbindung mit den anderen syphilidogenen StSrungen der Kindheit.

T u b e r k u 1 o s e kann erhebliche Entwieklungshemmung bringen, wenigor im Skelettsystem als hinsichtlieh der Muskulatur, Haarentwick- lung und Geschlechtsorgane; die Gesichtszage erscheinen frah gealtert. Eine 19j~hrige Patientin F e r r a n i n i s war 111 cm groB, Gewicht 19 kg, Kopfumfang 47 cm, ohne Menstruation.

Ich untersuehte ein 8i~hriges M~dehen, dessen Mutter und Schwester an Tuberkulose gestorben waren und das selbst an Bauehfelltuberkulose mit Ergu[t gelitten hatte. Es war 103 cm grol~ (start 116), konnte erst ein halbes Jahr die Schule besuehen und hatte es nut zum Lesen weniger Buchstaben gebracht.

Malaria, Pellagra, Lepra kommen in unseren Gegenden als Infantilis- musgrundlage nieht in Betracht. Typhus abdominalis und Polyserositis w~ren noeh zu nennen.

1) Zeitschr. z. Erforsch. u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns 6.

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Der a 1 k o h o 1 o g e n e I n f a n t i li s m u s ist sparer zu erw~hnen. Andere Gifte wie Blei, Quecksilber, Morphium, Nikotin usw. k6nnen ebenfalls Infantilismus bedingen.

Der S t a t u s th ymico l y m pha t i c us zeigt an~misch-past6se Haut, hyperplastische Lymphdrtisen, Tonsillenschwellung und engen Raehen- eingang, gelegentlieh Thymusreste, sowie Enge des Arteriensystems. Die Sexualentwicklung und die sekund~re Haarbildung ist vielfaeh versp~tet, die K6rpergrSl~e manchmal iibernormal. Psychisch finder sich ein infantiler Habitus m~l~igen Grades, ein unselbst~ndiges, ~ngst- liches, schlaffes, vertr~umtes Wesen.

Die A u s s c h al t u n g d e r T h y m u s bringt nach den experimentellen Untersuchungen von Klose , H. Vogtl), L i e segang u. a. anfangs Fet~ansatz, dann Abmagerung, Plumpwerden der Bewegungen, Ermiid- barkeit, Reflexver~nderung, Sensibilit~tsherabsetzung, StSrung der elektrischen Erregbarkeit, Verbl6dung. Das Hirn l~i~t eine Schwellung erkennen, anscheinend im Gefolge einer Fliissigkeitsbindung dureh die bei Thymusausschaltung eintretende S~uretiberladung des Organismus. I d i o t i a t h y m i c a nimmt H. Vogt an bei einem verbl6deten, zwerg- haften 17j~hrigen, der seit Jahren infolge erheblicher Schw~che der sieh teigig anftihlenden Muskeln und der zun~chst elastisch welch, dann aber brfichig werdenden Knochen ganz bewegungsunf~hig ge- worden war.

Auf den D y s t h y r e o i d i s m u s brauche ieh heute nicht n~her ein- gehen. Unter den neueren Untersuchungen ist vor allem bemerkens- wert, dab das Blutbild bei Hyper- und Hypothyreoidimus in gleicher Weise ver~ndert ist und Abnahme der polynucle~ren Leucoeyten, Vermehrung der Neutrophilen und Hyperlymphocytose aufweist, w~h- rend die Gerinnbarkeit des Blutes bei Basedow gehemmt, bei Myx6dem aber besehleunigt ist. Schg, rfer betont werden mtiBte die Abtrennung der typischen Kretinen mit Zwergwuchs und Myx6dem von den meist normal gewachsenen sehwachsinnigen Strum6sen.

D y s g e n i t a l i s m u s kann angeboren, in frtiher Jugend oder im sp~teren Leben erworben sein. An sieh sind die Folgeerscheinungen vielfach ziemlieh die gleichen; selbst bei Verlust der Genitalien im sp~teren Leben wurde mehrfach neben dem Ausfall der Libido und Potenz aueh Verlust der Seham- und Aehselhaare, tt6herwerden der Stimme und Ver~nderung der Psyche beobachtet. F~lle ohne Folge- erscheinungen wie die yon Rieger erw~hnten Narses, Origines und Abglard k6nnen ausnahmsweise wohl vorkommen. Zwei wiehtige l~olgeerscheinungen sind die Fettsucht und bei den noeh nicht in die Skelettreife Eingetretenen der eunuchoide Riesenwuchs. W~hrend bei

1) Idiotia thymic~ (Schwachsinn durch Thymusausschaltung). Zeitschr. f. Erforsch. u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns 4, 548.

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der normalen Entwicklung die Geschlechtsreife auch allmKhlich den Ab- schlul3 der Ossification bringt und damit das Wachstum aufhSrr bleibt letzCere Erscheinung infolge der ausgeschlossenen Geschlechtsreife geraume Zeit aus und somit wachsen die langen R6hrenknochen an den erhaltenen Epiphysenlinien noch erheblich weiter.

Zweifellos ist manchmal mit Dysgenitalismus auch geistige SchwKche verschiedenen Grades verbunden, vielfach mit bemerkenswerten kin- dischen Ztigen, Weinerlichkeit, Reizbarkeit, BeeinfluBbarkeit usw. Gelegentlich linden sich ziemlich tiefstehende Idioten mit kindischen Zfigen, Genitalhemmung und eunuchoidem Riesenwuchs.

Kurz erwi~hnt sei, dab auf Grund prim~rer ~berfunktion der Keim- driisen auch H y p e r g e n i t a l i s m u s vorkommt; so zeigte ein Fall yon N e u r a t h Wachstumssteigerung im 18. Lebensmonat, Scham-, Achsel- und Barthaare mit zwei Jahren, bald darauf einen Kopfumfang yon 53 cm, K6rperlitnge yon 103 em und Gewicht yon 49 kg. Mit 8 Jahren 138 cm K6rperl~nge, 56,5 Kopfumfang, dazu Genitalien wie bei einem Erwachsencn; dabei auch psychische Neigung zum weib- lichen Gesehlecht. Ebenso findet sich Menstruatio praecox, etwa bei einem 21/2j~hrigen M~dchen, sowie Sehw~ngerung mit 8 Jahren.

Beim D y s p i t i u t a r i s m u s ist der eigenartige Bau der Hypophysis zu berticksichtigen. Am meisten geklKrt ist die A k r o m e g a l i e , die ja auf Uberfunktion des vorderen, drtisigen Hypophysenteiles dutch die adenomat6se Vergr613erung dieses Teiles oder seiner Adnexe beruht, im Jugendalter mit Riesenwuchs verbunden ist und in manchen FMlen mit betritchtlichem Schwachsinn einhergeht.

Ebenfalls dutch die Hypophyse bedingt ist die D e g e n e r a t i o a d i p o s o g e n i t a l i s . Mit B. F i sche r nehme ich an, da$ es sich um eine Funktionsst6rung des nerv6sen, hinteren Tells der Hypophyse handelt. Entweder ist dieser Teil durch G e s c h w u l s t b i l d u n g gest6rt oder abet infolge einer Men ing i t i s serosa, die yore Infundibulum her einen Druck austibt, gesch~idigt. Das R6ntgenbild l~$t bier wie bei Akromegalie vielfach, aber keineswegs immer eine Erweiterung des Ttirkensattels erkcnnen. Zweifellos sind die ri~tselhaften Fi~lle yon Idiotie mit Fettsucht, die I d io t i e p o l y s a r c i q u e , hierdttrch zu er- kl~ren. Bemerkenswert ist die vorwiegend erethische Gemtitsart dieser Idioten.

Vereinzelt linden sich in der Literatur F~lle yon Zwergwuchs, bei denen eine Zerst6rung des vorderen Hypophysenteils durch Teratom, Tuberkel usw. vorlag, anscheinend ein Gegenstiick zur Akromegalie mit ihrer Mehrfunktion des adenomat6s vergr613erten Vorderteils.

Beim H y p o p i n e a l i s m u s tritt eine verfrtihte Entwicklung des Wachstums, vor allem der Sexualorgane, abet auch des psychischen Verhaltens ein. Ein Fall yon v. F r a n k l - H o c h w a r t mit Zirbel-

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kompression durch Tumor wuchs mit drei Jahren auffallend, es traten Erektionen, Schamhaare und Stimmweehsel ein, auch geistige Frfih- reife, ErSrterungen fiber Unsterbliehkeit und dergleichen. Mit 41/2 Jahren war der Junge 123 em grog ; unter Tumorsymptomen erfolgte ein Jahr sparer der Tod.

Hinsichtlich des D ys a d r e n a li s m u s sei erinnert, dab bei Neben- nierenrindenstSrung die Addisonsymptome auftreten, Pigmentierung, Verdauungsst6rung, Adynamie und Apathie, Blutdruckverminderung infolge FunktionsSerabsetzung der chromaffinen Bestandteile, vereinzelt auch einmal Zwergwuchs.

Bei manchen F/~llen yon Dementia praecox scheinen auch dys- adrenale Symptome angedeutet, was auch aus manehen Ergebnissen der Dialysiermethode naeh A b d e r ha Ide n und F a u s e r, Nebennieren- abbau auger dem yon Schilddrfise und Geschlechtsdrfisen, angenommen werden kann.

Uberfunktion der Nebennierenrinde infolge yon Adenombildung bringt auffallend rasehes Wachstum und vorzeitige Genitalentwieldung, ferner manchmal eine sexuelle Umwandlung: Bei einem 17j~hrigen M~dchen hSrte die Periode auf, es trat Bartwuchs ein, gelegenthch Fettsucht oder auch weiblieher Pseudohermaphroditismus.

A n t o n beobachtete Hypertrophie des Hirns, sowie auffallend groge Thymus bei cystischer Entartung im ehromaffinen System der Nebenniere.

Bei krankhafter Ver~inderung einer innersekretorischen Driisen- gruppe werden vielfach auch andere Drfisen des Systems in Mitleiden- sehaft gezogen. Bei Schilddrfisenentartung leidet bekanntlich die Ent- wieklung des Gesehleehtsapparats u n d e s vergrSl~ert sich die ttypo- physe; aber aueh bei Hyperthyreose kSnnen die Menses abnehmen und ausbleiben, ja der Gesehlechtsapparat atrophieren, bei M~nnern kann die Libido sinken bis zur Impotenz. In der Pubert~t und in tier Gravidit~t nimmt das Volumen der Schilddrfise zu. Ferner tritt in der Gravidit~t, wie auch nach Kastration, VergrSgerung der Hypophyse ein. Bei mangelhafter Keimdrtisenentwicklung kann tier Thymus ganz oder teilweise verharren. Die Epiphyse zeigt mit der Pubert~t eine gewisse Involution und atrophiert naeh Kastration, w~hrend ihre Ausschaltung in der Kindheit zu vorzeitiger Genital- und auch wohl Hypophysenentwieklung wie aueh zu geistiger Frfihreife ffihrt. Die Wirksamkeit des Hypophysenhinterlappens hat eine gewisse Verwandt- sehaft mit der des Adrenalins, des wesentlichen Bestandteils des chrom- affinen Nebennierensystems. Mit Nebennierenrindenentartung ver- binder sieh den Addisonsymptomen gewShnlich eine Atrophie der Keimdrfisen und gelegentlich eine I-Iyperplasie des Thymus. Bei Dys- parathyreosis tritt neben den Tetaniesymptomen mehrfach Sehild-

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drtlsenschwellung und Neigung zu Myx5dem auf. Weitere Beziehungen bestehen zwischen dem Pankreas und der Schilddriise, sowie den Neben- nieren.

Aber es kommt abgesehen von diesen sekundKren Entartungen, auch jedenfalls vor, dab gleichzeitig mehrere hormonopofitisehe Driisen erkranken, sie sogenannte I n s u f f i s a n e e p l u r i g l a n d u l a i r e von Claude und Gouge ro t oder die m u l t i p l e B l u t d r t i s e n s k l e r o s e von F a l t a , anscheinend auf Grund eines infektiSsen Leidens. Aber auch in friihester Kindheit kann eine Mehrheit yon Drfisen funktions- unttichtig werden und ein kombiniertes Krankheitsbild ausgesproehen infantilistischer Art herbeiftihren. Neuerdings wird von D u p u y und anderen angestrebt, bei kSrperlich und geistig Zurtiekgebliebenen auf dem Wege einer pluriglandul/iren Organbehandlung Erfolge zu erzielen.

Sicher sind manche F~lle recht verwickelt gelagert und oft genug mul~ man auf eine restlose Erkl~rung verzichten. So waren bei sechs yon mir beobachteten Briidern der ~lteste, der dritte und der fiinfte in ihrer kSrperliehen und geistigen Entwicklung zuriiekgeblieben, am meisten der ~lteste, der mit 17 Jahren nur 93 em miler und 14 kg wiegt ; die vordere Fontanelle ist noch often, der Kopfumfang betr~gt 49,5 em; Lippen, H~nde und FiiBe sind cyanotiseh, es bestehen Trommelschlegel- finger; es liegt angeborener Herzfehler vor; die Genitalien sind unent- wickelt; ferner tritt oft Kopfschmerz und Erbrechen auf.

Ein anderer Fall mit positivem Wassermann war 16j~hrig nut 115 cm grog. Er wirkte 7 Jahre in einer Liliputanertruppe als Sopran- s~nger. Mit 23 Jahren war er 125 cm, doch trat er wegen Kr~nklich- keit allm~hlich nicht mehr auf. Mit dem 30. Jahr ring er wieder an zu wachsen, gegenwKrtig ist er mit 39 Jahren 165 cm gro$. Er ist schw~chlich, an~misch, mit auffallend langen eunuchoiden Extremi- t~ten, Metacarpen, Metatarsen und Phalangen. Achsel- und Scham- haare fehlen, der Penis ist 3 4 cm groB, das Scrotum ist leer.

Die Syph i l i s bringt auSer der kindlichen Paralyse mannigfaehe andere StSrungen der psychisehen Entwieklung, nach den meisten Unter- suchern rund 15% der F~lle aus Idiotenanstalten. Die Ver~nderungen am Zentralnervensystem sind ungemein mannigfach. Entztindliche Ver~nderungen aller Art, Meningitis, Hemiplegie, Poreneephalie und I-Iydrocephalie kommen in Betraeht, h~ufig sind epileptische Kr~mpfe. Daneben treten vielfach ReflexverKnderungen, Paresen, Ataxie, Sprach- stSrung usw. auf. Von Wiehtigkeit ist das vermehrte L~ngenwaehstum der RShrenknochen, ferner die allerdings nicht ganz spezifische Scapula seaphoides.

AuBerdem treten aber noch ausgesprochene infantilistische Sym- ptome auf, ein Zuriickbleiben auf einer kindlichen Stufe bis zu betr~cht- liehem Zwergwuchs. Es ist dabei einerlei, ob die Syphilis ererbt oder

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erworben ist. Die Hutchinson-Trias geh6r$ iibrigens zu den Selten- heiten. R~tselhaft ist das Auftreten von Polydaktylie bei Lues in drifter Generation.

Manchmal sind auch F~lle von kindlicher Paralyse kombiniert mit infantilistischen Ztigen, so ein von frtihauf schwachsinniger und gelegentlich mit Kr~mpfen behafteter Junge, bei dem mit 13 Jahren alle Zeiehen der Paralyse vorliegen, aber auch Dysgenitalismus, kleiner Wuchs des Rumpfes, doch Riesenwuehs der Extremit~ten.

Der Grad des Sehwachsinns bei jugendlicher Syphilis, von Para- lyse abgesehen, ist ganz different. Tiefer B15dsinn, Imbezillit~t und leichte Debilit~t kommen vor, ja manchmal bleibt die Psyche ganz intakt.

Die Beziehungen des Alkohols zum kindlichen Schwachsinn sind ungemein mannigfach. Seine heredit~re Bedeutung ist bekannt, zweifel- los bringt er 5fter durch Keimsch~digung Schwaehsinn, aber h~ufig sehafft er auch nur den Locus minoris restistentiae ftir Encephalitis, tIydrocephalie, Epilepsie, Chorea, selbst Kretinismus. Jedoch auch der im Kindesalter genossene Alkohol ftihrt zur geistigen Minder- wertigkeit, wie zahlreiche Schtileruntersuchungen zeigen, gelegentlich zum Infantilismus und manchmal zu schwereren psychischen StSrungen, selbst Delirium tremens in den Kinderjahren.

Die A the tose ist manchmal mit Schwachsinn verkniipft, der in der Regel wegen der Schwicrigkeit der Untersuchung, des sprachliehen Ausdrucks und der Lerngelegenheit schlimmer scheint, als er wirklich ist. Genau genommen mtil~te die Mfektion in die Gruppe der En- cephalitis gertickt werden.

Noch seltener sind c h o r e a t i s c h e St6rungen verkniipft mit j ugend- licher Geistesschw~che, wi~hrend die Kinder-Chorea gelegentlich wenigstens lebhaftere psychotische Symptome bringt.

Schwer zu trennen ist im Kindesalter mehrfach die Spasmo- phi l ie vonde r Epi leps ie . Erstere, infolge der Unterfunktion der Epithelk6rperchen entstanden, fast immer in Verbindung mit schwerer Rhachitis, kann eine psychische Minderwertigkeit hinterlassen. Die genuine Epilepsie will ich hier nicht n~her bespreehen, ebensowenig die mehrfach beriihrte symptomatische Epilepsie im Kindesalter.

Die Frage einer durch R a c h i t i s bedingten Idiotie ist streitig. Gelegentlich sind die rachitischen Kinder geweckt und von flotter Auffassung, vielfach jedoch weinerlich, launenhaft und verdrieBlich, vereinzelt abcr wird anscheinend doch auch schwere Idiotie lediglich durch die kindliche StoffwechselstSrung der Rachitis hervorgerufen. N~here Beziehungen bestehen auch zwisehen Raehitis und Hydro- cephalie, sowie zwischen jener und der Spasmophilie.

Eine von mir untersuchte Patientin ist tier idiotisch, sprach nur wenige, undeutliche Worte; sie ist menstruiert, seit dem 18. Jahr leidet

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sie an epileptischen Kr~mpfen; yon Gemiitsart ist sie gutmiitig. Der Kopfumfang miBt 51 cm; die H~nde haben kurze Finger, auffallend keulenf6rmige Daumen. Beine und Wirbels~iule sind hochgradig, geradezu in osteomalacischer Weise verkrtimmt.

C h o n d r o d y s t r o p h i e oder Mikromel i e ist von besonderem Interesse fiir die Geschichte der Idiotieforschung, weil sie vielfach Anlal~ zu Verwechslungen mit Kretinismus gab, ~hnlich wie es friiher auch mit dem Mongolismus gesehah. Gew6hnlich ist die Skelettaffektion keineswegs mit Sehwaehsinn verbunden, oft sind es reeht geweckte und witzige Individuen, aber gelegentlich kommt auch eine Kombi- nation mit Debilit~t nnd Imbezfllit~t vor. Die Mutter eines meiner F~lle, einer debilen Mikromelen, lift an Dementia paranoides.

Die interessanten Fgllk yon T u r m s k h ~ d e l sind ~tiologisch noch aieht vSllig geklgrt. Anseheinend tritt in frtihkr Entwieklungszeit eine M e n i n g i t i s serosa v e n t r i c u l a r i s auf, und es erfolgt unter deren Druck eine premature Synostosenbildung der rachitisch affizierten Sch~delknochen. Die F~lle kommen eher zum Augenarzt und Blinden- lehrer, als zum Psychiater, denn es wird wohl vielfakh dutch Druck Neuritis optica und Sehnervatrophie sowie Exophthalmus hervorgerufen, iibrigens mkhrfach auch OlfactoriusstSrung, aber die psychisehe Ent- wieklung blkibt in den meisten F~llen intakt, obwohl das Him in seiner Ausdehnung behindert ist und die ganz eigenartigen Eindriikke und Juga cerebralia an der Sch~delkonkavit~it eine erheblichk HirnstSrung vermuten lassen kSnnten. Immerhin ist kin kleinkrer Teil der Fglle doch schwachsinnig und selbst idiotiseh. Gelegentlich wurde Turmsch~del bei mehreren Generationen beobachtet. Auch MiBbildungen an den Extremit~tenknochen kamen vor.

Eine l~eihk von G e i s t e s k r a n k h e i t e n im engeren Sinnk wie aueh von P s y c h o n k u r o s e n kSnnen hkmmend auf die kindliehe Entwick- lung einwirken. Sic sollkn im folgenden nur kurz erw~hnt werden. D e me n t ia p r ae e o x darf nieht einfach aus den katatonie~hnlikhen Stkllungs- und Bewegungsanomalien, Verbigkration, Befehlsautomatie oder Negativismus erklgrt werden, denn derartiges findet sich bei zahl- reichen Idiotief~llen, die anderweitig ~tiologisch bestimmt dkterminiert sind, wie Porencephalie, Hydrockphalie, Mongolismus, tubkrSse Sklerose, selbst kindliche Paralyse usw. Daneben kommen abkr doeh zweifellos F~lle einer in der Kindheit ausbrechendkn Dementia praeeox vor und sehlieBlich l~l~t aueh die exakte Anamnese vikler sparer erkranktkr F~lle doch schon eine gewisse psyehische Minderweitigkeit und Eigenart ira Kindesalter erkennen. Der Auffassung yon Masoin , dab die De- mentia praekox allgemein eigentlich als Spatidiotie aufzufassen sei, kann ieh nicht beitreten.

Anders steht kS mit einigen F~llkn, bei denen in frahen Kinder-

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jahren, mit 3, 4 Jahren etwa, ein Verb15dungsprozeS einsetzt und zu tiefer Idiotie fiihrt, unter Verfall der sprachlichen _~uSerungen, doch zun~ichst mit Krankheitsgefiihl, lange erhaltener Aufmerksamkeit und einem intelligent bleibenden Gesichtsausdruck. Ieh m6chte diese F~lle nicht mit San te de Sanc t i s als Friihkatatonie oder Dementia praeco- cissima, sondern mit Hel ler als einen eigenartigen kindlichen Ver- blSdungsproze6 auffassen und mit dem Namen einer D e m e n t i a in- fa n t i l i s bezeichnen.

Das m a n i s c h - d e p r e s s i v e I r r e s e i n kommt in der Kindheit in Betracht, insofern zahlreiche erwachsene F~lle in der Anamnese schon auffallende Symptome aus den Kinderjahren aufweisen, dann abet auch in manisch-depressiven Familien manchmal Imbezillit~t auf- tritt und schlieSlich auch gelegentlich in der Kindheit sehon die Psy- chose in ausgepr~gter Form vorkommen kann.

Nur erwahnen m6chte ich das ziemlich h~ufige Auftreten degene- r a t i v e r H y s t e r i e , oft mit P s e u d o l o g i a p h a n t a s t i e a , im Kindes- alter, gelegentlich unter ausgesprochener I m b e z i l l i t ~ t ; ferner auch die St6rung der normalen Kindesentwicklung auf n e u r a s t h e n i s e h e r Grundlage.

Trotz dieses Versuchs eingehender Differenzierung der Idiotie bleibt ein Rest kleinster Gruppen iibrig, die in der Rubrik ,,Sonstiges" auf- gefiihrt werden sollen; tells seltenere Erkrankungen, teils Ungekl~rtes. Neben H i r n t u b e r k u l o s e und T u m o r e n kommt gelegentlich in Be- tracht die m u l t i p l e S klerose im Kin@salter, die vereinzelt schon in die ersten Jahre zur~ckreicht; dann die s pi n a 1 e K i n d e r 1 ~ h m u n g, die ja eine ganz scharfe Abtrennung yon der ffir die Idiotie so viel wichtigeren cerebralen Kinderl~hmung nieht zul~St; weiterhin die famil iKre erbl iche S p i n a l p a r a l y s e ; die a m y o t r o p h i s c h e La te - ra l sk le rose ; die Wes tpha l -S t r i impe l l s che Pseudosk le rose ; die F r i ed r e i chsche A tax i e ; der i n f a n t i l e K e r n s c h w u n d nach M6bius; die H e m i a t r o p h i a faciei und die H e m i h y p e r t r o p h i a faciei . Es handelt sich um seltenere Erkrankungen, von denen auch nut ein Teil mit Sehwachsinn kombiniert ist.

Ein schwieriges Problem bildet die Entstehung der I d io t i e naeh Tra uma , insbesondere Ge b u r ts t r a u ma. In einzelnen eklatanten F~llen, wie einem yon E. R e h m beschricbenen, trifft dies wohl zu; im allgemeinen h~It aber die populate Neigung, dem Sch~deltrauma eine groSe Bedeutung beizumessen, eingehender Priifung nicht stand. K S n i g glaubte in 25,7% tier F~lle cerebraler Kinderl~hmung als Ursache ein Geburtstrauma annehmen zu kSnnen. H. Vogt land da- gegen bei 1100 F~llen yon Idiotie, Imbezfllit~t und Epflepsie nur 7 real als einzige anamnestisch-~tiologisehe Notiz sehwere Geburt, 7 mal Asphyxie und 14mal Zangengeburt. Z iehen mist jedoeh der pro-

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trahierten Geburt eine besondere Bedeutung bei und gibt an, dab er unter seinem polildinischen Material j~hrlieh 6--8real diese ~tiologie annehmen miisse.

Unsere Ubersicht ergibt, dab das grol~e Gebiet der psychischen Ent- wieklungsst6rung im Jugendalter eine aul~erordentlich mannigfache Differenzierung erm6glieht und vielfaeh eigenartige Komplikationen dar- bietet. Neben den entziindlichen Hirnst6rungen und einigen Formen endogener Erkrankung ist dem Infantilismus ganz besondere Bedeutung beizumessen. Aber auch diese Anomalie ist wieder gelegentlich mit anderweitigen StSrungen, z.B. syphflitischer Art, kombiniert. Often einzugestehen ist, dab es zweifellos noch betr/ichtlich viele F/~lle gibt, bei denen unsere Speziatklassifikation versagt. Um so wichtiger bleibt es aber doeh, das ganze Gebiet immer wieder von einem gemeinsehaft- lichen Gesiehtspunkte zu betrachten, dem einer St6rung der psychisehen Entwicklung, einer MiBre i fung oder D y s g e n e s e .