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Peter Ullrich & Alban Werner Ist »DIE LINKE« antisemitisch? Über Grauzonen der »Israelkritik« und ihre Kritiker 1 Einleitung Der Aufsatz »Antisemiten als Koalitionspartner« von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt 1 erregte noch vor seinem eigentlichen Erscheinen gres Aufsehen. Mit ihrer The- se, der zufolge der »antisemitische Antizionismus innerhalb der Linkeninzwischen zu einer weitgehend konsensfähigen Position geworden ist«, 2 konnten sie mediale Bericht- erstattung in allen gren Medien generieren. Die Debatte kulminierte in einer aktuellen Stunde des Bundestages zu »Aktuelle[n] sozialwissenschaftliche[n] Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke«. 3 Auch wenn die inzwischen publizierte Fassung im Vergleich zu ihrer öffentlich diskutierten Vorabversion in einigen Punkten relativiert ist und bestimmte unhaltbare Behauptungen vorsichtig abschwächt, kann sie doch nicht unkommentiert stehen bleiben. Dies gilt einerseits wegen der hohen Bedeutung der von den Autoren angesprochenen Problematik und andererseits wegen eklatanter Schwächen beim Ver- such, diese zu bearbeiten. Zum ersten: Antisemitismus ist ein virulentes gesellschaftliches Phänomen, vor dem auch Linke im Allgemeinen und die Partei DIE LINKE im Besonderen nicht gefeit sind. Auch wenn der Antisemitismus von links, wie zu zeigen sein wird, vorrangig aus anderen Quellen schöpft und v. a. besser als Grauzone der Anschlussfähigkeit von Aspekten der Israelkritik bzw. Palästinasolidarität an den Antisemitismus thematisiert werden sollte, ist eine selbstkritische Reflexion von Strömungen in der Partei über diese Problematik angezeigt. DIE LINKE ist ebenso wie andere Organisationen und Parteien Teil der deutschen Gesellschaft, in der unterschiedliche Spielarten von Antisemitismus in ver- schieden starker Intensität existieren. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich DIE LINKE davon vollständig abschotten kann. Schließlich kommen sozialwissenschaftliche Studien 1 Salzborn, Samuel und Voigt, Sebastian: »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit« in: Zeitschrift für Politik 58, Nr. 3 (2011), S. 290-309. 2 Samuel Salzborn / Sebastian Voigt: »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwi- schen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit« Manu- skript, http://www.fr-online.de/blob/view/8467798,5567690,data,Studie+Antisemitismus+in +der+Linkspartei.pdf [11.5.2011], S. 1. 3 http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/34536798_kw21_de_linke/index.html [5.10.2011].

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Peter Ullrich & Alban Werner

Ist »DIE LINKE« antisemitisch?Über Grauzonen der »Israelkritik« und ihre Kritiker

1 Einleitung

Der Aufsatz »Antisemiten als Koalitionspartner« von Samuel Salzborn und SebastianVoigt1 erregte noch vor seinem eigentlichen Erscheinen großes Aufsehen. Mit ihrer The-se, der zufolge der »antisemitische Antizionismus innerhalb der ›Linken‹ inzwischen zueiner weitgehend konsensfähigen Position geworden ist«,2 konnten sie mediale Bericht-erstattung in allen großen Medien generieren. Die Debatte kulminierte in einer aktuellenStunde des Bundestages zu »Aktuelle[n] sozialwissenschaftliche[n] Untersuchungen zumöglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in derPartei Die Linke«.3 Auch wenn die inzwischen publizierte Fassung im Vergleich zu ihreröffentlich diskutierten Vorabversion in einigen Punkten relativiert ist und bestimmteunhaltbare Behauptungen vorsichtig abschwächt, kann sie doch nicht unkommentiertstehen bleiben. Dies gilt einerseits wegen der hohen Bedeutung der von den Autorenangesprochenen Problematik und andererseits wegen eklatanter Schwächen beim Ver-such, diese zu bearbeiten.

Zum ersten: Antisemitismus ist ein virulentes gesellschaftliches Phänomen, vor demauch Linke im Allgemeinen und die Partei DIE LINKE im Besonderen nicht gefeit sind.Auch wenn der Antisemitismus von links, wie zu zeigen sein wird, vorrangig aus anderenQuellen schöpft und v.�a. besser als Grauzone der Anschlussfähigkeit von Aspekten derIsraelkritik bzw. Palästinasolidarität an den Antisemitismus thematisiert werden sollte,ist eine selbstkritische Reflexion von Strömungen in der Partei über diese Problematikangezeigt. DIE LINKE ist ebenso wie andere Organisationen und Parteien Teil derdeutschen Gesellschaft, in der unterschiedliche Spielarten von Antisemitismus in ver-schieden starker Intensität existieren. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich DIE LINKEdavon vollständig abschotten kann. Schließlich kommen sozialwissenschaftliche Studien

1 Salzborn, Samuel und Voigt, Sebastian: »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linksparteizwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit« in:Zeitschrift für Politik 58, Nr. 3 (2011), S. 290-309.

2 Samuel Salzborn / Sebastian Voigt: »Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwi-schen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit« Manu-skript, http://www.fr-online.de/blob/view/8467798,5567690,data,Studie+Antisemitismus+in+der+Linkspartei.pdf [11.5.2011], S. 1.

3 http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/34536798_kw21_de_linke/index.html[5.10.2011].

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über rechte, chauvinistische und exklusivistische Einstellungen in Deutschland4 regel-mäßig zu dem Ergebnis, dass es bei einem Teil der deutschen Bevölkerung hartnäckigeVorurteile und Ressentiments gibt, zu denen auch der Antisemitismus zählt. Die Studie»Die Mitte in der Krise« findet bei 8,4 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik anti-semitische Einstellungen (9,5 % in den alten und�4,2 % in den neuen Bundesländern).5

Andere Studien kommen zu weit höheren Werten. Auch Anhänger/innen von Gewerk-schaften und linken Parteien sind davon, wenngleich bei letzteren weniger als die An-hänger/innen von Parteien der Mitte und rechten Parteien, unterdurchschnittlich,6 be-troffen.

Zum zweiten ist aufgrund des Themas eine angemessene politische Sensibilität geboten.Jemanden als Antisemiten bzw. eine Handlung oder Äußerung als antisemitisch zu be-zeichnen, ist ein schwerwiegender Vorwurf mit hohem Stigmatisierungspotenzial. »›An-tisemitismus‹ gilt [zu Recht!, d.A.] als solcher als Attribut, das Personen moralisch dis-kreditiert und in der Sache jede weitere Diskussion erübrigt. Wenn jemand als ›Antisemit‹gilt, ist er moralisch disqualifiziert, eine als ›antisemitisch‹ markierte Position wird in-diskutabel«.7

Umso schwerer wiegt der von den Autoren formulierte Vorwurf »Die grundlegendenPrinzipien eines großen Teils der Partei ›Die Linke‹« seien »der Antiimperialismus unddamit einhergehend die radikale Gegnerschaft zum Staat Israel«.8 Zudem dominiere eineisraelfeindliche Position die Bundestagsfraktion9 und »ein antizionistischer Antisemi-tismus die öffentlichkeitswirksamen Positionierungen der Partei ›Die Linke‹ seit demJahr 2010«.10 Zwar wird die Diagnose solcher Positionierungen sektoral auf außenpoli-tische Positionen zugespitzt – allerdings sei hier der antizionistische Antisemitismusnicht mehr nur eine marginale Strömung innerhalb der Partei«, sondern habe sich in-zwischen zur »dominanten Positionierung« in diesem Bereich verdichtet.11 Die Autorensehen sogar Hinweise für einen Trend hin zur Bildung einer »links-jihadistischen Quer-front« zwischen der Linkspartei und »Islamisten und Terrororganisationen«12

Der LINKEN radikale Israelfeindschaft und antizionistischen Antisemitismus nach-zuweisen gelingt den Autoren jedoch keinesfalls. Ihr Aufsatz genügt in verschiedenerHinsicht grundlegenden wissenschaftlichen Kriterien nicht. Das fragliche Papier ist me-thodisch mangelhaft (2), es ist logisch an mehreren wichtigen Stellen inkonsistent und

4 Vgl. Oliver Decker / Marliese Weißmann / Johannes Kiess / Elmar Brähler: Die Mitte in derKrise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, hg. von: Nora Langenbacher, Fried-rich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010; S. 17 f.

5 Decker / Brähler u.a. aaO (FN 4), S. 23.6 Decker / Brähler u.a. aaO (FN 4), S. 85 f.7 Rainer Erb / Michael Kohlstruck: »Eine Anmerkung zur aktuellen öffentlichen Diskussion um

Antisemitismus«, http://zfa.kgw.tu-berlin.de/lehrmaterial/dateien/AS_Debatte_30_05_2006.pdf [20.5.2011], S. 2.

8 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 298.9 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 308.

10 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 291.11 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 292.12 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 307.

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weist eine äußerst selektive und reduktionistische Behandlung von Stellungnahmen undEreignissen auf (3). Dies geschieht vor dem Hintergrund einer selektiven Rezeption desForschungsstandes, der deutlich abweichende Interpretationsmöglichkeiten für das vor-gelegte Material eröffnet, die nicht diskutiert werden (4).

2 Fragwürdige Methoden

Eine große Schwäche des Aufsatzes von Salzborn und Vogt ist sehr basaler Natur. DieAutoren von »Antisemiten als Koalitionspartner?« bleiben den Leser/innen eine Offen-legung ihres methodischen Vorgehens schuldig. Sie nehmen Generalisierungen undQuantifizierungen vor und machen Verlaufsaussagen, ohne auch nur ansatzweise überdie dafür notwendige Datenbasis zu verfügen. Diese Datenbasis sind Berichte über ver-schiedene politische Aktionen und Positionierungen, insbesondere hinsichtlich der Teil-nahme von Linken-Parlamentarier/innen an der sogenannte Gaza-Flotille, deren Vor-geschichte und die darauf folgenden Reaktionen. Nicht offen gelegt wird, welche Krite-rien die Auswahl des eher anekdotisch präsentierten Materials leiteten und insbesondere,mit welcher Berechtigung – und dies ist der gewichtigste Einwand – von diesem Materialauf die Partei als Ganze geschlossen wird.

Wer einer Partei das Bekenntnis zu einer bestimmten Ideologie wie dem Antisemitis-mus nachweisen möchte, muss anders vorgehen als beim Nachweis nur gegenüber ein-zelnen Mitgliedern oder herausgehobenen FunktionärInnen. Eine Partei ist eine Orga-nisation. Und Organisationen gelten in der Sozialwissenschaft dann als eigenständigeAkteurinnen, wenn von ihnen Wirkungen ausgehen, die man nicht nur einzelnen Mit-gliedern oder Untereinheiten zurechnen kann. Diese Wirkungen müssen innerhalb derOrganisation ausgewählt und mit einem bestimmten Sinn versehen sein, damit sie alsHandlungen »der Organisation«, hier: »der Partei« beschrieben werden können.13

Dieser Nachweis könnte geführt werden durch: den Nachweis einer geteilten Ideo-logie der Parteimitglieder (2.1.), Beschlüsse, mit denen das Handeln der Parteiorganisa-tion festgelegt wird (2.2.) oder die Positionierung ihrer Eliten (2.3).

2.1 Ideologischer Konsens

Die erste Möglichkeit wird ausgeschlossen. Die Autoren wollen »explizit keine Aussageüber die Verankerung des antizionistischen Antisemitismus in der Parteibasis getroffenhaben«, da die gewählte Methode »hierüber keine Erkenntnisse ermöglicht«.14 Der ide-engeschichtliche Abriss zum Thema »Linke und Antisemitismus« könnte in eine ähnli-che Richtung weisen, wenn er das Fortwirken eines ideologischen Erbes thematisierenwürde, was zunächst auch plausibel erscheint. Es bleibt jedoch undeutlich, welchenNachweis das Referat über das Verhältnis der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer

13 Vgl. Geser, Hans: »Organisationen als soziale Akteure«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19,Nr. 6 (1990), S. 401-417, hier S. 402 f.

14 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 292.

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Theoretiker sowie der DDR und der westdeutschen Linken zum Antisemitismus hierkonkret leisten soll. Nur der letzte Punkt steht in einem mit der heutigen Situation ver-gleichbaren politischen Kontext (der Auseinandersetzung mit der israelischen Besatzungpalästinensischer Gebiete). Dabei führen die Autoren einige Beispiele aus Gruppen vorallem der militanten Linken der alten Bundesrepublik sowie die defizitäre Auseinander-setzung mit dem Problem in der DDR an. Nicht erwähnt wird, dass die damalige SED-PDS sich im Umbruch 1989/90 mit dem Antizionismus der SED auseinandersetzte, derletzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow Israel symbolische Entschädigungszah-lungen anbot und die PDS-Fraktion die gemeinsame Erklärung aller Fraktionen mittrug,in der sich die Volkskammer u. a. für die »Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellenDDR-Politik gegenüber dem Staat Israel« entschuldigte.15 Für Westdeutschland belassenes die Autoren bei einer anekdotischen Aufzählung von antisemitischen Ausfällen, dietatsächlich als dunkles Kapitel der Geschichte der deutschen Linken nicht zu bestreitensind.

Die sich anschließenden innerlinken Debatten und die langfristige Herausbildung de-zidiert anti-antizionistischer und sogar pro-zionistischer Positionen innerhalb der poli-tischen Linken wird jedoch nicht thematisiert16 – ein Grundmuster, das sich durch dengesamten Text zieht. Offen bleibt vor allem die Frage, wie sich die z.T. gewalttätigenAktionsformen militanter Gruppen aus den 1970ern Jahren in die 35 Jahre später ge-gründete LINKE fortgesetzt haben sollen. Dies gilt insbesondere aufgrund der großenHeterogenität der westdeutsch verankerten WASG (neben der Linkspartei/PDS die an-dere, auch von den Autoren erwähnte17 Quellpartei der LINKEN), die u.a. sozialde-mokratische, gewerkschaftliche und trotzkistische Strömungen vereinigte, jedoch kaumin einem Zusammenhang mit den militanten Antiimperialist/innen und Autonomensteht.

Die empirischen Untersuchungen, die zumindest für die Parteianhängerschaft vorlie-gen und für die Anhänger/innen der LINKEN die niedrigsten Antisemitismuswerte imVergleich aller Parteien ausweisen (mit Ausnahme der westdeutschen Anhängerschaftder Grünen), finden keine Erwähnung.18

15 Timm, Angelika 1998: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zio-nismus und Staat Israel. Köln. S. 333 ff. und S. 588.

16 Vgl. dazu bspw. Martin Kloke, Antizionismus und Antisemitismus als Weltanschauung? Ten-denzen im deutschen Linksradikalismus und -extremismus in: Bundesministerium des Innern(Hg.), »Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme«,,Berlin 2004, S. 163-195, besonders S. 177 ff., S. 184 ff.; Bernhard Schmid, »Deutschlandreise aufdie ›Bahamas‹. Vom Produkt der linken zur neo-autoritären Sekte« in: Gerhard Hanloser (Hg.),»›Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken‹. Zu Geschichte, Kritik und Zukunftantideutscher Politik«, Münster 2004, S. 15-64.; Jörg Später, »›Kein Frieden um Israel‹. ZurRezeptionsgeschichte des Nahostkonflikts durch die deutsche Linke« in: Theo Bruns / MoeHierlmeier / Alexander Schudy / Marcus Wissen (Hg.), radikal global. Bausteine für eine in-ternationalistische Linke, Berlin/ Hamburg S. 245-259.

17 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 293.18 Decker/ Brähler u.a., 2010: Die Mitte in der Krise, aaO (FN 4), 85 f.

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2.2 Klare Beschlusslage?

Die überzeugendste Variante für den Nachweis einer antisemitisch-antizionistischenPositionierung der Partei DIE LINKE läge im Aufweisen entsprechender Beschlüssezentraler Gremien. Schließlich markieren Beschlusslagen den legitimen Spielraum fürHandlungen und Äußerungen und stehen programmatische Festlegungen zusammen mitder Selektion des Spitzenpersonals im Fokus der innerparteilichen Machtverhältnisse.Allerdings kann der Umgang der Autoren mit den Beschlusslagen der Linkspartei-Gre-mien nicht überzeugen.

Sie glauben, mit der Positionierung der Linksfraktion im Bundestag zum Nahostkon-flikt vom 20.4.2010 einen Beschluss vorweisen zu können, der »den antizionistischenKräften nachhaltig den Rücken stärkte und zugleich die wenigen parteiinternen Kritiker[wie etwa Petra Pau oder den Bundesarbeitskreis Shalom innerhalb der Jugendorgani-sation der Partei] in ihre Schranken wies«.19 Abgesehen von der Bagatellisierung wich-tiger Inhalte dieses Parteibeschlusses (Bekenntnis zu Unrelativierbarkeit deutscher Ver-antwortung gegenüber Israel, gegen Antisemitismus und zum israelischen Existenzrecht,vgl. dazu Kap. 3) zeigt ein leicht via Internet recherchierbarer Artikel der »JüdischenAllgemeinen« hierzu eine etwas andere innerparteiliche Gemengelage auf. In der Zeitungwerden die »parteiinternen Kritiker« vom Bundesarbeitskreis Shalom innerhalb derLinksjugend wie folgt zitiert: »Was die Linke-Fraktion bei vier Enthaltungen und einerGegenstimme der Abgeordneten Christine Buchholz beschlossen hat, findet auch dieZustimmung der israelfreundlichen Kreise der Partei. ›Wir sind froh, dass es das Papierüberhaupt gibt‹, sagt Benjamin Krüger, Sprecher des BAK Schalom, und lobt zum Bei-spiel die Forderung nach einem israelisch-palästinensisch-deutschen Jugendwerk. Nichteinmal die Offerte an die Hamas stört BAK Schalom. ›Dass die politischen Akteure imNahen Osten miteinander sprechen müssen, ist nachvollziehbar‹, sagt Krüger. ›Andersist es aber mit der Linken: Wir sind kein staatlicher Akteur, wir müssen mit der Hamasnicht reden, und wir sollten das auch nicht‹«.20

Dass innerparteiliche Beschlusslagen im Gegensatz zu den Handlungen einzelner Per-sonen, die den größten Platz der Darstellung beanspruchen, generell von den Autorennicht hinreichend gewürdigt werden, ist erstaunlich. Zwar gibt es, zumindest bisher,keine Äußerungen zu Israel und Nahostkonflikt in Programm der Partei (obwohl imZuge der Diskussion um das aktuelle Programm darüber nachgedacht wird), wohl aberneben dem genannten Fraktionsbeschluss einen im Tenor ähnlichen Beschluss des Par-teivorstandes über »Eckpunkte für das Herangehen der Partei DIE LINKE an den is-raelisch-palästinensischen Konflikt« aus dem Jahre 2009,21 der sich gegen einseitige Par-teinahmen im Konflikt und gegen Gewaltanwendung ausspricht, die deutsche Verant-

19 Decker/ Brähler u.a., 2010: Die Mitte in der Krise, aaO (FN 4), S. 304.20 Martin Krauss: Für Frieden und Hamas. Die Linkspartei formuliert ihre Haltung zum Nahen

Osten, 29.4.2010, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7323 [20.5.2011].21 http://die-linke.de/partei/organe/parteivorstand/parteivorstand20082010/beschluesse/eck-

punktefuerdasherangehenderparteidielinkeandenisraelischpalaestinensischenkonflikt/[13.10.2011].

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wortung für Israel und das Recht auf eine gesicherte Existenz des jüdischen Volkes ineinem eigenen Staat betont, und sich deutlich von jeder Kritik an Israel distanziert, diemit antijüdischen Klischees oder Holocaustvergleichen argumentiert. Auf der Home-page der Linksfraktion finden sich zudem stichwortartig grundlegende Positionierungender Partei zu verschiedenen Themen. Auch dort wird das Thema Nahostkonflikt zuerstin einen erinnerungspolitischen Rahmen gestellt, aus dem Verantwortung für das israe-lische Existenzrecht und gegen jede Art von Antisemitismus abgeleitet werden.22

Auch andere Beispiele, die von den Autoren z.T. selbst angeführt werden, zeugen beigenauerem Hinschauen nicht von einer antizionistisch-antisemitischen Beschlusslage derLINKEN. So führen sie an, dass elf Abgeordnete sich weigerten, am 4.11.2008 der Re-solution des Bundestags »Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken« zuzustimmen– mit der Begründung, dass die Erklärung jegliche Kritik an Israel für illegitim erklä-re.23 Gegen Salzborns und Voigts Konsens- bzw. Dominanzthese sprechen zunächst v.a.die anderen 40 Linke-Abgeordneten, die dem Beschluss zustimmten. Völlig unbeachtetlassen die Autoren aber, dass alle anderen Fraktionen des Bundestages die Linksfraktionauf Drängen der CDU/CSU vom Kreis der Antragsteller ausgeschlossen hatten und dieLinksfraktion daraufhin einen wortgleichen Antrag einbrachte,24 und gerade nicht, wiedie Autoren behaupten, einen »Gegenantrag«.25 Zum anderen werden die Begründungender Ablehnenden nicht diskutiert. Die entsprechenden Abgeordneten betonen insbe-sondere die affirmative Bezugnahme der Bundestagsresolution auf den Begriff der»Staatsräson« – auf den zuvor Angela Merkel und Gregor Gysi, Vorsitzender der Links-fraktion, in Reden positiv Bezug genommen hatten. »Staatsräson« bedeutet ideenge-schichtlich wie realpolitisch die Selbstbehauptung des Staates unter Zuhilfenahme not-falls auch amoralischer Mittel. Dass diejenigen Teile der Linkspartei, deren linkssozia-listische Ideologie auf ein »Absterben« repressiver Staatsapparate abzielt, diesen Begriffablehnen,26 muss als Motiv ebenso ernst genommen werden.

Die genannten Beispiele wichtiger Kristallisationspunkte für die Politik der Links-partei zu Antisemitismus und Nahost im Untersuchungszeitraum zeigen also geradenicht, dass man von einer mehrheitsfähigen antizionistisch-antisemitischen Ideologiesprechen kann. Offensichtlich ist die Beschlusslage der LINKEN weniger angreifbar, alsSalzborn/Voigt behaupten, und zugleich fallen die Positionen, die dort vertreten werden,deutlich heterogener aus.

22 http://linksfraktion.de/themen/nahostkonflikt [13.10.2011].23 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 302 f.24 »Antisemitismus-Resolution grenzt Linke aus«, Süddeutsche Zeitung, 4.11.2008.25 Ebd.26 Vgl. die ausführliche Kritik von Ellen Brombacher, Sahra Wagenknecht u.a. an Gysis Rede:

»Staatsräson und Regierungsbeteiligung. Überlegungen zur Rede Gregor Gysis auf einer Ver-anstaltung »60 Jahre Israel« der Rosa-Luxemburg-Stiftung«, online unter http://die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/dokumente/staatsraeson_und_regierungsbeteiligung/ [17.10.2011].

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2.3 Elitenpositionierung

Die in den Beschlusslagen und der nicht einheitlichen Zustimmung zum Ausdruck kom-mende Heterogenität zeigt, dass es politisch einen Unterschied bedeutet, wer DIE LIN-KE im Hinblick auf nahostpolitische Fragen repräsentiert – ob sich etwa die Bundes-tagsabgeordnete Christine Buchholz und die Teilnehmer/innen der Gaza-Flotille oderaber ihre Kolleginnen, die Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau bzw. die stellvertre-tende Bundesvorsitzende Katja Kipping zum Thema Nahostkonflikt äußern. Nochdeutlicher wurde dies in der durch die Vorabversion des Textes von Salzborn und Voigtmit angestoßenen medialen Debatte im Frühjahr und Sommer 2011. Verschiedene Ver-treterinnen der Partei kritisierten darin antizionistische Positionierungen, während ausdem traditionslinken Flügel diese Vorwürfe als, insbesondere hinsichtlich des Antise-mitismusvorwurfs unbegründet zurückgewiesen worden. Auch bei früheren Zuspitzun-gen im Nahostkonflikt führten antizionistische Positionierungen schon zu Widerspruchaus der Partei.27

Tritt dieser Fall ein, dass man die zu untersuchende Handlungsorientierung undWahrnehmungsstruktur nicht der Organisation (d.h. hier der Partei DIE LINKE oderder kleineren Gruppe ihre Eliten) als Ganzer zurechnen kann, »bedeutet dies, dass wirfür die Erklärung des Handelns von korporativen Akteuren […] auch die Handlungs-orientierungen der in der und für die Organisation handelnden Individuen erheben müs-sen«28. Eine repräsentative Erhebung von Handlungsorientierungen bei Parteimitglie-dern oder wenigstens Funktionsträger/innen der LINKEN liegt bisher nicht vor undwurde auch von Salzborn/ Voigt nicht vorgenommen. In Ermangelung entsprechenderDaten sind aber auch keine plausiblen Schlüsse darüber möglich, auf wie viel Zustim-mung bspw. die von Salzborn/ Voigt überhaupt nicht aufgegriffene Rede Gregor Gysisüber »Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel«29 innerhalb der Parteibasisoder -elite trifft. In dieser vielbeachteten Rede hatte sich einer der wichtigsten Köpfe derPartei anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels klar gegen antiimperialistischenAntizionismus und für die Solidarität mit dem Staat Israel als Teil der deutschen Staats-räson ausgesprochen.

Angesichts der innerparteilichen Heterogenität muss eine weitere Möglichkeit in Be-tracht gezogen werden, nämlich die, der Parteielite wenn nicht schon ein Bekenntnis, sodoch zumindest ein ambivalentes Verhältnis zum Antisemitismus nachzuweisen. Wenndiese sich nicht durch als antisemitisch zu qualifizierende Beschlüsse und auch nichtdurch eine dominante antisemitische Ideologie auszeichnen, so kann sie die Verbreitung

27 Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Deutschland und Großbri-tannien, Berlin 2008, S. 7, S. 185-187.

28 Renate Mayntz / Fritz W. Scharpf, »Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus«, in:dies. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/Main, 1995,S. 39-72, hier: S. 67.

29 Gregor Gysi: »Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel«, Rosa Luxemburg-Stif-tung, Reihe Standpunkte, Nr. 9/2008, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte_0809.pdf.

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antiisraelisch-antisemitischer Ressentiments doch befördern, wenn sie in ihrer realenpolitischen Praxis beispielsweise nicht darauf achtet, ob unter ihren Bündnispartner/in-nen auch antisemitische Akteure sind. Die außenpolitischen Positionierungen, in denender Kritik von Salzborn/ Voigt Plausibilität zukommt, beziehen sich auf Handlungenexakt diesen Typs. Ihre Argumentation stützt sich im Wesentlichen darauf, dass zweiaktive und ein ehemaliger Abgeordneter der LINKEN sich an der umstrittenen »Gaza-Flottille« beteiligt haben.30 An dieser Flotte waren auch reaktionäre türkische Gruppenbeteiligt, die in Kontakt zu islamistischen Organisationen stehen und deren deutscherAbleger vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 12. Juli 2010 ver-boten wurden. Trotzdem liegt hier eher ein Fall in der Grauzone zwischen problemati-scher Tolerierung antisemitischer Akteure vor, als ein Nachweis von Praktiken, die ex-plizit die Zerstörung Israels zum Ziel haben.

Neben dem zentralen Argument, dass sowohl der gewählte methodische Zugang alsauch die empirischen Daten nicht geeignet sind, der Partei »DIE LINKE« als Organi-sation antisemitischen Antizionismus nachzuweisen, erscheinen andere methodischeUngenauigkeiten relativ banal und sollen deshalb hier nur kurz Erwähnung finden. Auf-fällig sind insbesondere Verlaufsaussagen, die den gesamten Text durchziehen.31 Obwohlnur qualitative »Daten« vorliegen, ist der Text an verschiedenen Stellen von einer quan-tifizierenden Sprache geprägt.32 Und die Autoren treffen Aussagen über nicht selbst un-tersuchte und auch nicht mit Sekundärliteratur belegte Objektbereiche.33 Tatsächlichwerden hier u.�U. ernsthafte Probleme angesprochen; doch ein großer Teil der Schlüsseist nicht belegt, viele Interpretationen erscheinen maßlos übertrieben. Solcherart nichtabgesicherte Aussagen erreichen trotzdem einen Zweck – sie untermauern zumindestdem Anschein nach die an sich schwache Argumentation34 und tragen somit zu einemirreführenden Gesamtbild bei.

3 Reduktionismus und selektive Materialbearbeitung

Schon an den bisher analysierten Passagen wird deutlich, dass die Autoren des Papiers»Antisemiten als Koalitionspartner?« generell sehr einseitig mit ihren ohnehin nicht sys-

30 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO. (FN 1), 298ff.31 »seit Anfang des Jahres zunehmend« (S. 290 f.), »verlieren immer mehr an Bedeutung« (291),

»Wandlungsprozess«, »zunehmend zur außenpolitisch dominanten Positionierung verdichtethat« (S. 292), »Höhepunkt einer längeren Entwicklung« (S. 301).

32 »dominanter«, »prägen«, »zunehmend« (S. 290 f.), »Prinzipien eines großen Teils« (S. 298),»nicht selten wurden diese Veranstatungen für antisemitische und anti-israelische Propagandabenutzt« (S. 300), »kaum noch wahrzunehmen« (S. 307).

33 Z.B. über die Medienberichterstattung und die Bedeutung moderater Positionen in dieser(S. 307) oder die bei einer Veranstaltungsreihe »nicht selten« vorgetragenen antisemitische undantiisralische Propaganda, die mit der Äußerung eines (!) Gastes belegt werden soll (S. 300).

34 Diese beginnt schon in der ersten Zeile des Aufsatzes, in welcher sich die Autoren als Tabu-brecher inszenieren. Abgesehen davon, dass dies sonst zum Repertoire des Antsemitismus undAntizionismus gehört, ist es v.a. inhaltlich haltlos, im Angesicht einer seit 40 Jahren in derLinken und auch massenmedial geführten Debatte um linken Antisemitismus.

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tematisch, sondern bestenfalls locker anekdotisch ausgebreiteten Beispielen für Antise-mitismus innerhalb der LINKEN umgehen. Die dabei zu Tage tretende starke Vorein-genommenheit zeigt sich nicht nur in der Wahl der Beispiele, sondern auch in der Artihrer Präsentation, insbesondere in der konsequenten Negierung des Einflusses außen-politischer Erwägungen auf die Nahost-Positionen der Partei DIE LINKE.

Neben der Beteiligung von linken Mandatsträger/innen an der »Free Gaza«-Flottilleführen Salzborn und Voigt eine Reihe von Einzelfällen zur Begründung ihrer These auf,wobei sie Auseinandersetzungen innerhalb der Herforder Linkspartei um die finanzielleUnterstützung der lokalen Synagoge, das Vorkommen antisemitischer Symboliken beieiner linken Solidaritäts-Demonstration in Bremen sowie mehrere Vorkommnisse imDuisburger Kreisverband der Linken aufgreifen. Leider werden die LeserInnen völlig imUnklaren darüber gelassen, nach welchen Kriterien gerade diese Beispiele ausgewähltwurden, und nicht andere. Damit allerdings ein Ereignis als »Fall« eines größeren Pro-blems klassifiziert werden kann, muss doch zunächst erörtert worden sein, worin der»Fall« denn überhaupt besteht.35 Statt dessen bleibt der ein hoher Interpretationsspiel-raum (und größere, methodisch höchst problematische Willkür) bzgl. dessen, was denAutoren zufolge als »radikale Gegnerschaft zum Staat Israel«36 ausgezeichnet werdenkann, auf eine klare Operationalisierung wird verzichtet (vgl. Kap. 4). Dass dieser Befundauf die »grundlegenden Prinzipien eines großen Teils der Partei ›Die Linke‹« bezogenwird37 zeigt zudem, dass die Autoren die eingangs erwähnte Relativierung ihrer ur-sprünglichen Thesen – z.B. die Einschränkung auf Außenpolitik – nicht konsequentdurchhalten.

An zwei Beispielen sei die Willkür der Beispielauswahl und -interpretation verdeut-licht:

(a) Nachdem der Vorsitzende der Duisburger Stadtratsfraktion der LINKEN, Her-mann Dierkes, öffentlich den Boykott israelischer Waren als Maßnahme zur Unterstüt-zung der Palästinenser/innen befürwortet hatte, sah er sich massiver innerparteilicherKritik ausgesetzt und musste als Bürgermeisterkandidat zurücktreten. Dieser Aspektwird von Salzborn/ Voigt nicht erwähnt; ebenso wenig, dass Dierkes aus der gesamtenRepublik Kritiken erreichten, auf die er in der »jungen Welt« ausführlich antwortete.38

(b) Keine Erwähnung findet, dass aus der Linksfraktion im Bundestag der Vorschlagstammte, der Bundestag solle in einer Resolution die bedingungslose Freilassung desisraelischen Soldaten Gilad Shalit fordern, der seit mehreren Jahren von der Hamas ge-fangen gehalten wird. Die anderen Fraktionen des Bundestags griffen den Vorschlag auf

35 Vgl. zur hohen Relevanz dieser Frage anstelle vieler anderer etwa Detlef Jahn: Einführung indie Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden 2006, S. 322ff.

36 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO. (FN 1), S. 298.37 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO. (FN 1), S. 298.38 junge Welt vom 6.4.2009; Dierkes Antwortbrief ist Internet abrufbar, http://www.dpg-

netz.de/downloads/Offener_Brief_an_LINKE.pdf.

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– allerdings wiederum auf Druck der Unionsfraktion unter Ausgrenzung der LIN-KEN.39

Dass Salzborn/ Voigt ihre Thesen inzwischen abgeschwächt und auf außenpolitischesAgieren der Linkspartei konzentriert haben, erweist sich letztendlich als Falle für ihreeigene Argumentation. Denn obwohl sie selbst die Außenpolitik als Feld ausweisen, aufdem sich der vermeintlich innerparteilich mehrheitsfähige antizionistische Antisemitis-mus manifestiere, schließen sie außenpolitische Relevanzkriterien sowie weit verbreiteteStandpunkte und Strategien zur Beurteilung der Linkspartei von vornherein aus. DieAutoren bewerten etwa den Beschluss der Linksfraktion im Bundestag zum Nahost-Konflikt vom 20. April 2010 als inakzeptabel40 (s.o.). Hier muss es ihnen schwerer fallen,antizionistisch-antisemitische Inhalte nachzuweisen, da es in der fraglichen Positions-bestimmung unmissverständlich heißt: »Für DIE LINKE gilt, dass Deutschland wegender furchtbaren Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden während desNationalsozialismus eine besondere Verantwortung gegenüber Israel und gegen jede Artvon Antisemitismus, Rassismus, Unterdrückung und Krieg hat. Diese Verantwortungist nicht relativierbar; sie schließt das Bemühen um einen palästinensischen Staat und dieGarantie des Existenzrechts Israels ein«.41

Um ihre These aufrecht erhalten zu können, argumentieren die Autoren, dass das Be-kenntnis der Linksfraktion zu Israels Existenzrecht »mit einer Fülle propalästinensischerForderungen flankiert wurde, die faktisch Israels Existenz infrage stellen […]: Denn wieließe sich die Forderung nach einem souveränen palästinensischen Staat mit der Freilas-sung aller ›politischen Gefangenen‹, dem Abbau der israelischen Grenzsicherungsanlan-gen und der sofortigen Öffnung des Gazastreifens interpretieren, wenn nicht als funda-mentale Infragestellung des israelischen Selbstverteidigungsrechtes?«42

Salzborn und Voigt blenden aus, dass es neben den erinnerungspolitischen Befind-lichkeiten der deutschen Nahost-Diskussion auch noch einen realen Nahostkonflikt gibt,in dem politische Bewertungen getroffen werden müssen und mithin sowohl die huma-nitäre Lage der PalästinenserInnen, als auch kritische Stellungnahmen zur Abriegelungdes Gaza-Streifens aus menschenrechtlicher und sicherheitspolitischer Perspektive in ei-ne Bewertung einzufließen haben, die naturgemäß sehr unterschiedlich ausfallen können.

Für Salzborn/ Voigt scheint eine weitere Passage der o.g. Fraktionsbeschlusslage nichtakzeptabel, nämlich »die Forderung der Linkspartei, die Hamas in politische Gesprächeeinzubeziehen. Denn in der Charta der Hamas ist die Vernichtung Israels ein ausgewie-senes Ziel, den ideologischen Kern der Organisation bilden Islamismus und Antisemi-tismus. Auch hier wurde erneut der offene Pakt mit einer antisemitischen Terrororga-nisation beschworen«.43

39 »Gemeinsamer Antrag mit der Koalition. SPD und Grüne lassen Gysi schäumen«, tageszei-tung vom 27.10.2010.

40 Position der Fraktion DIE LINKE zum Nahostkonflikt: http://www.linksfraktion.de/posi-tionspapiere/position-fraktion-linke-nahost-konflikt/, 20.4.2010 [17.10.2011].

41 Position der Fraktion DIE LINKE zum Nahostkonflikt, aaO.42 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO. (FN 1), S. 304.43 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 304..

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Der harsche Vorwurf ist aus mindestens zwei Gründen nicht stichhaltig und zeugt vonfragwürdiger Vorgehensweise. Erstens besteht ein Unterschied zwischen der realpoliti-schen Anerkennung der politischen Situation in einem Land, einschließlich seiner poli-tischen Führungsstruktur, und der affirmativen Schließung eines Pakts, mit der man dieZiele des Partners ausdrücklich gutheißt. Die Linksfraktion fordert wie anders orientiertepolitische Kräfte auch Verhandlungen mit der Hamas. Zugleich fordert sie aber auch diedeutsche Bundesregierung auf, »bei der Verhandlung mit der Hamas sich dafür einzu-setzen, dass aus ihrer Charta die Punkte gestrichen werden, die das Existenzrecht Israelsbestreiten bzw. in Zweifel ziehen«.44 Zweitens hätten die Autoren, bevor sie einen Vor-wurf dieser Art erheben, sich der Positionen innerhalb der sicherheitspolitischen Debattevergewissern sollen, da diese nach anderen Kriterien politische Optionen beurteilt alseine Argumentation, die nach Möglichkeiten »links-jidahistischer Querfronten« Aus-schau hält.45 Ein Abgleich ihrer Positionen mit dem Spektrum vorhandener Expert/in-nen-Meinungen hätte Salzborn/ Voigt z.B. auf den Hinweis der Denkfabrik Internatio-nal Crisis Group bringen können, die eine Isolationsstrategie gegenüber der Hamasnüchtern-realpolitisch verwirft. »[T]he boycott has not worked. As Crisis Group re-peatedly warned, without diplomatic engagement a return to violent engagement wasonly a matter of time«.46 Dass solche Abgleiche, nüchterne Gewichtungen und die Of-fenlegung der eigenen Kategorien seitens Salzborn/ Voigt unterbleiben, nährt den Ein-druck, dass ihr Maßstab für die Beurteilung des Nahost-Konflikts und die Position derLinkspartei fragwürdig ist und der Vorwurf der Israelfeindschaft und des Antisemitis-mus sich auf Bereiche erstreckt, die aus menschen- und völkerrechtlicher Sicht nichtsanderes als legitime Kritik darstellen. »Nicht die Loyalität zu einem Kollektiv kann mo-ralisch gefordert werden, sondern nur die Bindung an bestimmte Normen und Werte,also etwa den Menschenrechten. Die Forderung nach einer uneingeschränkten Solidaritätmit Kollektiven ist für aufgeklärte Individuen eine Zumutung«.47 Eine Zumutung liegtauch dann vor, wenn es sich beim fraglichen Kollektiv um den Staat Israel handelt, deraufgrund nicht offen gelegter Prämissen vom Gültigkeitsbereich universaler Menschen-rechte und außenpolitischer Rationalitätsanforderungen ausgenommen bleiben soll. Dies

44 Position der Fraktion DIE LINKE zum Nahostkonflikt, aaO.45 Dabei ist nicht entscheidend, dass es in der linken Palästinasolidarität durchaus zu solchen

Querfrontbestrebungen kommen kann bzw. dass es einen Augen-zu-Umgang mit den reak-tionären Aspekten palästinensischer bzw. muslimischer Organisationen gibt. Entscheidend ist,dass dies nicht für die Partei DIE LINKE nachgewiesen werden kann. Zu diesen problemti-schen Vorfällen und der damit verbundenen Abwehr der Auseinandersetzung mit Antisemi-tismus siehe zusätzlich zu den von Salzborn und Voigt angeführten Beispielen v.a. Peter Ull-rich, Die Linke, Israel und Palästina, aaO., S. 178 ff, 186, 246 ff. und ders.»Der Nahostkonflikt– Spielfeld für einen neuen Antisemitismus von links? Ein internationaler Diskursvergleich«in: Marcus Hawel / Moritz Blanke (Hg.), Der Nahostkonflikt. Befindlichkeiten der deutschenLinken, Berlin 2010, S. 67-80.

46 Nicholas Pelham: The Blowback from Ostracizing Hamas, ABC News Online, 20.7.2006,http://www.crisisgroup.org/en/regions/middle-east-north-africa/the-blowback-from-ostra-cizing-hamas.aspx [abgerufen am 21.5.2011].

47 Rainer Erb/ Michael Kohlstruck: Eine Anmerkung zur aktuellen öffentlichen Diskussion umAntisemitismus, aaO. (FN 7), S. 4 f.

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ergibt sich durch die Thematisierung des Gegenstands ausschließlich durch das Deu-tungsmuster Antisemitismus, obwohl die dafür zur Anwendung kommenden Kriterien,wie im Folgenden gezeigt werden soll, genau das nicht erlauben.

4 Einseitige Sichtweisen auf die Forschung und Alternativen

Auffällig ist, dass existente Studien zu linken Positionierungen in der Nahost- und An-tisemitismusfrage, die in vergleichbaren Fällen zu meist deutlich differenzierteren Ein-schätzungen gelangen, keine Erwähnung finden, bzw. nur in den Aspekten zitiert wer-den, die in die eigene Argumentation passen.48

Nichtsdestotrotz hätten Salzborn und Voigt einen wichtigen Beitrag zur Debatte leis-ten können. Einen guten Ansatzpunkt für ein methodisches Herangehen hätten die imRahmentext des Artikels erwähnten Kriterien für antizionistischen Antisemitismus der»Working Definition of Antisemitism« der EU geboten. Bei der Präsentation des empi-rischen Materials durch Salzborn und Voigt erfolgt jedoch kein systematischer Abgleichmit den Kriterien.49 Damit wurde eine vielversprechende Systematisierungsmöglichkeitverschenkt. Es obliegt somit den Leser/innen, ad hoc zu entscheiden, was im kolpor-tierten Material eigentlich genau als antisemitisch zu gelten hat und warum. Damit er-öffnet der Text Möglichkeiten zu seiner politischen Instrumentalisierung und trägt ge-rade nicht dazu bei, die Diskussion durch Orientierung an intersubjektiv überprüfbarenKriterien zu versachlichen.

Doch auch diese Kriterien sind für eine Operationalisierung von antizionistischemAntisemitismus nur bedingt geeignet und nicht ohne weiteres als »gegenwärtiger Mini-malkonsens in der Antisemitismusforschung«50 zu begreifen. Diese ist durch hochgradigdifferierende Ansätze geprägt. Einige behandeln Antisemitismus (sozial)psychologischals Einstellungssyndrome und Vorurteilsmuster,51 welche durch Meinungsumfragen er-fasst werden, während ihn andere als aus den Grundkategorien kapitalistischer Verge-sellschaftung resultierende, soziale Verhältnisse fetischisierend verdinglichende Projek-tionen52 und wieder andere als überindividuelle, sozialstrukturell verortete Semantik be-

48 Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina, aaO.; Daniel Bartel / Peter Ullrich, 2008. »Kri-tische Diskursanalyse. Darstellung anhand der Analyse der Nahostberichterstattung linkerMedien« in: Ulrike Freikamp et al (Hg.), Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Ge-sellschaftskritik, Berlin 2008, S. 53-72; Holger Knothe, Eine andere Welt ist möglich – ohneAntisemitismus? Bielefeld 2009; Peter Ullrich, Der Nahostkonflikt, aaO; Timo Stein, ZwischenAntisemitismus und Israelkritik. Wiesbaden 2011; Armin Pfahl-Traughber, »Antisemitismusin der globalisierungskritischen Bewegung und dem Netzwerk ›Attac‹« in: ForschungsjournalSoziale Bewegungen, 24 Jg., Nr. 1 (2011), S. 94-104; Maximilian Imanuel Imhoff, Antisemitis-mus in der Linken. Ergebnisse einer quantitativen Befragung, Frankfurt.

49 Ähnlich verfährt Timo Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik, aaO (FN 47).50 Salzborn / Voigt: Antisemiten als Koalitionspartner? aaO (FN 1), S. 293.51 Bspw. Wolfgang Frindte und Dorit Wammetsberger, »Antisemitismus, Israelkritik, Nationa-

lismus – Empirische Befunde« in: Berliner Debatte Initial, 19. Jg., Nr. 1/2, S. 29-42.52 Moishe Postone, »Nationalsozialismus und Antisemitismus« in Michael Werz (Hg.), Antise-

mitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frank-furt, S. 29-43.

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greifen, die insbesondere mit dem aufkommen moderner Nationalstaaten verknüpftist.53

Ohne dies weiter zu vertiefen, wird deutlich, dass auch bei der Konstatierung vonantizionistischem Antisemitismus verschiedene Ebenen begrifflich voneinander getrenntwerden müssen. Dazu gehört zumindest die Differenzierung von Intentionen der sichäußernden bzw. handelnden Personen/Gruppen (strategische Funktion), manifestemAussagegehalt (expressive Funktion), sowie diskursiven Anschlüssen bzw. Rezeptions-möglichkeiten (Rezeptionsebene).54 Zum zweiten sind die Elemente der Arbeitsdefini-tion, wenn sie inhaltlich sinnvoll bleiben sollen, nicht als Indikatoren im Sinne der stan-dardisierten Sozialforschung zu verwenden, die ein bestimmtes Konzept klar operatio-nalisieren. Sie sind gehaltvoll nur im Sinne sensibilisierender Konzepte.55 Allein die Kri-terien 3 und�4 (Verwendung von Symbolen und Bildern des traditionellen Antisemitis-mus und das Bestreben, Juden kollektiv für die israelische Politik verantwortlich zu ma-chen) sind relativ eindeutig.56 Sie sind eindeutig, weil sie den abstrakten Kern aller An-tisemitismusbegriffe, Feindschaft gegenüber oder Diskriminierung von Jüdinnen undJuden, adressieren. Alle anderen verlangen nach einer genauen Kontextualisierung undhermeneutischen Interpretation, um ihre Indikationsfunktion erfüllen zu können. Ak-zeptierte man alle Kriterien gleichermaßen, würde der Antisemitismusbegriff vollkom-men substanzlos. Dies sei am Beispiel des Kriteriums »Abstreiten des israelischen Exis-tenzrechts« erläutert. Dieses ließe sich in dieser Abstraktheit auf die in antijüdische ver-schwörungstheoretische Bezüge eingebetteten israelfeindlichen Passagen der Charta derHamas57 genauso anwenden wie auf die religiös begründeten Delegitimierungen desStaates Israel durch ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden. Es träfe auf israelbezogene an-tijüdische Vernichtungsphantasien von Rechtsradikalen genauso zu wie auf universalis-tische, aber Nationalstaatlichkeit an sich infrage stellende linke, insbesondere anarchis-tische Konzeptionen (eine auch für viele jüdische linke Opponenten des Zionismus inder Geschichte prägende Haltung)58 oder die Positionen weiter Teile der internationalen,israelischen und palästinensischen Friedensbewegungen, die sich für einen binationalendemokratischen Staat für die jüdische und arabische Bevölkerung einsetzen. Die letzt-genannten, in diesem Kontext zudem relevantesten zu untersuchenden Positionen, span-nen ein Feld auf, dass von konsequentem Menschenrechtsuniversalismus bis hin zu in

53 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg2001.

54 Vgl. zu dieser Ebenenunterscheidung für soziale und politische Bewegungen Peter Ullrich /Lê Anja, Bilder der Überwachungskritik«, in: Kriminologisches Journal 43. Jg., Nr. 2, 2011,S. 112-130.

55 Jörg Strübing,Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierungdes Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden 2004, S. 30 f.

56 http://fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/AS-WorkingDefinition-draft.pdf[13.10.2011].

57 Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionis-tische Judenfeindschaft, Hamburg 2005, S. 15 ff.

58 Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis desKommunismus, Opladen 1983.

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linkem Befreiungsvokabular verbrämten, weltbildhaften Israelhass und manifestem An-tisemitismus reichen kann. Erst durch zusätzliche Kontextinformationen, beispielsweisedie Verquickung verschiedener Elemente der EU-Arbeitsdefinition wird es möglich, einEreignis, eine Handlung oder gar einen Akteur als antisemitisch zu klassifizieren. Bei-spielhaft für die dafür notwendige hermeneutische Akribie steht die Arbeit von KlausHolz.59 Dieser nutzt die Fähigkeit der Methode der strukturalen Hermeneutik, latenteWissensstrukturen zu verdeutlichen, um im Einzelfall anhand der z.T. camoufliertenargumentativen Struktur von Texten nachzuweisen, ob eine antizionistische Äußerungtatsächlich von antijüdischem Gehalt ist.60 Dieser manifeste oder latente Gehalt kannjedoch immer noch von antisemitischen Intentionen und der von Produzenten kaumsteuerbaren Rezeptionsmöglichkeit unterschieden werden. In der Studie von Jäger undJäger61 zur deutschen Nahostberichterstattung finden sich viele solche Beispiele, die sichsowohl auf reale Vorkommnisse beziehen (israelische Soldaten erschießen ein Kind), alsauch antisemitisch dekodierbar sind (Kindsmordlegenden).

Sowohl die Ebenendifferenzierung als auch die Kontextualisierungsnotwendigkeit derEU-Kriterien sind von großer Relevanz hinsichtlich der Deutung der zum Teil durchauszu Recht von Salzborn und Voigt problematisierten Ereignisse. Die Notwendigkeit, dieEbenendifferenzierung zu betonen, resultiert vor allem aus der Problematik, dass mit derKonstatierung von Antisemitismus (ohne einen klaren Antisemitismusbegriff zu defi-nieren) oder auch Anschlussfähigkeit an den Antisemitismus häufig eine leichtfertigeAbwehrreaktion provoziert wird. Welcher Linke würde auch von sich glauben, Antise-mit zu sein? Dieser Vorwurf, der oft so verstanden wird, dass der Gescholtene ein Ju-denhasser sei, wird – in der Mehrheit der Fälle sicherlich zurecht – zurückgewiesen.Damit aber wird zugleich die Chance verspielt, zu analysieren, wann und wie auf denanderen Ebenen (manifester Aussagegehalt und Rezeptionsoptionen) trotzdem bei-spielsweise ein nicht intendiertes Problem bestehen kann (wovon Antisemitismus aller-dings nur ein Teilbereich ist).

Da sich zudem, wie im Einzelnen gezeigt wurde, durch Heranziehung weiterer Kon-textinformationen, für einen großen Teil der von Salzborn und Voigt inkriminierten Zu-und Tatbestände auch auf diesen Ebenen eine Klassifizierung als antisemitisch verbietet,ist nach alternativen Deutungsangeboten zu fragen.

Zunächst ist auf die an verschiedenen Stellen des Textes geäußerte implizite Verlaufs-these zurückzukommen. Grundlegende Studien, die sich mit linkem Antisemitismus undder Rezeption des Nahostkonfliktes befassen und von den Autoren für die vorliegende

59 Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus, aaO (FN 56).60 Solche diskursiven Strategien sind beispielsweise die selektive Vermischung klassentheoreti-

scher und ethnisierender Deutungen im Nahostkonflikt zur Dichotomie ›arabisches Volk‹(welches im Marxismus-Leninismus affirmiert wird) versus ›jüdische/zionistische Bourgeoisie‹(die abgelehnt wird), was jedoch anders als für den antiimperialistischen Antizionismus derOstblockstaaten in den 50er Jahren und Teile der antiimperialistischen Strömungen der NeuenLinken seit den 60er Jahren, heute nur bedingt zum Verständnis von Positionierungen derPartei DIE LINKE beiträgt.

61 Siegfried Jäger / Margarethe Jäger, Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitis-mus, Münster 2003.

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Arbeit bestenfalls am Rande rezipiert wurden, verweisen darauf, dass es immer wiederauch nahostpolitische Krisen und Zuspitzungen waren, die zu einer Radikalisierung derPositionierungen führten.62 Zeitgleich wurde auch darauf verwiesen, dass die seit den1970er und verstärkt seit den 1980er und�1990er Jahren um das Thema geführten Kon-troversen zu einer Pluralisierung der politischen Sichtweisen im deutschen linken Nah-ostdiskurs geführt haben. So entstanden neben antizionistischen und israelkritischenauch neue pro-israelischen Strömungen und sich explizit als vermittelnd und zwischendiesen Lagern stehend begreifende. Ullrich63 betont, dass es sich dabei möglicherweiseum einen säkularen Lernprozess handelt, der durch die Inkompatibilität aufeinander-treffender und miteinander konkurrierender erinnerungspolitisch grundierter und nah-ostkonfliktbezogener (antiimperialistischer wie auch menschenrechtspolitischer) Deu-tungsmuster im deutschen linken Diskurs entsteht. Die stete Konfrontation führte zueiner größeren argumentativen Komplexität und einem überindividuell komplexen undim internationalen Vergleich ausgewogenen Nahostdiskurs. Dort wurde auch gezeigt,dass sich dieser Konflikt und der damit verbundene Lernprozess in allen Feldern derpolitischen Linken nachweisen lässt.64 Dies wird umso deutlicher, wenn frühere Arbei-ten65 in eine Langfristperspektive einbezogen werden. Auch vor diesem Hintergrund istes hochproblematisch, einzelne Ereignisse, die sich in einem kürzeren Zeitraum zuge-tragen haben, zur Basis einer impliziten Verlaufsthese und Konstatierungslegitimationeiner Positionsdominanz zu machen.

Die Existenz eines solchen Lernprozesses und die Tatsache, dass der linke Nahost-diskurs in der Bundesrepublik komplexer und vergangenheitspolitisch sowie in punctoAntisemitismus deutlich sensibler ist als in vergleichbaren Ländern, hat allerdings nichtzur Folge, dass die Linke, inklusive der Linkspartei, nun der Gesamtgesellschaft weitvoraus und frei vom Antisemitismusverdacht wäre. Das Problem stellt unseres Erachtensaber eine bestimmte Spielart des Antizionismus und der Israelkritik dar, die aufgrundder geschilderten Ambivalenzen eher als eine Grauzone zu begreifen ist, in der die Gren-zen zwischen starker Kritik einerseits sowie Verschwörungstheorien und Ressentimentsandererseits fließend sind. In diesem politischen Spektrum, dessen reaktionärer Pol inder Partei DIE LINKE nach unserem Eindruck und angesichts der geschilderten Be-schlusslage nur eine geringe Bedeutung besitzt, besteht das Problem in einer Anschluss-fähigkeit an und unklaren Abgrenzung von antizionistischen Spielarten des Antisemi-tismus. Deren Probleme sind jedoch noch nicht einmal alle in den EUMC-Kriterien er-fasst. Eines besteht in der Bereitschaft, mit reaktionären, sogar anti-linken Kräften zukooperieren, sie weniger kritisch zu betrachten oder in Schutz zu nehmen, wenn mansich mit diesen in der Kritik an Israel einig weiß. Eine schlichte Freund-Feind-Logik undeine extreme Identifikation mit den als Objekt der Solidarität erwählten verwischt Gren-

62 Martin Kloke, Antizionismus und Antisemitismus als Weltanschauung, aaO. (FN 15).63 Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina, aaO. (FN 26), S. 295 ff.64 Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina, aaO. (FN 26), S. 151.65 Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses,

Frankfurt 1990/1994; ders., Antizionismus und Antisemitismus als Weltanschauung?, aaO.(FN 15), S. 177.

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zen. Diese Identifikation, verbunden mit einer extrem hohen Salienz des Themas in Tei-len des antiimperialistischen Spektrums und der Palästinasoli-Szene, führt zu erinne-rungspolitischen Unsensibilitäten, zu binären Zerrbildern vom Konflikt, zur Ignorie-rung israelischer Interessen oder jüdischer Befindlichkeiten und im Extremfall zu offe-nem Antisemitismus.66 Man kann aber dieses Feld nicht verstehen, wenn man alle frag-würdigen, ambivalenten oder gar nur der eigenen Ansicht widersprechenden Positio-nierungen zu Israel als antisemitischen Antizionismus klassifiziert und damit den Anti-semitismusbegriff bis zur Unkenntlichkeit überdehnt.

5 Fazit

Zwei Dinge sollte dieser Text verdeutlichen. Zum ersten: Es gibt innerhalb der bundes-deutschen und europäischen Gesellschaften ein manifestes Problem mit Antisemitismus,der sich als weltbildhafter, verschwörungstheoretischer Antizionismus und in Form vonunangemessener und überzogener »Israelkritik« tatsächlich auch innerhalb linker Zu-sammenhänge zeigen kann, obwohl er deren grundlegenden Wertvorstellungen eigent-lich diametral entgegensteht. Salzborn und Voigt legen den Finger damit in eine Wundeauch der bundesdeutschen Linken. Ein Großteil der Phänomene erscheint jedoch weni-ger als manifester Antisemitismus, sonder eher als eine breite Grauzone des Übergangsvon Kritik zu Ressentiment. Die Phänomene in dieser Zone müssen zweifelsohne nochgenauer untersucht und begrifflich gefasst werden, wofür allerdings die Kriterien fürantizionistischen Antisemitismus der EU-Definition bei weitem nicht ausreichen.

Zum zweiten: Der Versuch von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, nachzuweisen,dass ein antizionistischer Antisemitismus oder auch nur die problematischen Phänomeneim angrenzenden Graubereich maßgeblich für die Partei DIE LINKE sind, ist als haltloszurückzuweisen. Insbesondere der Vorwurf, DIE LINKE bestreite das israelische Exis-tenzrecht (S. 307) trifft nicht zu. Weder ist dieser Nachweis mit dem gewählten Vorgehenmöglich, noch – das zeigen die verschiedenen Gegenargumente – ist es wahrscheinlich,dass er viel mit der Realität des Objektbereiches zu tun hat. Damit ist dem Anliegen derAuseinandersetzung mit Antisemitismus ein Bärendienst erwiesen, insbesondere da

66 Es ist hier nicht der Ort dies weiter auszuführen, um nicht von der eigentlichen Thematikabzulenken. Es sei jedoch zumindest darauf hingewiesen, dass sich ein strukturverwandtesPhänomen in der militanten Israelsolidarität findet, die innerhalb der außerparlamentarischenLinken beispielsweise, aber keinesfalls ausschließlich, unter dem Label »Antideutsche« firmiertund innerhalb der Partei »DIE LINKE« durch Einzelmitglieder, einzelne Funktionär/innen,Abgeordnetenbüros und den Bundesarbeitskreis Shalom vertreten wird. Beide Phänomene re-agieren offensichtlich – abgesehen von ihren ernstzunehmenden inhaltlichen, auf die israelischeBesatzung der Westbank oder den Antisemitismus bezogenen Selbstbegründungen – auf diegleiche Ausgangsproblematik linker Identitätsbestimmung im postnationalsozialistischenDeutschland. Vgl. dazu Peter Ullrich, »Antisemitismus, Shoa und deutsche Verantwortung.Die (Nach-)Wirkungen des Nationalsozialismus im Nahostdiskurs« in: Kathrin Vogler /Martin Vorberg / Peter Ullrich, Königsweg der Befreiung oder Sackgasse der Geschichte? BDS– Boykott, Desinvestition und Sanktionen. Annäherungen an eine aktuelle Nahostdebatte,Berlin 2011, S. 23-38, und S. 41-42.

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Salzborn und Voigt nicht nur den unterstellten »Antisemitismus der Linken« überbe-werten, sondern damit auch den Antisemitismus als generelles Problem der deutschenGesellschaft relativieren.67

Ein Erfolg wäre, wenn es nun gelänge, die Debatte auf ihren rationalen Kern zu be-grenzen und weitere systematische Forschungen an die Stelle anekdotischer Kolportagezu stellen. Insbesondere quantitative Daten liegen für DIE LINKE bisher nicht vor.Wenn die Linkspartei ihr Bekenntnis zum Kampf gegen Antisemitismus und für eman-zipatorische Traditionen ernst nimmt, sollte sie sogar ein Interesse daran haben zu er-fahren, in welchem Ausmaß sich antisemitische Ressentiments (seien sie antizionistischoder anders beflaggt) in ihrer Mitgliedschaft und ihrer Elite finden, um diese entspre-chend politisch bekämpfen zu können.

Zusammenfassung

Die Autoren setzen sich kritisch mit der Studie »Antisemiten als Koalitionspartner« vonSamuel Salzborn und Sebastian Voigt (ZfP 58,3) auseinander. Sie betonen, dass der dorterhobene Vorwurf, die Partei DIE LINKE sei von einem antisemitischen Antizionismusgeprägt, aus verschiedenen Gründen unhaltbar ist. Vielmehr wird nachgewiesen, dass dermedial sehr wirksame Aufsatz von Salzborn und Voigt methodisch mangelhaft, teilweisenicht nachvollziehbar und logisch inkonsistent ist, hoch selektiv und reduktionistischmit dem willkürlich ausgewählten Material umgeht sowie Gegenargumente, insbeson-dere zur Beschlusslage der Partei, und einschlägige Forschungen unterschlägt. Es wirdkritisiert, dass somit ein unzutreffendes Zerrbild der Partei DIE LINKE geschaffen wird,welches sich zur politischen Instrumentalisierung eignet und gleichzeitig den gesamtge-sellschaftlichen Antisemitismus bagatellisiert. Die Autoren plädieren stattdessen dafür,die Problemfelder der »Israelkritik« als Grauzone zu betrachten, in der die Palästinaso-lidarität an verschiedenen Stellen anschlussfähig für den oder undeutlich abgegrenzt vomAntisemitismus sein kann. Sie treten dafür ein, die Debatte zu versachlichen, u.�a. indemdiese Grauzone begrifflich genauer spezifiziert und insbesondere für die Partei DIELINKE quantitativ untersucht wird.

Abstract

The authors take on the study »Antisemites as Coalition Partners?« by Samuel Salzbornand Sebastian Voigt (ZfP 53, 3). They argue that the contention about the party DIELINKE being marked by antizionist antisemitism must be found untenable. Instead theydemonstrate why the widely received article by Salzborn and Voigt lacks methodological

67 Dies geschieht insbesondere durch die auf falschen Anschuldigungen beruhende Behauptung,mit der LINKEN drohe nun erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Beteiligungvon Antisemiten an Koalitionen. Nicht nur die Fälle Möllemann, Hohmann und Karsli, son-dern vor allem die Rolle von NS-Eliten in der frühen Bundesrepublik legen beredtes Zeugnisvon einer anderen Situation ab.

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rigour and consistency. The text is shown to treat in a highly biased and reductionistmanner its material, which on his part is shown to have been arbitrarily selected, sincepossible counterarguments concerning the party's resolutions and relevant research arenot taken into consideration. The authors criticise that as a consequence a distorted imageof the party DIE LINKE is evoked, suitable for dubious political purposes and therebytrivialising antisemitism which remains a problem all to real in society. They suggesttreating the field of criticism of Israel as ‘grey area’, where movements to support Pales-tine may become compatible or blur its boundaries to actual anti-Semitism. The debatemust be objectified by conceptually specifying this grey area and producing accordingquantitative research on DIE LINKE.�Peter Ullrich und Alban Werner, Is »DIE LINKE« an anti-Semitic party? About greyareas of the left's Palestine solidarity and their critics.

441 Peter Ullrich/Alban Werner · Ist »DIE LINKE« antisemitisch? 441

ZfP 58. Jg. 4/2011

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Nomos

Politisches Denken von Aristoteles

Die „Politik“ des Aristoteles ist einer der Grundtexte des politischen Denkens. Experten verschiedener Fachgebiete untersuchen die philosophischen, ökono-mischen, historischen und politologischen Dimensionen des Werks und seine Wirkungen in der Geschichte.

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Nomos

Die „Politik“ des Aristoteles

Barbara Zehnpfennig (Hrsg.)

Die „Politik“ des AristotelesHerausgegeben von Barbara Zehnpfennig!"#!, !$% S., brosch., !",– # ISBN %$&-'-&'!%-(#")-!(Staatsverständnisse, Bd. (()