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Umwelt Global: Ver¤nderungen, Probleme, L¶sungsans¤tze

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M. Janicke H.-J. Bolle A. Carius (Hrsg.)

Umwelt Global Veranderungen, Probleme, L6sungsansatze

Mit einem Geleitwort von L. Wicke

Mit 46 Abbildungen

Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Hong Kong Barcelona Budapest

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Prof. Dr. M. JANICKE

Freie Universitat Berlin

FB Politische Wissenschaft

Forschungsstelle fUr Umweltpolitik

Schwendenerstr. 53

0-14195 Berlin

Prof. Dr. H.-J. BOLLE

FB Geowissenschaften

Institut fUr Meteorologie

Carl-Heinrich-Becker Weg 6-10

0-12165 Berlin

Dipl.-Pol. A. CARIUS

Freie Universitat Berlin

FB Politische Wissenschaft

Forschungsstelle fUr Umweltpolitik

Schwendenerstr. 53

0-14195 Berlin

ISBN-13:978-3-642-79016-4 e-ISBN-13:978-3-642-79015-7

001: 10.1007/978-3-642-79015-7

Die Deutsche Bibliothek - CIP·Einheitsaufnahme Umwelt global: Veranderungen, Probleme, Losungsansatzel hrsg. von M. liinicke ... - Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo; Hong Kong; Barcelona; Budapest: Springer, 1994

ISBN-13:978-3-642-79016-4 NE: Janicke, Martin [Hrsg.]

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funk· sendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugswciser Verwertung, vorbehalten. Eine Verviel· fiiltigung des Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberreehtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland yom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspftichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

© Springer·Verlag Berlin Heidelberg 1995 Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1995

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warcnbezeichnungen usw, in dicsem Wcrk berechtigt auch ohne besondcre Kcnnzeichnung nicht zu der Annahmc, daB solche Namen im Sinne der Warenzcichen- und Markenschutz-Gesetzgehung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden diirften.

Satz: Best-set Typesetter Ltd., Hong Kong

SPIN: 10468496 32/3130/SPS - 5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf saurefreiem Papier

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Geleitwort

Das Raumschiff Erde und damit die Oberlebensmoglichkeit bzw. das Leben unserer Kinder und Kindeskinder in einer annehmbaren Umwelt sind extrem gefahrdet. Die Menschheit steht unzweifelhaft vor einer selbstproduzierten existenzbedrohenden Umweltkrise durch Tropenwaldzerstorung, Klima­katastrophe (Treibhauseffekt und Ozonloch) sowie industriell bedingte Luft- und Gewasserverschmutzungen. Die Moglichkeit und Wahrschein­lichkeit einer weltweiten erfolgreichen Losung der Umweltprobleme, insbesondere angesichts der in den unterentwickelten Staaten dominierenden Probleme der Befriedigung der elementaren Lebensbediirfnisse nach Nahrung und menschenwiirdigem Wohnen ergeben ein weitgehend pes­simistisches Bild. Ohne eine schnellstmogliche gemeinsame Aktion aller Staaten, bei der gleichzeitig die Probleme der Bevolkerungsentwicklung, der Nahrungs- und der Energieversorgung sowie der Umweltprobleme energisch und wirksam angegangen werden, besteht die Gefahr einer gravierenden Bedrohung der Menschheit.

Durch den ganz sicher auf uns zukommenden Treibhauseffekt wird sich das Klima der Erde in 50, 100 oder in 150 lahren so stark verandert und die mittlere Temperatur so stark erhoht haben, daB infolge von riesigen Naturkatastrophen wie Wirbelstiirmen, monatelangen Trockenheiten und sintflutartigen Oberschwemmungen groBe Teile der Nord- und Siidhalbkugel fUr die meisten Menschen keinen Lebensraum mehr darstellen werden. Anhaltendes Bevolkerungswachstum, Massenarmut, Verschuldung, Brandrodungen, kommerzieller Tropenholzkahlschlag und eine Entwick­lungspolitik, die mit falschen Mitteln die Folgen, nicht jedoch die Ursachen bekampft, fUhren in den meisten Entwicklungslandern zu schwerwiegenden Problemen.

Es ist daher sehr zu begriiBen, daB sich an der Freien Universitat Berlin Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen in einer Vorlesungsreihe zusammengefunden haben, urn langfristige Umweltveranderungen nicht nur darzustellen, sondern auch Losungsansatze aufzuzeigen, die in diesem zusammenfassenden Band dokumentiert werden. Ich wiirde mir wiinschen, daB diese Ansatze dazu beitragen bzw. gemeinsam weiterentwickelt werden, urn einen umfassenden Umweltrettungsplan fUr diesen Planeten zu entwickeln. Erste Ansatze dazu sind yom US-Vizeprasidenten Al Gore als "Global Marshall Plan" und mit dem von mir und Politikern anderer

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VI Geleitwort

Parteien entwickelten "Okologischen Marshall-Plan" und den entspre­chenden Aktionen vorhanden.

Hier liegt die Moglichkeit, zum einen die enormen Umweltverschmut­zungen in den ehemals sozialistischen Uindern einzudammen, zum anderen Selbsthilfemechanismen in den Landern der zweiten und dritten Welt zu schaffen. Nur mit massiver finanzieller Hilfe zur Selbsthilfe ist ausreichender globaler U mweltschutz moglich (internationales NutznieBerprinzip).

Diesem Sammelband wunsche ich eine gute Verbreitung und aufmerksame Leser.

Prof. Dr. LUTZ WICKE

Umweltstaatssekretar

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung MARTIN JANICKE, HANS-JORGEN BOLLE und ALEXANDER CARIUS 1

Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeit HANS-JORGEN BOLLE ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Meteorologische Aspekte des Ozonproblems KARIN LABITZKE ......................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Fernerkundung der Erde REINHARD FURRER ............................................ 47

Uber die Besonderheiten des GroBstadtklimas am Beispiel von Berlin HORST MALBERG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Die Stadt als okologisches System GERD WEIGMANN ............................................. 73

Rechtliche Ansiitze zur Regulierung von Stoffstromen PHILIP KUNIG ................................................ 85

Rechtliche Aspekte der Altlastenproblematik FRANZ-JOSEPH PEINE .......................................... 97

Kriterien und Steuerungsansiitze okologischer Ressourcenpolitik -Ein Beitrag zum Konzept okologisch tragfiihiger Entwicklung MARTIN JANICKE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Klimaschutzpolitik als COz-Minderungspolitik LUTZ MEZ .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Das Unternehmen als Initiator der okologischen Umorientierung MICHAEL STITZEL ............................................. 151

Die Okologie der neuen Weltordnung ELMAR ALTVATER ............................................. 165

Nutzung und Schutz tropischer Regenwiilder - Zur Problematik der groBfliichigen Zonierung im brasilianischen Amazonasgebiet MANFRED NITSCH ............................................. 183

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VIII

UmweltbewuBtsein GERHARD DE HAAN

Okologisches VerantwortungsbewuBtsein

Inhaltsverzeichnis

197

ERNST-H. HOFF und THOMAS LECHER ............................ 213

Technikentwicklung, Unsicherheit und Risikopolitik JOBST CONRAD ............................................... 225

Ethik fUr die Zukunft erfordert Institutionalisierung von Diskurs und Verantwortung DIETRICH BOHLER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Sachverzeichnis .............................................. 249

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Liste der Herausgeber uDd AutoreD

ALTVATER, E., Prof. Dr. FB Politische Wissenschaft, Ihnestr. 22, 14195 Berlin

BOHLER, D., Prof. Dr. FB Philosophie und Sozialwissenschaften I, Institut fUr Philosophie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin

BOLLE, H.-J., Prof. Dr. FB Geowissenschaften, Institut fUr Meteorologie, Carl-Heinrich-Becker Weg 6-10, 12165 Berlin

CARIUS, A., Dipl.-Pol. FB Politische Wissenschaft, Forschungsstelle fUr Umweltpolitik, Schwendenerstr. 53, 14195 Berlin

CONRAD, J., PO Dr. FB Politische Wissenschaft, Forschungsstelle fur Umweltpolitik, Schwendenerstr. 53, 14195 Berlin

FURRER, R., Prof. Dr. FB Geowissenschaften, Institut fur Weltraumwissenschaften, Fabeckstr. 69, 14195 Berlin

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x

DE HAAN, G., Prof. Dr. FB Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, Institut fur Philosophie, Arnimalle 10, 14195 Berlin

HOFF, E.-H., Prof. Dr. FB Philosophie und Sozialwissenschaften I, Psychologisches Institut, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin

JANICKE, M., Prof. Dr. FB Politische Wissenschaft, Forschungsstelle fUr Umweltpolitik, Schwendenerstr. 53, 14195 Berlin

KUNIG, PH., Prof. Dr. FB Rechtswissenschaft, Lehrstuhl fur Staatsrecht, Verwaltungsrecht,

Liste der Herausgeber und Autoren

und Volkerrecht unter Einschlul3 des Umweltschutzrechts, Thielallee 52, 14195 Berlin

LABITZKE, K., Prof. Dr. FB Geowissenschaften, Institut fur Meteorologie, Carl-Heinrich-Becker Weg 6-10, 12165 Berlin

LECHER, TH., Dr. FB Philosophie und Sozialwissenschaften I, Psychologisches Institut, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin

MALBERG, H., Prof. Dr. FB Geowissenschaften, Institut fur Meteorologie, Carl-Heinrich-Becker Weg 6-10, 12165 Berlin

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Liste der Herausgeber und Autoren

MEZ, L., Dr. FB Politische Wissenschaft, Forschungsstelle fUr Umweltpolitik, Schwendenerstr. 53, 14195 Berlin

NITSCH, M., Prof. Dr. Lateinamerika-Institut, Abteilung Wirtschaft, Riidesheimer Str. 54-56, 14197 Berlin

PEINE, F.-J., Prof. Dr. FB Rechtswissenschaft, Van't-Hoff-Str. 8, 14195 Berlin

STITZEL, M., Prof. Dr. FB Wirtschaftswissenschaft, Institut fUr allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Patschkauer Weg 38, 14195 Berlin

WEIGMANN, G., Prof. Dr. FB Biologie, Institut fUr Zoologie, Bodenzoologie und Okologie, Tietzenweg 85-87, 12203 Berlin

XI

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Einleitung

1 Multidisziplinare Umweltforschung unter U nsicherheitsbedingungen

Die Umweltforschung sieht sich heute einer wachsenden Offentlichen Nachfrage nach Handlungsempfehlung gegentiber. Sie tut sich damit schwer. Zum einen gibt es die Tradition von wissenschaftlicher "Wertfreiheit", die Vorstellung also, daB der Wissenschaft (nur) eine deskriptive und analytische Rolle zukomme, Wertung und Handlungsempfehlung aber Sache von Gesellschaft und Politik seien. Zum anderen steckt die Erforschung unserer Umwelt als komplexes System noch in den Anfiingen. Gesicherte Aussagen tiber problematische, gesellschaftlich zu steuernde Kausalbeziehungen sind in den komplexeren Verursachungsstrukturen nicht leicht zu treffen. Dies gilt fUr die Analyse des globalen Systems ebenso wie etwa die Darstellung von Gesundheitsrisiken. Die Aussagen der Umweltforschung mithin stehen immer wieder unter dem Vorbehalt von Unsicherheit.

Die Offentlichkeit erwartet von der Umweltforschung rasche und verliiBIiche Aussagen tiber kritische Veriinderungen der globalen Um­weltbedingungen und ihrer Auswirkungen auf die Lebensbedingungen. Entscheidungstriiger mtissen MaBnahmen zur Sicherung der Lebensqualitiit frtihzeitig ergreifen konnen. Die Antworten der Wissenschaft fallen hin­gegen oft nicht so eindeutig aus wie erwtinscht. Daraus erwiichst nicht selten der Eindruck, die Wissenschaft sei in der Beurteilung der Lage nicht einig oder entziehe sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Gewtinscht sind "Anwendungsprodukte" der Forschung. Normalerweise kommen Pro­dukte erst dann auf den Markt, wenn sie wissenschaftlich abgesichert und technisch ausgereift sind. 1m FaIle der Umwelt haben wir es jedoch mit einem komplexen System zu tun, in dem Prozesse ganz unterschiedlicher zeitlicher und riiumlicher GroBenordnungen ablaufen, die sich nicht - wie etwa in der Physik tiblich - durch gezielte Experimente zerlegen und ana­Iysieren lassen. Hinzu kommt die bereits erwiihnte tiberaus komplexe Verursachungsstruktur moderner Industriegesellschaften.

Was gegenwiirtig in der Umweltforschung geschieht, ist eine allmiihliche Anniiherung an die Realitiit. Es ist aber kaum zu erwarten, daB diese Anniiherung in Zeitspannen von J ahren zu einem Verstiindnis des gesamten Systems und zu gesicherten globalen Prognosen fUhren kann. Auch in der

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2 M. Janicke et al.

Klimaforschung, deren Grundlagen als relativ gesichert angesehen werden konnen, besteht noch ein Auslegungsspielraum hinsichtlich der ermittelten Trends und ihrer zukiinftigen Wirkungen.

Die analytische und prognostische Unsicherheit liegt schon darin begriindet, daB die Annaherung an die reale Welt auf verschiedenen Ebenen erfolgt, auf denen jeweils nur unvollstandige Informationen iiber das Gesamtsystem verfiigbar sind. Jeder Einzelwissenschaftler lebt in einer bestimmten "Welt", aus der er Erkenntnis schopft. Fiir die einen ist dies eine - je nach Disziplin unterschiedliche - empirische Welt. Fiir andere eine iiberwiegend theoretische Welt oder, hiervon "technisch" abgeleitet, eine Modellwelt. Erst die Zusammenschau dieser Welten ermoglicht ein tieferes Eindringen in das komplexe reale System; aber selbst die Gesamtheit aller Informationen, die wir erhalten und analysieren konnen, wird immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellen.

Die "klassische" Erkenntnisgewinnung erfolgt iiber die Empirie. Messende Experimente miissen sich aber auf bestimmte, eng eingegrenzte Fragestellungen beschranken. Die experimentelle Welt ist stark selektiv. Sie kann einzelne Prozesse erforschen; deren raumlicher und zeitlicher Kontext ist jedoch iiberaus aufwendig und, global gesehen, innerhalb des experi­mentellen Methodenspektrums iiberhaupt nicht zu bestimmen. Die globale Umweltbeobachtung ist Systemen vorbehalten, die an der Erdoberflache mit weitmaschigen Netzen arbeiten und - oft vom Weltraum aus - indirekte Informationen sammeln, die jeweils erst entschliisselt werden miissen. Die Datenwelt stellt somit eine Untermenge der realen Welt dar, aus der Einsichten in Prozesse nur marginal zu gewinnen sind. Zu diesem Zweck wurde die Modellwelt erfunden: Konstruiert wird ein synthetischer Planet, der im Laufe der Zeit immer groBere Ahnlichkeit mit dem Planeten Erde gewinnt und in dem man "Experimente" und "Empfindlichkeitsstudien" durchfiihren kann, urn Wechselwirkungen zwischen einzelnen Unter­systemen zu untersuchen und die wichtigen steuernden Parameter heraus­zufinden. Modelle ermoglichen eine Zusammenschau, zunachst aber nur in ihrer eigenen Welt. Erst wenn die Modellwelt mit den genannten anderen Welten so in Einklang gebracht wird, daB sich zusammenpassende Antworten ergeben, eroffnet sich die Moglichkeit, der Realwelt naher zu kommen.

Eine eigene Welt, jedoch mit nicht geringerem Realitatsgehalt, stellt die theoretische Welt dar. Sie befaBt sich in der naturwissenschaftlichen Umweltforschung gegenwartig verstarkt mit dem Chaos und Gabelungen im Ablauf von Prozessen. Ihre Aussagen sind auBerst wichtig, urn die Grenzen der Vorhersagbarkeit von Entwicklungen zu ermitteln. Modelle arbeiten in den Naturwissenschaften im allgemeinen mit kiinstlichen Stabilisierungsme­chanismen, urn bei Langzeitrechnungen das Wegdriften von einem mittleren Zustand zu verhindern. Die Theorie tendiert hier dahin, subskaligen, das heiBt in Modellen nicht erfaBbaren, Prozessen eine wichtige Rolle bei der zeitlichen Entwicklung von Systemen zuzuschreiben.

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Einleitung 3

Ein entscheidendes Problem fUr den Vergleich der in den naturwis­senschaftlichen "Teilwelten" gesammelten Erkenntnisse mit der realen Welt ist der Umstand, daB zwischen den naturwissenschaftlichen Welten und der realen natiirlichen Welt eine 6konomisch, gesellschaftlich und normativ gepragte Welt liegt, die massiven EinfluB auf die natiirliche Welt nimmt. Umweltwissenschaftlich betrachtet liegen hier die entscheidenden Pro­blemverursachungen (wie auch die potentiellen ProblemI6sungen), aber sie sind in umfassendere Modelle nur schwer integrierbar, weil hier Mengen, Qualitaten und zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht leicht vorhersagbar und soziale Entscheidungsprozesse nur schwer faBbar sind.

Fiir die Erforschung globaler Umweltveranderungen ist es mithin iiberaus wichtig, die Unterschiedlichkeit der einzelnen wissenschaftlichen "Teilwelten" und ihre Beziehung zueinander zu verstehen. Die hier dokumentierten Aufsatze wollen dazu einen Beitrag leisten. Sie sind im Originalton der jeweiligen Disziplinen belassen. Die Spezifika der Sichtweisen werden so bis in die Begrifflichkeit deutlich. Probleme, Notwendigkeiten und M6glichkeiten einer multidisziplinaren Zusam­menschau werden auf diese Weise sichtbar.

Deutlich wird auch, wie schwer sich Wissenschaft mit dem skizzierten Widerspruch zwischen Wertabstinenz und gesellschaftlichem Beratungsbedarf tut. Aber wer sonst, wenn nicht die Wissenschaft in dem breiten Spektrum ihrer Disziplinen k6nnte Auskunft iiber 6kologische Gefiihrdungen geben? Auch die Universitaten haben mit der in ihnen versammelten Kompetenz einen konzeptionellen Beitrag zur Abwehr 6kologischer Langzeitrisiken zu leisten.

1st es wirklich fUr einen Wissenschaftler unangemessen, gesellschaftliche Handlungsempfehlungen zu geben oder durch Problem analyse nahezulegen? 1st die Unsicherheit umweltwissenschaftlicher Erkenntnisse ein Grund, Wissenschaft von dem gesellschaftlichen Erkenntnisbedarf abzukoppeln? Oder geht es nicht vielmehr darum, Handlungsempfehlungen in einem breiten, interdisziplinaren Diskurs so einvernehmlich, so vorsichtig und so abgesichert wie m6g1ich zu formulieren? Entstehen Methodenprobleme nicht auch dadurch, daB den Schaden "hinterhergeforscht" und zu wenig -praventiv - nach den langfristigen Foigen durchaus bekannter indu­striegesellschaftlicher Problemproduktionen gefragt wird? MuB nicht speziell der universitaren Forschung und Lehre auch der Vorwurf gemacht werden, daB sie sich von der fUr so viele ihrer Disziplinen bedeutsamen Umweltproblematik zu lange ferngehalten, daB sie Themen dieser Art oft wissenschaftlichen AuBenseitern iiberlassen hat? Hat die vorwissenschaftliche Alltagserfahrung iiber konkrete Umweltbelastungen nicht immer wieder Erkenntnisse hervorgebracht, die die Wissenschaft praventiv hiitte benen­nen miissen? Fest steht: Die Universitaten haben relativ spat begonnen, auf die Herausforderung der Umweltproblematik interdisziplinar zu reagieren und eine intellektuelle Basis fUr die Behandlung der Umwelt als komplexes System zu entwickeln.

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Steht die Umweltforschung unter dem Vorbehalt methodischer Unsicherheit, so gilt dies fUr die der Zukunft verantwortliche Umweltpolitik erst recht. Und dennoch mUf3 sie okologische Gefahren antizipieren. 1m Regelfall reagiert leider auch sie "sicherheitshalber" nur auf die offensichtli­chen, d.h. erst im Nachhinein als gesichert erkannten Gefahrdungen. Nicht das unsichere Risiko, sondern der sichere, da bereits eingetretene Schaden bestimmt in hohem MaBe die politischen MaBnahmen. Inzwischen gibt es aber (vom japanischen Umweltschutz ebenso wie etwa von der Umweltethik ausgehend) etwas, das man als "Plausibilitatsprinzip" bezeichnen konnte: Handeln auch dann, wenn ein erhebliches Umweltrisiko wissenschaftlich nur "plausibel" besteht. Auch der Kausalitatsnachweis bei Haftungsrisiken wird mittlerweile tendenziell relativiert (Stichwort: "Umkehr der Beweislast").

Die Umweltforschung wird moglicherweise nicht umhin konnen, ihre methodologischen BeweismaBstabe ebenfalls in Richtung auf das Kriterium der Plausibilitat zu relativieren, wenn es urn zukunftsbezogene Empfehlungen geht. Nicht nur die existentielle GroBenordnung der potentiellen Um­weltrisiken und die Bedingung hoher Unsicherheit, sondern auch die angedeutete begrenzte Leistungstahigkeit von Wissenschaft legen dies nahe.

Alles in allem hat die Wissenschaft in Umweltfragen bisher kaum falsche Handlungsanweisungen gegeben. Warnungen vor Langfristrisiken haben sich im Gegenteil immer wieder als nur zu wahr herausgestellt. Bei aller methodischen Detailkritik an den Meadowschen "Grenzen des Wachstums" (1972), an "Global 2000" (1978), an kritischen Untersuchungen zum Waldsterben oder Klimawandel: Wer wtirde heute ernsthaft behaupten wollen, daB die Wissenschaft hier einen falschen Handlungsdruck erzeugt habe? Desgleichen wird im Lichte der Unfallfolgen von Tschernobyl niemand ernsthaft die Risikoannahmen im Atomrecht westlicher In­dustrielander als tibertrieben ansehen konnen - obwohl die Unsicherheit tiber die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Atomunfalls gewaltig ist. Deshalb ist zwar "das Nichtwissen ... ein grundlegendes Dilemma des umwelt­bezogenen Handelns" (s. Beitrag von de Haan), aber wir verfUgen tiber gentigend Erfahrungen dartiber, welche Risiken auch im umweltpolitischen Nichthandeln liegen. Die Unsicherheit umweltwissenschaftlichen Forschens ist mithin keine Alibiformel fUr Untatigkeit, sondern eine Herausforderung an aIle Beteiligten.

Wer die gesellschaftlichen und technologischen Innovationspotentiale gering schatzt, mag das Irrtumsrisiko umweltwissenschaftlicher Warnungen oder Handlungsempfehlungen fUr schwerwiegend halten. Wer die Stabi­lisierung der Umweltverhaltnisse, wer umweltgerechte Produktionsweisen zugleich als technologische Chance ansieht, wird dies anders sehen, vor allem dann, wenn es im Lichte der Umweltforschung hochplausibel erscheint, daB okologische Degeneration die okonomische Degeneration nach sich zieht. In diesem FaIle drangen sich wissenschaftliche Handlungsempfehlungen geradezu auf - auch unter Unsicherheitsbedingungen.

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Einleitung 5

2 Ubersicht tiber den Band

Dieser Band befaBt sieh mit den Herausforderungen Iangfristiger gIobaler Umweltveranderungen. Er enthalt in einem ersten Teil ausgewahlte natur­wissenschaftliehe Darstellungen solcher Veranderungen, einschlieBIich der mit ihrer Erfassung verbundenen methodologischen Probleme. In einem zweiten Teil werden exemplarisch Losungsansatze und die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Problemdimensionen aus der. Sieht unter­schiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen vorgestellt.

Den Auftakt des Bandes bildet die Diskussion gIobaler Umwelt­veranderungen aus naturwissenschaftlicher Sicht. Zunachst behandelt HANS­JURGEN BOLLE in seinem Beitrag "Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeit" die Moglichkeiten der Beeinftussung der globalen Verteilung des SiiBwassers und die Schwierigkeiten, beobachtete Veranderungen kausal auf die 3 Ursachen Anstieg der Konzentrationen von Treibhausgasen in der Atmosphiire, natiirliche Klimaschwankungen sowie anthropogen bedingte Eingriffe modellmaBig zurtichzufiihren. Informationen zur Beschreibung entsprechender globaler Wandlungsprozesse konnen unter anderem mitteIs Fernerkundung tiber Messungen aus dem Weltraum gewonnen werden. Beispielhaft zeigt er anhand der spanischen Region Castilla-La Mancha konkrete Auswirkungen.

Die "Meteorologischen Aspekte des Ozonproblems" behandelt KARIN LABITZKE in ihrem Aufsatz. Die in den Medien teilweise verzerrte Darstel­lung des Ozonproblems hat in der Offentlichkeit zu einem unterschiedlichen Verstandnis der Problematik gefiihrt. Labitzke erklart die komplexen chemischen Prozesse, die im Zusammenwirken mit dynamischen Veran­derungen in der Stratosphare zum zeitweisen dramatischen Abbau des Ozons tiber der Antarktis und langfristig zu einem allgemeinen stratospharischen Ozonabbau fiihren.

REINHARD FURRER untersucht in seinem Beitrag "Fernerkundung der Erde" die Moglichkeiten der Fernerkundung zur Analyse von physikalischen, chemischen und biologischen Wechselwirkungen des globalen Systems. Fernerkundungsdaten ermoglichen die ftachendeckende Erfassung be­stimmter GroBen, die zur Diagnose (oder Erkennung) von Anderungen sowie als Eingangs- wie auch Verifikationsdaten fiir Modelle benotigt werden, die den Zustand der Atmosphare, der Erdoberftache und der Ozeane beschreiben. Eine solche weitraumige Erfassung kann allerdings nur mit entsprechend ausgertisteten Satelliten und ftugzeuggesttitzten Beob­achtungssystemen gelingen. Es werden einige Anwendungen von Fern­erkundungsmethoden zur Analyse des Zustandes der Erdoberftache vorgestellt, insbesondere die abbildende Spektroskopie. Anhand eines Fallbeispiels wird aufgezeigt, wie die Schadigung der Vegetation durch Waldbrande in der Umgebung von Berlin erfaBt werden kann. In diesem

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6 M. Janicke et al.

Zusammenhang wird demonstriert, wie durch den Einsatz neuronaler Netze auf die spektralen Daten die Differenzierung zwischen gesunder und ge­schiidigter Vegetation verbessert werden kann.

HORST MALBERG und GERD WEIGMANN behandeln in ihren Beitriigen stadtokologische Themen. In den Stiidten lassen sich quasi als Spiegel der globalen Problematik die konkreten Umweltveriinderungen besonders deutlich veranschaulichen. Nach einer neueren Prognose wird im Jahr 2025 mit 9 Mrd. Menschen der iiberwiegende Teil der Bevolkerung in Stiidten leben.

MALBERG untersucht die "Besonderheiten des Grof3stadtklimas am Beispiel von Berlin". Hierbei werden die klassischen meteorologischen Parameter (Temperatur, Luftfeuchte, Niederschlag und Wind) zugrun­degelegt. Durch anthropogene Einwirkungen (z.B. Fliichenversiegelung durch Bebauung, Industrialisierung usw.) hat sich das Stadtklima im Ver­gleich zum Umland im letzten Jahrhundert drastisch veriindert. Malberg weist insbesondere auf die unterschiedlichen klimatischen Veriinderungen im Innenstadtbereich hin.

WEIGMANN untersucht in seinem Beitrag "Die Stadt als okologisches System" die stadtokologische Dimension unter dem Gesichtspunkt der Oko­systemforschung. Die Stadt ist in physischer Hinsicht einer komplexen Landschaft vergleichbar. Hier konzentrieren sich die anthropogen bedingten Stoff- und Energiestrome. In einer umfassenderen Sichtweise sollen natur­und sozialwissenschaftliche Aspekte verbunden werden.

Zwei rechtswissenschaftliche Beitriige eroffnen den sozialwissenschaftli­chen Teil dieses Bandes. PHILIP KUNIGS Beitrag tiber "Rechtliche Ansiitze zur Regulierung von Stoffstromen" diskutiert die aktuelle (nicht nur) rechtswissenschaftliche Debatte urn die Stoffstrompolitik. Insbesondere im Abfallrecht zeigt er anhand neuester Entwicklungen den priiventiven Charakter dieses Steuerungsansatzes auf. Aus juristischer Sicht pliidiert er dafUr, stoffwirtschaftliche Regelungen "vom Ende an den Anfang des Zyklus der Produktion zu verschieben".

FRANZ-JOSEPH PEINE untersucht "Rechtliche Aspekte der Altlasten­problematik" und zeigt die bisherige Entwicklung des Altlastenrechts auf. Altlasten sind ein besonders prekiirer Aspekt langfristiger Umwelt­belastungen. 1m Gegensatz zum priiventiven Charakter erster Ansiitze des Stoffstromrechts ist das Altlastenrecht ein klassisch nachsorgender Ansatz. Die Entwicklung untersucht er detailliert anhand der geltenden landesrechtlichen Polizeigesetze, der speziellen Landesaltlastensanierungs­gesetze, des Entwurfs eines Bodenschutzgesetzes und des Entwurfs des geplanten Umweltgesetzbuches.

MARTIN JANICKE beleuchtet in seinem Beitrag" Kriterien und Steuerungs­ansiitze okologischer Ressourcenpolitik" Begriff, Indikatoren, Erfordernisse, Ansatzpunkte und Handlungsmoglichkeiten okologisch tragfiihiger Entwick­lung. Bei der konkreten Ausgestaltung der Sustainability-Debatte pliidiert er insbesondere fUr die Heranziehung geeigneterer Indikatoren. Bisher fehlt

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Einieitung 7

noch die Datenbasis, globale Stoffstrome und ihre problematischen Akku­mulationseffekte umfassend darzustellen. Deren Bedeutung wird an ausge­wahlten Landerbeispielen verdeutlicht.

In seinem Beitrag "Klimaschutzpolitik als COrMinderungspolitik" geht LUTZ MEZ von der internationalen Klimaschutzdiskussion aus und zeigt das breite Instrumentarium in der bundesdeutschen und danischen Klimapolitik. Trotz der Fortschritte auf instrumenteller Ebene verbleiben auf der Outputseite des politischen Prozesses nach wie vor groBe Defizite, die sich nur mit einer "Effizienzrevolution" im Energiesektor ausgleichen lassen. Gewachsene Machtlagen und institutionelle Gegebenheiten in der Energiepolitik stellen dabei das bisher wesentliche strukturelle Hindernis dar.

"Das Unternehmen als Initiator der okologischen Umorientierung" behandelt MICHAEL STITZEL. Ausgangspunkt ist dabei die These, Un­ternehmen hatten gute strukturelle, interessenbezogene und motivation ale Voraussetzungen fUr umweltfreundliches Verhalten. Ein Mitwirken des Unternehmenssektors bei der Umweltsicherung durch den Staat ist un­abdingbar. Anhand von 3 Ebenen (kurzfristige Ertrags- und Kostenorien­tierung, strategische Orientierung und Unternehmensethik) untersucht er das Potential einer okologischen Umorientierung und kommt zu dem Ergebnis: "Isoliert kurzfristige Politik scheitert an den manifesten Zielkon­kurrenzen zu unmittelbar okonomischen Interessen, isoliert strategische Orientierung miBachtet die Tageserfordernisse, und isoliert ethische Ausri­chtung ohne Einbeziehung in okonomische Rationalitaten ist weltfremd und nicht durchsetzungsfahig".

ELMAR ALTVATER stellt in seinem Beitrag "Die Okologie der neuen Weltordnung" die globalen Wirtschaftsverflechtungen in den Vordergrund. Dargestellt werden u.a. die Entwicklungsunterschiede zwischen Rohstoff­landern und Industrielandern: "Die Ordnung der industriellen Welt erzeugt ... die Unordnung der Extraktionsgebiete". Das Novum intern a­tionaler Umweltregime sieht er darin, daB die Regulation des Stoffwechsels mit der Natur nicht mehr allein der "Preissprache des Weltmarktes", aber auch nicht mehr den in der neuen Weltordnung kaum noch souveranen Nationalstaaten iiberIassen bleibt.

MANFRED NITSCH greift in seinem Beitrag "Nutzung und Schutz tro­pischer Regenwiilder" die instrumentelle Debatte der Tropenwaldproblematik auf. Am Beispiel der brasilianischen Region Rondonia erIautert er das Instrument der "Zonierung" und stellt dieses in einen breiteren sozial­wissenschaftlichen Kontext. In seinem Fazit stellt er zwar den augenscheinlich umfassenden Ansatz heraus, halt ihn aber nicht fUr geeignet, intensivere Landnutzung und weitere Tropenwaldzerstarung zu verhindern.

GERHARD DE HAAN erIautert in seinem Aufsatz "Umweltbewuf3tsein" an hand empirischer Studien den Grad von Umweltwissen, -bewuBtsein und -verhalten. Ein linearer Zusammenhang zwischen diesen 3 Komponenten laBt sich empirisch nicht nachweisen - Umweltwissen und -bewuBtsein

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8 M. Janicke et al.

fiihren nicht zwangslaufig zu engagiertem Umweltverhalten. Hieraus werden politisehe, piidagogisehe und massenmediale Konsequenzen abgeleitet.

ERNST-H. HOFF und THOMAS LECHER stellen in ihrem Beitrag "Okologisches VerantwortungsbewuJ3tsein" die Frage naeh der Angemes­senheit von UmweltbewuBtsein, insbesondere im Arbeits- und Berufsleben. SehlieBlieh werden die vieifaltigen handlungsleitenden Vorstellungen von Umwelt dem Gegenstand - z.B. den langfristigen Gefiihrdungen oder aber aueh dem eigenen Arbeitsprodukt - in untersehiedlieher Weise gereeht (ein Saehverhalt, der die Theorieansatze der Umweltforsehung nieht weniger betrifft). Es werden empiriseh getestete Kategorien einer entspreehenden Systematisierung vorgestellt.

JOBST CONRAD gibt in seinem Aufsatz eine Gesamteinsehiitzung des Zusammenhangs von "Technikentwicklung, Unsicherheit und Risikopolitik" und stellt diese absehlieBend in den umweltpolitisehen Kontext. Gerade hier gibt es kaum eine wirksame Kontrolle teehniseher Entwieklungsdynamik samt ihrer Folgeprobleme. Unsieherheit und Umweltprobleme in der Risikogesellsehaft werden daher eher zunehmen.

Mit der Frage, welche Hilfestellung die Philosophie bei der Suehe nach Handlungsorientierungen in der Umweltfrage zu bieten vermag, befaBt sieh der Beitrag "Ethik fur die Zukunft erfordert lnstitutionalisierung von Diskurs und Verantwortung" von DIETRICH BOHLER. Ausgangspunkt ist auch hier das Umwelthandeln unter Unsicherheitsbedingungen. 1m Hinbliek auf die erheblichen Risikopotentiale des Industriesystems wird als normative Leitlinie ein "in dubio contra projectum" vorgeschlagen.

3 Zurn Charakter dieses Bandes

In diesem Band stellen sieh mit Umweltforschung befaBte Fachwissen­sehaftler der Freien Universitat Berlin vor, einer Universitat, die vor allem in der Klimaforschung und in der sozialwissenschaftlichen Umweltpolitikfor­sehung eine lange Tradition hat. Die vorgelegten Beitrage sind aus einer Universitatsvorlesungsreihe im Winter 1993/94 hervorgegangen, die auf Initiative des Prasidenten, Prof. Dr. Johann W. Gerlach, durchgefiihrt wurde. Ihr Zweek war es, Forschung an dieser Hochsehule zu langfristigen Umweltveranderungen vorzustellen und interdisziplinar zu diskutieren. Die Vorlesung stieB auf ein reges Interesse bei Studenten und Lehrenden. Sie erwies sieh als ein lebendiger Beweis fur die Moglichkeit inneruniversitarer Vernetzung von Forsehungen. Die (annahernd vollstandige) Dokumen­tie rung der Vorlesungen in diesem Band mag aueh belegen, was immerhin, aueh unter dem Vorbehalt der skizzierten Unsieherheitsbedingungen, an Forsehungsaussagen moglieh ist. Mehr als einzelwissenschaftliche Bausteine zu einer integrierten, interdisziplinaren Sieht der langfristigen Umwelther-

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Einleitung 9

ausforderungen konnte dabei nicht herauskommen. Nach Lage der Dinge ist dies indes nicht wenig.

Dem Priisidenten der Freien Universitiit, der bis in die Vorbereitung hinein einen wesentlichen, engagierten und fachkompetenten Anteil an dieser Veranstaltung hatte, sei hiermit besonders gedankt.

Berlin, Januar 1995 MARTIN JANICKE

HANS-JURGEN BOLLE

ALEXANDER CARIUS

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Globaler Wandel ond Wasserverfiigbarkeit

Hans-Jtirgen Bolle

1 Einfiihrung

Auf den Kontinenten ist Wasser nur deswegen kontinuierlich verftigbar, weil ein kleiner Teil des tiber den Meeren verdunstenden Wassers standig durch Luftstromungen tiber jene getragen und dort Kondensations- und Niederschlagsprozessen unterworfen wird. Insgesamt werden so jedes Jahr etwa 39,700km3 Wasser von den Kontinenten importiert und tiber die Fltisse wieder ins Meer zurtickbefordert (Baumgartner u. Reichel 1975). Dies wtirde ausreichen, urn die 1,49· 108 km2 Landoberflachen gleichmaBig mit 261 mm Niederschlag pro Jahr zu versorgen. Die aus Messungen abgeschiitzte Menge des mittleren jahrlichen Niederschlages tiber den Kontinenten betragt jedoch 746 mm. Dies bedeutet, daB jedes Wassermolektil tiber den Kontinenten den Niederschlags-lVerdunstungszyklus im Mittel 2,86mal durchlauft. Ftir den Import des Wassers tiber die Kontinente sind zunachst die groBskaligen atmospharischen Zirkulationssysteme verantwortlich. Jedoch haben die Eigenschaften von Landoberflachen mit ihren Boden und Pflanzen groBen EinfluB auf die weitere Verteilung des einmal nieder­geschlagenen Wassers tiber die inneren Teile der Kontinente. Infolge der menschlichen Eingriffe in das System unterliegen die sich an den Landoberflachen abspielenden Prozesse Anderungen, die einerseits indirekt tiber den zunehmenden Treibhauseffekt und andererseits direkt durch Veranderung der Erdoberflache erfolgen. Urn die Darstellung dieser Pro­zesse in globalen Modellen verbessern zu konnen, ist es notwendig, sie mathematisch zu beschreiben. Die Grundlage dafUr bieten experimentelle Untersuchungen, in denen die fUr die Energie- und Stofftransferprozesse maBgebenden Parameter und ihre Abhangigkeit von Umwelteinfltissen gemessen werden.

Die zu den klimatischen Einfltissen hinzutretenden Veranderungen des kontinentalen Zweiges des Wasserkreislaufes durch direkte Eingriffe des Menschen in die kontinentalen Okosysteme werden sowohl von existenzsi­chernden Handlungsweisen als auch soziookononischen Interessen gesteuert, die weit schwieriger zu bestimmen und in Modelle einzubeziehensind als naturwissenschaftliche Fakten. Man steht hier einem physikalisch­biologischen System gegentiber, dessen Verstandnis wesentlich verbessert werden muS, urn die aufgrund der Kopplung zwischen dem globalen

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12 H.-J. Bolle

Klimasystem und den menschlichen Verhaltensweisen befiirchteten Veran­derungen diagnostizieren, quantifizieren und bewerten zu konnen. In diesem Beitrag kann dieses komplexe Problem nur in Grundziigen ver­deutlicht und exemplarisch behandelt werden. Dabei wird zuerst kurz auf die zugrundeliegenden und Veranderungen unterworfenen Prozesse einge­gangen, sod ann werden die moglichen Auswirkungen des zunehmenden Treibhauseffektes sowie die Umgestaltung der Erdoberflache durch den Menschen diskutiert, und schlieBlich wirft die Forderung nach einer globalen Analyse der Veranderungen die Frage auf, we1che Beitrage moderne MeBverfahren aus dem Weltraum dazu leisten konnen.

2 Der Wasserkreislauf als Teil des globalen Klimasystems

Der glob ale Wasserkreislauf wird durch die allgemeine Zirkulation der Atmosphare gepragt, deren Antriebsmotor der breitenabhangige Strahlungs­haushalt ist. In den Tropen absorbiert die Erde mehr Sonnenenergie als sie in Form infraroter Strahlung abgibt. In hohen Breiten ist das umgekehrt, hier wird im Jahresmittel mehr langwellige Strahlung emittiert als kurzwellige Strahlung vereinnahmt. Urn den standigen Energieverlust in den polaren Breiten im Jahresmittel auszugleichen, ist es notwendig, die iiberschiissige Energie aus den Tropen in hohe Breiten zu transportieren. Die Atmosphare lOst dieses Problem mit Hilfe groBraumiger Zirkulationssysteme. In den Tropen stromt Luft in der Nahe der Erdoberflache von beiden Hemispharen in Richtung auf den Aquator und nimmt dabei iiber den warmen Ozeanen das von deren Oberflachen verdunstende Wasser auf. Uber dem inneren Tropengiirtel in der Nahe des Aquators wird die feuchte Luft durch die Konvergenz aus beiden Hemispharen zum Aufsteigen gezwungen. Durch die aufgrund der Expansion der Luft verursachte Abkiihlung kondensiert der Wasserdampf. Die dabei freiwerdende latente Warme treibt die Luft unter weiterem Verlust von Wasserdampf in immer groBere Hohen, aus denen sie als trockene, sehr kalte Luft nach Norden und Siiden zuriickflieBt und langsam wieder absteigt, urn in tiefen Schichten erneut in den Kreislauf einbezogen zu werden. Der Kreislauf in dieser sogenannten "Hadley-Zelle" mit ihrer horizontalen Rotationsachse endet in etwa 30° nordlicher und siidlicher Breite, weil die Luft in dieser Breite aufgrund der Erddrehung in eine nach Osten gerichtete Stromung einmiindet. Wahrend des Absinkvor­ganges erwarmt sich die weiterhin trockene Luft durch die ohne Energiezufuhr ("adiabatisch") erfolgende Kompression und unterdriickt die Entwicklung konvektiver, das heiBt, sich durch die Einmischung feuchter Luftmassen in senkrechter Richtung bildende, Bewolkung und den damit verbundenen Niederschlag. Damit werden in diesen Breiten die klimatischen Bedingungen fUr die Entwicklung von Trockengebieten und schlieBlich Wiisten geschaffen. Uber die Prozesse Verdunstung von Meereswasser ~ Umwandlung der

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 13

latenten Energie in fiihlbare Wiirme durch Kondensation ~ Umwandlung der fiihlbaren Wiirme in potentielle Energie, verbunden mit adiabatischer Abkiihlung ~ Umwandlung potentieller Energie in fiihlbare Wiirme durch Kompression wiihrend des Abstieges ist die Energie aus den Tropen in das Gebiet der SUbtropen gelangt. Der weitere Transport dieser Energie in hohere Breiten wird von stehenden und wandernden Wirbeln iibernommen, die jetzt mit einer fast vertikal stehenden Rotationsachse einen Teil der warmen und sich wieder mit Feuchtigkeit aufladenden Luft aus den Sub­tropen iibernehmen und - entweder entlang groBriiumiger Druckgradienten oder von wandernden Tiefdruckgebieten bewegt - in hohere Breiten steuern. Gleichzeitig wird zum Ausgleich der Massenbilanz kiiltere Luft aus hoheren in tiefere Breiten verfrachtet.

Dieser groBriiumige atmosphiirische Wiirmetransport wird in der Nordhemisphiire durch Ozeanstromungen wie dem Golfstrom und dem analogen Kuroshio im westlichen Pazifischen Ozean unterstiitzt. Die in den tropischen Ozeanen in Form von Wiirme gespeicherte Sonnenenergie wird in hoheren Breiten im wesentlichen durch Verdunstung als latente Energie an die Luft abgegeben. Die wandernden Wirbel, in denen diese Feuchtigkeit wiederum zur Kondensation gebracht wird, sind die Tiefdruckgebiete, die fUr das sich stiindig iindernde Wetter in unseren Breiten verantwortlich sind. Der Transport ist insbesondere im Winterhalbjahr heftig, weil dann der Energiebedarf hoherer Breiten wegen der fehlenden Sonneneinstrahlung besonders groB ist. Dieser Bedarf wiirde in der wasserdampfarmen polaren Atmosphiire durch Ozonabbau noch gesteigert werden, weil dessen infra­roter Strahlungsanteil dann geringer sein und der Strahlungsverlust durch direkte Ausstrahlung tieferer Schichten in den Weltraum erhoht werden wiirde. Hier besteht also ein Zusammenhang zwischen der globalen Zirkula­tion, dem Wasserkreislauf und anderen Stoffkreisliiufen.

3 Der zunehmende Treibhauseffekt

Die allgemeine Zirkulation der Atmosphiire und damit der Kreislauf des Wassers wird durch die breitenabhiingige Verteilung der Strahlungsener­gie iiber den Planeten gesteuert. Eine Veranderung der geographischen Verteilung der solaren Einstrahlung, wie sie durch Schwankungen der Erdbahnparameter verursacht wird, fUhrt zu internen Veranderungen im System, die sich unter anderem in den Eiszeiten manifestieren (Berger et al. 1989). MaBgebend fiir die sich auf der Erde abspielenden Prozesse ist der ortliche Nettostrahlungsstrom, die Differenz zwischen einfallender und hinausgehender Strahlung. Diese wird im kurzwelligen Spektralbereich durch die Albedo p (das in den Halbraum gerichtete Reflexionsvermogen) und die Temperatur T bestimmt. Eine Anderung ~<l> des in Abb. 1 mit <l> bezeichneten Strahlungsflusses kann durch die Veranderung der Konzentra-

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14

~ _ 41tR2M

M - FLUSSDICHTE IN W/m 2

AUSGANGSZUSTAND So(1-p)/4 - aT:" - 0

TRANSIENTER ZUSTAND: S(1-p')/4- aT'!.- C(dT/dt)

ENDZUSTAND NACH 411>: SO(1-p)/4 - at!" - 0

G - OBERSETZUNGSFAKTOR (V~RSTARKUNGSFAKTOR)

F = RUCKKOPPLUNGSFAKTOR

H.-J. Bolle

Abb. 1. Auswirkungen einer Zunahme der Konzentration strahlungsaktiver Gase in der Atmosphare auf das Klimasystem; So = 1368 Wm~ (Solarkonstante). R Erdradius

tion von Gasen (~ Zusammensetzung der Atmosphiire in Abb. 1) verursacht werden, die im infraroten Spektralbereich absorbieren und emittieren, wie Kohlendioxid, Wasserdampf, Methan, Lachgas und Ozon. Die Erdoberfliiche erhiilt bei unveriinderter Sonneneinstrahlung, aber erhohtem atmosphiirischem COz-Gehalt, jedoch sonst unveriinderten Bedingungen Stnihlung aus bodenniiheren und somit wiirmeren Schichten der im infra­roten Spektralbereich jetzt optisch dichter gewordenen Atmosphiire. Aufgrund der sich erhohenden strahlenden Masse gibt aber auch die Strato­sphiire mehr Strahlung nach unten abo Der NettostrahlungsfluB <1>0 erhoht sich daher am Boden, und dieser erhiilt mehr Energie.

Anders sieht es am Oberrand der Atmosphiire aus. Durch die erhohte optische Tiefe im infraroten Spektralbereich gelangt jetzt Strahlung aus hOheren und damit im allgemeinen kiilteren Schichten der Troposphiire in den Weltraum. Die Energiebilanz am AuBenrand der Atmosphiire wird positiv. Dem System, dessen Energiebilanz am Oberrand der Atmosphiire bisher Null war, wird Energie zugefiihrt, der Speicherterm C(dT/dt) wird positiv (C: Wiirmekapazitiit, T: Temperatur, t: Zeit).

Bei einer Verdoppelung des COrGehaltes oder, wenn man die anderen strahlungsaktiven Gase hinzurechnet, des COrAquivalentes betriigt die Anderung des Nettostrahlungsflusses ~<I> an der Grenze zwischen Tro­posphiire und Stratosphiire 4,3 W m -2, wie man mit Hilfe sehr genauer physikalischer Strahlungsiibertragungsmodelle berechnen kann. Dadurch wird eine Erhohung der Temperatur an der Erdoberfliiche urn 1 ,2°C erzwungen. Das heiBt, die anfiingliche FluBiinderung urn ~<I> wird durch einen internen Ubertragungsmechanismus Go, wie in Abb. 1 angedeutet, in

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 15

eine Temperaturanderung AT "iibersetzt". Aufgrund seiner jetzt erhohten Temperatur gibt der Boden aber im infraroten atmospharischen DurchlaB­bereich ("Fenster", 8-12 ~m Wellenlange) mehr Warmestrahlung in den Weltraum abo Dadurch wird das urspriingliche Strahlungsdefizit am AuBen­rand der Atmosphare reduziert. Der durch den in Abb. 1 nach rechts gerichteten Pfeil charakterisierte Zustand war also nur ein voriibergehender: Das System strebt einem neuen Gleichgewichtszustand entgegen, wahrend sich Temperatur und Albedo (T' und p' in Abb. 1) andern.

Durch die Erwarmung der Erdoberflache und wegen des hoheren COr Gehaltes auch in der Stratosphare gehen jetzt aber wesentliche strukturelle Veranderungen in der Atmosphare vonstatten. Wegen der spezifischen Struktur der Erdatmosphare mit dem durch das Ozon bedingten Tempera­turmaximum in der mittleren Stratosphare wird das Emissionsniveau im Zentrum der COrBande bei 15 ~m in hohere und damit warmere strato­spharische Schichten angehoben. Die Stratosphare verliert dadurch mehr Energie als vor dem Zusatz von CO2 und kiihlt sich abo Am Erdboden wird die Konvektion erh6ht, der Temperaturgradient der Troposphare verschiebt sich in Richtung auf h6here Temperaturen. Zwischen der sich abkiihlenden Stratosphare und der sich erwarmenden Troposphare stellt sich die Tropopause, die Grenze zwischen Troposphare und Stratosphare, hin­sichtlich Temperatur und H6be neu ein. Auch kann die Troposphare jetzt wegen ihrer h6heren Temperatur bei gleicher relativer Feuchte mehr Wasserdampf aufnehmen, der den durch das zusatzliche CO2 bewirkten Effekt verstarkt, da er insbesondere die Ausstrahlung des Erdbodens in den Weltraum in dem relativ durchlassigen infraroten Spektralbereich von 8-13 ~m Wellenlange, dem "atmospharischen Fenster", behindert.

Die Temperaturanderung AT beeinfluBt viele andere, in Abb. 2 dargestellte, interne Parameter des terrestrischen Systems, die sich auf Strahlungsgr6Ben auswirken und StrahlungsfluBanderungen bewirken. Man spricht dann von einer Riickkopplung innerhalb des Systems, die durch einen Faktor F charakterisiert wird. Die Summe der durch die Riickkopp­lungen verursachten FluBanderungen iiberlagert sich der urspriinglichen Anderung, so daB sich diese jetzt aus 3 Termen zusammensetzt (Schlesinger 1989): die durch die COrZunahme dem System urspriinglich aufgepragte, die sich aus der TemperaturerhOhung der Erdoberflache ergebende und die sich aufgrund der Riickkopplung iiberlagernde. Stellt sich ein neues Gleichgewicht ein, so muB die Summe dieser 3 FluBanderungen Null sein, und die resultierende Temperaturanderung AT ist eine Funktion von Go und F. Fiir die Riickkopplung gibt es ein breites Spektrum von M6glichkeiten (s. Abb. 2), in dem aile Untersysteme mit unterschiedlichen Zeitkonstanten reagieren. Durch die dadurch bedingten gegeneinander zeitlich verschobenen ProzeBablaufe und deren Uberlagerungen ergeben sich im Gesamtablauf des Einpendelns in ein neues Gleichgewicht variable Zustande, die sich in Klimaschwankungen manifestieren. Die Stabilitat des Systems entscheidet dariiber, ob sich als neuer Mittelwert, urn den herum sich Pendelungen

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16 H.-J. Bolle

KRYOSPHARE EISSCHILDE MEEREIS GLETSCHER

OZEANE

HYDROSPHARE SEEN FLUSSE AQUIFER ATM: WASSER

MESOSPHAR.~ FdT Go·M> ATMOSPHARE STRATOSPtj.ARE

TROPOSPHARE GRENZSCHICHT

VEGETATION BIOSPHARE TIERWELT

MENSCHHEIT

PEDOSPHARE

LlTHOSPHARE REGOLITH FELS PLATTEN

Abb. 2. Die "Sphiiren" der Erde und einige Komponenten, die in' Riickkopplungsprozesse verwickelt sind

vollziehen k6nnen, ein dem ersten benachbarter Zustand einstellt, oder ob das System sehr weit aus seinem urspriinglichen Zustand verdrangt wird, wie beispielsweise wahrend der Eiszeiten.

Wahrend die primare, durch die Zunahme der "Treibhausgase" be­wirkte Temperaturerh6hung sehr exakt berechnet werden kann, lassen sich die Riickkopplungen nur mit Modellen der allgemeinen Zirkulation der Atmosphiire und der Ozeane annahernd berechnen, weil selbstverstandlich nicht aIle Prozesse mit der gleichen Prazision in solche Modelle eingebaut werden k6nnen. Aus Berechnungen mit verschiedenen globalen Klima­modellen haben sich denn auch in der Vergangenheit fUr den Riickkopp­lungsfaktor F Werte zwischen -5,4 und +2,5 ergeben, das heiBt, einzelne Modelle haben auch eine negative Riickkopplung signalisiert. Als ver­trauenswiirdigster Wert wird gegenwartig eine mittlere globale Tempera­turerhohung von 2,5°-3°C als Folge einer Verdreifachung der gegenwartigen COz-Konzentration angesehen, die bei gleichbleibender Anstiegsrate in etwa 100 Jahren zu erwarten ware.

4 Konsequenzen fur den Wasserkreislauf

In dem durch Abb. 2 veranschaulichten RiickkopplungsprozeB ist bei einer Zunahme der Temperatur mit einer Intensivierung der Verdunstung, einer gr6Beren Aufnahmefahigkeit der Atmosphare fUr Wasserdampf und einer Reduktion der Schneebedeckung zu rechnen. In der Tat deuten langere Modellaufe auf eine Intensivierung des hydrologischen Zyklus in dem Sinne hin, daB sich seine Komponenten im Laufe von 100 Jahren urn

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 17

5% (Cubasch 1994) bis 15% (Randall et al. 1993) versHirken werden. Uber die geographische Verteilung dieser VersUirkung liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Es gibt Anzeichen, daB in der mittleren Nordhemisphare die Winterniederschlage und tiber dem indischen Subkontinent die Som­merniederschlage zunehmen werden (Cubasch 1994).

Eine interssante Studie haben von Storch et al. (1993) fUr die iberische Halbinsel unternommen. Urn aus global en Modellsimulationen auf die Niederschlage in diesem raumlichen GroBenbereich schlie Ben zu konnen, haben sie die groBskaligen Druckverhaltnisse tiber dem Nordatlantik mit den Niederschlagsdaten der iberischen Halbinsel korreliert. Wenn man jetzt zuktinftige Modellszenarien entwirft und diesen die groBraumige Druckverteilung tiber dem Atlantik entnimmt, kann man auf die zuktinftige Entwicklung des Niederschlages tiber der Halbinsel schlieBen, wenn man voraussetzt, daB die Korrelation zwischen beiden auch in der Zukunft halt. Daraus deduzieren die Verfasser ftir die Zukunft eine auch bereits bisher beobachtete starke Variabilitat der winterlichen Niederschlage mit einer Quasi-Periode von 16-20 Jahren und leicht abnehmender Niederschlagsten­denz. Zu ahnlichen Aussagen tiber die Steuerung des kontinentalen Niederschlages durch Anderungen der Meeresoberflachentemperatur kommen auch Fontaine und Bigot (1993) fUr den Sahel. Wigley (1992) hat die Resultate von 4 Modellszenarien fUr verdoppelten COz-Gehalt ausgewertet und schlieBt fUr die mittlere mediterrane Breitenzone auf eine etwa 50%ige Wahrscheinlichkeit fUr eine Abnahme der Niederschlage im Winter, Frtihjahr und Sommer und eine wesentlich geringere Wahrschein­lichkeit fUr den Herbst.

5 Beobachtete Veranderungen

Vor dem Hintergrund der bisher nicht sehr belastungsfahigen Modell­aussagen tiber die zuktinftige Entwicklung des Niederschlages im Mit­telmeerraum sind die bisherigen Auswertungen von Daten zu sehen. Auf die Untersuchungen zur Temperaturentwicklung soli hier nicht eingegangen werden. Es gibt jedoch Hinweise auf andere sich moglicherweise anbahnende Veranderungen mit Auswirkungen auf den Wasserhaushalt (Amanatidis et al. 1993; Maheras 1988; Schonwiese et al. 1994). Die generelle Ten­denz der Ergebnisse von Klimamodellrechnungen ftir den europaisch­nordafrikanischen Raum sind Szenarien mit geringeren sommerlichen Niederschlagen im Mittelmeerraum und hoheren winterlichen Nieder­schlagen in Nordosteuropa (Houghton et al. 1990, 1992). Diese Tendenz wird teilweise durch Beobachtungen seit etwa 1960 gesttitzt. Anzumerken ist hier jedoch, daB sich viele dieser Aussagen auf die letzten 30-40 Jahre sttitzen, einen Zeitraum, der mit der Erholung des Klimas in unseren Breiten von einem Temperaturrtickgang zusammenfallt, der nach dem Durchlaufen

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18 H.-J. Bolle

des Temperaturmaximums von 1939/40 begann. Der davor liegende Temperaturanstieg zwischen 1917 und 1939 gehort zu den noch nicht verstandenen Phanomenen und ist wahrscheinlich den natiirlichen Schwankungen zuzurechnen, die sich aufgrund der Wechselwirkung zwischen den mit sehr unterschiedlichen Zeitskalen agierenden Untersystemen Ozean, Kryosphare (polare Eisschilde, Meereis und Gletscher) und Atmosphare einstellen. Es ware interessant, diesen Zeitraum mit dem von 1965 bis zur Gegenwart zu vergleichen, weil sich in diesen Zeitabschnitten Parallelitaten im Temperaturanstieg zeigen.

Erheblichen EinfluB auf den Wasserkreislauf hat das sogenannte "ENSO-Phanomen". Hierbei handelt es sich urn eine StCirung der Zirkula­tion im aquatorialen Pazifik, bei der der Auftrieb kalten Wassers aus tieferen Schichten des Ozeans vor der peruanischen Kiiste vermindert wird und sich warmeres aquatoriales Oberflachenwasser iiber groBe Gebiete des Pazifischen Ozeans ausdehnt (El Nino). Dieser Effekt geht Hand in Hand mit einer "Siidlichen Oszillation", einer Verschiebung der besonders starken aquatorialen Konvektionsgebiete (Tiefdrucksysteme) yom indonesischen Raum (1200 ostliche geographische Lange) zur Mitte des Pazifik (1800

Lange). Damit andert sich der Druckgradient zwischen Darwin (Australien) und Tahiti, da unter den Konvektionsgebieten jeweils tiefer Druck herrscht. Gleichzeitig werden vermehrte Niederschlage iiber Mexiko und Kalifornien sowie Diirren in der Sahelzone registriert. Auswirkungen scheinen auch auf andere Gebiete auszustrahlen. Dies zeigt, daB das globale Zirkulationssystem auf so\Che Temperaturerhohungen im Pazifik empfindlich reagiert, und es ist nicht ausgeschlossen, daB sich so\che "Temperaturimpulse" durch eine VergroBerung des Treibhauseffektes in Zukunft haufiger einstellen konnten.

Untersuchungen von Flohn (1992) deuten darauf hin, daB sich in den Tropen zwischen 1949 und 1990 die Oberflachentemperatur, der Feuchte­gradient, die Windgeschwindigkeit und die Verdunstung erhoht haben, was auf einen verstarkten Antrieb des Wasserkreislaufes in den Tropen hinweist. Uber dem Nordatlantik findet Flohn (1993a,b), daB sich der Druckgradient zwischen dem subtropischen Hochdruckgiirtel ("Azorenhoch") und dem subpolaren Tiefdruckgebiet ("Islandtief") im Mittel iiber den Zeitraum 1971-1991 (Zeitraum in der Nordhemisphare ansteigender Temperaturen) gegenuber dem Mittel 1951-1971 (Temperaturminimum der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts) urn etwa 5 hPa (Hektopascal: diejenige Einheit, die dem fruber gebrauchlichen Millibar entspricht) verstarkt hat. Diese Ergebnisse werden von Malberg und Bokens (1993) bestatigt, die uber die J ahrzehnte 1960-1990 fur die Traverse Azoren-Island stetig urn etwa 0,5 hPa/Jahr (=2,5%/Jahr) im Winter und 0,12 hPa im Fruhjahr anwachsende Gradienten findet. Wahrend der Sommer- und Herbstmonate ist diese Tendenz nicht vorhanden. Dieser Druckanstieg geht einher mit der Erwarmung des mittleren Nordatlantik urn im Kern 1 K westlich der Biskaya und einer Abkuhlung im Labrador-Becken urn etwa 0,5 K bei gleichzeitiger Erwarmung des Nordmeeres urn 0,2 K (Malberg u. Frattesi 1994), was

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 19

wiederum konform ist mit einem Riickgang des Meereises zwischen 500W und 600E (Abb. 3).

Die Konsequenz einer solchen Gradientverstarkung sind einerseits hOhere "geostrophische" Winde, die sich als Folge der Beschleunigung durch den Druckgradienten und der dann auf das bewegte Luftpaket aufgrund der Erddrehung einwirkenden sogenannten "Coriolisbeschleu­nigung" einstellen. Diese Luftstromung verlauft urn 90° gegeniiber dem Druckgradienten gedreht, also in ostliche Richtung. Dadurch wird in verstarktem MaBe feuchte Atlantikluft in Breiten nordlich von etwa 400N transportiert (Flohn 1993b). Andererseits wirkt eine Zunahme des Hochdrucks iiber dem siidlichen Mittelmeergebiet dem Niederschlag hier verstarkt entgegen. Uber eine Verlagerung des Hochdruckgiirtels ist dadurch noch nichts ausgesagt. Eine Verschiebung dieses Drucksystems nach Norden, wie es beispielsweise zur Zeit des Klimaoptimums und der Wiistenbildung in der Sahara vor 6000 J ahren der Fall gewesen sein muB (Lamb 1982), hatte den Effekt, daB der Mittelmeerraum starker unter den EinftuB des absinkenden Astes der "Hadley-Zelle" und damit in den Trockengiirtel geraten wiirde.

Obwohl also hinsichtlich des Einftusses des zunehmenden Treibhaus­effektes auf den Wasserkreislauf noch keine gesicherten Erkenntnisse bestehen, deuten Anzeichen auf eine Empfindlichkeit dieses Systems gegen­iiber Anderungen in der Kopplung zwischen Ozean und Atmosphare hin, die in der Zukunft Auswirkungen auf die gegeniiber Anderungen sehr empfindlichen mediterranen Okosysteme haben konnten.

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24 48 72 96 120 144 168 192 216 240 264 288312

MONATE SEIT JANUAR 1966

Abb. 3. Monatliche Eisbedeckung des Nordmeeres 1966-1992; 500 W bis 60oE, 12-Monats­Mittel und linearer Trend. (Nach Eckardt 1993, person!. Mitteilung)

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6 Den Wasserkreislauf steuernde Prozesse an den Landoberflachen

H.-J. Bolle

Motor des Wasserkreislaufes ist der die Erdoberftache erreichende Net­tostrahlungsstrom, der die Energie fUr die Verdunstung liefert. Diese Energiestrame werden in W /m2 gemessen. Fiir die Verdun stung einer Wassersaule von 1 mm/Tag wird pro Flacheneinheit eine Leistung von 29 W/m2 benatigt. Wenn die gesamte Strahlungsenergie in latente Warme (Wasserdampf, dessen Verdunstungswarme in Kondensationsprozessen wieder freigesetzt werden kann) umgesetzt werden wiirde, spricht man von potentieller, das heiBt maximal maglicher Verdunstung. Die tatsachliche Verdunstung hangt jedoch davon ab, wieviel Wasser an der Oberftache oder in den obersten Schichten des Bodens fUr die Verdun stung zur Verfiigung steht und ob sich iiber dem Boden ein Gradient der Wasserdampfdichte entwickeln kann. Ohne einen solchen Gradienten oder aber seitlichen Abtransport der feuchten Luft (wie beispielsweise am Ubergang zwischen trockenen und feuchten Gebieten) kann sich kein MassenftuB entwickeln.

Eine entscheidende Frage des Energiehaushaltes ist es, wie das Strahlungsangebot an der Erdoberftache in Warme umgesetzt wird. Wird viel fiihlbare Warme produziert, so erwarmt diese den Erdboden und die unteren Schichten der Atmosphare und macht sie dadurch fUr Wasserdampf aufnahmefahiger. Kondensation und Niederschlag werden unterdriickt. Wird der graBte Teil der Strahlung in latente Energie umgewandelt, so andert sich die Temperatur der Erdoberftache kaum: Der Atmosphare wird Wasserdampf zugefiihrt, der in graBeren Hahen kondensieren und lokal oder aber auch weit vom Ursprungsgebiet entfernt zu Niederschlagen fiihren kann. Fiir ein Volumen, in dem Energie umgesetzt wird, muB die Summe der Warmeftiisse (BodenwarmeftuB, fUhlbarer WarmeftuB, latenter WarmeftuB = Verdunstungswarme, absorbierte photosynthetisch aktive Strahlung und horizontaler Warmetransport) gleich der absorbierten Strahlungsleistung, dem Nettostrahlungsstrom, sein.

Die Strahlung am Boden setzt sich aus 4 Komponenten zusammen: der aus direkter und gestreuter Sonnenstrahlung bestehenden, nach unten gerichteten kurzwelligen Himmelsstrahlung, der an der Oberftache re­ftektierten nach oben gerichteten kurzwelligen Strahlung, der von der Atmosphare nach unten emittierten langwelligen Infrarotstrahlung und der von der Erdoberftache ausgestrahlten langwelligen Infrarotstrahlung. Vergleicht man den sich daraus ergebenden NettostrahlungsftuB ver­schiedener Klimazonen, so ergibt sich die zunachst iiberraschende Tatsache, daB dieser in tropischen Trockengebieten trotz starkerer solarer Bestrah­lungsstarke kleiner sein kann als in gemaBigten Breiten. Die Griinde dafiir sind einerseits die vergleichsweise hahere Albedo von trockenen Baden sowie andererseits die hahere infrarote Ausstrahlung aufgrund einer tagsiiber erhahten Bodentemperatur. Uber den beispielsweise in der Sahara haufiger vorkommenden dunkleren, lateritischen (eisenoxidhaltigen) Baden

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 21

wird zwar mehr Sonnenstrahlung absorbiert, dafiir ist hier aber auch mit weiter erhohten Temperaturen und dadurch bedingter hoherer infraroter Ausstrahlung zu rechnen. Hier haben wir einen naturlichen Kompensations­prozeB vor uns, der die Oberhitzung der Oberftache in Grenzen halt (negative Ruckkopplung).

Vegetation, die den Trockenklimaten angepaBt ist, wurde die Albedo insbesondere im sichtbaren Spektralbereich beeinftussen, im nahen Infrarot ist ihre Albedo haufig ebenfalls hoch (s. Abb. 4) . Auch hier wieder ein natiirlicher Kompensationseffekt: Die Pftanze braucht die photosynthetisch aktive Strahlung fur die Biomassenproduktion und wird durch eine hohe Albedo im nahen Infrarot davor geschutzt , zuviel Sonnenstrahlung absorbieren zu mussen, deren thermischer Effekt nicht durch Transpiration ausgeglichen werden konnte und somit zu einer Schadigung der Pftanze fiihren wurde. Bewachsener Boden, der sich auch aufgrund von vor­handenem Humus bereits haufig durch eine dunklere Farbe auszeichnet , nimmt folglich mehr Sonnenstrahlung auf, erwarmt sich jedoch nicht so stark, da die Energie in latente Warme umgewandelt wird.

8

Der BodenwarmeftuB hangt von Art, Warmeleitfahigkeit und Warmekapazitat der Boden ab, die wiederum eine Funktion des Was­sergehaltes sind, sowie von der daruber befindlichen Vegetation. 1m 24stundigen Tagesmittel ist er sehr klein, da er nachts seine Richtung

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WEUENLANGE (nm)

Abb.4. Reflexionsgrad und Albedo von Alfalfa; Vergleich zwischen voll entwickelten Pflanzen , gerade geschnittenen Feldern und dem unterliegenden Boden (Castilla-La Mancha)

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22 H.-J. Bolle

umkehrt. 1m Friihjahr und Friihsommer wird durch ihn der Boden erwarmt, und im Herbst und Winter gibt der Boden die Warme an die Atmosphare abo

Der latente WarmefluB ist immer dann groB, wenn der Boden einen hohen Feuchtigkeitsgrad besitzt oder die Vegetation sehr produktiv ist und einen hohen Wasserdurchsatz hat. Hier liegt ein Beriihrungspunkt mit anderen Stoffkreislaufen: Die biologische Aktivitat der Vegetation ist nur dann groB, wenn auBer dem Wasser auch Nahrstoffe und Mineralien vorhanden sind und Photosynthese erfolgt. Die dazu notwendige Menge des aus der Luft aufgenommenen Kohlendioxids bestimmt die Offnung der SpaltOffnungen der Blatter und reguliert damit auch den Wasserdurchsatz. Die von den Pflanzen aufgenommene photosynthetisch aktive Strahlung (PAR) ist nur ein kleiner Prozentsatz (2-3%) der Sonnenstrahlung im Spektralbereich 400-700 nm.

Wenn der Boden trocken ist und die Pflanzen unproduktiv sind, nimmt der fUhlbare WarmefluB hohe Werte an. In diesem FaIle heizt sich der Boden auf, da er seine Energie nur durch diesen WarmefluB und durch Emission infraroter Strahlung abfUhren kann. Das Verhaltnis des fUhlbaren Warmeflusses zum latenten WarmefluB wird "Bowen-Verhaltnis" genannt. Es ist ein MaB fUr den Grad der Austrocknung. Wah rend dieses Verhaltnis beispielsweise in semiariden Gebieten Spaniens mit entsprechender Vegeta­tion bei 2,5 liegt, ergeben sich iiber landwirtschaftlich genutzten Gebieten in der Hildesheimer Borde Werte unter 0,5. Dies zeigt die Abhangigkeit des Bowen-Verhaltnisses von den klimatischen Bedingungen.

Modelle sind he ute bei richtiger Vorgabe der Eigenschaften des Bodens, der Vegetation und der atmospharischen Grenzschicht (Wind, Temperatur­profil, Strahlung) in der Lage, die Energiefliisse zwischen Erdoberflache und Atmosphare korrekt wiederzugeben. Fiir den Fall eines mit karger mediterraner Vegetation bestandenen Gebietes sind die verschiedenen Warmefliisse und Temperaturen einmal als gemessene Werte und zum anderen als Ergebnis einer Modellrechnung in Abb. 5 dargestellt (Bliimel 1994, personl. Mitteilung).

7 Gro8raumige Untersuchungen der den Wasserkreislauf steuernden Landoberftachenprozesse

Die detaillierte Untersuchung der sich zwischen Boden, Vegetation und Atmosphare abspielenden komplexen Prozesse ist nur in kleinen Gebieten moglich. Urn den Ubergang zu Arealen zu finden, die mit den Gitterweiten globaler Modelle kompatibel sind, miissen die Energiefliisse fUr Gebiete von 104 _105 km2 aggregiert werden, ein ProzeB, der wegen der nichtlinearen Beziehungen zwischen Landoberflacheneigenschaften und Prozessen nicht durch eine einfache Mitteilung bewerkstelligt werden kann und daher auch

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 23

zu teilweise ganz anderen, vereinfachenden ProzeBbeschreibungen fUhrt als im kleinen Skalenbereich. Beispielsweise spielt in groBeren Gebieten der Wassertransport im Boden eine wichtige Rolle, der sich aber in langen Zeitraumen abspielt und das Verhalten der Vegetation bestimmt.

In einem sehr ebenen semiariden Gebiet Spaniens (Castilla-La Mancha) wurden grundlegende Untersuchungen fUr ein Gebiet von etwa 100 x 100 km2 durchgefiihrt (Bolle et al. 1993), das aber wiederum nur an 3 fUr die Landnutzung repdisentativen Punkten von etwa 10 km2 GroBe sehr dicht instrumentiert werden konnte. Die zur Verwendung kommenden MeBmethoden sind sehr aufwendig, miissen doch die Wassertransportvor­gange im Boden, in den Pflanzen und in der atmospharischen Grenzschicht simultan untersucht werden, urn einen konsistenten Datensatz zu erhalten, der es ermoglicht, detaillierte Transfermodelle auf ihre Leistungsfahigkeit zu iiberpriifen. In groBraumigen (mesoskaligen bis globalen) Modellen miissen die gefundenen Ansatze dann in vereinfachter Form ("parame­trisiert") reprasentiert werden. Das bedeutet aber, daB die iiber 40 Parameter, die zum Betrieb eines detaillierten Transfermodelles benotigt werden, durch ganz wenige flachenreprasentative ersetzt werden miissen. Dieser Vorgang der "Aggregation" von prozeBbeschreibenden Parametern kann nur mit Hilfe groBraumiger Information von Landnutzung, Albedo, Temperaturverhalten und Bewolkung durchgefiihrt werden. Dabei ist zu beachten, daB die einzelnen Parameter in nichtlinearer Weise in die mathematischen ProzeBformulierungen eingehen und somit im allgemeinen nicht mit einfachen Mittelwertbildungen gearbeitet werden kann.

Ein Aspekt der Erforschung von Landoberflachenprozessen konzentriert sich daher gegenwartig darauf, die Methoden der Fernerkundung fUr diese Zwecke heranzuziehen. Die sich dabei ergebenden Aufgaben fiihren in eine andere Richtung als die in dem Beitrag von Furrer dargestellten Beispiele, obwohl selbstverstandlich die Voraussetzungen fiir die Technik der Datenverarbeitung und Korrektur (beispielsweise fUr atmospharische Effekte) gleich sind. Stand dort die Identifikation von Landoberflachencha­rakteristika mit hochauflosenden multispektralen Systemen im Vordergrund, so geht es hier darum, aus den im Weltraum gemessenen spektralen Strahldichten GroBen abzuleiten, die direkt mit den an der Erdoberflache ablaufenden energetischen Prozessen und Modellparametern in Zusam­menhang gebracht werden konnen (beispielsweise Albedo, Temperatur, Bodenrauhigkeit, Vegetationsdichte) und die am Boden punktuell gewonnenen MeBergebnisse auf groBe geographische Raume zu iibertragen und fiir lange Zeitraume Datenreihen gleichbleibender Prazision zu gewinnen.

Die Qualitat der aus dem Weltraum zu erhaltenden Informationen kann punktuell durch detaillierte Messungen am Boden iiberpriift werden, die sich mit den relativ selten zu erhaltenden Daten hochauflosender Satel­litengerate wie dem "Thematic Mapper" auf LANDSAT vergleichen lassen. Aggregiert man diese hoch aufgelOsten Daten zu Flachen von etwa 1,4km2

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24

H. LE SenSlbler und lalenler WarmelluB: Messung und Modell ( 2 ···· ·,···· ...... ···"'· ... ·~~, ...... •· .. t·· "'"· f .. •· .... o-· .. ""*t .. • .. ··,·····t··-.-·_· ... ··.,· ... ···•· .. ··•···· ............ .... ·+--"-·1···.

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H.-J. Bolle

Orts­zeit [hI

Orls­zeil [hi

Abb. 5. Gemessene und modellierte Wiirmefliisse und Temperaturen fUr ein karg bewachsenes steiniges Gebiet in Castilla-La Mancha. Spanien . (Nach Bliimel 1994. person!. Mitteilung)

GroBe, so kann man diese Werte dann wieder mit den Messungen vergleichen, die von meteorologischen Satelliten stammen, die ein und dasselbe Gebiet zwar taglich, aber nicht mit der hohen Auflosung beobachten, die notwendig ist, urn Bodenmessungen mit den im Weltraum gewonnenen Daten zu vergleichen. Die Daten dieser Satelliten lassen sich dann aber fUr globale Langzeitstudien heranziehen.

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Globalcr Wandel und Wasserverfiigbarkeil

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Abb. 5. Fortsetzung

8 8eeinflussung des Wasserkreislaufes durch Aktivitaten der Menschen

Orl5-zeil [hI

25

Orls­zeil [hI

Die Beeinftussung des Wasserkreislaufes erfolgt einmal durch eine Veranderung der GraBen, die die Verteilung des Niederschlages auf verschiedene Speicher und die Verdunstung steuern. Der Niederschlag kann bereits durch die Veranderung der Kondensationskeime beeinftuBt werden,

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26 H.-J. Bolle

beispielsweise wenn im Zuge einer Desertifikation biogene Aerosole durch Sandaufwirbelungen ersetzt werden. Art und Menge der Vegetation bestimmt die Interzeption (Niederschlag auf Pflanzenteilen), die bei Baumen bis zu 50% betragen kann. Dieser Anteil des Niederschlages wird als erster wieder verdunsten. Fallt viel Regen auf den unbewachsenen Boden, so kann dessen Aufnahmevermogen durch Kompressionsvorgange beim Aufschlag der Tropfen verringert werden. Dies fiihrt zu einem verstarkten AbfluB an der Oberflache und zu Erosion. Abholzung, Brande und Uberweidung verandern die Vegetationsdecke und die Boden. Dadurch wird die Verteilung des Regenwassers auf Verdunstung, AbfluB an der Oberflache und Versickerung haufig zuungunsten der letzteren verschoben.

Eine andere Beeinflussung des Wasserkreislaufes erfolgt iiber die Entnahme von Wasser aus unterirdischen Speichern oder die Umleitung von Fliissen zum Zwecke der intensiveren landwirtschaftlichen Landnutzung in anderen Gebieten. Als ein Beispiel fiir das Zusammenwirken verschiedener Faktoren seien hier Untersuchungen angefiihrt, die in Castilla-La Mancha siidostlich von Madrid durchgefiihrt wurden. Die Hauptaquifere (was­serfiihrende Schichten) werden von den im Norden und Siiden Iiegenden Bergen gespeist, die unterirdischen wasserfiihrenden Schichten sind durch Verwerfungen voneinander abgegrenzt. Das Gebiet wird von mehreren F1iissen durchquert, die heute jedoch nur noch wenig Wasser fiihren, da ein GroBteil des Wassers durch einen Kanal abgezweigt und nach Siidspanien geleitet wird, urn dort Gemiise- und Obstanbau zu ermoglichen. Zugleich besteht groBes Interesse daran, das Gebiet wieder landwirtschaftlich zu entwickeln. Dies bedeutet aber eine Intensivierung der Bewasserung durch Installation tieferer Bohrlocher, die jetzt bereits auf dem Grunde des Aquifers angekommen sind. Die Folge davon ist ein standig absinkender Grundwasserspiegel. Uber dem Grundwasser befindet sich eine ungesattigte Zone, die auch fiir tiefgreifende Wurzeln zunehmend schwerer erreichbar wird. Der Boden trocknet aus, und die Verdunstung erfolgt wahrend des Sommers im wesentlichen iiber die Vegetation, die im Trockenanbau nur noch Wein zulaBt, der in groBen Abstanden gepflanzt werden muB. Durch diese Monokultur wird die Region wiederum sehr anfallig gegeniiber Nachfrageschwankungen und auslandischer Konkurrenz.

In giinstigeren Lagen wird durch die Bewasserung eine intensivere Landwirtschaft moglich, die das Grundwasser und damit iiber lange Jahre gespeicherte Wasserreserven zu einem sehr groBen Prozentsatz direkt an die Atmosphare abgibt. Wegen der starken Erwarmung des Bodens iiber dem angrenzenden trockenen Gebiet fiihrt dieses Wasser im Sommer kaum zu lokalen Niederschlagen. Es baut sich eine mit bis zu 3000 m hoch reichende atmospharische Grenzschicht auf, die sich mit Aerosolen fiillt. Von Westen und Siidwesten eindringende atlantische bzw. mediterrane Luft wird in dem sich bildenden Tiefdruckgebiet in der unteren Atmosphare zum Aufsteigen gezwungen, ohne daB es zu Niederschlagen kommt. Das Wasser wird aus diesem Gebiet somit wahrend des Sommers auch iiber die Atmosphare

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Globaler Wandel und Wasserverfiigbarkeil 27

exportiert. Ersatz erfolgt erst im Winterhalbjahr, wobei ein Teil des im­portierten Wassers bereits an den kiistennahen Gebirgen abgefangen wird.

Die geographische Lage spielt fUr die zu erwartenden Niederschlage eine entscheidende Rolle. So gibt es beispielsweise selbst in kiistennahen Regionen Italiens kleine, fast semiaride, meist landwirtschaftlich genutzte Gebiete (Guzzi 1981), die in ein niederschlagsreicheres Umfeld eingebettet sind. Hier werden die Luftstromungen, insbesondere Land-Seewind­Zirkulationen so kanalisiert, daB ein Niederschlag nur iiber den sich weniger stark aufheizenden und hOher gelegenen waldreicheren Gebieten moglich wird. Dabei spielen auch vorgelagerte gebirgige Inseln eine Rolle. Diese kiistennahen Ebenen besitzen wegen ihrer Landwirtschaft, der dart angesiedelten Industrie und dem expandierenden Tourismus eine groBe okonomische Bedeutung fUr die Regionen. Der steigende Wasserbedarf bewirkt einerseits eine Qualitatsminderung und steigende Verknappung des Trinkwassers, andererseits dringt Salzwasser yom Meer her in die Aquifere ein und fUhrt zur Versalzung der Boden. Allenthalben werden erhebliche technische Anstrengungen gemacht, die Auswirkungen des steigenden SiiBwasserverbrauches zu mildern. Solange sich Verbrauch und Nieder­schlagsangebot nicht die Waage halten, ist jedoch nicht mit einer dauerhaften Besserung der Situation zu rechnen. Nach dem friiher Gesagten ist jedoch, abgesehen von groBen quasiperiodischen Schwankungen, mit einem erhohten Wasserangebot im Mittelmeerraum in der Zukunft kaum zu rechnen.

9 Schlu8folgerungen

Die Prozesse, die die kontinentale Komponente des Wasserkreislaufes bestimmen, sind durch viele Untersuchungen in den vergangenen Jahren so weit erforscht worden, daB sie sich lokal mit Hilfe mathematischer Modelle zufriedenstellend beschreiben lassen. Regionale Zusammenhange sind qualitativ bekannt, jedoch erfordert ihre Anbindung an das globale System neue Methoden der Parametrisierung, an denen gegenwartig verstarkt gearbeitet wird. Es handelt sich dabei urn Probleme der "Skalierung", der in Abb. 6 noch einmal zusammengestellten Einzelprozesse zu einer modellmaBigen Beschreibung mit Hilfe von Parametern, die groBraumig, gegebenenfalls mit Hilfe der Fernerkundung, erfaBt werden konnen. Erschwert wird diese raumliche Integration durch die unterschiedlichen Zeitkonstanten der Untersysteme: Die unterirdische Verteilung des niedergeschlagenen Wassers, sein Aufsteigen zu den Pftanzenwurzeln durch die ungesattigte Zone, sein Speicherung in der Matrix und in den Poren der Boden, die sich verandernde Landnutzung und Wassertechnologie folgen anderen ZeitmaBen als die schnellen Prozesse in der Atmosphare. Je mehr die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse reifen, desto klarer wird

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28 H.-J. Bolle

WIRTSCHAFTLICHE GESICHTSPUNKTE KONSUMVERHAl..TEN

----'

--'

VERANDERUNG DER VEGETATION

• ART • DICHTE • ERTRAGE • RODUNG • OBERWEIDUNG • LANDNUTZUNGSANDERUNG • ARIDIFIZIERUNG • DESERTIFIKATION • VERSALZUNG

VERANDERUNG DER WASSER­AUFNAHMEFAHIGKEIT UNO DURCHLASSUGKEIT DER OClDEN

• EROSION • VERANDERUNG DER TECHNIK

DER BODENBEARBEITUNG • VERDICHTUNG • VERSIEGELUNG • BELASTUNG MIT FREMDSTOFFEN

-----------.~~--- -------

NIEDERSCHLAG VERDUNSTUNG

I -i--+---~- ATMOSPHARE ATMOSPHARISCHE

ZIRKLILATION

~ . ---"-- VEGETATION--"~_' ------+---1

BODEN

r VERFUGBARES SOSSWASSER

VERANOERUNG OER WECHSELWlRKUNG OURCH .H

SPEICHER: ________ -----'- OZEAN

VEAANDERUNG DES WASSERVERBRALICHS

• LANDWIRTSCHAFT (BEWAsSERUNG) ·INDUSTRIE

L-_F_L_O_SS_E_, S_E_E-"N",' E_IS_'_A_QU_'_FE_R_--1 -L EINDRINGENiVON ______ J SAlZWASSER • ENERGIEERZEUGUNG • TOURISMUS • HYGIENE • KOMFORT

Abb, 6. Beispieie fiir die Beeinftussung des Wasserkreislaufes durch den Menschen

es auch, daB das SiiBwasserproblem nicht nur hinsichtlich der hier iiberhaupt nicht behandelten Trinkwasserqualitiit, sondern bereits hinsichtlich seiner regionalen Verteilung, also Quantitiit, wesentlich von menschlichen Beweggriinden beinfluBt wird.

10 Zusammenfassung

Die Beeinflussung der global en Verteilung des SiiBwassers durch den Anstieg der Konzentrationen von Treibhausgasen in der Atmosphiire kann nur mit Hilfe von Klimamodellen untersucht werden, die es erIauben, den EinfluB des zunehmenden Treibhauseffektes von den natiirIichen Schwankungen und den Einwirkungen der Menschen auf den Wasserhaus­halt zu unterscheiden. Dies setzt die korrekte Darstellung derjenigen Pro­zesse voraus, die den hydrologischen Kreislauf regulieren. Die Erforschung dieser Prozesse macht die Durchfiihrung von Messungen in repriisentativen und aus Griinden des erforderIichen MeBaufwandes relativ kleinen Gebieten notwendig. Beobachtungen aus dem Weltraum miissen herangezogen werden, urn die in diesen Gebieten gewonnenen Erfahrungen auf die groBeren raum-zeitIichen Dimensionen zu iibertragen. Die Freie Universitiit

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Globaler Wandel und WasserverfUgbarkeil 29

Berlin beteiligt sich im Rahmen der europaischen Forschung uber Wustenbildung im Mittelmeerraum an Experimenten, die einer Verbes­serung der modellmaBigen Darstellung von Prozessen dient, die sich in semiariden Gebieten an den LandoberfHichen abspielen. Diese Prozesse werden aber auch von regionalen soziookonomischen Gegebenheiten beeinftuBt, die in Uberlegungen zur zukiinftigen Wasserverfiigbarkeit einbezogen werden mussen.

Dank. Die in dieser Veroffentlichung verwendeten Abbildungen 3-5 bzw. die diesen zugrundeliegenden Daten wurden von Mitgliedern der Arbeits­gruppe "Atmospharische Strahlung und Fernerkundung" des Institutes fUr Meteorologie der Freien Universitat Berlin beigesteuert.

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems

Karin Labitzke

1 Einfiihrung

In fast jeder Diskussion iiber Umweltprobleme, ob Treibhauseffekt, Grundwasserverschmutzung oder Uberschwemmungen, fallt friiher oder spater das Wort "Ozonloch" - jeder Laie benutzt es mit einer verbliiffenden Selbstverstandlichkeit. Obwohl er kaum wissen kann, was sich hinter dem Wort "Ozonloch" eigentlich verbirgt, fiihlt er sich laut Meinungsumfragen (in Deutschland) im Vergleich zu allen anderen Umweltproblemen von dem "Ozonloch" am meisten bedroht; und manche Presseberichte schiiren diese Angst, indem gelegentlich im Winter volIkommen unsachgemaB und falsch von einem "Ozonloch iiber Deutschland" berichtet wird.

In dem nachfolgenden Beitrag solI gezeigt werden, daB wir es mit einem besorgniserregenden langfristigen, bis in die Mitte des niichsten lahrhunderts andauernden Abbau des Ozons zu tun haben, der durch die Fluor­chlorkohlenwasserstoffe (FCKW), aber auch durch den Anstieg anderer anthropogener Spurenstoffe verursacht wird, und daB deshalb MaBnahmen ergriffen wurden, urn den Verbrauch dieser gefahrlichen Produkte zu reduzieren oder zu stoppen. Es solI aber auch kiargestellt werden, daB sich bei uns auf der Nordhemisphare bis jetzt kein "Ozonloch" ausbilden kann, so daB wir in Deutschland wahrend des ganzen lahres vor den Sonnenstrahlen keine Angst haben miissen, jedenfalls nicht mehr als un sere Vorfahren und nicht mehr, als wenn wir in den Siiden reisen.

2 Natiirliche Bildung und natiirliche Zerstorung des Ozons

Ozon ist die dreiatomige Form (03) des gewohnlichen Luftsauerstoffs (02).

Es entsteht im wesentlichen in der tropischen Stratosphare, in Hohen zwischen 20 und 30 km:

• Molekularer Sauerstoff (02) wird durch Photolyse, d.h. durch Absorption von UV-Strahlung mit Welleniangen unter 240nm (1 Nanometer = 10-9

Meter), in atomaren Sauerstoff (0) gespalten (s. auch Abb. 2):

UV-Strahlung + O2 ~ 0 + 0

Page 41: Umwelt Global: Ver¤nderungen, Probleme, L¶sungsans¤tze

32 K. Labitzke

• Der atomare Sauerstoff lagert sich an ein Sauerstoffmolekiil an, und es bildet sich Ozon (03) unter Teilnahme eines Katalysators (M):

o + O2 + M ~ 0 3 + M

netto: UV + 302 ~ 203

Das so gebildete Ozon absorbiert seinerseits UV-Strahlung zwischen 200 und 340 nm. Das meiste Ozon befindet sich in der Stratosphiire in Hohen urn 20 km. Diese Ozonschicht ist fiir uns in 2facher Hinsicht von groBer Bedeutung: Zum einen schirmt sie die gefahrliche Ultraviolettstrahlung der Sonne ab, welche ohne diesen Filter alles Leben auf dem Festland ausloschen wiirde. Zum anderen bewirkt die Energie dieser in der Hohe absorbierten Strahlung dort eine beachtliche Erwarmung, sie bildet die Strato- und Mesosphare und hat damit EinfluB auf die allgemeine Zirkulation der Atmosphiire (Fabian 1992).

1m natiirlichen photochemischen Gleichgewicht wird Ozon auch wieder zerstort:

• Ozon absorbiert Strahlung (UV-Strahlung und sichtbares Licht) mit Wellenlangen unter 1200 nm, und dabei zerfallt es wieder:

Licht + 0 3 ~ 0 + O2

• Natiirliche Kollisionen fUhren auch zur Ozonreduktion:

0 3 + O~ O2 + O2

netto: Licht + 203 ~ 302

In einer reinen Atmosphare sind diese Prozesse der Bildung und ZerstOrung des Ozons mit dem wichtigen ProzeB der Absorption der fUr Menschen schadlichen UV-Strahlung im Gleichgewicht.

3 Natiirliche Verteilung des Ozons

Die Produktion des Ozons findet hauptsachlich in der Stratosphiire in einer Hohe von 20-30 km iiber den Tropen statt, denn nur hier ist, bei hohem Sonnenstand, die Strahlungsintensitat fUr die Photolyse ausreichend stark. Von den Tropen wird das Ozon durch vorherrschende Winde in die mittleren und hohen Breiten abtransportiert. Abbildung 1 zeigt, daB in den Tropen, also gerade dort, wo die Sonne am hochsten steht, der Ozongehalt am geringsten ist. Das bedeutet, daB dort, in den Tropen und Subtropen, die UV-Strahlung aus 2 natiirlichen Griinden besonders stark ist:

• weil die Sonne hoch steht und damit der Weg fiir die Strahlung durch die Atmosphare kurz ist, und

• weil wenig Ozon vorhanden ist, welches die UV-Strahlung vorher absorbieren konnte.

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems 33

Abb. I. Globale Verteilung des Gesamtozongehalts (in Dobson-Einheiten, DU) im Jahresmittel , fUr den Zeitraum von 1979-1992. (Institut fUr Meteorologie , Freie Universitat Berlin , aus TOMS-Daten der NASA)

Nicht zutallig sind die Naturvolker in den Tropen meist dunkelhautig und damit an die starke Strahlung angepaBt - und nicht zufallig befinden sich "Traumziele" unserer Urlauber in diesen Regionen, da ja "Urlaubsbraune" bei uns eine Art Statussymbol ist.

Bei uns in Mitteleuropa haben wir im lahresmittel Werte des Total­Ozons (GesamtozongehaIt) zwischen 340 und 350 Dobson-Einheiten (DU) (s . Abb. 1). 1m einzelnen schwankt dieser Wert aber von Natur aus zwischen 200 und 500 Einheiten, wie im Abschnitt 6 noch ausfiihrlich beschrieben wird.

4 Anthropogene Ozonabnahme in der Stratosphare

4.1 Katalytische Ozonzerstorung

Modellrechnungen, die auch bisher von den Beobachtungen der letzten 10 Jahre bestatigt werden, sagen fiir die nachsten 50-60 Jahre eine globale Ozonabnahme von 2-3% pro Dekade voraus , wenn das Londoner

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34 K. Labitzke

Abkommen eingehalten wird (Abschnitt 8). Diese anthropogene Ozonabnahme wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von den chlor- und bromhaltigen Bruchstiicken der FCKW und der Halone (in Feuerloschern) verursacht. Aber auch erhohte N20 (Lachgas)- und CH4(Methan)-Konzen­trationen tragen iiber die aus ihnen entstehenden ozonabbauenden Kataly­satoren NO bzw. das OH-Radikal dazu bei. Eine schematische Darstellung zeigt Abb. 2. Als Beispiel eines ozonzerstorenden Gases ist hier Freon-12 dargestellt, entsprechendes gilt aber fUr aile FCKW, Halone, Methylchloro-

UV-Licht spaltet

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weiterhin zerstoren

Abb.2. Schematische Darstellung der Ozonbildung und der Ozonzerstorung durch Chloratome, die aus einem Freon-Molekiil freigesctzt wurdcn. (WMO 1992)

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Meteoroiogische Aspekte des Ozonprobiems 35

form, Tetrachlorkohlenstoff u.a. Die durch Photolyse oder auf dem Wege der OH-Reaktion freigesetzten Chloratome (Cl: Chlor) reagieren mit Ozon unter Bildung des Chlormonoxidradikals (ClO). Dieses wird durch Reaktion mit OH, NO und O-Atomen in Cl-Atome zuriickgefiihrt. Damit wird ein Kreis geschlossen, in dem ein einziges Chloratom viele tausend Ozonmolekiile zerstoren kann. Diesen Kreislauf nennt man "katalytische Ozonzerstorung" (fUr eine ausfUhrlichere Darstellung vgl. Fabian 1992).

Ein zusatzliches Problem besteht darin, daB die atmosphiirische Lebensdauer der FCKW und der anderen Gase 50 bis sogar 100 Jahre betragt, so daB der Chlorgehalt der Atmosphare selbst bei drastischer Reduktion der FCKW-Emissionen noch viele Jahrzehnte erhoht bleiben wird (vgl. hierzu Abschnitt 8, Abbildung 8).

Nicht nur die besonders von den Industrienationen hergestellten und benutzten FCKW sind auf das 5fache der natiirlichen Gesamtkonzentration angewachsen. Die Nahrungsmittelproduktion einer wachsenden Bevolkerung fUhrt zu der eingangs erwahnten Zunahme der Konzentration von Methan und Lachgas, dabei steigt der Methangehalt der Atmosphare z.Z. schneller als der Kohlendioxidgehalt. Ungefahr 70% des Methans stammen aus pftanzlichen und tierischen Quellen, wie Reisfeldero und Wiederkauero. Auch Lachgas wird in der Landwirtschaft bei zu stark gediingten Acker- und Grasftachen gebildet. Beide Gase bauen, wie beschrieben, iiber die aus ihnen entstehenden Katalysatoren, NO bzw. das OH-Radikal, Ozon ab, was letztendlich iiber die dadurch intensivierte UV-B-Strahlung eventuell auch zur Minderung der Eroten fUhren kann.

4.2 Ranmliche nnd zeitliche Unterschiede in den "Trends"

Insgesamt hat das Ozon in der Stratosphare in den letzten beiden Jahrzehnten urn etwa 2-3% pro Dekade abgenommen (Stolarski et al. 1992; WMO 1992). Diese Abnahme ist aber raumlich und zeitlich sehr unterschiedlich. In den Tropen und Subtropen, wo das Ozon iiberwiegend gebildet wird, sind noch keine signifikanten Anderungen aufgetreten.

Besonders deutlich ist dagegen der Ozonabbau iiber der Antarktis im Siidfriihjahr (September-November), wo im Bereich des sogenannten "Ozonlochs" mit einer Flache von ca. 15 Mio. km2 der Gesamtgehait des Ozons in dieser Jahreszeit auf etwa die Halfte des Wertes vor 1975 abfiel (vgl. Abschnitt 5).

In den mittleren und hoheren nord lichen Breiten wird eine Trendanalyse durch die groBe natiirliche Variabilitat besonders erschwert. Abbildung 3 zeigt fUr die Sommermonate Juni und Juli den zeitlichen Verlauf des Gesamtozongehalts und der Temperatur in der Stratosphare, die miteinander positiv korreliert sind. Dazu ist gestricheit die Sonnenaktivitat (als 10,7 cm Solar Flux) eingezeichnet. Aile 3 Kurven nehmen wahrend des Beobach­tungszeitraums einen ahnlichen Verlauf, und Ozon und Temperatur

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36 K. Labitzke

weisen 1986, im Minimum des lljahrigen Sonnenfieckenzyklus, ebenfalls ein deutliches Minimum auf. Dieser Zusammenhang zwischen Ozon, Tem­peratur der Stratosphare und Sonnenaktivitat ist inzwischen wissenschaftlich akzeptiert; d.h., wir werden im Maximum eines Sonnenfieckenzyklus immer etwa 3% mehr Ozon haben als im Minimum.

Die Schwankungen von einem Sommer zum anderen, die in Abb. 3 deutlich zu erkennen sind, hangen mit einer weiteren natiirlichen, quasi­zweijahrigen Schwingung zusammen.

In dem in Abb. 3 dargestellten Zeitraum fUhrten 2 gro8e Vulkanerup­tionen zu einer drastischen Erh6hung des stratospharischen Aerosols: EI Chichon/Mexiko, April 1982 (CH) und Pinatubo/Philippineri, Juni 1991 (P). Dies fUhrte in der Stratosphare zu einer starken Erwarmung (Labitzke u. McCormick 1992), daher liegt der Temperaturwert fUr Juni/Juli 1982 oberhalb der Skala. Die Erwarmung nach dem Vulkanausbruch des Pinatubo ist hier noch nicht zu erkennen, sie fand erst ab August 1991 statt.

Ozon Ozon

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P ... P+1

Abb. 3. Zeitreihen von fiiichengewichtetem Gesamtozon (DU, 0-65°N) und Temperatur der unteren Stratosphiire (OC, ca. 24 km H6he, 1O-900 N), sowie der Sonnenaktivitiit fiir die Nordsommermonate Juni und Juli, von 1979 bis 1993. (WBGU 1993, ergiinzt). Daten: Ozon: TOMS-Version 6, NASA, USA; Temperatur: Institut fiir Meteorologie, Freie Universitiit Berlin; Sonnenaktivitiit: World Data Center for STP, Boulder, CO, USA

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems 37

Das erhohte vulkanische Aerosol (es handelt sich urn kleine Schwefelsauretropfchen) fiihrt aber auch iiber heterogene Prozesse zu einer verstarkten Ozonzerstorung, wodurch die besonders niedrigen Ozonwerte 1983, d.h. ein Jahr nach der Eruption des El Chichon (CH + 1), und 1992, d.h. ein Jahr nach der Eruption des Pinatubo (P + 1), zu erklaren sind (Granier u. Brasseur 1992).

Die Ozonwerte des Sommers 1991, also vor einem Pinatubo-Effekt, sind genau so hoch wie zu Beginn dieser Zeitreihe. Ein Langzeittrend ist im Sommer fUr die Nordhemisphare also nicht zu erkennen.

1m Nordwinter nimmt die natiirliche Variabilitat von Ozon und Stratospharentemperaturen noch weiter zu (s. auch Abschnitt 6), und iiber Deutschland kann der Ozongehalt in wenigen Tagen zwischen 200 und 500 (DU) und die Temperatur zwischen -85°C und -40°C schwanken (Abb. 4), genauso wie der Luftdruck zwischen Hochs und Tiefs schwankt. Dies ist seit langem bekannt und da die Sonne im Winter tief steht, erreicht uns im

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Abb. 4. Tagliche Werte des Gesamtozons (DU), gemessen in Potsdam, und der Temperatur (0C) der unteren Stratosphare am Schnittpunkt 50oN/woE, analysiert vom Institut fUr Meteoro­logie der Freien Universitat Berlin. Zeitraum: 1. Nov. 1988-30. April 1989

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schwachen winterlichen Sonnenschein auch bei sehr niedrigem Ozongehalt nur sehr wenig UV-Strahlung: etwa ein Hundertstel der Strahlung, die einen Urlauber erreicht, der zur gleichen Zeit in den Tropen weilt.

Einen "Trend" festzustellen, ist in dieser Jahreszeit besonders schwer. Wie die Ozonwerte verschiedener Stationen in Mitteleuropa im Winter zeigen (Abb. 5), schwanken die Werte, die seit 1959 vorliegen, stark und deutliche Minima sind nach den groBen Vulkaneruptionen zu beobachten: 1964, nach der Eruption des Vulkans Agung auf Bali (Marz 1963), sodann 1983 nach EI Chichon und 1992 und 1993 nach Pinatubo. Es wird allgemein akzeptiert, daB die Eruption des Pinatubo urn ein Vielfaches starker war als die des EL Chichon und daB wesentlich mehr Material und Gase in die Stratosphare gelangten. Darum ist ein starkerer und iiber mehrere Jahre anhaltender Abbau des Ozons nach der Eruption des Pinatubo zu erwarten. Abgesehen von diesen durch natiirliche Faktoren erklarbaren Minima kann man bisher wohl kaum von einem signifikanten Trend sprechen: Die Werte von 1991 liegen genau so hoch wie 1960 (Abb. 5).

4.3 Auswirkungen eines Abbaus des stratospharischen Ozons

Eine Abnahme des Gesamtozons fiihrt zu einer Zunahme der zur Erdoberflache vordringenden UV-B-Strahlung der Sonne, was allerdings bisher nur in den hohen Breiten der Siidhemisphiire gemessen worden ist. 1m Gegensatz dazu konnte in den USA noch kein einheitlicher Trend der Veranderung der solaren UV-B-Strahlung festgestellt werden. Dabei muB beriicksichtigt werden, wie in Abschnitt 4.2 ausfiihrlich dargestellt, daB in mittleren und hohen Breiten die natiirliche Veranderung des Ozongehalts sowohl von Jahr zu Jahr als auch von Tag zu Tag sehr groB ist und daB die Natur und die Menschen daran gewohnt sind. Viele Pflanzen sind in der Lage, UV-absorbierende Substanzen zu bilden und somit tieferliegenden Zellorganellen Schutz zu bieten. Tropische Pflanzenarten, die der hochsten UV-Belastung ausgesetzt sind, sind offenbar besonders belastbar and damit angepaBt (Tevini 1992).

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Ozon uber MiUeleuro a

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Abb. 5. Gesamtozon (DU) iiber Mitteleuropa seit 1959: Mittel einiger Stationen fiir die Wintermonate November- Februar; gestrichelte Linien: natiirliche Schwankungsbreite von ±1O%. (Bojkov, person!. Mitteilung)

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems 39

Neben positiven Auswirkungen auf den Menschen, wie z.B. Vitamin-D­Bildung, verbessertem Sauerstofftransport im BIut oder giinstigen Auswirkungen auf die Psyche, sind eine Reihe gesundheitlicher Risiken bekannt. Ais akute Reaktionen bei zu vie I Sonnenstrahlung sind Erythem (Sonnenbrand) und Keratitis (Schneeblindheit) zu nennen, als Reaktionen mit langer Latenzzeit verschiedene Formen des Hautkrebses und der Kataraktbildung (Grauer Star). Da die Ozonabnahme bis jetzt auBerhalb der Antarktis noch gering war, ist nach allgemeiner medizinischer Auffas­sung die in vielen Uindern beobachtete Zunahme von Hautkrebs das Ergebnis einer verstiirkten Exposition der Haut in den letzten Jahrzehnten, insbesondere durch veriindertes Freizeitverhalten.

Pre sse mitteilungen berichteten von blinden Schafen in Patagonien und brachten dies voreilig mit dem "Ozonloch" in Verbindung. Inzwischen ist gekliirt worden, daB es sich urn eine Infektion handelte.

5 "Ozonloch" tiber der Antarktis

Es ist schon lange bekannt, daB der kalte antarktische Polarwirbel im Winter mit niedrigem Ozongehalt korreliert (Dobson 1963). Gleichfalls weiB man seit dem IGY (International Geophysical Year) 1957/58, daB die Friihjahrserwiirmungen mit dem dazugehorigen Ozonanstieg iiber der Antarktis erst im Oktober/November auftreten, also wesentlich spiiter als iiber der Arktis (vgl. Abschnitt 6).

Die Ausbildung eines extremen Ozonminimums mit Monatsmittelwerten unter 200 DU im Siidfriihjahr iiber der Antarktis, das sogenannte "Ozonloch", ist jedoch das Ergebnis anthropogener Luftverschmutzung. Die zum groBten Teil in der Nordhemisphiire produzierten und dort verbrauchten FCKW und Halone steigen in die Stratosphiire auf und werden dort unter dem EinfluB starker UV-Strahlung photolysiert (s. Abb. 2).

Sodann werden die aggressiven Bruchstiicke mit den vorherrschenden Windsystemen in die Polargebiete verfrachtet, und dort konnen sie unter bestimmten Bedingungen, die aber fast nur iiber der Antarktis gegeben sind, das Ozon besonders drastisch zerstOren (Abb. 6): In der Polarnacht (linker Teil der Abb. 6), bei besonders niedrigen Temperaturen in der Stratosphiire (unter -80°C) bilden sich polare, stratosphiirische Wolken (Polar Stratospheric Clouds, PSC), die aus gefrorenen Salpetersiiuretropfchen bestehen (1). An diesen Eispartikeln spielt sich eine sehr komplexe, "heterogene" Chemie ab, bei der das Chlor in Form von Clz und HOCI "aktiviert" wird (2). 1m Licht der aufgehenden Friihjahrssonne, also im September und Oktober (rechter Teil von Abb. 6), wird CI aktiviert (3). Das entstehende CIO wirkt katalytisch, d.h., es kann weiterhin Ozon zerstoren (4). Die extrem niedrigen Temperaturen sind nur im Inneren des sehr stabilen antaktischen Wirbels zu tinden, der wiihrend des gesamten

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40

--

im Dunkeln

Bildung von polaren stratospharischen Wolken:

HN03~H20

~ Aktivierung von CIX:

Stratospare

------------Troposphare

K. Labitzke

im Licht der aufgehenden Fruhjahrssonne

Bildung von CIOx: 0 CI 2+hv-2CI HOCI+hv_ OH+CI

CI+03-CIO+02

Katalytischer Ozonabbau:

CIO+CIO-CI2 0 2 CI 2 0 2+hv-2CI+02

CI+03-C10+ 0 2

--- 9km ---------

Abb. 6. Schematische Darstellung der Meteorologie und der Chemie des "Ozonlochs" iiber der Antarktis. (Enquete-Komission 1992)

Stidwinters die Zirkulation der antarktischen Stratosphare beherrscht. Nur in diesem Wirbel (polar vortex) wird das Ozon in der eben beschriebenen Weise zerstOrt.

Heute wird der oben skizzierte Ablauf einer gestorten Chemie, in der auBer Chlor auch Brom in der gleichen Richtung wirkt, allgemein akzeptiert; d.h., solange die Atmosphare mit Chlor u.a. belastet ist, mtissen wir in den Monaten September bis November mit der Ausbildung eines sehr starken Ozonminimums tiber der Antarktis rechnen (s. Abschnitt 8 beztiglich zuktinftiger Entwicklungen).

6 Verhaltnisse tiber der Arktis

6.1 Vergleich der Poltemperaturen

Auch tiber der Arktis gibt es im Winter einen kaiten stratospharischen Polarwirbel (mit verhaitnismaBig niedrigen Ozonwerten), der aber nicht so kalt und nicht so stabil ist wie der antarktische. Dies zeigt die Tempera­turstatistik in Tabelle 1.

Die extrem niedrigen Temperaturen tiber dem Stidpol werden in den Monatsmitteln des Nordpols tiberhaupt nicht erreicht. Die im Vergleich zur

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems

Tabelle 1. Monatsmitte1temperaturen [0C] in der Stratosphare (30hPa - 22km H6he)

Siidpol, Juli + Aug.

Juli: 66% <-91°C 33% -90/-86°C

Aug: 66% < -90°C 30% -90/-86°C

Nordpol, Jan. + Feb.

Jan: 50% -76/-800C 25% -75/-71°C 25% >-71°C

Feb: 15% -76/-800C 15% -75/-71°C 35% -70/-66°C 35% >-66°C

41

Sudhemisphare vollig andere Land-Meer-Verteilung erzeugt auf der Nordhemisphare eine ganz andere Wellenaktivitat in der Stratosphare, und diese Wellen sorgen dafiir, daB der arktische Polarwirbel nur selten so kalt und isoliert ist, wie es in Abb. 6 fUr die Entstehung der PSC gefordert wird. Djes ist nur gelegentIich fur einige Tage der Fall, und so findet die Aktivierung des CIX und, falls Sonnenlicht vorhanden ist, auch die ZerstOrung des Ozons nur fUr kurze Zeit statt, obwohl der Chlorgehalt genau so hoch ist wie uber der Antarktis! Entscheidend ist also der meteoro­logische Zustand der Stratosphare.

6.2 Das "Berliner Phanomen"

Die Meteorologie der Stratosphare wird in Berlin am Institut fUr Meteorologie der Freien Universitat Berlin (FU) seit 1950 intensiv beobachtet, analysiert und erforscht. Bereits 1952 entdeckte R. Scherhag an Hand von Messungen der institutseigenen Radiosonden, daB sich die winterliche Zirkulation in der Stratosphiire plotzlich umkehren kann, verbunden mit einer Erwarmung der Stratosphare von extrem niedrigen auf weit mehr als sommerlich hohe Temperaturen. Diese Entdeckung wurde als "Berliner Phanomen" bekannt und steht als solche im Brockhaus. Die Forschung in den nachfolgenden lahren zeigte unter Verwendung immer zahlreicher werdender Daten, daB es sich urn ein hemispharisches Phanomen handelt, das in seiner extremen Form zu einem Zusammenbruch des Polarwirbels fUhrt, zu einem sogenannten "major warming".

Die im Institut fUr Meteorologie der FU analysierten meteorologischen Stromungs- und Temperaturkarten (im 30-hPa-Niveau, d.h. in ca. 22 km Hohe) zeigen in Abb. 7 ein Beispiel fUr ein "major warming": Ende lanuar 1989 (Abb. 7a) ist der Polarwirbel mit vorherrschenden Westwinden stark ausgepragt und liegt mit seinem Zentrum (T) nahe dem Nordpol. Zugleich ist das Zentrum des Wirbels mit Temperaturen unter -85°C sehr kalt (Abb. 7b). In einem solchen Zustand ist der Ozongehalt im Wirbe! von Natur aus

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42 K. Labitzke

30hPa HOHE 24.1.1989 30hPa HOHE 24.2.1989

30 hPa TEMPERATUR [DC] 24.1.1989 30hPa TEMPERATUR

Abb. 7. a H6henkarte (Linien gleicher H6he zwischen 21,S und 23,6 km H6he) fUr das 30-hPa­Niveau; b Temperaturkarte (Linien gleicher Temperatur zwischen -85 und -45DC) fUr das 30-hPa-Niveau, beide fUr den 24. Januar 1989; c wie a, aber fUr den 24. Februar 1989, mit H6hen zwischen 22,4 und 24,1 km; d wie b, aber fur den 24. Februar 1989, mit Temperaturen zwischen -60 und -100e. (Analysen: Institut fUr Meteorologie, Freie Universitat Berlin)

sehr niedrig, denn die Stratospharentemperaturen sind mit dem Ozon positiv korreliert. Vergleicht man fUr diesen Zeitraum, Ende Januar, die bereits besprochenen Werte von Berlin/Potsdam (Abb. 4), so sieht man, daB wir uns auch in Mitteleuropa in einer kalten Periode mit niedrigen Ozonwerten befinden; das gleiche gilt fUr Oslo, wo ebenfalls Ozonwerte urn 200 DU gemessen wurden.

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Meteoroiogische Aspekte des Ozonprobiems 43

1m Veri auf des Februars 1989 entwickelt sich eine groBe Strato­sphiirenerwiirmung (Abb. 7d), die die winterliche Zirkulation vollig veriindert: Ende Februar finden wir einen geteilten Wirbel (Abb. 7c mit 2 Ts), so daB nun Siidwinde ozonreiche Luft aus mittleren Breiten in das Polargebiet transportieren. 1m Detail zeigen uns die Werte von Berlin/ Potsdam Temperatur- und Ozonanstieg (Abb. 4). Solche groj3en Strato­sphiirenerwiirmungen mit dem Zusammenbruch des Polarwirbels gibt es uber der Antarktis im Winter nicht.

In dem oben beschriebenen Winter war praktisch keine Gelegenheit fiir einen chemischen Ozonabbau iiber den in Abb. 6 beschriebenen Mechanismus gegeben. Die Aktivitiit der planetaren Wellen sorgt fast immer dafUr, daB das Nordpolargebiet nicht iiber einen liingeren Zeitraum so kalt bleibt. Die PSC-Bildung erfolgt nur iiber kurze Perioden, und nur in dieser Zeit ist eine gewisse Ozonzerstorung moglich. Oft sorgen die groBen Stratosphiirenerwiirmungen ("major warmings") schon mitten im Winter fUr den Zusammenbruch des Polarwirbels und damit fiir einen Transport von ozonreicher Luft in die Arktis.

Wie in Abb. 6 deutlich wird, benotigt man fiir den besonders markanten Ozonabbau auch die zuriickkehrende Sonne, und der Abbau des Ozons iiber der Antarktis ist besonders ausgepriigt im September und Oktober. Die vergleichbaren Monate fUr die Arktis sind Miirz und April. In diesen Monaten treten die extrem niedrigen Temperaturen wegen der oben beschriebenen Wellenaktivitiit nicht mehr auf.

7 Tropospharisches Ozon

Ozon ist ein giftiges Gas, das einen stechenden Geruch hat und die Schleimhiiute reizt. Es ist in der unteren Troposphiire normalerweise nur in geringen Mengen vorhanden, nimmt aber heutzutage durch Luftverschmutzung und besonders bei Episoden photochemischen Smogs in Ballungsgebieten mit hoher Kraftfahrzeugdichte und intensiver Sonnen­strahlung zu. Eine Ozonzunahme in der Troposphiire kann eine Abnahme in der Stratosphiire nur bedingt kompensieren, indem auch troposphiirisches Ozon UV-Strahlung absorbiert. Eine ausfiihrliche Behandlung der Chemie der Troposphiire findet man bei Fabian (1992) und im 1. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zu Globalen Umwelt­veriinderungen (WBGU 1993).

8 Ma8nahmen zur Reduktion des Chlorgehaits

Eine Abnahme des stratosphiirischen Ozons erhoht fUr viele Regionen der Erde die gefiihrliche UV-B-Strahlung, sie ist daher eine groBe Gefahr fUr die Menschheit, aile Landlebewesen und das Plankton. Die Volkergemein-

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Meteorologische Aspekte des Ozonproblems 45

schaft hat diese Gefahr erkannt, 1985 wurde das Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht unterzeichnet. Das die AusfUhrungsbestimmungen enthaltende Montrealer Protokoll von 1987 wurde im Juni 1990 in London und im November 1992 in Kopenhagen weiter verscharft (s. Tabelle 2) .

Abbildung 8 zeigt die fUr die Ozonzerstorung besonders verantwortliche Chlorkonzentration der Atmosphare, wie sie seit 1960 langsam angestiegen ist und wie sie sich verandern wird, je nachdem, welches Abkommen eingehalten wird: Deutlich erkennt man, daB das Protokoll von Montreal keinesfalls ausreicht und daB man unbedingt versuchen muB, das in Kopenhagen verscharfte Abkommen umzusetzen. Dann wurde, so sagen die Berechnungen, die Chlorkonzentration ab etwa dem Jahr 2000 nicht mehr steigen bzw. langsam abnehmen. Man halt den Wert von 2 (ppbv) fur den kritischen Wert fUr den Beginn (bzw. das Ende) des Auftretens des "Ozonlochs". In der untersten Zeile der Abbildung 8 ist der bisher beobachtete und der zu erwartende globale Ozonabbau bei Einhaltung der Londoner Vereinbarung in Prozent pro Dekade angegeben: Dieser Langzeittrend ist das eigentliche Problem!

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Globaler Ozonabbau

2 3 - 4 3 - 2 2 In % pro 10 Jahre

Abb.8. Entwicklung (seit 1960) und Prognosen (bis 21(0) der atmosphiirischen Chlorkonzentra­tionen gemiiB den zunehmend verschiirften internationalcn Abkommen (oben) ; globalc Ozonabbauraten pro Dckade bci Einhaltung des Londoner Abkommcns (unten). (WMO 1992)

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46 K. Labitzke: Meteorologische Aspekte des Ozonproblems

Deshalb muB alles versucht werden, daB die Regelungen, die den Ausstieg aus der Produktion von FCKW, HFCKW und Halonen vorschreiben, umgesetzt werden. Vor allem miissen Techniken fUr die Herstellung von Ersatzstoffen in den SchwellenUindern mitfinanziert werden, urn alle ProduzentenUinder der Dritten Welt beim Einhalten der Protokolle zu unterstiitzen.

Literatur

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Klimaanderung gefiihrdet globale Entwicklung. Economica Verlag, Bonn Fabian P (1992) Atmosphare und Chemie. 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York

Tokyo Granier C, Brasseur G (1992) Impact of heterogeneous chemistry on model predictions of

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Fernerkundung der Erde

Reinhard Furrer

1 Einfiihrung

Der fUr einen Menschen "erfahrbare" Bereich seiner Welt beschrankt sich auf den ihn umgebenden Lebensraum. Nur zu einem verschwindend geringen Teil reieht er, durch elektromagnetische Informationen im sichtbaren Spektralbereich, auch ein wenig in das Universum hinaus. Deshalb "sieht', der Mensch seine "Umwelt" im allgemeinen herausgelost aus dem Gesamtsystem.

Diese Unzulanglichkeit unserer he ute iiblichen Betrachtungsweise wird auch dadurch nicht geringer, daB es tatsachlich schwierig und oft unmoglich ist, das Gesamtsystem Erde-Universum quantitativ zu erfassen. Solches gilt selbst noch fUr das Teilsystem "Erde", wo wir ebenfalls nieht in der Lage sind, aIle wichtigen Charakteristika der Atmosphare, Hydrosphare, Biosphare und Geosphare vollstandig zu erfassen und vor aHem die Wechselwirkungen dieser Subsysteme untereinander zu verstehen. Deshalb sind auch Vorhersagen z.B. moglicher Klimatrends allenfalls vorlaufig und weit davon entfernt, die Wirklichkeit verlaBlich zu beschreiben (Warrick u. Jager 1989). Auch wenn die theoretische Behandlung globaler Transport­prozesse in der Erdatmosphare in mathematischer Hinsieht durchaus bereits fortgeschritten ist, sind solide Zukunftsprognosen durch das Fehlen der dazu notwendigen, nur experimenteH zu gewinnenden Parameter weiterhin unsicher. Selbst unsere Vergangenheit konnen wir heute noch nieht "nachrechnen" und z.B. noch nieht die aus arktischen Eisbohrkernen gewonnenen Informationen (Hutter 1991) iiber die abgelaufenen Klima­schwankungen der Vergangenheit "first principle" erklaren.

Dariiber hinaus sind naturwissenschaftliche Methoden zur Identifizierung der "okologischen Probleme unserer Erde" prinzipiell nicht ausreiehend. Denn obwohl Naturwissenschaftler zwar den jeweils aktuellen dynamischen Gleichgewiehtszustand irgendwann einmal durchaus verniinftig beschreiben und, unter der Annahme gewisser Randbedingungen, auch seine weitere Entwicklung (zumindest eine Zeit lang) vorhersagen konnen werden, ergibt sich daraus noch nicht die Festlegung des fUr den Menschen erstrebenswerten Gleichgewiehtes. Wie fUr einen Menschen seine "Umwelt" einmal aussehen soIl, muB (einvernehmlich) vereinbartwerden. Und bei diesem "Abkommen" darf nicht nur von den Gewohnheiten und Wiinschen unserer heutigen

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48 R. Furrer

Generationen ausgegangen werden, denn die Festlegung "wie unsere Umwelt einmal aussehen soU" ist selbst ein dynamischer ProzeB mit sich veranderndem Ausgang. Die heute oft nur vordergriindig gefUhrte Umweltdiskussion kann deshalb eigentlich nur auf die Frage reduziert werden, was der Mensch tun soU oder lassen muB, damit die Geschwindigkeit der Anderung des jeweils vorherrschenden Gleichgewichtes nicht seine eigene Anpassungsfahigkeit iiberschreitet.

Zur Beschreibung unseres gegenwartigen Gleichgewichtes und fUr verlaBliche Zukunftsprognosen benotigt man jedoch stets zeitlich und raumlich aufgeloste globale Langzeitdaten. Dies setzt den Einsatz von Sensoren und MeBapparaturen, die die Erde und ihre Atmosphare (und das WeltaU) kontinuierlich vermessen konnen, voraus. Mit weltraumgestiitzten Plattformen, SateUiten und durch Forschungsflugzeuge wurde dies moglich.

Die dabei angewandten Methoden und Verfahren werden heute unter dem Begriff "remote sensing" (Fernerkundung) verstanden. In diesem Beitrag werden einige der Verfahren in der Fernerkundung der festen Erde und der Ozeane beschrieben, wahrend im Abschnitt "Fernerkundung der Atmosphare" (einige der) Methoden zur Vermessung der LufthiiUe vorgesteUt werden.

2 Fernerkundung der Erde

In der Fernerkundung werden MeBdaten gesammelt, ohne daB ein MeBgerat oder ein Experimentator am Ort des Geschehens sein muB. Es ist deshalb ein Transportmechanismus notig, der die gewiinschten Informationen von der Erdoberflache zum entfernten MeB- oder Beobachtungsort transportiert. Auf der Erde wird hierzu (fast ausschlieBlich) die elektromagnetische Strahlung eingesetzt, da sich elektromagnetische Wellen zeitlich und raumlich ausbreiten. Beim "remote sensing" benotigt man demnach eine Strahlungs­quelle, die elektromagnetische Strahlung (von moglichst bekannter Intensitat und spektraler Verteilung) emittiert und einen Empfanger, der sie, nachdem sie mit der Erdoberflache in Wechselwirkung getreten ist, spektral (und moglichst auch raumlich) aufgelost registriert. Die von der Erdoberflache reflektierte Strahlung tragt dann, im Vergleich mit der primaren Strahlung, die Signatur ihrer Wechselwirkung mit der Erdoberflache. 1st diese Wechselwirkung dann auch verstanden und numerisch beschreibbar (oder stehen zumindest entsprechende Erfahrungswerte zur VerfUgung - ground truth), konnen aus Flugzeug- und Satellitendaten viele Charakteristika der Erdoberflache herausgerechnet werden (Elachi 1987; Lillesand u. Kiefer 1979).

Die auftretenden Schwierigkeiten sind auch sofort klar: Es muB eine fiir eine spezielle Fragestellung geeignete elektromagnetische StrahlungsqueUe zur Verfiigung stehen (W ellenlange), es miissen spektral und raumlich

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Fernerkundung der Erde 49

auflosende Sensoren iiber die Erde bewegt werden, und die elektro­magnetische Wechselwirkung mit der Erdoberflache muB beschreibbar (oder empirisch bekannt) sein.

3 Gewinnbare Informationen

Die (von der Erdoberflache) iibermittelten Informationen lei ten sich aus der Wechselwirkung der elektromagnetischen Strahlung mit der festen (fliissigen) Materie ab (Absorption, Emission, Streuung). Absorptions- und Emissions­prozesse verlaufen simultan zueinander, ihre Nettobilanz bestimmt, ob man von Emissions- oder Absorptionspektroskopie spricht. Werden z.B. Messungen im hellen Sonnenlicht durchgefiihrt, ist (meist) eine Absorption durch die Erdoberflache beobachtbar, wird dagegen Nachts (mit gekiihlten Instrumenten) gemessen, reicht oft die Temperatur der Erdoberflache (Albedo) aus, urn auch Emissionsspektren aufzeichnen zu konnen. Die "fingerprints" solcher Absorptions- und Emissionsspektren, also die Lage und die Intensitat der jeweiIigen Spektrallinien, verlieren aber ihre charakteristischen Eigenschaften beim Obergang freier Atome und Molekiile in einen Festkorperzustand: Wahrend Molekiile durch ihre Spektral­signaturen noch eindeutig identifizierbar sind, zeigen Festkorper im all­gemeinen schon Absorptionsbander bzw. -kontinua und erlauben nur noch eingeschrankt ihre Zuordnung zu bestimmten Materialen (beim sog. "schwarzen Korper" ist dessen materielle Zusammensetzung "per Definition" spektroskopisch nicht mehr feststellbar).

Unsere Erdoberflache verhalt sich in spektroskopischer Hinsicht ahnlich einem Festkorper. Viele Materialien zeigen jedoch weiterhin Linien, die von eingebauten Molekiilen (z.B. Wasser) herriihren und deren energetische Lagen sich durch den EinfluB des Gastgebermaterials charakteristisch verschieben (Elachi 1987). Auch biologische Substanzen zeigen noch Linienspektren, die vor allem auf Chlorophyllabsorptionen zuriickzufiihren sind: Abbildung la zeigt einige charakteristische H20-Absorptionslinien, wahrend in Abb. 1b das Reflexionsspektrum von griiner Vegetation im Sonnenlicht zu sehen ist, das eine ausgepragte Absorption im sichtbaren Spektralbereich (A. - 0,65 11m) und eine starke Reflexion im nahen Infrarot(IR)-Bereich zeigt. Die in Abb. 1b in den Kurven 1-3 noch erkennbaren feineren Strukturen konnen sogar dem biologischen AlterungsprozeB im jahrlichen Vegetationszyklus zugeordnet werden. Man sieht aus diesen einfachen Beispielen, daB sich die Wechselwirkung der Sonnenstrahlung mit unserer Erde durchaus dazu eignet, gewisse Eigen­schaften der Erdoberflache aus Spektraldaten zu extrahieren.

Welche Informationen im einzelnen jedoch konkret gewinnbar sind, hangt noch davon ab, bei welchen Frequenzen gemessen wird, da auch die Eindringtiefe der elektromagnetischen Strahlung in die Erdoberflache

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Abb. l. a Spektren einiger wasscrhaltigcr Mineralien. Die Markierungen zcigen Absorptionen durch eingebaute Wassermolekiilc. deren Lage sich durch den Einbau in die verschiedenen Mineralien in charakteristischer Weise verschiebt; b Reftexionsspektren eines (1) gesunden Blattes. im Verlauf des jahrlichen Alterungsprozesses (2-4) (Elachi 1987)

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Fernerkundung der Erde 51

frequenzabhangig ist (sichtbares Licht steht fast ausschlieBlich mit der ErdoberfHiche in Wechselwirkung, kurzwellige Mikrowellenstrahlung dringt einige Millimeter bis Zentimeter tief ein, Radiowellen noch tiefer). Die Starke der Wechselwirkung selbst ist ebenfalls frequenzabhangig, so daB durch eine geeignete Frequenzwahl auch zwischen verschiedenen Wechselwirkungsmechanismen (und iibermitteiten Informationen) selektiert werden kann.

In der Fernerkundung wird methodisch zwischen Gerateklassen unterschieden, die hauptsachlich raumliche (abbildende Spektrometer oder Imager), Intensitats- (Radiometer, Polarimeter, Scatterometer) und/oder spektrale (Spektrometer) Informationen liefern. Der Einsatz satellitengetragener Erdbeobachtungssysteme hat entscheidend dazu beige­tragen, daB - zumindest bis zu einem gewissen Grad - heute auch glob ale Informationen iiber un sere Erdoberflache vorliegen.

Die Datenauswertung lauft in der Fernerkundung nach einem immer ahnlichen Schema ab: Die von den Geraten auf ihren Plattformen aufgezeichneten raumlichen und/oder spektralen Daten miissen mit numerischen Verfahren auf die sie hervorrufenden Oberflacheneigenschaften zuriickgefiihrt werden. Wenn die Verarbeitung der groBen Datenflut von Satelliten auch weiterhin noch eine Herausforderung bleibt, ist sie dennoch ein primar nur technisches Problem. Die Dateninterpretation dagegen ist ein komplexes (semiempirisches) mathematisch/physikalisches Un­terfangen. Dies soli nun an einigen Beispielen, die im Institut fUr Weitraumwissenschaften der Freien Universitat Berlin bearbeitet werden, aufgezeigt werden.

4 Atmospharenkorrektur

Zur quantitativen Beschreibung der Wechselwirkung mit der Erd(Wasser)­Oberfiache, benotigt man eine moglichst genaue Kenntnis der Intensitats­und Spektralverteilung der einfallenden Strahlung. Diese wird bei ihrem Weg durch die irdische Atmosphare durch vielfaitige Wechselwirkungs­prozesse selbst beeinfluBt. Diese Effekte miissen moglichst genau bekannt sein und beriicksichtigt werden. In Abb. 2 ist die Strahlungsverteilung unserer Sonne zu sehen, wie sie auBerhalb der Lufthiille un serer Erde gemessen wird (Kurve 1). Bei ihrem Weg durch die Atmosphare wird diese von den dort vorhandenen Molekiilen absorbiert und gestreut. Die Kurven 1-4 zeigen, wie sich das Sonnenspektrum durch die verschiedenen Wechselwirkungsprozesse andert. Die Differenz zwischen Kurve 3 und 4 hat Molekiilabsorptionen zur Ursache, die durch Labormessungen weitgehend bekannt sind. Ihre Wirkungsquerschnitte hangen aber noch von der vorherr­schenden Temperatur und dem Druck abo Zwar kennen wir den grundsatzlichen Temperatur- und Druckverlauf in unserer Atmosphare

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52 R. Furrer

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Wellen lange [j.Jm]

Abb. 2. Anderung der spektralen Verteilung und der Intensitat des Sonnenlichtes bei seinem Weg durch die Atmosphare. I Strahlungsverteilung auBerhalb der Erdatmosphare, l' unterhalb der Ozonschicht, 2 Streuverluste an Luftmolekiilen 3 Streuverluste an Aerosolen, 4 Solarstrah­lung an der Erdoberflache

und konnen deshalb unter Verwendung sog. Atmospharenmodelle diese tatsaehliehen Molekiilabsorptionen bereehnen, zur konkreten Besehreibung einer realistisehen Situation miissen jedoeh versehiedene Atmospharenmodelle herangezogen werden, die den lokalen Besonderheiten Reehnung tragen. Datenbanken, in denen wiehtige Molekiildaten zusammengetragen und versehiedene Atmospharenmodelle integriert sind, sind heute in den meisten der einsehlagig arbeitenden Institute vorhanden (AFGL 1988 u. 1989).

Die Beriieksiehtigung der atmospharisehen Streuung an Molekiilen (Kurve 2) und an festen Teilchen (Kurve 3) erfolgt noeh semiempiriseh. Aerosole streuen Sonnenlieht abhangig von ihrer Konzentration und der GroBe der weehselwirkenden Teilchen. Da sie natiirliehe und anthropogene Ursaehen haben, ist es sehwierig, ihre jeweiligen GroBen­und Massenverteilungen (dreidimensional) anzugeben. In den Atmospharen­modellen werden deshalb Annahmen gemaeht, die von versehiedenen Aerosoltypen und von vorherrsehenden Siehtweiten ausgehen. Dies ist ein zwar nur grobes Verfahren, das sieh in der Praxis jedoeh durehaus bewahrt hat. Ohne auf weitere Einzelheiten der atmospharisehen Korrekturalgorith­men einzugehen, wird im folgenden jedoeh gezeigt, wie die Aerosolstreuung die Analyse von Oberftaehendaten beeinftussen kann.

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a

Fernerkundung der Erde 53

Die unterschiedlichen Aerosoltypen besitzen verschiedene optische Eigenschaften, und das von einem Satelliten gemessene Sonnenreflexions­spektrum (an der oberen Grenze der Atmosphare) hangt demnach vom Aerosoltyp abo Die Klassifizierung der Erdoberflache kann deshalb von der korrekten Annahme tiber die Aerosolwechselwirkung abhiingen. Dies ist in Abb. 3 (Krueger u. Fischer 1994) gezeigt. Die Klassifizierung von Thematic­Mapper-Daten ohne Atmospharenkorrektur ist in Abb. 3a zu sehen, wahrend in Abb. 3b die Korrektur vorgenommen wurde. Die lateralen Ausdehnungen der Oberflachenklassen verandern sich dadurch. Es bleibt deshalb festzuhalten, daB die Interpretation der von der Erdoberflache zurtickgestreuten elektromagnetischen Strahlung nur nach erfolgter atmosphiirischer Korrektur moglich ist. Diese Korrektur ist bei der Auswertung von Satellitendaten naturgemaB wichtiger als z.B. in FlugzeugmeBkampagnen.

VVatt Boden A. Vegetation Boden B VVasser

Abb.3a,b. Klassifizierung von Thematic-Mapper-Daten; a vor und b nach der atmospharischen Korrektur

b

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54 R. Furrer

5 Oberfiachensignaturen

Am Beispiel von MeBftugen, die yom Institut fur Weltraumwissenschaften (mit seinem MeBftugzeug CESSNA 207 A) mit einem abbildenden Spektrometer (CASI) durchgefUhrt worden sind (Institut fUr Weltraum­wissenschaften 1993), sollen nun Oberftachensignaturen ausgewahlter Testgebiete gezeigt und ihre Interpretation eriautert werden. Mit dem CASI-Spektrometer wurde reftektierte Sonnenstrahlung wellenlangenab­hangig uber verschiedenen landwirtschaftlichen Nutzungsftachen registriert. Abbildung 4 zeigt das Ergebnis fur brache Flachen, Wald, Weidegebiete und Wasser. Die Nutzungstypen (Klassen) konnen tatsachlich durch ihre Spektren voneinander getrennt werden, wobei die klassenspezifischen Unterschiede vornehmlich in gewissen Spektralfenstern gefunden werden. Das Spektrometer wurde auf die folgenden Spektralbereiche eingestellt (Tabelle 1).

Diese Auswahl erfolgte durch Vergleich der Spektren verschiedener Landnutzungsklassen (bzw. ihrer Unterschiede). Es ist unmittelbar klar, daB es gerade die Auswahl der geeigneten Spektralbereiche ist, die daruber entscheidet, ob mit Methoden der Fernerkundung die Beantwortung der gestellten Fragen moglich ist. Auf diesen Punkt wird spater zuruckge­kommen.

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Wellen lange

Abb. 4. Reflexionsspektren einiger ausgcwahlter Oberflachen (Brachc, Wald, Weidegebiet, Wasser)

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Fernerkundung der Erde 55

Tabelle 1. Ausgewiihlte Spektralbereiche des CASI-Imagers

Kanal

1 2 3 4 5

6 7

Wellenliinge [nm]

479,4-514,9 530,9-570,1 639,9-679,4 708,2-711,8 740,6-749,6

776,7-785,8 841,9-874,6

Bemerkung

Fur Bildrekonstruktion Fur Bildrekonstruktion Absorption von Chlorophyll a Rotkante IR-Absorption (Reftexionsplateau vor dem O2-

Absorptionsband) IR-Absorption (nach dem Oz-Absorptionsband) IR-Absorption

Die Klassifizierung z.B. einer Vegetationsoberfiache wird mit Hilfe des sog. Normierten Differenz-Vegetationsindex (NDVI) vorgenommen. Dieses Verfahren beruht auf einer Berechnung der Intensitatsunterschiede der refiektierten Strahlung in ausgewahlten WeIlenlangenintervaIlen. Da spektral neutrale Intensitatsschwankungen dabei unberiicksichtigt bleiben soIlen, wird diese Differenz normiert:

NDVI = (I5 - 13)/(15 + h)

Die digitale Bildinformation im abbildenden Spektrometer wird mit diesem Ausdruck prozessiert und den Bildpixels ihr derart berechneter Wert zugeordnet. Die so entstehende Wertematrix wird entweder farb- oder grauwertkodiert dargestellt. Ein solehes Bild ist in Abb. 5 wiedergegeben: Auf der linken Seite befindet sich ein aus den Kanalen 1-3 rekonstruiertes (natiirliches) Bild der Erdoberflache, die Mitte zeigt die Klassenbildung nach dem NDVI, wahrend rechts die Signatur der Oberfiache im thermisch­infraroten Spektralbereich zu sehen ist. Man kann erkennen, daB auch ein soleh einfacher Algorithmus wie der NDVI schon zu einer akzeptablen Oberfiachenklassifizierung bei vegetationsbedeckten Gebieten fiihrt und z.B. auch Oberfiacheninhomogenitaten in Wiesen erkennen laBt, die auf einer normal en Photographie unsichtbar bleiben.

So ermutigend dieses (einfache) Beispiel auch sein mag, jede weitere Verbesserung der Differenzierungsfiihigkeit erfordert bereits einen erheblich groBeren Aufwand. Dabei werden vornehmlich statistische Verfahren angewandt, bei denen bekannte Bodendaten und spektroskopische Eigen­heiten einander zugeordnet werden. Durch eine Hauptkomponentenanalyse wird dabei versucht, signifikante Korrelationen von gewissen Spektral­bereichen und z.B. Vegetationsklassen aufzufinden. Dieses "Ground­truth-Verfahren" wird in der Fernerkundung sehr haufig angewendet.

Stehen zusatzlich noch Daten weiterer Sensoren (die in anderen Spektralbereichen arbeiten) zur Verfiigung, werden diese nach weiteren Auffalligkeiten durchsucht und auch mit Hilfe sog. Geoinformationssysteme

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56 R. Furrer

Abb. 5. NDVI-Darstellung einer Szene (Mille) , die aus den in Tabelle 1 wiedergegebenen Kanalen rekonstruiert wurde

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Fernerkundung der Erde 57

(GIS) mit versehiedenen Oberftaeheneigensehaften korreliert. Eine solche "mehrdimensionale Versehneidung" von Informationen ist das eigentliehe Know-how jeder experimentell arbeitenden Gruppe.

6 Neuronale Netze in der Erdfernerkundung

Das groBte Problem in der Fernerkundung besteht darin, die klassen­spezifisehen Charakteristika von Spektren aufzufinden. Dazu miissen die Spektren bekannter Oberftaehen iiber einen mogliehst wei ten WellenHingenbereich auf spektrale Eigenheiten hin untersucht werden.

Abbildende Spektrometer konnen entweder Spektren aufnehmen, dabei aber nur in eingeschranktem MaBe geometrische Informationen liefern (sie konnen nur noch ihre Blickrichtung angeben), oder aber in festgelegten Wellenlangenfenstern mit guter Ortsauftosung arbeiten. Bei Flugzeug­kampagnen kann prinzipiell in diesen beiden Moden gemessen werden, bei Satellitenspektrometern ist dies nieht moglieh. Die dort eingesetzten Gerate arbeiten immer nur in vorher fest eingestellten Spektralbereichen, wobei stets Kompromisse zwischen den Wiinsehen verschiedener Arbeitsgruppen zu sehlieBen waren. Die meisten Spektralintervalle sind nieht notwen­digerweise fUr aIle Fragestellungen optimiert. Das "finetuning" von Spektrometern zukiinftiger Satellitengenerationen ist deshalb eine wichtige Aufgabe. Es werden auch mehr "dedicated satellites" ftiegen, wahrend viele der heutigen Systeme noeh eher einer breiteren Nutzergemeinde dienen.

Unabhangig vom Frequenzbereich bleibt die Auswahl geeigneter Spektralintervalle ein Verfahren mit vielen Parametern, da natiirliche Oberftachen eine groBe Variabilitat zeigen. In der Literatur findet man entsprechend viele Vorschlage. In neuerer Zeit wird in diesem Zusammen­hang auch versucht, para lie Ie Rechnernetze (neuronale Netze) einzusetzen.

Neuronale Netze sind nach dem (mehr oder weniger genauen) Vorbild des menschlichen Gehirns konzipiert (Ritter et al. 1991). Sie unterseheiden sich von den iibliehen (linearen) Rechnern dadureh, daB sie parallel arbeiten und ihre sog. Inputebene, auf die z.B. spektrale Intensitatverteilungen abgebildet werden, mit ihrer Outputebene, auf der z.B. die gesuchten Objektklassen reprasentiert sind, selbstandig verkniipfen. Dazu bedarf es eines Lernvorganges, der in Interaktion mit einem Experimentator erfolgt. Ein neuron ales Netzwerk programmiert sich selbst. Sein Vorteil besteht darin, daB es aueh komplexe Datenstrukturen miteinander vernetzen kann. Sein Naehteil liegt darin, daB sich die Kausalverkniipfungen im Netz zumindest teilweise der Kontrolle des Experimentators entziehen. Auch ist noch nieht klar, welche Netze fUr welche Aufgaben am besten geeignet sind. Dies ist noch eine Frage von "try and see".

Wir haben unsere CASI-Daten, die iiber einem von einem ausgedehnten Waldbrand zerstortem Gebiet in der Nahe von Berlin aufgenommen worden

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58 R. Furrer

sind, sowohl mit dem NDVI als auch mit einem neuronalen (KOHONEN)­Netz behandelt (Furrer et al. 1994). Das von uns eingesetzte Netz besteht aus einer Anzahl von Neuronen (mapping cortex), die miteinander in Wechselwirkung treten k6nnen. Die Neuronen verbleiben an ihren festen Orten, ihre Gewichtsvektoren (synaptic strength) k6nnen sich jedoch auf Position en im "sensorischen Kortex" ausrichten, der einen zweidimensionalen Raum darstellt, der aus den spektroskopischen Daten der Spektralkaniile 3 und 4 (Tabelle 1) aufgebaut wird. Innerhalb des Lernprozesses k6nnen sich die Gewichtsvektoren reorientieren. Ein Vergleich der Inputvektoren (Pixel der Spektralkaniile 3 und 4) mit den Gewichtsvektoren des virtue lien Netzes kann als "beste Repriisentation" der (spektroskopischen) Inputvektoren interpretiert werden. Werden sie farblich dargestellt, erhiilt man sichtbare Oberfliichenstrukturen. Das KOHONEN-Netz ist in der Lage, z.B. viele der Eigenschaften einer Brandzerst6rung wiederzugeben, wie sie auch in den NDVI-Daten sichtbar sind. Dariiber hinaus hat das Netz jedoch gelernt, daB es weitergehende spektrale Unterschiede und Ahnlichkeiten gibt, die yom NDVI nicht erfaBt werden, aus denen es weitere Klassen gebildet hat: So kann das KOHONEN-Netz zwischen der Autobahn (auf der kein pflanzliches Chlorophyll vorhanden ist) und einer durch Feuer verbrannten Vegetation unterscheiden (auf der ebenfalls kein Chlorophyll existiert).

Dieses Beispiel zeigt, daB parallele Rechnerarchitekturen ein durchaus taugliches Mittel sind, komplexere Korrelationen mit Spektraldaten aufzufinden. Neuronale Netze werden jedoch hauptsiichlich erst in der geometrischen Objekterkennung (pattern recognition) eingesetzt.

Es ist noch darauf hinzuweisen, daB neuronale Netze per definitionem nicht fehlerfrei sind und ihr LernprozeB von einem Experimentator unterstiitzt werden muB, der diesem sein "Wissen" zur Verfiigung stellt. Wie sich das Netz programmiert, ist fUr den Experimentator nur eingeschriinkt nachvollziehbar. Auch bleiben Netze, selbst wenn ihnen dieselben Eingangsdaten angeboten werden, stets "Individuen". Ferner ist die Auswahl der geeignetsten Netze problematisch, da es noch keine Rezeptur dafiir gibt, weJche Architektur fUr weJche Aufgabe am besten geeignet ist; und da das Ergebnis immer erst am Ende des jeweiligen Lernprozesses eingesehen werden kann und der LernprozeB selbst ein (oft) langwieriges Verfahren ist, ben6tigt man dazu vie I Zeit. Dieses Problem wird sich aber durch den Einsatz echt (und nicht nur simuliert) parallel arbeitender Prozessoren zukiinftig verringern.

7 Zusammenfassung

Unser Teilsystem Erde (mit seiner Atmosphiire) steht mit dem All (und hier vor allem mit der Sonne) durch den Austausch elektromagnetischer Strahlung in Wechselwirkung. Schon ein relativ kleiner Prozentsatz der

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Sonnenstrahlung reicht aus, den jeweiligen Gleichgewichtszustand einzustel­len und aufrechtzuerhalten. Jede Anderung im Gesamtsystem bewirkt immer einen anderen, geanderten Gleichgewichtszustand. Die Erde und ihre Atmosphare k6nnen deshalb nur in der Gesamtheit ihrer Wechselwirkungen verniinftig beschrieben werden. AIle Vorhersagen ben6tigen auch Annahmen iiber die (Veranderungen auf der) Erdoberftache. Dafiir miissen globale Bestandsaufnahmen gemacht werden, wofiir nur Fernerkundungsverfahren in Frage kommen.

Die Fernerkundung befindet sich, ingesamt gesehen, noch in ihren Anfangen. Neben der Entwicklung zunehmend intelligenter Sensoren und Plattformen muB vor allem die Interpretation der MeBdaten vorangetrieben werden. Dazu miissen auch unkonventionelle Wege beschritten werden. Der Einsatz neuronaler Netze wird uns wahrscheinlich dazu verhelfen, die groBe Zahl der verschiedenen Wechselwirkungen besser zu erfassen; und, bevor nicht zumindest die wichtigsten Prozesse auch mit verbesserten Modellen erfaBt und beschrieben sind, bleiben auch Trendprognosen noch mit groBen Unsicherheiten behaftet.

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Uber die Besonderheiten des Gro8stadtklimas am Beispiel von Berlin

Horst Malberg

1 Einfiihrung

Stadte verandern die Landschaft, nicht nur optisch, sondern auch hinsichtlich der physikalischen Eigenschaften. An die Stelle des natiirlichen Untergrundes tritt eine kiinstliche Anhaufung von Stein, Beton, Asphalt, Glas usw., an die Stelle natiirlicher Versickerung tritt eine groBflachig versiegelte Erdoberflache mit Kanalisation zur Wasserabfiihrung, an die Stelle von Strauchern, Biischen und Baumen treten Hauser, Tiirme, Fabriken, Maste. Eine veranderte Erdoberflache fiihrt aber zwangslaufig zu einer veranderten Wechselwirkung mit der Atmosphare, speziell mit der unteren, rund 1000 m machtigen sog. planetarischen Grenzschicht. Auswirkungen auf die Sonnen­scheindauer, die Strahlungsverhaltnisse, die Temperatur, die Feuchte, den Niederschlag und den Wind sind damit zwangslaufig. Daneben fiihren die hohe Einwohnerdichte in den Stadten, die industriellen Arbeitsplatze und der Verkehr zu einer anthropogen bedingten Zunahme von Luftbeimengun­gen, die zur Luftbelastung fiir Mensch, Tier und Pflanzenwelt werden kann.

DaB die Probleme des Stadtklimas aber keineswegs ein Phanomen der Neuzeit sind, ist schon bei Seneca (4v. Chr.-65n. Chr.) nachzulesen: "Sobald ich der schweren Luft Roms entronnen war und dem Gestank der rauchenden Kamine, dem aus ihnen quellenden RuB und den pestilenzartigen Dampfen, fiihlte ich eine Veranderung meines Wohlbefindens". Waren jedoch im Altertum Stiidte mit 1 Mio. Einwohnern oder mehr auf das alte Rom und Babylon zur Bliitezeit beschriinkt, so ist die WeltbevOlkerung von ca. 1 Mrd. zu Beginn unseres J ahrhunderts iiber 2,5 Mrd. urn 1950, 4 Mrd. urn 1975, ca. 5 Mrd. 1985 angewachsen und wird im Jahre 2000 die 6-Mrd.­Schwelle iiberschritten haben. Die Mehrheit der Erdbevolkerung wird dann in Stadten leben (Oke 1978). Nach einer neueren Prognose werden dies im Jahr 2025 9Mrd. Menschen sein (Ermer et al. 1994). Diese Zahlen belegen nur zu deutlich, welche Bedeutung dem Stadtklima in bezug auf die Lebensqualitat vieler Menschen zukommt.

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62 H. Malberg

2 Die Stadt als Warmeinsel

Durch die Ansammlung von Stein, Beton, Asphalt, Glas und Stahl werden die thermischen Eigenschaften der Erdoberflache verandert. Als Mittelwert fUr die spezifische Warme findet man fUr die Stadt 0,9· 103 J/kg K, fUr das Umland dagegen 1,8.103 J/kgK, d.h., die Stadt erwarmt sich bei gleicher Sonneneinstrahlung deutIich schneller, ihre Warmekapazitat (Masse· spezifische Warme) ist auch wegen der groBeren Masse merklich groBer. Ferner haben die Baumaterialien ein anderes Warmeleitvermogen als der Erdboden, so daB die Warme nicht nur oberflachennah gespeichert und dadurch abends langsamer wieder abgegeben wird; und auBerdem kommt es bei der abendlichen Warmeausstrahlung zu vielfachen Reflexionen in den StraBenschluchten zwischen den gegentiberliegenden Hauswanden, wahrend das Umland aufgrund des freien Horizonts durch nahezu unbehinderte Ausstrahlung viel rascher Warme "verliert".

Die Folge dieser Effekte ist, daB in Karten der Temperaturverteilung die Stadte wie warmere Inseln in einer kalteren Umgebung erscheinen. Katzer (1936) gab als Jahresmittel der stadtischen Ubertemperatur einen Wert bis 1,5 K an. In Abb. 1 ist fUr Berlin die mittlere Hochst- und Tiefsttemperatur im Sommer, in Abb. 2 fUr den Winter wiedergegeben. Wie man erkennt, sind die Unterschiede bei der Hochsttemperatur zwischen Innenstadt und AuBenbezirken gering. Der am Tage auffrischende Wind sowie eine turbulente Durchmischung der Luft sorgen fUr eine nahezu einheitIiche Hochsttemperatur im Stadtgebiet. Ein vollig anderes Bild zeigt sich bei der Tiefsttemperatur. 1m Sommer wie im Winter ist die Innenstadt im Mittel tiber aile Tage, also tiber aile Wettersituationen, deutIich warmer als die vergleichsweise wenig dicht bebauten AuBenbezirke bzw. das Umland.

a ~ ____________ ~~~~

Abb. 1. Mittlere Hochst- (a) und Tiefsttemperaturen (b) im Berliner Stadtgebiet im Sommer [0C]

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Uber die Besonderheiten des GroBstadtklimas am Beispiel von Berlin 63

~~ __________ -L~ __ ~ b

Abb. 2. Mittlere Hochst- (a) und Tiefsttemperaturen (b) im Berliner Stadtgebiet im Winter [0C]

Nachts "schHift der Wind" ein, und die Luft ist stabil geschichtet, d.h. weniger turbulent durchmischt, so daB die entstandenen Gegensatze erhalten bleiben.

Besonders groB konnen die Temperaturunterschiede zum Umland abends und nachts bei wolkenlosen und windschwachen Wetterlagen werden. Wie Tabelle 1 veranschaulicht, konnen dabei im Einzelfall Extremwerte von 6-12 K auftreten, und zwar in Abhangigkeit von der Einwohnerzahl, wobei diese allerdings nur als Synonym fur die GroBe, Bebauungsdichte und Struktur der Stadt zu verstehen ist.

Wie die zeitliche Entwicklung der klimatischen Ubertemperatur mit zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung verlaufen ist, wird in Abb. 3 veranschaulicht. Urn 1800 war die Bebauungsdichte im heutigen Berliner Stadtgebiet gering; zahlreiche Dorfer bestimmten das Siedlungsbild, und von einem speziellen Stadtklima konnte noch keine Rede sein. Mit der zunehmenden Bebauungs- und Bevolkerungsdichte setzte die Temperaturerhohung im dichter werdenden Stadtzentrum ein; Innenstadt

Tabelle l. Maximale Temperaturunterschiede zwischen Stadt und Umland

Uppsala Sheffield San Francisco Vancouver Montreal

Einwohner ( .103 ) Temperaturdifferenz [K]

63 500 784

1000 2000

6,5 8,0

11,1 10,2 12,0

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~--s

9,0

Abb.3. Temperaturverlauf in Berlin seit 1800 in der Innenstadt (5) und am Stadtrand (A)

und AuBenbezirk wiesen im Laufe der Zeit eine immer groBere Tem­peraturdifferenz auf; die Warmeinsel Stadt nahm an Intensitat zu. Wahrend somit der untere Kurvenverlauf die grundsatzliche klimatische Tempera­turentwicklung in Mitteleuropa seit 1800 widerspiegelt, ist der Gang des Klimas bei der oberen Kurve yom wachsenden Stadteffekt iiberlagert.

Die Ubertemperatur der Stadte fiihrt dazu, daB dort weniger Nebel, StraBenglatte und Schneefall auftritt als im Umland. AuBerdem ist infolge der h6heren Nachttemperaturen die Tagestemperaturschwankung kleiner. Da eine mittlere jahrliche Obertemperatur mitteleuropaischer GroBstadte von 2 K der Umlandtemperatur Oberitaliens entspricht, wird ferner verstandlich, warum sich mediterrane Pflanzen in unseren Stadten heimisch fiihlen und warum einige Zugvogelarten, z.B. Amseln, in GroBstadten iiberwintern, zumal ihnen dort geniigend Futter zur Verfiigung steht.

3 Feuchte, Wind und Niederschlag

In den Stadten wird die Erdoberflache In erheblichem Umfang durch Bauwerke, asphaltierte StraBen und Platze sowie gepflasterte Gehwege versiegelt. Wahrend im Umland 90-100% der Erdoberflache mit Vegetation bewachsen ist, sind es in den Stadten nur 10-50%. Beide Faktoren haben ihre Auswirkungen auf den Feuchtegehalt der Luft. Die relative Luftfeuchte, die ein MaB fiir den Sattigungsgrad der Luft mit Wasserdampf ist, liegt in der Berliner Innenstadt im Sommer bis zu 6% und im Winter durchschnittlich urn 2-3% unter den AuBenbezirkswerten. Die Stadt ist trockener, und zwar auch in bezug auf den absoluten Wasserdampfgehalt (in Gramm Wasserdampf pro Kubikmeter Luft).

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Uber die Besonderheiten des GroBstadtklimas am Beispiel von Berlin 65

Nachhaltig wird die anstromende Luft durch die sHidtischen Baukorper beeinftuBt. Der im Vergleich zum ftachen Umland erhOhte RauhigkeitseinftuB fiihrt dazu, daB die Luft einerseits abgebremst, anderseits aber teils boig­turbulenter, teils durch StraBenschluchten kanalisiert wird. AuBerdem fiihren die groBen Stromungshindernisse dazu, daB die Luft verstarkt nach oben ausweicht, also eine zusatzliche aufsteigende Bewegungskomponente erfahrt.

Die Stromungseinftiisse durch die Stadt ebenso wie ihre Eigenschaft als Warmeinsel wirken sich auf die Niederschlagsverhiiltnisse aus. In Abb. 4 ist am Beispiel von Berlin zu erkennen, daB der Tagesgang starker Schauer beeinftuBt wird. Wahrend in der Innenstadt 45% aller sommerlichen Schauer in den relativ warmen Abendstunden von 18-24h auftreten, sind es in den AuBenbezirken in diesem Zeitraum weniger als 30%; hier liegt die groBte Schauerhaufigkeit zwischen 12 h und 18 h MEZ; die starkere Abkiihlung der Luft im Umland nach 18 h laBt die Schauerneigung im Vergleich zur Stadt schon merklich zuriickgehen.

Abbildung 5 verdeutlicht, daB auch die Intensitat von Schauern beeinftuBt wird. Wahrend in der Innenstadt im Durchschnitt 2,6-2,7mm/ 10 min (I/m2 pro 10 min) pro Starkregen fallen, sind es in den AuBenbezirken weniger als 2,2 mm/1O min. Da sich gezeigt hat, daB jeder starke Schauer durchschnittlich in der Innenstadt wie in den AuBenbezirken mnd 11 mm gebracht hat, so bedeutet das: In der Innenstadt sind die Schauer intensiver, aber kiirzer, im Umland sind sie etwas weniger intensiv, dauern aber etwas langer.

Sehr komplex sind die Verhaltnisse beziiglich der Niederschlagsmenge. Wie die langjahrigen Klimabeobachtungen zeigen, befindet sich iiber dem

Abb. 4. Mittlere Haufigkeit [% 1 sommerlicher Schauer im Berliner Stadtgebiet

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Abb.5. Mittlere Intensitat [mmIlOmin] sommerlicher Schauer im Berliner Stadtgebiet

westlichen Stadtgebiet Berlins ein Niederschlagsmaximum mit rund 630 mm pro Jahr; tiber dem Innenstadtbereich werden nur 540 mm und tiber den 6stlichen Stadtgebieten wieder 630mm angetroffen. Wie. Abb. 6 veranschaulicht, ist diese Dreiteilung mit Unterschieden bis zu 100 mm im Jahresniederschlag auf 10 km Entfernung im wesentlichen durch die Orographie verursacht, obwohl die H6henunterschiede nur 30-100 m betragen. Da die Windrichtungen Stidwest, West und Nordwest zusammen am haufigsten und am regenreichsten sind, erzeugen sie im wesentlichen die Dreiteilung im Niederschlagsbild mit dem Minimum im dicht bebauten Spreetal. Oberlagert ist dieser Grundstruktur der Stadteffekt. Etwa 5% der Jahresniederschlagsmenge in Berlin erklaren sich aus dem StadteinftuB. Ftir andere Stadte sind bis zu 10% ermittelt worden.

4 Die Luftbelastung

Auch wenn Obertemperatur, reduzierte Feuchte und geringere Tag-Nacht­Schwankung der Temperatur herz- und kreislaufbelastend sein k6nnen, so kommt doch der Luftbelastung mit festen, fttissigen und gasf6rmigen Beimengungen in Stadten eine besondere Stellung zu. Die H6he der jeweiligen Konzentration ist dabei entscheidend fUr die Luftqualitat im Vergleich zum Umland. Neben Schwefeldioxid (S02) sind es vor aHem Stickoxide (NOx ), Kohlenwasserstoffverbindungen (KW) und Staub, die von Industrie, Kraftwerken, Gebaudeheizungen und Verkehr in die Stadtluft emittiert werden.

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Uber die Besonderheiten des GroBstadtklimas am Beispiel von Berlin 67

Orographie-Effekt und

Stadteffekt

Abb.6. Mittlerc Niederschlagsmenge [mm = 11m"] im Berliner Stadtgcbiet bei (geostrophischem) Westwind

Am Beispiel der SOT Verhaltnisse in Berlin sollen wesentliche Grundziige der Luftbe-lastung aufgezeigt werden. Unter dem Begriff Emission versteht man dabei die aus Schornsteinen, Hochkaminen, Auspuffrohren usw. freigesetzten Luftbeimengungen; unter Immission wird dagegen die Konzentration verstanden, die in den unteren Metern iiber Grund von uns eingeatmet bzw. dort von einem MeBgerat angezeigt wird.

Bei konstanter Emission in einem Gebiet hangt die Immission ganz wesentlich von der jeweiligen Wetterlage abo Grundsiitzlich gelten folgende Abhangigkeiten:

• von Windrichtung und Windstarke, • von der Existenz bodennaher Inversionen, • von der Temperatur.

In der Regel kann man sagen, daB westliche und nordliche Winde mit geringen, siidliche und ostliche Winde mit hoheren Luftbeimengungen verbunden sind. An stark windigen Tagen werden die Luftbeimengungen schneller abtransportiert und verteilt, so daB die Konzentrationen geringer sind als an schwachwindigen Tagen.

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Zeitlich anhaltende bodennahe Inversionen, also Schichten, in denen die Temperatur (entgegen dem allgemeinen Verhalten) mit der Hohe zunimmt, bilden sich nachts, vor aHem im Herbst und Winter. Sie verhindern, daB die Luftbeimengungen nach oben abgefiihrt werden, so daB sie in Bodennahe akkumulieren und die Luft immer "dicker" wird (sog. austauscharme W etterlage).

Die AuBentemperatur wirkt sich im Winter auf die Emission wie auf die Immission aus. Je kalter es ist, urn so mehr muB geheizt werden, urn so mehr Kohle, Gas und Heizol werden verbrannt, desto mehr S02 wird freigesetzt und erhOht die Emission. Da die Kalteperioden grundsatzlich mit den inversionsreichen Ost- und Sudostwinden auftreten, steigt auch die wetterabhangige Immission.

Abbildung 7 zeigt auf der Basis des LuftgutemeBnetzes des Senats von Berlin die mittlere jahrliche SOz-Konzentration (Immission) im Zeitraum 1976-1980. Wie man erkennt, nehmen die Werte von der Innenstadt zum Stadtrand deutlich ab, so daB in den AuBenbezirken die SOz­Konzentrationen nur halb so graB sind wie in der dichtbesiedelten Innenstadt mit rund 10.000 Einwohnern/km2. AuBerdem wird deutlich, daB der vom Gesetzgeber festgelegte Grenzwert fur die SOz-Dauerbelastung von 140llg1 m3 im Stadtzentrum z.T. deutlich uberschritten wurde.

Abbildung 8 gibt die SOz-Verhaltnisse in Berlin 10 Jahre spater wieder. Zwar ist die Struktur die gleiche geblieben, doch zeigt sich eine deutliche

Abb. 7. Mittlere S02-Verteilung [/lg] im Berliner Stadtgebiet im Zeitraum 1976-1980

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Abb. 8. Mittlere S02-Verteilung [Ilg] im Berliner Stadtgebiet im Zeitraum 1986-1990. (Kley 1994)

SOrAbnahme, wobei sich die Werte im Innenstadtbereich praktisch halbiert haben. Der Grund sind vielfaltige emissionsmindernde MaBnahmen, wie z.B. Filter bei Kraftwerken und Industrieanlagen, Verwendung schwefelar­mer Brennstoffe, Uberwachungen der Heizungen, Umstellung auf Fern­warme aus Heizkraftwerken.

Beim Jahresgang des SOrGehaltes in der Luft stehen relativ geringen Werten im Sommer hohe Konzentrationen im Winter gegeniiber. Diese sind zum einen durch die Industrie, Kraftwerke und Gebaudeheizungen und zum anderen durch die ungiinstigeren winterlichen Wetterlagen (Kalte, schwachwindig, Inversionen) verursacht. Mit dem deutlichen Riickgang der SOrKonzentration ist in den deutschen Stadten, vor all em in den alten Landern, die Wahrscheinlichkeit fUr das Auftreten von schwefeligem Wintersmog erheblich zuriickgegangen.

Ein Problem ist dagegen der sommerliche Ozonsmog, der auf die Emissionen von Industrie und Verkehr zuriickzufUhren ist. Vor allem durch die Zunahme des Verkehrs ist die Konzentration von Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen in der Luft nicht zuriickgegangen. Unter dem EinftuB von ultravioletter Strahlung entsteht aus Stickstoffdioxid und Kohlenwasserstoffverbindungen iiber eine komplexe chemische Reaktion der 3atomige Sauerstoff 0 3 , das Ozon. Dieses ist vor allem an den "Sch6nwettertagen" der Fall, wenn die UV-Strahlung bei wolkenlosem Himmel besonders intensiv ist. Dieses erklart auch, warum im Alpenraum

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in hoher gelegenen, verkehrsreichen Orten die sommerliche Ozonkonzen­tration besonders hoch ist. Ozon ist ein lungengiingiges Gas und fiihrt zu Reizerscheinungen der Atemwege und der Augen. Abends und nachts sinkt infolge fehlender Sonnenstrahlung die Ozonkonzentration wieder deutlich abo Daher lautet das Gebot bei Ozonsmog: moglichst keine schwere Arbeit und kein Sport in den Mittags- und Nachmittagsstunden.

So paradox es klingt, aber die hochsten Ozonkonzentrationen werden in der Regel nicht in der verkehrsreichen Innenstadt, sondern in den benachbarten Reinluftgebieten, z.B. in den benachbarten Wiildern, angetroffen. Die Ursache dafiir ist, daB vom Verkehr auch Stickoxid (NO) freigesetzt wird, das Ozon wieder zerstort. AuBerhalb der Stiidte, wo der Verkehr gering ist, werden die "Ozonwolken", die aus der Stadt mit dem Wind dorthin gelangen, daher tagsiiber kaum zerstort.

Wie die aktuellen Untersuchungen gezeigt haben, ist bei Ozonsmog die hohe Vorbelastung der heranwehenden Luft der entscheidende Faktor. Der hausgemachte Anteil in den Stiidten macht kaum mehr als 10-20% der Konzentration aus. Dieser Tatbestand ist verantwortlich dafiir, warum 10k ale MaBnahmen gegen den photochemischen Smog nur sehr begrenzte Auswirkungen haben konnen.

5 Schlu8betrachtungen

Die Stadt steht in einer sehr komplexen Wechselwirkung mit den unteren 1000 m der Atmosphiire, der sog. Grenzschicht. Sie entwickelt klimatologische Besonderheiten und unterscheidet sich in vielfiiltiger Weise vom liindlichen Umland. Fiir die Luftqualitiit ist es dabei wichtig, daB man bei der Urbanisierung bzw. der Stadterweiterung oder der Ansiedlung von Industrie und Kraftwerken den Erkenntnissen der Stadtklimatologie in vollem Umfang Rechnung triigt. Griinfliichen und Parks dienen nicht nur der Temperatur- und Feuchtestabilisierung, sondern sind auch hervorragende Staubfilter. Die Stadt im allgemeinen und die Verkehrsadern im besonderen brauchen eine gute Durchliiftung, d.h. Gebiiudekomplexe sind vor ihrer Errichtung darauf zu priifen, ob sie die Frischluftschneisen der Stadt beeintriichtigen.

Eine Stadt lebt von ihrer Industrie, ihrem Handel und Gewerbe und hat allein schon wegen ihrer Einwohnerdichte hohere Konzentrationen von Luftbeimengungen. ledoch lassen sich die Auswirkungen minimieren, wenn neben emissionsmindernden MaBnahmen auch die meteorologisch­klimatologischen EinfluBfaktoren beriicksichtigt werden.

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Literatur

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Ermer K, Mohrmann R, Sukopp H (1994)(Hrsg) Stadt und Umwelt. Economica Verlag, Bonn Katzer A (1936) Das Stadtklima. Braunschweig Kley M (1994) Die Schwefeldioxidbelastung von Berlin in Abhangigkeit von Wetterkriterien in

den Jahren 1986-1990 und ihre Entwicklung seit 1971. Diplomarbeit am Institut fUr Meteorologie der Freien Universitat Berlin, Berlin (unveroffentlichtes Manuskript)

Kraus H (1978) Stadt- und Landschaftsklima. Mitt Dt Meteor Ges Nr 7: 9-30 Malberg H (1994) Meteorologie und Klimatologie. Springer, Berlin Heidelberg New York

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Die Stadt als okologisches System

Gerd Weigmann

1 Einfiihrung

Die Entwicklung von Stiidten hat vielfiiltige Anderungen fiir Natur und Menschen mit sieh gebracht. In urbanen Riiumen gibt es Fliichen ohne jede Natur, die fUr Nutzungszwecke versiegelt und iiberbaut wurden. Die GroBstadtentwicklung hat auch die Lebenssituation des Menschen drastisch veriindert, aber das Bediirfnis nach Natur in seiner unmittelbaren Niihe besteht offenbar fort und wird in der stiidtischen Enge durch Balkonpflanzen, Zimmerpflanzen, Aquarien und Haustiere befriedigt. Die Entfremdung von der Natur kontrastiert also mit dem Bediirfnis, Natur zu erleben. Schon kleine Kinder zeigen eine starke Affinitiit zu naturnaher Umgebung, zu Pflanzen und Tieren. Dies ist jedoch nieht unbedingt ein Hinweis auf angeborene Naturpriigung, denn auch der Umgang mit Natur wird im soziokulturellen Kontext erlernt, vergleiehbar dem Umgang mit technischer Umwelt (Gebhard 1993).

Zu den psychosozialen Belastungen des Menschen in Stiidten kommen die physischen und gesundheitlichen Beeintriichtigungen durch Fremdstoffe aus Luft, Trinkwasser und Lebensmitteln. Viele dieser Belastungen des Stadtmenschen resultieren aus Eingriffen in seine ehemals natiirliehe Umgebung. Die Stadt ist das Ergebnis des Gestaltungswillens des wirtschaftenden Menschen; die Stadtumwelt ist also eher soziookonomisch als okologisch bedingt. Immer hiiufiger zu horende Forderungen nach langfristigen Umweltverbesserungen in Stiidten sowie Ansiitze zur Imple­mentierung solcher Konzepte konnen programmatisch als Forderung nach "Okologisierung der Stiidte" verstanden werden.

1m folgenden solI gefragt werden, welche Unterschiede zwischen natiirlichen Okosystemen und einem sogenannten "Okosystem Stadt" bestehen, und ob natiirliche okologische Prinzipien in Stiidten imitiert werden konnen, urn diese lebensfreundlieher zu gestalten. Aus naturwissen­schaftlicher Sicht sollen einige konzeptionelle Argumente genannt werden, die die soziookonomische StadtOkologiedebatte ergiinzen; denn eine Losung von Umweltproblemen der Einwohner von stiidtischen Ballungsriiumen ohne Beriicksichtigung ihrer biologischen Existenz und ihrer biologisch­okologischen Umwelt ist mir schwer vorstellbar.

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Zuerst wird deshalb eine Skizze des naturwissenschaftlichen Okosy­stemmodells gegeben, das auf natiirlichen Okosystemprozessen beruht. Dann wird ein Konzept der Landschaftsokologie referiert, das die Agrarlandschaft zum Gegenstand hat, urn schlieBlich zu hinterfragen, ob diese Konzeption auf GroBsUidte anwendbar ist.

2 Das Okosystemkonzept der Naturwissenschaften

2.1 Natiirliche Okosysteme

Okosysteme werden in der Biologie und in anderen Naturwissenschaften als das Ergebnis der Tatigkeit natiirlicher Lebensgemeinschaften in einem Landschaftsausschnitt mit bestimmten Boden- und Klimabedingungen verstanden. Die Populationen der in Okosystemen lebenden Organismen werden insgesamt als Biozonose (Lebensgemeinschaft) bezeichnet (vgl. Schaefer 1992). Sie organisieren natiirlicherweise die wichtigsten Okosy­stemprozesse wie Stoffkreislauf, Energiehaushalt, Auf- und Abbau Ie bender Substanz (Biomasse). In unserem Klima laufen diese Prozesse jahresrhyth­misch ab und wiederholen sich in einem stabilen Okosystem Jahr fUr Jahr in ahnlicher Oualitat und Dynamik. Natiirliche Okosysteme sind energie­sparend, d.h., fiir die Aufbauprozesse biologischer Substanz durch griine Pflanzen reicht die eingestrahlte Sonnenenergie aus. Anders ausgedriickt, es wird nur so viel produziert, wie Energiezufuhr oder Wasser- und Nahrele­menteverfUgbarkeit zulassen. Umbauprozesse und Abbauprozesse nutzen die in der Biomasse gespeicherte Energie, die letztendlich nach dem Abbau zum allergroBten Teil als Warmeenergie in die Atmosphare abgestrahlt wird, wahrend manche Nahrstoffe, wie Stickstoff, Schwefel oder Phosphor, von den die Biomasse produzierenden Pflanzen wieder aufgenommen werden. In natiirlichen Okosystemen besteht in dieser Hinsicht ein optimaler RecyclingprozeB.

Wahrend der Entwicklungsphase von Okosystemen durchlauft die Lebensgemeinschaft eine natiirliche Sukzession, indem Pionierarten zunehmend von soIchen Arten durch Konkurrenz verdrangt werden, die in das komplizierte BeziehungsgefUge komplexer Okosysteme besser hinein­passen. Optimal in eine Lebensgemeinschaft passen daher soIche Arten, die die speziellen Ressourcenangebote nach Menge und Oualitat nutzen und ihre Vermehrung biologisch riickgekoppelt an die begrenzten Um­weltkapazitaten anpassen konnen. Dadurch kommen stabile Artengemein­schaften und stabile abiotische Bedingungen fUr Okosysteme zustande.

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2.2 Anthropogene Okosysteme

Vor einigen Jahren wurden Lebensgemeinschaften, wie in Garten, Ackern, Baumplantagen, Parks und Fischteichen und auf urbanen Fiachen, nicht als Biozonosen im engeren Sinne bezeichnet, sondern als Technozonosen (Schwerdtfeger 1975). Dies begriindete sich aus der ehemals verbreiteten Lehrmeinung, daB nur seibstorganisierte Artengemeinschaften als Bio­zonosen zu bezeichnen seien, wahrend Gemeinschaften in den oben genannten Lebensraumen im wesentlichen durch technische MaBnahmen von Menschen gesteuert wiirden. Inzwischen wird in Lehrbiichern starker die natiirliche Regulationsfiihigkeit von Populationen auch auf anthropogen gestalteten Griinftachen hervorgehoben. Man spricht beispielsweise von Agrarbio­zonosen auf Ackern und von Agrookosystemen (vgl. dazu Bick et al. 1984).

Nutzftachen mit Vegetation, wie die oben genannten, werden durch technische MaBnahmen gestaltet oder hergestellt und auch an ihrer Weiterentwicklung im Sinne natiirlicher Sukzessionen gehindert. Auf einer Ackerftache wiirde sich beispieisweise eine Brachlandgesellschaft entwickeln, die mit der Zeit in eine Wiesen-Busch-Formation und letztlich in eine Waldformation iibergehen wiirde. Die Hauptnutzung durch den Menschen, d.h. die Ernte auf einem Acker, erfordert jedoch, daB eine "Pioniergesell­schaft" aus einjahrigen Nutzpftanzen bestehen bleibt. Diese anthropogene Steuerung erfordert zusatzliche Energie, die in der modernen Landwirtschaft sehr erheblichen Aufwand an techischen Geraten, Brennstoffen, Chemikalien und Arbeitskraft des Menschen benotigt.

Anthropogene-Systeme sind also weniger energiesparend als natiirliche. Dariiber hinaus wird ein natiirliches Stoffrecycling verhindert. Die expor­tierten Biomassen und Nahrelemente miissen dann in Form von Diinger den Systemen wieder zugefiigt werden, was weitere Energie erfordert. Wegen der disharmonischen Stoffhaushalte sind damit Belastungen der Umwelt, etwa durch Windverdriftung von Diinger und Pestiziden oder durch Versickerung solcher Pftanzenbehandlungsmittel in das Grundwasser oder Eintrag in benachbarte Gewasser, verbunden. Umweitbeiastungen aus der Landwirtschaft oder aus dem Gartenbau resultieren also aus unokologischen anthropogenen Steuerungsmechanismen.

2.3 Das Konzept der Landschaftsokologie

Natiirliche Landschaften bestehen aus einem Mosaik von natiirlichen Okotopen (Haber 1986). Unter Okotopen versteht man die geographischen Flacheneinheiten, auf denen sich Okosysteme bzw. Lebensgemeinschaften etabliert haben. Art, GroBe und Verteilung der natiirlichen Okotope resultieren u.a. aus naturraumlichen Qualitaten wie Hanglage, Ausgangs­gestein, Boden und Wasserversorgung. Vergleichbar findet man in der

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Kulturlandschaft verschiedene anthropogene Okotope vor, die yom Menschen bewuBt verandert bzw. gestaltet werden. Die Art der Okotope und ihre Gestaltung begriindet sich aus den Nutzungsanspriichen des Menschen.

Wegen der optimierten Stoffkreislaufprozesse in natiirlichen Okosy­stemen, also durch Recycling und optimale Stoffnutzung, sind die Stoff­exporte aus natiirlichen Okotopen minimal. Dies hat zur Folge, daB Nachbarokotope stofflich kaum belastet oder beeinfluBt werden. In speziellen Fallen, wie kleinen Seen oder Bachen, sind allerdings die natiirlichen Stoffimporte aus Nachbarsystemen erheblich; diese gehoren jedoch zu den natiirlichen Betriebsgrundlagen dieser Systemtypen.

In der Kulturlandschaft gibt es hingegen in unterschiedlichem Umfang unnatiirliche Stofffliisse zwischen den verschiedenen Nutzokotopen, die aus der in Abschnitt 2 angesprochenen Disharmonie und Fremdorganisation dieser Okotope herriihrt. Je intensiver die Nutzung einer Flache ist, desto starker sind die stofflichen Belastungen auch der Nachbarschaft. Stoffliche Belastungen verandern jedoch die Lebensgemeinschaften und die Standorts­qualitaten. In der modernen Agrarlandschaft findet sich demzufolge eine f1achendeckende Stickstoffeutrophierung und eine hohe Belastung der Boden mit verschiedenen Stoffen wie Schwermetallen und organischen Chemikalien aus Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Diese Stoffe werden wegen ihrer unnatiirlichen Herkunft und anthropogenen, hohen Konzentrationen als Schadstoffe bezeichnet, wenn Belastungen oder Schaden der Lebensgemeinschaften eintreten.

Eine yom Menschen intensiv genutzte Kulturlandschaft setzt also nicht nur erhohten Energiebedarf zur speziellen Steuerung und ErhaItung von Nutzokotopen voraus, sondern ist auch in modernen Industrie- und Agrarlandern fast zwangslaufig chemisch belastet und verandert. Viele dieser Belastungen schlagen iiber Atemluft, Trinkwasser und Lebensmittel auf die Menschen zuriick.

3 Die Stadt als anthropogene Landschaft

3.1 Die Struktur der Stadtlandschaft

In Stadten finden sich sehr unterschiedliche F1achen in bezug auf ihre Nutzung und das Vorkommen wildlebender Pflanzen und Tiere. Manche Flachen sind vollstandig oder nahezu frei von sich spontan ansiedelnden Tieren und Pflanzen. Dies sind Hauser und Hauskomplexe, StraBen und Bahntrassen mit kiinstlicher Bedeckung, intensiv genutzte Industrieflachen oder auch Sportplatze. Oft findet sich jedoch in der Stadt ein Anteil an "Restlandschaft" der die Stadt umgebenden Kulturlandschaft. Haufig sind dies Forst- und Wiesenflachen, die zur Naherholung genutzt werden oder

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nachtraglich zu Parks, Garten, Baumschulen, Friedhofen umgestaltet wurden. Daneben gibt es auch neu angelegte naturnahe Nutzflachen der genannten Typen. Eine dritte Gruppe stadtischer Flachen stellen solche, auf denen mehr oder weniger unbeabsichtigt Pflanzen und Tiere geduldet werden, etwa StraBenrander, Bahntrassensaume, brachliegende Baugrund­stiicke, Uferboschungen von Fliissen, Seen und Kanalen, industriell genutzte Flachen, Miilldeponien usw. (Sukopp u. Wittig 1993).

Akzeptiert man den Denkansatz, daB die Stadt ein Mosaik verschiedener Nutzflachen ist, unter denen auch solche mit naturnahem Zustand sein konnen, so bietet sich die Analogie zwischen Stadt und Kulturlandschaft an. Stadtische Kulturlandschaft unterscheidet sich von Iandlicher durch einen hoheren Grad an menschlichem EinfluB, durch einen geringeren Anteil an Flachen mit natiirlich entwickelten Lebensgemeinschaften und durch spezifische StadtOkotope. Eine Stadtlandschaft in diesem Sinne ist also genauso charakteristisch wie eine Agrarlandschaft. Ihre Teilflachen (Okotope) sind jedoch vergleichsweise starker durch anthropogene Stoff­und Energiefliisse miteinander verbunden.

Die Stadteplanung hat die Aufgabe, Kompromisse zwischen diversen, oft konkurrierenden Nutzungsanspriichen zu finden. Stadteplanerische Probleme ergeben sich u.a. aus ungesteuerten Stadtentwicklungen in der Vergangenheit, aus veranderten soziookonomischen Erfordernissen und aus Veranderungen der Verkehrstechnik und der Industrieproduktion, was sich vor allem als massiver Bedarf an Siedlungsflachen auBert. Flachennut­zungsplane dienen dementsprechend einer planerischen Neubestimmung von Flachennutzungen und ihrer raumlichen Organisationen. Dabei diirfen jedoch auch solche umweltpsychologischen und umwelthygienischen Bediirfnisse der Menschen nicht ignoriert werden, die, pauschal gesagt, eher durch mehr Natur in der Stadt befriedigt werden konnen - von Fragen des Stadtklimas, des Vorhandenseins von Versickerungsflachen etc. ganz abgesehen.

Heute wird zunehmend auch der Naturschutz in der Stadt diskutiert (wie ja auch nach § 1 des Bundes-Naturschutzgesetzes Natur und Landschaft "im besiedelten und unbesiedelten Bereich" zu schiitzen sind). Es geht ins­besondere urn die Erhaltung von sich spontan entwickelnden Lebensge­meinschaften von Pflanzen und Tieren auf fUr langere Zeit nicht genutzten FIachen (Sukopp 1990). Die Naturschutzproblematik stellt sich in der Stadt in vergleichbarer Weise wie in der Hindlichen Kulturlandschaft: Die Biozonosen sind eigentlich keine natiirlichen, weil sie sich unter dem intensiven EinfluB aus ihrer Umgebung in spezieller Weise entwickelt haben.

Interessanterweise gibt es aber sowohl in der landlichen Kulturlandschaft als auch auf stadtischen Griinflachen eine Reihe von Tier- und Pflanzenarten, die in Mitteleuropa nur diese Okotope besiedeln konnen (Sukopp u. Wittig 1993). Sie stammen meistens aus trockeneren und warmeren Okotopen Siideuropas oder Zentralasiens, wo unseren Stadtokotopen vergleichbare

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klimatische und standortliche Bedingungen vorherrschen. Beispiele aus der Vogelwelt sind Hausrotschwanz, Haubenlerche oder Tiirkentaube. Viele Menschen empfinden so\Che "Kulturfolger" unter den Pflanzen und Tieren als eine wohltuende Bereicherung ihrer Umwelt. Dazu kommt aber auch eine ethische Begriindung fUr den Natur- und Artenschutz: die Forderung nach einem Existenzrecht fUr freilebende Tiere und Pflanzen per se, also ohne Begriindung aus der menschlichen Nutzungsperspektive.

3.2 Energie und Stot11hisse im System Stadt

Theoretische Konzepte der Okologie haben in der Vergangenheit entweder den Okosystemcharakter von Stadten grundsatzlich abgestritten oder aber versucht, die Stadt insgesamt als (Super-)Okosystem zu betrachten. Nach dem ersten Ansatz wird die Stadt als ein kiinstliches System bezeichnet, dem prinzipiell die biologisch-okosystemaren Eigenschaften fehlen (Arndt 1987). Dies kann mit der Argumentation begriindet werden, daB die stadtischen Freiflachen unnatiirlich sind und kaum durch Selbstregulation entstandene Lebensgemeinschaften beherbergen. Danach fehlen auch den naturnahen Okotopen in der Stadt wichtige Okosystemeigenschaften.

Der zweite okosystemtheoretische Ansatz geht von einem umfassenden Energie- und StofffluBmodell aus. Hierbei werden, wie bei der Untersuchung natiirlicher Okosysteme, die Bilanzen von Energieeinfuhr und Energieausfuhr sowie von Stoffimporten und Stoffexporten erstellt. Das Ergebnis derartiger Studien (Duvigneaud u. Denayer-deSmet 1975; S. Abb. 1) ist erwartungs­gemaB, daB mehr und groBtenteils auch andere Energie in der Stadt benotigt wird, als durch Sonneneinstrahlung einstromt. Es wird deshalb zusatzliche Energie importiert. Diese Energie, die fUr Briissel jahrlich 32.10 12 kcal ausmacht (Abb. 1), ist in Brennmaterialien, elektrischem Strom und in Nahrungsmitteln enthalten, was letztlich durch Abwarme zu einer unnatiirlichen Erwarmung der Stadt im Vergleich zu ihrer Umgebung fiinf1o. AuBerdem besteht eine iibermaBige Nachfrage nach Lebensmitteln, diversen Materialien (Baustoffe, Rohstoffe, Fertigprodukte u.a.) und Wasser fiir Haushalte und Wirtschaft, die ebenfalls nicht im Stadtgebiet in hinreichender Menge gewonnen oder produziert werden konnen. Die zu importierenden Wassermengen summieren sich fiir Briissel auf 61 Mio. t. Diese Stoffimporte bewirken gigantische Mengen an Miill und Abfallstoffen, auBerdem auch hohe Abwasser- und Luftbelastungen.

Nur ein Teil dieser Stoffimporte wird mit Abwasser und Wind wieder aus dem System Stadt entfernt, die Festmiillmengen machen beispielsweise fUr Briissel allein etwa 224000 taus. Ein anderer Teil wird in Form von Bauschutt zu "Stadtboden". Aus diesem Grunde wachsen die Boden­oberflachen in Stadten im Laufe von lahrhunderten standig in die H6he und entfernen sich zunehmend vom Grundwasserspiegel. Stadtische Boden sind

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80 G. Weigmann

also in der Regel Kunstboden aus Bauschutt und importierten Erden, auf denen sich allerdings naturnahe Boden entwickeln konnen, auf denen Vegetationswachstum zugelassen wird (Garten, Parks, Friedhofe). Ein Nebeneffekt der anwachsenden Oberflachen und der kunstlich gesteuerten Wasserstrome ist die relative Trockenheit naturnaher Flachen in der Stadt; denn einerseits werden Niederschlage in hohem MaBe durch Abwasserkanale abgeleitet, statt durch die Boden zu versickern, andererseits konnen viele Pflanzen in Garten und Parks in der relativ trockene Stadt nur durch kunstliche Bewasserung erhalten werden.

Eine neuere Untersuchung von Baccini et al. (1993) uber die Stoffbilanz aller Privathaushalte der Stadt St. Gallen kommt zu dem Ergebnis:

Urbane Siedlungen ... zeigen aus stofftieher Sieht keine signifikante Kreislaufwirtsehaft. Es sind praktisch reine 'DurehftuBfaktorcn'. Sic bcniitigen deshalb nicht nur ein gcographisch weitgefaBtes Gebiet fiir die Versorgung, sondern aueh eines fiir die Entsorgung (Baceini et al. 1993)

- und dies bei einem Pro-Kopf-Wachstum der mobil en Guter urn 2% jahrlich.

4 Zur okologischen Stadtentwicklung

Nach der hier vertretenen These ist die Stadt insgesamt kein Okosystem nach biologischen Kriterien. Sie ist nicht aus einer okologischen Eigen­dynamik heraus entstanden wie eine naturliche Landschaft. Die Stadtland­schaft ist kunstlich entstanden und hat sich historisch entwickelt, wobei primar soziale und okonomische Krafte die Ausgestaltung der Stadt­strukturen bewirkt haben. Die Stadt ist also eher ein sozial6kologisches GroBsystem im Sinne der Anthropogeographie. Damit soll nicht bestritten werden, daB naturliche Restflachen wahrend der Entwicklung der Stadte oft bewuBt geduldet und weiterentwickelt wurden und Natur in der modernen Stadtplanung durchaus Bedeutung besitzt.

In Abb. 2 wird ein Beziehungsschema wiedergegeben, das auf der Basis eines vergleichbaren Schemas uber Kulturlandschaften (Muller 1987) auf die Gegebenheiten einer Stadt adaptiert wurde. Es gibt eine Reihe in­terner Wechselwirkungen zwischen okonomischen, sozialen und politi­schen Teilsystemen, die jeweils auch auf okologische Bedingungen der Stadt einwirken. Diese sind z.B. allgemeine Umweltqualitatsparameter, speziell Bodenqualitaten, Emissionen und Luftqualitaten sowie Nutzwas­serqualitaten. Diese Umweltparameter werden zugleich auch von den natiirlichen Ausgangsbedingungen in der Stadt, insbesondere von der Qualitat naturnaher Flachen, beeinfluBt.

Fur die planerische Verbesserung stadtischer Umweltqualitat kann man auf der einen Seite den EinfluB def naturnahen Flachen auf die Lebenssitua-

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Die Stadt als okologisches System

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Abb. 2. Schema der Entwicklungseinfliisse auf die Stadt und Wechselbeziehungen zwischen Okologie, Okonomie und Politik

tion des Menschen nutzbar machen. Das heiBt vor allem, geniigend naturnahe Freiftachen in der Stadt zu erhalten oder zu erstellen und diese in ihrer Qualitat zu verbessern. Beispielsweise haben Untersuchungen der Klimatologie und Lufthygiene belegt, daB sinnvoll angelegte Parks und Griinziige einen auBerordentlich positiven EinftuB auf die Luftqualitat in Stadten ausiiben. Griinschneisen k6nnen etwa fiir eine gute Durchliiftung auch des Stadtkernbereichs sorgen, wenn keine Windbarrieren vorliegen. Auf der anderen Seite sind geschlossene Stadtkerne lufthygienisch sehr ungiinstig, vor aHem wenn sie in einem Tal Iiegen oder von geschlossenen Baumassen umgeben sind.

Aspekte der 6kologischen Stadterneuerung stoBen jedoch normaler­weise auf erhebliche Durchsetzungshemmnisse. Meist miissen VerwaItungs­beh6rden, zu deren Ressorts dieser Bereich geh6rt, miihselige Kompromisse mit durchsetzungsstarkeren Verkehrs- oder Wirtschaftsressorts eingehen und sind haufig wenig erfolgreich. Seit den 70er lahren haben sich zunehmend Biirgerinitiativen und 6kologische Vereinigungen zum AnwaIt 6kologischer Anliegen der StadtgestaItung gemacht. Es ist sinnvoll, daB diese Grup­pierungen als Fachleute fUr die Biirgerbetroffenheit von 6kologischen MiBstanden in das soziale und politische System eingebunden werden und iiber 6kologische Standards auf Entscheidungen einwirken.

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82 G. Weigmann

Das skizzierte Beziehungsgefilge macht deutlich, daB interdisziplinare und ressortiibergreifende Entscheidungsprozesse notwendig sind. Weiterhin muB beriicksichtigt werden, daB Stadte weder naturraumlich noch politisch unabhangig sind. Aus diesem Grunde sind von auBen kommende 6kologische, 6konomische, soziale und politische Einfliisse vorhanden, die ebenfalls - wenn auch auf einer anderen politischen Ebene - gesteuert werden k6nnen.

Vermutlich ist es utopisch, die Stadt als ein autarkes 6kologisches System mit idealem internem Recycling und minimalem Energiebedarf zu konzipieren. Dennoch geben die Stichworte "sparsames Haushalten mit Stoffen und Energien" , "Recycling" und "Regionalisierung" wichtige Hinweise auf M6glichkeiten einer Okologisierung von Stadten. Regionalisierung und Dezentralisierung insgesamt hatte den posltlVen Effekt, daB Transportvorgange verringert werden, die bekanntlich viel Energie ben6tigen und schadliche Emissionen zur Folge haben. Zur Okologisierung geh6rt auch eine stadteplanerische Optimierung der Zusammenhange von Arbeit - Wohnen - Freizeitgestaltung.

Aus der Sicht der biologischen Okologie bieten stadtische Griinflachen einen zentralen Ansatzpunkt. Okologisierung kann dabei vorrangig heiBen, die natiirlichen Regelungskrafte der Organismen zu f6rdern bzw. zu nutzen. Wichtig dabei ist, daB standortgemaBe, naturnahe Zustande von urbanen Griinflachen kostengiinstiger zu erhalten sind, da interne selbststabilisierende Krafte sie bewirken. Dagegen erfordern standortfremde Gestaltungen von Griinflachen technischen und energetischen Aufwand, der ihrer natiirlichen Entwicklung entgegenlauft. Jede ersparte Energiemenge und jeder ersparte Stoffeintrag zur Gestaltung der stadtischen Natur ist zugleich ein Beitrag zur Minderung der Umweltbelastung. Okologische Nachhaltigkeit von urbanen Griinflachen erfordert notwendig Naturnahe und 6kologische Eigendynamik.

Literatur

Arndt U (1987) Die Stadt als Okosystem? - Eine Einfiihrung. In: Okologische Probleme in Verdichtungsgebieten. Hohenheimer Arbeiten. Ulmer Verlag, Stuttgart, S 1-8

Baccini P, Oaxbeck H, Glenck E, Henseler G (Hrsg) (1993) Metapolis. Giiterumsatz und Stoffwechselprozesse in den Privathaushalten einer Stadt, ETH-Ziirich, Februar 1993

Bick H, Hansmeyer KH, Olschowy G, Schmoock P (1984) Angewandte Okologie. Mensch und Umwelt, Bd I + 2. G. Fischer, Stuttgart

Ouvigneaud P, Oenayer-deSmet S (1975) L'ccosysteme urbain. Application a I'agglomeration bruxelloise. Scope: Trav Sect Beige Progr Bioi Intern, Univ de Bruxelles, pp 11-173

Gebhard U (1993) Natur in der Stadt - Psychologische Randnotizen zur Stadt6kologie. In: Sukopp H, Wittig R (Hrsg) Stadt6kologie. G. Fischer, Stuttgart, S 97-112

Haber W (1986) Dber die menschliche Nutzung von Okosystemen - unter besonderer Beriicksichtigung von Agrar6kosystemen. Verh Ges Okol 14 (Hohenheim 1984), 13-24

Miiller N (ed) (1987) Problems of interdisciplinary ecosystems modelling. MAB-Mitt 5. Ot Nationalkommitee MAB, Bonn

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Die Stadt als okologisches System

Schaefer M (1992) Okologie. Worterbiicher der Biologie, 3. Aufl. G. Fischer, lena Schwerdtfeger F (1975) Synokologie. Parey, Hamburg Berlin Sukopp H (1990) Stadt6kologie. Das Beispiel Berlin. Reimer, Berlin Sukopp H, Wittig R (Hrsg) (1993) Stadt6kologie. G. Fischer, Stuttgart

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Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstromen

Philip Kunig

1 Einfiihrung: Der Jurist im Dialog mit (anderen) Wissenschaftlern

Die in diesem Band zusammengestellten Beitrage zur Umweltforschung bilden 2 Bl6cke. Es ging bisher urn Problemlagen aus naturwissenschaftlicher Sicht; nunmehr soli es urn Handlungsansatze aus sozialwissenschaftlicher Sicht gehen. Deshalb seien zu Beginn des sozialwissenschaftlichen Teiles einige Vorbemerkungen vorausgeschickt, zu denen sich auch angesichts der hier von Naturwissenschaftlern prasentierten Beitrage AniaB ergibt.

Die sozialwissenschaftlichen Aufsatze beginnen mit einem juristischen Beitrag. Das k6nnte zunachst zu der Frage fUhren, ob oder ggf. inwieweit die Rechtswissenschaft uberhaupt eine Sozialwissenschaft ist. Sie ist es "auch", denn das Recht dient zwar einerseits der Herstellung von Gerechtigkeit, damit andererseits notwendigerweise der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhaltnisse. Es setzt jedenfalls Rahmenbedingungen fUr deren Entwicklung. Es setzt auch Rahmenbedingungen fUr andere Fakten. Jedoch: Die Natur selbst und die Naturwissenschaften halten sich nicht an das Recht. Auch hat die Natur selbst keine Rechte - was ubrigens teilweise schon anders gesehen wird und sogar schon Gerichte beschaftigt hat.

Wie verhalten sich der Rechtswissenschaftler und der Naturwissen­schaftler zueinander? Fur die luristen geh6rt das, was die Naturwissen­schaften ermitteln, zum sog. Sachverhalt oder auch Tatbestand. Juristen stellen sich die Frage, ob Sachverhalte unter irgendwelche bestehenden Rechtsnormen passen und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben, gege­benenfalls, ob und wie solche Rechtsfolgen durchsetzbar sind. Ein Beispiel mag eine der wichtigsten Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) biet~n. Dessen § 5 Abs. 1 Nr. 1 spricht davon, daB geneh­migungsbedurftige Anlagen - u.a. - so zu errichten und zu betreiben seien, daB schadliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belastigungen fUr die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden konnen. Der Jurist sagt in Kennt­nis einer solchen Norm: Bringt mir die Tatsachen, ich sage Euch, was daraus folgt. Bringt Ihr mir zu wenig oder bleibt Ihr unklar, entscheide ich gegen denjenigen, der etwas von mir will. luristisch vorgebildete Leser mogen die Ungenauigkeit dieser Aussage nachsehen.

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Doch ist die Angelegenheit bei niiherem Hinsehen komplex. Der Naturwissenschaftler wird einer bestimmten industriellen Anlage "gefiihrliche Auswirkungen" bescheinigen. Der Jurist - in der Rolle der zustiindigen Behorde - miiBte dann unter Umstiinden mit der Ablehnung eines Genehmigungsantrages oder mit dem ErlaB einer Untersagungsverfiigung antworten. Doch ist offenkundig, daB nicht nur Juristen, sondern auch Naturwissenschaftler viele verschiedene Meinungen haben. "Gefahrlichkeit" ist ersichtlich ein relativer Begriff. Die Rechtsordnung reagiert darauf z.B., indem sie Verfahren zur Konkretisierung von Grenzwerten vorsieht. In diesen Verfahren treffen sich, wie es die Rechtsordnung nennt, sog. beteiligte Kreise, d.h. zuniichst einmal aIle diejenigen, denen man Sachverstand zutraut. 1m Laufe der Zeit hat man allerdings gemerkt, daB Grenzwerte niemals fiir objektive Wahrheiten stehen. Man beteiligt deshalb zunehmend nicht nur Sachverstiindige mit verschiedenen Ansichten, sondern ver­schiedene Interessenten. Unterschiedliche Interessen legen unterschiedliche Ansichten nahe. Das Auffinden von Grenzwerten wird manchmal zu einer Art Aushandeln, was u.a. die Frage nach der demokratischen Legitimation der handelnden Personen aufwirft.

Das Vorgenannte betraf den juristischen Umgang mit von anderen gelieferten Erkenntnissen iiber Tatsachen, die sogenannte Subsumtion. Noch wichtiger und eigentlich fiir den Umweltrechtler interessanter ist aber die weitere Frage: Wie sollte eine Rechtsnorm beschaffen sein, damit sie einen Beitrag zum Umweltschutz und - einmal abgesehen von Umweltbelangen, die ja nicht absolut zu setzen sind - allgemein zu einer gedeihlichen Entwicklung der Verhiiltnisse leisten kann. Auch diese Aufgabe kann der Jurist nicht alleine bewiiltigen. Er muB sich, wenn er neue Normen formuliert und sie den Gesetzgebern vorschliigt, an hand naturwis­senschaftlicher - und sozialwissenschaftlicher - Erkenntnisse sachkundig zu machen versuchen (und dabei seine Wertungen offenlegen).

Urn nur kurz in die Perspektive der Naturwissenschaftler und ihre Einschiitzung des Rechts iiberzuwechseln: Mitunter gewinnt man den Eindruck, sie schiitzten das Recht eher gering. Das tun allerdings aIle, die es - mit einem gewissen Recht, auch wenn die Formulierung auBer Mode gekommen ist - als ein Phiinomen des Oberbaus bezeichnen, also aIle diejenigen, die meinen, sich ihres Wissens iiber die Entwicklung der Dinge sicher sein zu konnen.

Andere Naturwissenschaftler halten juristische Begriffe fiir falsch. So iiuBerte ein Kollege bei einem Vorgespriich iiber das Vorhaben, das diesem Buch zugrunde liegt, der Begriff "gefahrliche Stoffe", der sich u.a. im Chemikaliengesetz (ChernG) findet, sei schlicht "falsch"; denn kein Stoff sei "gefiihrlich", vielmehr nur bestimmte Mengen von Stoffen in ihrem Zusammenwirken mit anderen. Das wird man so ausdriicken konnen, doch niitzt es dem Juristen leider wenig. Er findet einen Begriff in der Gesetzes­sprache vor und muB sich Gedanken dariiber machen, was gemeint sein konnte. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist nur bedingt geeignet, eine

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Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstromen 87

Norm des geitenden Rechts zu faisifizieren. "Ungiiltig" sind Normen, wenn sie gegen solche "hoherrangigen" Rechtes verstoBen, insbesondere die Verfassung, unter Umstanden auch vorgeordnetes europaisches Recht.

Eine ietzte Gruppe von Naturwissenschaftlern au Bert sich, so scheint es dem luristen, derart grundsatziich, daB das Gesprach besonders interessant, aber auch schwierig wird. So wird - relativierend - etwa darauf hingewiesen, von Katastrophen in der Entwicklung globaler Verhaltnisse konne man eigentlich nieht reden. Manchmal komme es eben vor, daB eine Spezies verschwinde - wir wissen es yom "Tier des lahres 1993", dem Dinosaurier­miissen es aber vielleicht auch yom Menschen befiirchten. Es konne daher im Endeffekt nur darum gehen, die Verhaltnisse angenehm oder weniger unangenehm zu gestalten. Das wiederum geniigt dem luristen, kurzfristig wie er denkt, eigentlich nicht, auch wenn er weit davon entfernt ist, die naturwissenschaftlich begriindete Hypothese oder Beobachtung in Frage stellen zu wollen.

2 Zurn Therna

Das Thema lautet: Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstromen. Wir befinden uns damit im Teilgebiet "Umweltrecht". Dieses Rechtsgebiet gibt es - dem Namen nach - erst seit etwa 2 lahrzehnten, der Sache nach aber seit mindestens 2 lahrtausenden, denkt man an romische Rechtsvor­schriften iiber Fakalien oder - kurzfristiger - an preuBisches Industriean­lagenrecht, dessen Grundstrukturen iibrigens bis in das gegenwartig geltende Immissionsschutzrecht nachwirken.

Das Umweltrecht mochte im Ausgangspunkt die sog. Umweltmedien schiitzen. Wir verstehen darunter die Luft, das Wasser und den Boden. Das Umweltrecht betrachtete urspriinglich potentielle Belastungsvorgange aus der Sicht dieser "Medien". Es gibt deshalb Immissionsschutzrecht, hier geht es urn Luft und Larm, Gewasserschutzrecht und - erst seit kurzem - auch eigenstandiges Bodenschutzrecht. Abgesehen yom medial en Ansatz kam mit der Zeit zunehmend das sog. Stoffrecht in den Blick. Es betrachtet seinen Gegenstand nicht allein yom - schadigenden - Ergebnis her, sondern nimmt ihn als solchen in den Blick. Vor allem geht es urn den Umgang mit Chemikalien, urn Waschmittel, urn Pflanzenschutzmittel - und urn Abfall. "Stoffstromrecht" ist ein Konzept, das an die Stelle vor allem des herkommlichen Abfallrechts treten soll, es bestenfalls iiberfliissig machen konnte, es jedenfalls erganzen soli, wo es von vornherein defizitar bleiben muS.

Es geht - schon der Begriff verdeutlicht es - dabei urn Strome von Stoffen, d.h. den "Strom" yom Rohstoff iiber den Nutzstoff zum entwerteten Stoff (als Abfall, welcher nur noch eine Belastung darstellt). Seit dem Friihjahr 1991 gibt es auf (bundes-)ministerieller Ebene Vorarbeiten zum

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Entwurf eines (zunachst sog.) Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Er miindete in den Entwurf eines Gesetzes, das den Titel tragt "Gesetz zur Vermeidung von Riickstanden, Verwertung von Sekundarrohstoffen und Entsorgung von Abfallen" (und inzwischen beschlossen wurde).

Manches bei soIcher Umorientierung verbleibt auf semantischer Ebene, ist "Umdefinition". So niitzt es fUr sich genommen nicht viel, wenn "Abfiille" in "Riickstande" umbenannt werden. Zwar gibt es dann keine Abfallberge mehr, keinen Abfalltourismus, aber eben noch andere Ubel. Uberwiegend bietet das Gesetz aber inhaltlich neue Ansatze gegeniiber dem bisherigen Abfallrecht. Urn nur Stichworte zu nennen (die spater wiederaufzugreifen sein werden): "Produktverantwortung" der Hersteller soli mit rechtlichen Mitteln gestarkt werden. Die stoffliche Verwertung soli den Vorrang haben vor der energetischen Verwertung (gemeint: Verbrennung). Es sind Vermischungsverbote und Getrennthaltungsgebote vorgesehen, Bilanzierungspflichten fUr das Abfallaufkommen, allgemein eine Forderung der Sekundarrohstoffwirtschaft. Es sei ausdriicklich darauf verzichtet, hier die Einzelheiten zu diskutieren. Grundsatzfragen sollen im Vordergrund stehen.

Was will das Stoffstromkonzept bzw. was ist sein Hintergrund? - In­wiefern ist dieses Konzept im geltenden Recht schon teilweise verwirklicht? - WeIche rechtspolitischen, also auf wiinschenswerte Umgestaltung des Rechts bezogenen Perspektiven und SchluBfolgerungen konnten sich ergeben? - Die Antworten miissen auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben bedenken, innerhalb derer alles Nachdenken iiber das Recht stattzufinden hat. Die Verfassung, das Grundgesetz, ist - wie schon angedeutet - die Rahmenordnung fiir das gesamte sonstige Recht. Das Grundgesetz wiirde es zum Beispiel wohl ausschlieBen, daB der Gesetzgeber ab morgen bestimmt: Niemand darf Dinge, die sich verniinftigerweise noch gebrauchen lassen, etwa einen alten Anzug oder eine durchgesessene, aber noch funktions­tiichtige Sitzgruppe in die Entsorgung geben. So einleuchtend das unter Gesichtspunkten der Stoffstrome ware: Man halt es im allgemeinen fUr verfassungswidrig. Freilich ist die Verfassung keine ganzlich statische Veranstaltung, sie ist aus sich heraus anpassungsfahig an gewandelte Prioritaten. Sie ist auch anderbar. Man muB sich entscheiden, und man sollte die Konsequenzen bedenken.

3 Konzept ond Hintergrond

Wer eine "Regulierung der Stoffstrome" fordert, mochte mit Mitteln des Rechts die gegenwartige industrielle Wirtschaftsweise nachhaltig verandern, jedenfalls in Frage stellen. Die moderne Industriegesellschaft nimmt als "Wirtschaftskreislauf" vor allem eine EinbahnstraBe wahr, namlich die

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Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstromen 89

Verwandlung wertvoller Rohstoffe durch Produktion and Konsumtion m nutzlosen Abfall - und dies mit zunehmendem Stoffumsatz.

Hinter den Schlagworten "StofffluBwirtschaft" und "Regulierung der Stoffstrome" steht das Konzept, die stoffliche EinbahnstraBe zu einem wesentlichen Teil in einen Kreislauf zu verwandeln. Das soli einerseits die Verschwendung von Ressourcen eindammen, andererseits die Abfallpro­blematik entscharfen. Die Grundstrategie dabei liegt darin, die Pro­blemlosung, die bislang im wesentlichen am Ende des Wirtschaftszyklus, namlich bei der Abwasser- und Abfallbeseitigung einsetzt, bereits in dem privaten Wirtschaftsbereich, also die Phasen der Produktion und Konsum­tion, vorzuverschieben. Dabei kommt in Betracht,

• die Herstellungsverfahren so zu verandern, daB weniger Stoffe zum Einsatz kommen und weniger Ruckstande anfallen;

• die Produkte so zu verandern, daB sie langlebiger und verwertungsge-rechter werden, jedenfalls umweltgerechter entsorgt werden konnen;

• die Verbrauchsstruktur abfallarmer zu gestalten.

Ein solcher UmbauprozeB ist, so wird es mittlerweile weithin gesehen, einerseits im Grundsatz unumganglich, andererseits fur die Industrie (und mittelbar das Publikum) mit erheblichen Anstrengungen verbunden -demzufolge ohne eine staatliche Regulierung nicht zu bewerkstelligen. So kommt das Recht ins Spiel.

Unumganglich ist der UmbauprozeB wegen der Konsequenzen der gegenwartigen "EinbahnstraBe". Das betrifft zum einen die Ressour­cenvergeudung. Die Menge der umgesetzten Stoffe nimmt standig zu. Am Ende des Prozesses steht der irreversible Ressourcenverbrauch. Okonomisch betrachtet ist Abfall regelmaBig nur eine niederwertige Ressource, die nur mit nicht vertretbarem Energieaufwand wieder verfUgbar gemacht werden kann. Zu berucksichtigen ist ferner, daB die gegenwartig in den Abfallen enthaltenen Stoffanreicherungen den vorgefundenen naturlichen Zustand der Umweltmedien nachteilig verandern und daB bereits im Produk­tionsprozeB (auch beim Konsum) "Nebenprodukte" entstehen, welche ihrerseits nachteilig auf die Umweltmedien wirken.

Mittlerweile ist in bezug auf diese Ausgangslage ein UmdenkungsprozeB begonnen worden, dies allerdings weniger aufgrund der Erkenntnisse uber die Verknappung der Ressourcen, sondern wegen der augenfalligen Probleme, die die moderne Wirtschaftsweise an ihrem Ende anhauft. Wir werden bekanntlich der Abfallberge nicht mehr Herr. Die scheinbar billigen Deponien gelangen in absehbarer Zeit an ihre Kapazitatsgrenzen. "Billig" sind sie uberdies nur fUr die gegenwartigen "Entsorger" - den Folgegenera­tionen stellen sie sich als "Altlasten" dar. Insbesondere neue Abfallver­brennungskapazitaten sind politisch kaum noch durchsetzbar, sie sind auch ressourcenokologisch fragwurdig. Eine marktfahige Abfallverwertung scheitert nicht nur am haufig groBen Vermischungsgrad der eingesetzten

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90 P. Kunig

Stoffe, sondern auch an Defiziten der Recyclingtechnologie. Den Entwieklungsriiekstand der Reeyclingteehnologie im Vergleieh zu den Standards der Produktionsteehnologie kann man als sinnfalligen Ausdruek der EinbahnstraBenperspektive begreifen.

Die traditionelle staatliche Problemlosung reflektiert die skizzierten Wirtschaftsweisen: Die Herstellung und der Verbraueh von Giitern sind privatwirtschaftlich organisiert, die Abfallbeseitigung hingegen ist im Aus­gangspunkt als offentliehe Aufgabe definiert, denn Abfalle sind betriebs­wirtsehaftlich iiberwiegend ein negatives Gut, sie verursachen Kosten, man moehte sieh ihrer so billig wie moglieh entledigen. Fehlt es an einem marktgangigen Gut, so konnen die Regulative des Marktes von vornherein nieht greifen.

4 Gibt es schon "StotTstromrecht"?

Der staatliehe Ordnungsrahmen fUr die Umweltpolitik ist bisher vor allem ausgerichtet auf Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge. Vorsorge liegt im Vorfeld der Gefahrenabwehr. Der Untersehied ist graduell. Von Gefahr laBt sieh nur aus der Endsieht spreehen, in bezug auf die eingetretenen oder erkennbaren Konsequenzen im Einzelfall, konkret also. "Abstrakten" Ressoureensehutz nehmen sieh bisher vor allem "programmatische" Reehtsnormen zum Ziel, solche also, die nieht unmittelbar vollziehbar sind. 1m folgenden wird ein Uberbliek iiber Reehtsvorsehriften gegeben, die einzelne Stoffe (auch) in ihren "Stromen" anspreehen. Sie finden sieh vornehmlieh in Reehtsgebieten, die innerhalb des Fachgebiets Umweltrecht systematisch als Gefahrstoffrecht, Wasserschutzreeht, Immissionsschutzreeht und Abfallreeht eingeordnet werden.

Das Gefahrstoffreeht kennt einige spezielle Stoffverbote, vor allem Ermachtigungen zum Verbot, und betrifft dabei besonders gefahrliche Stoffe, wie DDT, PCB, FCKW. Aus ordnungspolitisehen Griinden ist es von Zuriiekhaltung gegeniiber staatlichen Verboten gepragt und moehte vor allem dem sicheren Umgang mit Stoffen dienen. Weniger interessiert es sieh bisher fUr das spatere Sehicksal von Saehen. Es kennt Anmelde- und Priifpflichten, ausnahmsweise aueh Zulassungspfliehten. Es verlangt Kenn­zeichnungen, Verpaekungen, es mindert aber nieht Gesamtmengen, bewirkt keine Kreislaufe. Es ware moglieherweise hierzu besonders geeignet, doeh ist im vorliegenden Zusammenhang nieht iiber geeignete Regelungsorte fUr einzelne Vorsehriften zu sprechen, sondern iiber inhaltliche Anliegen.

Interessanterweise bestehen bisher am ehesten im Wasserschutzrecht solche Regelungen, die den StofffluBgedanken nahestehen. In diesem Bereich hat der Staat die privatniitzige Teilnahme an einem urspriinglieh dem freien Zugriff unterliegenden Gut einer offentlieh-reehtliehen Bewirt­sehaftungsordnung unterworfen (also anders als z.B. bei der Luft). Reguliert

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Rechtliche Ansiitze zur Regulierung von Stoffstromen 91

ist hier nicht erst der Austritt des Stoffes aus dem WirtschaftsprozeB, sondern umfassend bereits sein Einsatz. Ordnungspolitisch schien das vertretbar und auch geboten, weil fUr die besonders kostbare und empfindliche Ressource Wasser die Gefahrenabwehr als Quantitats- und Qualitatsvorsorge bereits unmittelbaren Ressourcenschutz bewirkt.

Das Wasserhaushaltsrecht (geregelt im Wasserhaushaltsgesetz des Bundes, WHG) verdeutlicht Chancen und Schwierigkeiten der Regulierung von Stofffliissen besonders anschaulich. Es enthalt einerseits einen der schon oben angesprochenen vollzugsunzuganglichen Programmsatze, andererseits dann das klassische Instrumentarium des Ordnungsrechts mit vielfaltig differenzierten InstrumenteD fUr die Zulassung, die Dberwachung, das nachtragliche Einschreiten in Konsequenz aus der Dberwachung gewonnener Ergebnisse. Ordnungsrecht ist zielgenau, greift aber in die Marktautonomie stark ein, ist zudem besonders vollzugsaufwendig. Schwierig ist es auch, die angemessene Reaktionsfahigkeit der Normsetzung auf die Dynamik, Innovativitat und Vielfaltigkeit sowohl wirtschaftlicher Prozesse als auch der wissenschaftlich-technischen Entwicklung herzustellen. Man versucht dies durch verschiedene, gerade im Wasserrecht entwickelte Formen der Typisierung von technischen und wissenschaftlichen Standards, wobei die Normkonkretisierung unter Einbeziehung gesellschaftlichen Sachverstandes erfolgt.

Bemerkenswert ist ferner, daB es im Bereich der Abwasserregulierung nicht mehr allein auf die Belastbarkeit des einzelnen Gewassers ankommt, sondern dariiber hinaus - im Sinne eines vorsorgenden Emissionsprinzips -die technisch-wirtschaftlich machbare Schadstoffminimierung erstrebt wird. Deshalb enthalten Abwasser-Verwaltungsvorschriften vermeidungs­orientierte Anforderungen an Herstellungsverfahren und geben so ein Beispiel fiir eine friihzeitig wirkende Regulierung von Stoffstromen.

Das Gewasserschutzrecht kennt auch indirekt wirkende StofffluBrege­lungen. Hier ist zum einen ein Ausbau kooperativer Steuerungsformen zu nennen, der zum Ziel hat, die Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit der wirtschaftenden Subjekte zu aktivieren. Das fUhrt zu institutionalisierter Selbstkontrolle im Sinne einer Eigenkontrolle durch Anlagenbetreiber. Vor allem aber sind die monetaren Anreizsysteme zu nennen. Sie konnen gegeniiber ordnungsrechtlichem Eingriff als eher marktkonform gelten. Der Staat erzeugt Knappheitssignale, ohne den Marktteilnehmern die Ent­scheidung iiber ihr Verhalten bereits abzunehmen. MoneHire Anreize aktivieren deren Eigenkompetenz, binden nicht lediglich an einen Grenzwert, sondern regen eine Senkung der Ressourcennutzung - soweit wirtschaftlich moglich - unterhalb der Grenzwerte an. In diesem Sinne dienen dem Ressourcenschutz Abgaben, die den Stoffeinsatz verteuern. Die Abwas­serabgabe, sie wird auf Schadstoffeintrage erhoben, gibt den Anreiz, Herstellungsverfahren umweltfreundlicher zu gestalten.

1m Gegensatz zum Wasserrecht zielt das Immissionsschutzrecht noch kaum auf die Regulierung von Stoffstromen. Das Immissionsschutzrecht ist

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dasjenige Rechtsgebiet, das in besonders starkem MaBe auf Herstel­lungsverfahren einwirken kann. Dieses Potential nimmt es im Sinne einer Stoffstromregulierung allerdings nur in Ansatzen wahr. Diese Zuriickhaltung griindet sich ersichtlich auf ordnungspolitische Bedenken, denn eine tiefgreifende Normierung von Herstellungsverfahren wiirde die Autonomie und die Innovationskraft der Marktteilnehmer erheblich beschranken. Auch begrenzt die Vielfaltigkeit von BetriebsabHiufen die Vollzugsfiihigkeit derartiger Regelungen. So zielt das Immissionsschutzrecht im wesentli­chen auf die Verminderung von Schadstoffemissionen in die Luft, urn -erkennbaren - Gefahren vorzubeugen. Mit Hilfe etwa von ausgefeilten Riickhaltetechniken ist das recht weit gediehen, hat dafUr jedoch neue Probleme verursacht, denkt man an die Notwendigkeit der Entsorgung von Filterstauben.

Ein stoffpolitisches Gebot enthalt allerdings § 5 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG, wonach genehmigungsbediirftige Anlagen so zu errichten und betreiben sind, daB Reststoffe vermieden werden - es sei denn, sie werden schad los verwertet. Ihre Beseitigung als Abfall ist nur zulassig, wenn Vermeidung oder Verwertung technisch nicht m6glich oder unzumutbar sind. Ein effektiver Ressourcenschutz ergibt sich aus den immissionsschutzrechtlichen Reststoffvermeidungs- und Reststoffverwertungsgeboten aber noch zu wenig. Das liegt zum einen daran, daB in den genehmigungsbediirftigen Anlagen (fUr die die genannten Gebote gelten) nur 50% der Reststoffe anfallen. Auch ist festzuhalten, daB die Vermeidung und die schadlose Verwertung im Ausgangspunkt rechtlich gleichwertig sind, also ohne daB es darauf ankame, ob die Verwertung stofflich oder energetisch erfolgt. SchlieBlich fehlt es noch an einer zuverlassigen Dokumentation des Standes der Technik in Verwaltungsvorschriften und mithin an der vollzugsnotwendigen Handreichung fUr die Praxis.

Stoffstromregelungen finden sich schlieBlich im Abfallrecht. Die im Grundsatz allgemein konsentierte abfallpolitische Grundphilosophie, namlich die Vorstellung von einer Hierarchie von Vermeidung, Verwertung und Beseitigung, ist bisher im wesentlichen nur programmatisch, aber kaum vollzugstauglich ausgeformt worden und stellte jedenfalls keine Weiche hin zur "Kreislaufwirtschaft".

Besonders deutlich zeigt sich dies daran, daB die abfallrechtliche Vorschrift iiber den Vermeidungsvorrang rechtstechnisch so ausgestaltet ist, daB sie erst durch den EriaB einzelner Rechtsverordnungen Verbindlichkeit erhalt; fUr sich genommen bleibt sie "unvollkommen". Solche Verordnungen setzen bisher, soweit fUr die Stoffstromregulierung von Interesse, vor allem auf Riicknahmepftichten. Riicknahmepftichten haben ein betrachtliches Regulierungspotential: Der Produzent muB die Entsorgungskosten bereits in den Verkaufspreis einkalkulieren, so daB die gegenwartige Trennung von Herstellungskosten und Entsorgungskosten entfiillt. Wichtig ist auch, daB der Hersteller die Zusammensetzung seines Produktes am besten kennt. Steht er in Riicknahmepfticht, wird ihn das veranlassen k6nnen, seine

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Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstri:imen 93

technologische Kompetenz praventiv auf eine verwertungsfreundliche Pro­duktgestaltung zu richten. Gegen Riicknahmepftichten bestehen auch keine grundsatzlichen ordnungspolitischen Bedenken. Sie stellen allerdings ein AusmaB an Produzentenverantwortung her, das die betroffene Industrie zu grundsatzlichem Widerstand veranlaBt hat. Das hat bremsend auf die Ambitionen der Gesetzgeber gewirkt. Gegenwartig bestehen lediglich fUr Altole und bestimmte halogenierte Stoffe Riicknahmepftichten. Die bekannte Verpackungsverordnung droht sie fUr Verpackungsmaterialien an, sofern es dem sog. Dualen System bis zu den festgesetzten Terminen nicht gelingt, ftachendeckend bestimmte Quoten an stoffticher Verwertung zu erreichen. Der Fortgang dieser Entwicklung, insbesondere auch das Schicksal des schon erwahnten Gesetzes zur Initiierung einer Kreislaufwirtschaft, ist noch nicht im einzelnen absehbar. Jedenfalls wird sich die rechtspolitische Diskussion hieriiber fortsetzen. Es ist auch nicht zu verkennen, daB die Riicknahmepfticht weiterhin yom Abfallstatus der erfaBten Stoffe ausgeht und also ebenfalls am Ende des Wirtschaftszyklus ansetzt. Eine im engeren Sinne praventive Perspektive ergibt sich hier also nur in Grenzen.

Zu erwahnen sind schlieBlich "weiche" Instrumente des Abfallrechts, die gleichfalls einen Bezug zu der Stoffstromidee aufweisen. Das gilt etwa fUr den umweltpolitisch gesteuerten Einsatz offentlicher Marktmacht im Beschaffungs- und Vergabewesen, aus der sich ein multiplikatorischer Effekt (offentliches Vorbild) ergeben mag. Vorschriften hierzu finden sich in den neueren Landesabfallgesetzen, Praktiker berichten freilich von erheblichen Defiziten in der Befolgung.

5 Perspektiven

Bestandsaufnehmende SchluBfolgerungen lassen sich in 7 Punkten zusammenfassen:

1. Es muB darum gehen, die Steuerungswirkung stoffwirtschaftlicher Rege­lungen yom Ende an den Anfang des Zyklus der Produktion zu verschieben - ohne daB dabei die lnnovationskraft und die Wettbewerbsfahigkeit des Wirtschaftssystems unvertretbar beeintrachtigt werden diirfte. Zudem miissen solche Regelungen vollzugsfreundlich ausgestaltet sein. Das ver­langt nach der Bewaltigung einer Optimierungsaufgabe.

2. Diese Vorgabe, aber auch die Vielzahl der Stoffe und die Vieifaitigkeit ihrer Einsatzmoglichkeiten schlieBen einen umfassenden staatlichen Steuerungsanspruch iiber Stoffstrome aus. Die dafUr vorausgesetzte Steuerungskapazitat steht dem Staat nicht zur VerfUgung. Derartiges wiirde sich auch in das marktwirtschaftliche System nicht einfUgen lassen. Die kiinftige Problemlosung muB insoweit versuchen, bislang einge­schlagene Strategien fortzuschreiben.

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3. Sinnvoll ist in jedem Fall eine Harmonisierung bestehender Regelungen. Insbesondere das Abfallrecht einerseits, das Immissionsschutzrecht an­dererseits, beide auch in ihrem Verhiiltnis zum Gefahrstoffrecht, weisen Unstimmigkeiten auf. Es muB eine gleichsinnige Hierarchie von Entsor­gungsstrategien gefunden werden. Auch Binnenharmonisierung ist notig, etwa zu erwiigen, auch die immissionsschutzrechtlieh nieht genehmigungs­bediirftigen Anlagen den Geboten der Reststoffvermeidung und Reststoff­verwertung zu unterwerfen (was allerdings Vollzugsschwierigkeiten macht). Zu erwiihnen, nieht vorzustellen, ist hier das Bemiihen urn eine breite Harmonisierung des Umweltrechts, seine Fortbildung in einem sog. Umweltgesetzbuch.

4. Die Entsorgungshierarchie darf nieht allgemeines Postulat bleiben. Notig ist ein vollzugsfiihiges Instrumentarium. Nach dem Vorbild des Abwasserrechts bedarf es der Konkretisierung von MaBgaben in Verwaltungsvorschriften.

5. Urn stofftiche Verwertung gegeniiber energetischer Verwertung auszubauen, bedarf es der Fortschreibung von Pfl.ichten zur Abfalltren­nung, denn die Marktfiihigkeit von Recyclingmaterialien hiingt wesentlich von ihrem Reinheitsgrad abo Man kann auch daran denken, Sekundiir­rohstoffe bzw. die sie verwendende Industrie direkt oder indirekt zu subventionieren, urn ihre Konkurrenzposition gegeniiber Primiirrohstoff­nutzern zu stiirken (nicht auBer Betracht bleiben darf dabei, auch im Blick auf andere Beitriige dieses Bandes, daB die Okonomien vieler Entwicklungsliinder von Rohstoffl.ieferungen in Industriestaaten abhiingig sind).

6. Ein wesentlicher weiterer Schritt richtet sich auf eine Ausweitung der Herstellerverantwortung. Es geht darum, langlebigere und verwertungs­freundliehe Produkte herzustellen, die Herstellungs- und Vertriebsver­fahren abfallarm auszugestalten. Dabei ist nicht zu verkennen, daB das Postulat, langlebigere Giiter herzustellen, ein Fundamentalprinzip der Marktwirtschaft beriihrt, die Wertschopfung aus dem Giiterumschlag. ledenfalls aber die offentliche Marktmacht mag hier ein Potential entfalten. Wirtschafts- bzw. Finanzwissenschaft haben zu kliiren, wie das Steuerrecht auf die Entscheidungen der Marktteilnehmer insoweit Einfl.uB nehmen kann.

Herstellerverantwortung im Markt muB im iibrigen auf die Innova­tionskraft der Wirtschaftssubjekte selbst setzen, die durch den Ausbau von Riicknahmeverpfl.ichtungen wesentlich gefOrdert werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch der Vorschlag zu erwiihnen, die Giiter­nutzung vermehrt statt durch Kaufbeziehungen, durch Leasingbeziehun­gen auszugestalten: Der Leasinggeber hat (im Gegensatz zum Verkiiufer) ein Interesse an langer Nutzungsdauer. Erneut wird hier wohl nur das Steuerrecht Anreize vermitteln konnen.

7. SchlieBlich ist zu erwiigen, den Unternehmen - vergleichbar ihrer handelsrechtlichen Bilanzierungspfl.icht - die Erstellung von Energie-

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Rechtliche Ansatze zur Regulierung von Stoffstromen 95

und Materialbilanzen abzuverlangen. Mindestens kann das der Markt­transparenz dienen, woraus sich auch Verkaufsargumente fUr umwelt­freundliche Produkte ergeben. Der Staat mag durch Pramierungssysteme ("Umweltzeichen", Kaufempfehlungen) reagieren. In diesen Zusam­menhang geh6rt auch das Phanomen des sog. Oko-Audit, eine Art Selbstevaluierung von Unternehmen, auf Freiwilligkeit beruhend, aber anreizbar durch giinstige Publizitat.

Bei alledem darf man sich IIIusionen nicht hingeben. Wir haben derzeit ein System, bei dem die Probleml6sung vor allem ansetzt, wenn Stoffe den WirtschaftsprozeB wieder verlassen. Ideal ware es, sie in geschlossenem Kreislauf zirkulieren zu lassen, das nicht Brauchbare zu zerlegen und erneut in den Kreislauf einzubringen. Vollen Umfangs wird das nicht erreichbar sein, doch miissen wir einem soIchen System wohl naherkommen.

Literatur

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Rechtliche Aspekte der Altlastenproblematik

Franz-Joseph Peine

1 Einfiihrung

"Altlasten" sind unter dem Aspekt langfristiger Umweltveranderungen ein nicht zu iibersehender Problembereich. 1m folgenden geht es urn die Moglichkeiten des rechtlichen Umgangs mit diesem Phanomen. Das Umweltschutzrecht kann man von zwei unterschiedlichen Punkten aus konstruieren: medienbezogen und stoffbezogen. Der "mediale" Ansatz hat die Umweltmedien Wasser, Luft und Boden im Blick, der "stoffbezogene" die Verhinderung von Gefahren durch gefahrliche Stoffe. Das Boden­schutzrecht ist "medial"; es will einerseits den Landverbrauch einschranken, andererseits den Boden vor Belastungen schiitzen. Schutz des Bodens vor Belastungen ist reaktiv: Beseitigung von vorhandenen Belastungen - sowie praventiv: Verhinderung zukiinftiger Belastungen ist vorstellbar. Altla­stenrecht ist Schutz des Mediums Boden durch Bereitstellung von Handlungsmitteln, die vorhandene Belastungen zu beseitigen erlauben. -Damit reagiert Altlastenrecht auf die "Siinden der Vergangenheit". Es ist "Reparaturrecht". Sein Beitrag zum Schutz der Umwelt besteht darin, zu ermoglichen, einen Zustand wiederherzustellen, der bestiinde, wenn in der Vergangenheit ein sorgloser Umgang mit dem Boden unterblieben ware. Einen dariiber hinausgehenden Beitrag zur Bewahrung der Umwelt leistet es nicht. Diesen praventiven Schutz miissen andere Teile des Bodenschutz­rechts bringen.

Aile rechtlichen Aspekte der Altlastenproblematik in einem solch knappen Beitrag darzustellen, ist unmoglich. Deshalb werden einige Aspekte aus dem Themenkreis herausgegriffen und anhand von 4 Gliederungspunkten behandelt:

• Problemlosung auf der Grundlage des Landespolizeirechts, • Problemlosung auf der Grundlage von speziellem Landesaltlastensanie­

rungsrecht, • Problemlosung auf der Grundlage des Entwurfs eines Gesetzes zum

Schutz vor schadlichen Bodenveranderungen und zur Sanierung von Altlasten des Bundes (im folgenden abgekiirzt: EBodSchG) und

• Problemlosung auf der Grundlage des sog. Professorenentwurfs eines Umweltgesetzbuchs Besonderer Teil (im folgenden abgekiirzt: UGB-BT).

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Der Grund fUr die Wahl dieses Schemas liegt darin, daB sich durch diese 4stufige Betrachtung zeigen liiBt, ob und wie der Gesetzgeber auf tatsiiehliche Probleme reagiert und ob seine Problemlosung der Analyse unabhiingiger Betraehter standhiilt. Zugleieh erlaubt es, die Entwieklung des Altlasten­sanierungsrechts im allgemeinen vorzufiihren. Mit diesem Punkt moehte ich beginnen - also die Entstehungsgesehichte meines Behandlungsschemas darstellen.

2 Die Entwicklung des Altlastenrechts

Die heute mit dem Schlagwort "Altlast" bezeichnete Problematik stellte sich erstmals Anfang der 80er Jahre. Man entdeekte, daB von stillgelegten Abfalldeponien und von Berghalden Gefahren fUr die Menschen und die Umwelt ausgingen. Dureh diese faile aufgeschreckt begann eine in­tensive behordliche Suehe naeh vergleichbaren Bodenvergiftungen. Die Suche beschriinkte sich nieht auf Deponien und iihnliche Phiinomene, sondern erweiterte sich auf industrielle Standorte. Sie ist bis heute nieht abgeschlossen.

Parallel zur Suche in tatsiichlieher Hinsicht entwiekelte sich die reehtliehe Diskussion. Die sich stellende Frage lautete: Wer ist verpflichtet, die Gefahrenbeseitigung durchzufiihren und sie zu bezahlen? Da ein auf dieses Phiinomen zugesehnittenes Spezialrecht fehlte, muBte sieh die Diskussion zwangsliiufig auf das allgemeine Gefahrenabwehrreeht konzentrieren. Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht ist normiert in den Landespolizeigesetzen. Es hatte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu liefern. Das Polizeirecht erlebte - wie treffend herausgestellt wurde - eine Renaissance. Die wiehtigsten aufgeworfenen Fragen waren und sind:

• Was ist eine Altlast? ErfaBt das polizeirechtliehe Schutzgut "offentliche Sicherheit" den Schutz des Bodens vor einer Verunreinigung?

• Wenn ein Verdacht auf eine Altlast vorliegt - wer muB erforsehen, ob eine konkrete Gefahr gegeben ist, und wer muB die Kosten fUr die Gefahrerforschung tragen? MuB der Biirger dulden, daB auf seinem Grundstiiek z.B. Bohrungen vorgenommen und Bodenproben gezogen werden?

• Wenn eine Altlast festgestellt wird - wer ist zur Sanierung verpflichtet? Was ist, wenn der Verursacher der Altlast nieht mehr existiert - sei es, daB er als natiirliche Person gestorben oder als juristische Person als Folge eines Konkurses oder als Folge einer Firmeniibernahme nicht mehr vorhanden ist? Gibt es insoweit eine Reehtsnaehfolge?

• Was ist, wenn mehrere Haftende vorhanden sind - darf die Behorde denjenigen als Sanierungspfliehtigen wiihlen, von dem sie vermutet, daB er finanziell am stiirksten ist, aueh wenn er, etwa als ZustandsstOrer, an der Verursaehung der Altlast unbeteiligt ist?

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Rechtliche Aspekte der Altlastenproblematik 99

• Wenn ein Verursacher als Haftender greifbar ist - gibt es Haftungsbe­schrankungen? Gibt es Haftungsbesehrankungen fUr den ahnungslosen Grundstiickserwerber?

• Wenn eine Sanierungspfiicht eines Privaten besteht - wie we it reicht sie? 1st insbesondere aueh eine Rekultivierungspfiieht dureh das Polizeirecht abgedeckt?

• Was geschieht, wenn Private als Sanierer, aus welchen Griinden aueh immer, ausfallen? 1st die offentliehe Hand zur Sanierung verpfiichtet und, wenn ja, auf welche Weise finanziert sie ihre Arbeit?

Die gerade aufgefiihrten Fragen sind auf der Grundlage des offentliehen Reehts zu beantworten. Die Altlastenproblematik hat aber auch eine zivilreehtliehe Dimension. Diese zeigt sieh bei folgender Situation: Ein Biirger erwirbt ein Grundstiiek. Mehrere Jahre naeh dem Erwerb stellt sich heraus, daB der Boden kontaminiert ist; Verursaeher der Kontamination war der VerauBerer. Kann der Erwerber von dem VerauBerer Sehadener­satz fiir die DekontaminationsmaBnahmen verlangen? - Eine weitere Situation: A betreibt eine Deponie. B und C liefern vertragswidrig konta­minierte Abfiille auf die Deponie. A saniert und fordert von B erfolgreieh die gesamten Sanierungskosten. Kann B von eden Anteil des C an den Sanierungskosten verlangen?

Wie man sich unsehwer vorstellen kann, verlief die Problemdiskussion im offentliehen Recht auBerordentlieh kontrovers. Das Polizeireeht liefert an sich klare Anworten auf die meisten Fragen; diese gerieten freilieh in den Streit der untersehiedliehen Interessen und wurden zerredet. Dem konnte der Gesetzgeber nieht tatenlos zusehen. Er muBte Antworten geben, urn unter Beweis zu stellen, daB das Recht die von ihm erwartete Aufgabe erfUllt. Es handelte aber nieht der Bundesgesetzgeber; dieser bezweifelte seine Gesetzgebungskompetenz. Es handel ten die Landesgesetzgeber.

Diese erfUllten die Aufgabe auBerordentlieh untersehiedlieh. S~ normierten ein Altlastensanierungsreeht in den Landesabfallgesetzen - hier wohl mangels einer Alternative; denn eine Altlast ist kein Abfall i.S.d. § 1 Abs. 1 AbfG. Einige Landesgesetze enthalten ein vollstandiges Sanierungsrecht; es antwortet auf aIle eben aufgeworfenen Fragen. Es geht als lex speeialis dem allgemeinen Polizeirecht vor; ein Riiekgriff auf dieses ist reehtlieh weder notig noeh moglieh. Dieses Spezialreeht enthiilt folgende Aussagen: Eine Altlastdefinition, ein Gefahrerforsehungsreeht, das Recht <ier katastermaBigen Erfassung von Altlasten, eine Ermaehtigungsgrundlage fUr das Ausspreehen von Sanierungspfiichten als solchen und den Umfang der vorzunehmenden Sanierung, eine Regelung des zur Sanierung Verpftieh­teten, also die sog. Storerauswahl, die Kostentragung und Grenzen der Haftung sowie eine Regelung des zur Sanierung Verpfiichteten und seine Finanzierung, wenn Private als Sanierungspfiiehtige ausfallen, weil sie nieht mehr existieren oder die Sanierungskosten nieht aufbringen konnen.

Einige Bundeslander haben Teile des gerade dargelegten Regelungspro­gramms erlassen. Beim Fehlen einer Problemlosung ist auf das Polizeireeht

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des Bundeslandes zuriickzugreifen. Dessen Losungsschwache wird also tradiert.

Die unterschiedliche Regelungsintensitat der Landesgesetze fUhrt zu einem unterschiedlichen Altlastenrecht in den einzelnen Bundeslandern. Diese Situation ist unbefriedigend und eine bundeseinheitliche Losung ist gefragt. Der Bund ist fUr die Lieferung dieser Antwort kompetent und hat einen Entwurf vorgelegt. Das bundeseinheitliche Altlastensanierungsrecht bildet einen Teil des Bodenschutzrechts des Bundes.

Unabhangig von politischen Eigengesetzlichkeiten haben im Auftrage des Bundesministers fUr Umwelt 8 Professoren den Entwurf eines UGB-BT erarbeitet. Er enthalt im 3. Kapitel Normen zum Thema Bodenschutz und behandelt auch die Altlastensanierung. Der Entwurf wurde Anfang 1994 nach AbschluB der technischen Umsetzung - das Manuskript umfaBt weit mehr als 1000 Seiten; einschlieBlich des UGB-AT (169 Paragraphen) 598 Paragraphen und ihre Begriindung - dem Bundesminister fUr Umwelt vorgelegt. An diesen Regelungen wird das vorhandene Recht jeweils abschlieBend bewertet.

3 Losung ausgewahlter Probleme durch unterschiedliche Gesetze bzw. Gesetzentwiirfe

Nach der Vorstellung der legislatorischen Entwicklung des Altlasten­sanierungsrechts und zugleich der Vorstellung der eingangs erwahnten 4 Stufen folgen die behandelten Probleme:

• Altlastdefinition, • Gefahrerforschungsrecht, • Ermachtigungsgrundlage, • Umfang der Sanierung, • Storerauswahl und Haftungsbeschrankung, • Altlastensanierung durch die offentliche Hand.

3.1 AItlastdefinition

In Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung war friiher ein un­terschiedlicher Gebrauch des Begriffs "AItlast" zu beobachten; zitiert wird je ein Beispiel fUr einen "weiten" und einen "engen" Begriffsgebrauch. Altlast Lw.S. meint jede in der Vergangenheit begriindete Umweltbelastung; dieses Verstandnis verwendete ein nordrhein-westfalischer MinisterialerlaB. Natiirlich ist dieses Begriffsverstandnis als Ankniipfungspunkt fUr Rechtsfolgen ungeeignet. Die z.Z. stattfindende Diskussion versteht den

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Begriff deshalb enger; Altlast sei eine Boden- und Gewasserschiidigung oder Boden- und Gewassergefahrdung aufgrund friiherer menschlicher Aktivitaten. Soweit in Landesgesetzen eine Definition des Begriffs "Altlast" vorhanden ist, wird dieses enge Begriffsverstandnis zugrunde gelegt. § 16 HessAbfG geht davon aus, daB zum Begriff Altlast stillgelegte Deponien (Altablagerungen) und Altstandorte zahlen; die Begriffe Altablagerung und Altstandort werden definiert. Altlasten sind Flachen von Altablagerungen und Altstandorten, wenn festgestellt ist, daB von ihnen wesentliche Beeintrachtigungen des Wohls der Allgemeinheit ausgehen. Ahnliche, z.T. noch detailliertere Regelungen finden sich z.B. in Nordrhein-Westfalen. Kaum anders definiert § 3 Abs. 3 EBodSchG den Begriff. § 284 Abs. 4 UGB-BT hat die Definition des Landes Nordrhein-Westfalen iibernommen. Die jiingere Literatur bedient sich dieses Begriffsverstandnisses ebenfalls. Mit Blick auf die Altlastdefinition gibt es keine Probleme. Heute haben aile mit dem Phanomen Altlast BefaBten das gleiche Ausgangsverstandnis.

3.2 Gefahrerforschungsrecht

3.2.1 Polizeirecht

Erster Schritt im Rahmen der vielen Schritte, die eine Altlastensanierung auslOst, ist die Gefahrerforschung aufgrund eines Gefahrenverdachts. Es ist zu ermitteln, ob eine konkrete Gefahr vorliegt. Die MaBnahmen Untersuchung und Beobachtung einer potentiellen AItlast werden, soweit Rechte Dritter beriihrt werden konnen, dem Begriff Gefahrerforschung subsumiert. Die zur Gefahrerforschung notwendigen drittbelastenden MaBnahmen (Betreten eines Grundstiicks, Probeentnahme) erlaubt das Polizeirecht. Es enthalt die ungeschriebene Ermachtigungsgrundlage Gefahrerforschungseingriff. Die Aufklarung des Sachverhalts ist Ptlicht der Behorde.

Soweit es sich ... urn die Ermittlung eines Sachverhalts handelt, etwa urn die Priifung, ob eine zu beseitigende Storung iiberhaupt gegeben ist, sieht das Gesetz ... vor: 1m Vordergrund steht ... die behordliche Amtsermittlung ... , die nur in bestimmtem Umfang durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten erganzt wird.

Der Biirger hat lediglich die von der BehOrde vorzunehmenden MaBnahmen zu dulden. Daraus folgt, daB der Biirger bei Fehlen konkreter Anhaltspunkte fUr das Vorhandensein einer Altlast von sich aus keine Erforschungen veranlassen muB. Nach der Rechtsprechung einiger Oberverwaltungsge­richte soIl der Inhaber der tatsachlichen Gewalt iiber ein Grundstiick aber verpftichtet sein, z.B. vorlaufige SicherungsmaBnahmen vorzunehmen.

Wenn GefahrerforschungsmaBnahmen vorgenommen werden, stellt sich die Frage der Kostentragung. Die Antwort ist von groBer Tragweite, da die Kosten fUr eine Untersuchung, Beobachtung und Beurteilung sehr hoch sein

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konnen. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung ist nieht der Burger, sondern die Behorde kostentragungspftichtig. Begrundet wird die These damit, daB sie Foige der Trennung zwischen der Ermittlung einer Gefahrenlage und MaBnahmen zu ihrer Beseitigung sei. Dieses Ergebnis nimmt die Rechtsprechung nicht hin. Wird eine Gefahr erkannt, so hat nach der ludikatur der Storer die Kosten zu tragen. Die Kostentragungspfticht entfallt nur dann, wenn der Nachweis einer Gefahr nicht gefUhrt wird.

3.2.2 Landesrecht

Landesrechtliche Regeln normieren die Gefahrerforschung detailliert. So bestimmt z.B. nach § 17 Abs. 2 HessAbfG die zustandige Behorde im erforderlichen Umfang MaBnahmen zur Untersuchung von Art, Umfang und AusmaB der Verunreinigungen, die von altlastenverdachtigen Flachen ausgehen (Erstuntersuchung); als U ntersuchungsmaBnahmen konnen insbesondere die Entnahme und Untersuchung von Luft-, Wasser- und Bodenproben sowie die Errichtung und der Betrieb von Kontrollstellen angeordnet werden. Das Gesetz geht davon aus, daB die Erstuntersuchung der Burger selbst vornimmt. Eine behordliche Untersuchung kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Darin liegt eine wichtige Differenz zur polizei­rechtlichen Losung. Wenn eine behordliche Untersuchung vorgenommen wird, sind nach § 19 Bedienstete und andere von der zustandigen Behorde beauftragte Personen berechtigt, Altlasten und altlastenverdachtige Flachen, Betriebsgrundstucke, Grundstiicke in der Umgebung und im Einwir­kungsbereich von Altlasten und altlastenverdachtigen Flachen zu betreten und erforderliche Priifungen und Messungen vorzunehmen. Grundstiicksei­gentiimer und Nutzungsberechtigte sind verpftichtet, UberwachungsmaB­nahmen zu dulden und den Zugang zu den Grundstiicken, Betriebsgebauden und Anlagen zu ermoglichen.

Das hessische Recht regelt auch die Kostenpfticht. N ach § 17 Abs. 2 Satz 1 HessAbfG tragt der Verantwortliche - das ist der fUr die Sanierung der Altlast Verantwortliche - die Kosten der Erstuntersuchung. Mit Blick auf die Kostentragung geht dieses Gesetz also weiter als das allgemeine Polizeirecht; die Kosten der Erstuntersuchung muB der Verantwortliche auch dann tragen, wenn sich der Gefahrverdacht als unbegriindet erweist.

Ein Beispiel fiir eine unvollstandige Regelung des Gefahrerfor­schungsrechts bildet das Recht von Mecklenburg-Vorpommern. § 23 AbfAIG M-V regelt die Einrichtung eines Altlastenkatasters; die Norm regelt ferner, wer diesem Kataster gegeniiber mitteilungspftichtig ist; schlieBlich regelt § 24 die Uberwachung der Altlasten durch die zustandige Behorde. Alles andere fehlt. Deshalb erfolgen konkrete GefahrerforschungsmaBnahmen auf der Basis des Polizeirechts. Da dieses detaillierte Aussagen nicht enthalt, kann Unsicherheit entstehen, die vermieden worden ware, wenn das Gesetz

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die Einzelheiten normiert hiitte. Warum Einzelheiten fehlen, vermag ich nicht zu sagen. Die Gesetzgebungsmaterialien schweigen.

3.2.3 EBodSchG

Der EBodSchG enthiiIt in § 17 i. V.m. § 12 eine sehr detaillierte Regelung des Problems. Danach kann bei einer altlastverdachtigen Flache die zustandige Behorde die erforderlichen MaBnahmen treffen, urn altlast­verdachtige Flachen zu erfassen, zu untersuchen und zu bewerten. 1m Rahmen der Bewertung sind insbesondere Art und Konzentration der Schadstoffe, ihre raumliche Verteilung im Boden, die Moglichkeit einer Ausbreitung in die UmweIt und deren Aufnahme durch Menschen, Tiere und Pflanzen sowie die friihere und derzeitige Bodennutzung zu beriick­sichtigen. - Wahrend nach hessischem Recht die Untersuchungen die zustandige Behorde vornehmen kann, muB nach § 12 des EBodSchG entweder der Verursacher sowie dessen Gesamtrechtsnachfolger, der Grundstiickseigentiimer oder der Inhaber der tatsachlichen GewaIt iiber ein Grundstiick die Untersuchungen zur Ermittlung von Art, Umfang und AusmaB der Veranderungen durchfiihren; er kann verpflichtet werden, Sachverstandige mit dieser Untersuchung zu beauftragen. Die zustandige Behorde untersucht niemals selbst. Ausgeschlossen ist natiirlich nicht, daB eine BehOrde auf der Grundlage von § 24 VwVfG von Amts wegen ermitteIt (sie tragt dann aber die Kosten se\bst). - Insoweit liegt gegeniiber dem einschlagigen Landesrecht eine signifikante Veranderung vor. Kostentragungspflichtig ist der zur Untersuchung Verpflichtete nach § 25 Abs. 1. Wenn ich den Entwurf richtig verstehe, tritt die Kostentragungs­pflicht auch dann ein, wenn der Verdacht sich als unbegriindet erweist. Insoweit besteht Parallelitat zum hessischen Recht. Genauso wie dieses geht der Entwurf iiber das geltende Polizeirecht hinaus.

3.2.4 UmweItgesetzbuch - Besonderer Teil (UGB-BT)

Nach dem UGB-BT ist die zustandige Behorde iiberwachungspflichtig. Neben ihrer Uberwachungspflicht besteht eine besondere Eigeniiber­wachung, § 294. Nach ihr kann die zustandige Behorde von dem Uber­wachungspflichtigen die Entnahme und Analyse von Stichproben im angemessenen Umfang verlangen. Ferner konnen unter bestimmten Voraussetzungen flachendeckende Bodenuntersuchungen gefordert werden. Behorde und Biirger sind nebeneinander zur Durchfiihrung der notwendigen MaBnahmen zustandig. § 294 Abs. 3 enthaIt eine vom Polizeirecht sowie vom einschlagigen hessischen Recht und dem EBodSchG abweichende Kostenregelung. Die Norm geht davon aus, daB bei einer negativen Analyse

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die zustandige Behorde die Kosten der Probeentnahme und der Analyse tragt; dieses entspricht Polizeirecht. Sodann kann bei Vorliegen einer Bodenbeeintriichtigung die zustandige Behorde dem Verursacher die Kosten der Probeentnahme und der Analyse auferlegen; sie muB es aber nicht: insoweit besteht Ermessen. 1m Faile einer Bodenbelastung sind dem Verursacher die Kosten aufzuerlegen; diese Pflicht ist unbedingt. Bei einer Gefahr tragt der Zustandsverantwortliche die Kosten fUr die Probeentnahme und die Analyse nur dann, wenn ein Verhaltensverantwortlicher nicht vorhanden oder zahlungsunfahig ist und wenn femer dem Zustands­verantwortlichen die Kostentragung zumutbar ist. Die Verhaltenshaftung ist gegenuber der Zustandshaftung vorrangig. An der Zumutbarkeit der Kostentragung fehlt es bei einem "unschuldigen Kaufer". Diese Regel erscheint sachgerecht, urn ahnungslose Kaufer von Grundstucken nicht uber die Kosten fur GefahrerforschungsmaBnahmen zu ruinieren. Dieses Argument ist insbesondere dann schlagkraftig, wenn der Kaufer Kosten fur GefahrerforschungsmaBnahmen nicht (mehr) nach Zivilrecht zuruckfordem kann, etwa wegen der kurzen Verjahrungsfrist von 6 Monaten (§ 477 Abs. 1 BGB).

3.2.5 Bewertung

Es ist m.E. akzeptabel, von dem Prinzip des Polizeirechts abzurucken, daB alIein die Behorde den Gefahrerforschungseingriff vomimmt. Angesichts der unuberschaubar groBen Zahl von Altlastverdachtsflachen muBte ein groBer Mitarbeiterstab aufgebaut werden, urn die Probleme zu bewaltigen. Dieses ist nicht notig, da mittlerweile fur die Aufgabe Altlasterforschung spezialisierte Ingenieurburos existieren, die diese Arbeit durchfuhren konnen. Ob diese Buros die Behorde selbst oder der Burger beauftragt, hat Foigen fur die Bezahlung der Arbeit: Eine Behorde ist immer zahlungsfahig; von ihr beauftragt zu werden, ist deshalb risikolos. Der Entwurf des Bundes ubertragt das Risiko der II1iquiditat des sanierungspflichtigen Burgers den untersuchenden Firmen. Dieses entspricht der Risikoverteilung der burgerlichen Gesellschaft. Diese Risikoverteilung kann m.E. im Interesse des Umweltschutzes aufgelockert werden, damit die notwendigen Unter­suchungen uberhaupt durchgefUhrt werden und nicht infolge der Ablehnung eines Auftrags wegen befUrchteter Zahlungsunfahigkeit unterbleiben.

Das UGB-BT ist mit Blick auf die Kostenverteilung gegenuber dem hessischen Recht und dem Entwurf eines Bundesgesetzes zuruckhaltender. Diese Zuruckhaltung ist angemessen. Der Unschuldige muB davor geschutzt werden, mit Kosten belastet zu werden, zu deren Entstehung er keinen AniaB gegeben hat. Die Zuruckhaltung entspricht partiell dem Polizeirecht. Es besteht m.E. kein AniaB dazu, uber das Polizeirecht, das mit Blick auf den Zustandsstorer m.E. zu weit geht, hinauszuschieBen. DaB dem so sein sollte, dafUr ein Beispiel: Man stelle sich vor, ein Grundstuckseigentumer

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wird von einem miBliebigen Nachbarn denunziert. Wenn die zusHindige Behorde daraufhin Untersuchungen anordnet, muB nach hessischem Recht der denunzierte Biirger die Kosten tragen; das gleiehe gilt nach dem EBodSchG. Dieses Ergebnis kann nieht verniinftig sein. Das Recht muB den Biirger davor schiitzen, durch denunzierende Nachbarn ruiniert zu werden.

3.3 Ermachtigungsgrundlage

3.3.1 Polizeirecht

Die polizeirechtliche Generalklausel bildet die Ermachtigungsgrundlage fiir die Verfiigung der zustandigen Behorde, die Gefahr zu beseitigen. Der Schutz des Bodens bildet heute ein Schutzgut der polizeilichen Generalklausel. Ob eine Sanierungsverfiigung ausgesprochen wird, liegt im Ermessen der BehOrde. Mit diesem Ermessen ist nicht die Moglichkeit verbunden, daB eine notwendige Sanierung unterbleibt. Der Grund dafiir liegt in folgendem: Die Pflieht zur Beseitigung einer Altlast besteht bereits kraft der sog. materiellen Polizeipflieht. Die materielle Polizeipflieht beinhaltet die Pflicht eines jeden, diejenigen Dinge, die seiner tatsachlichen Gewalt unterliegen, gefahrenfrei zu halten. Deshalb ist zumindest der sog. Zustandsstorer zur Beseitigung der Altlast verpfliehtet, ohne daB es darauf ankommt, von der zustandigen Behorde zur Gefahrenbeseitigung verpflichtet zu werden. Die Anordnung zur Beseitigung der Altlast als solche wiederholt deshalb nur, was schon Rechtspflieht ist. Sie hat insoweit deklaratorische Wirkung. Das der zustandigen BehOrde eingeraumte Ermessen bezieht sieh auf die Anordnung des zu wahlen den Mittels zur Zweckerreichung.

3.3.2 Landesrecht

Das hessische Recht enthalt eine Ermachtigung fiir das Aussprechen von Sanierungsverfiigungen. Es besteht eine unbedingte Rechtspflicht, eine Sanierungsverfiigung zu erlassen. Nach dem gerade zur materiellen Polizeipflicht Festgestellten muB die zustandige Behorde den Pflichtigen unbedingt an seine Sanierungspflicht erinnern. 1m Interesse der Rechts­klarheit konnte man in dieser Rechtspflicht einen Fortschritt sehen, muB es aber nieht.

Das Recht von Mecklenburg-Vorpommern enthalt keine Ermach­tigungsgrundlage. In diesem Bundesland sowie in allen weiteren Bundeslandern, in denen eine Ermachtigungsgrundlage fehlt, ist auf die polizeiliche Generalklausel zuriickzugreifen. Es gilt das zuvor zum Polizeirecht Gesagte.

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3.3.3 EBodSchG

Nach § 18 Abs. 1 besteht eine unbedingte Rechtspfticht der Polizeipftich­tigen, Altlasten zu beseitigen. Diese Norm stellt dasjenige ausdrucklich fest, was kraft der materiellen Polizeipfticht ohnehin gilt; sie hat folglich keinen konstitutiven, sondern deklaratorischen Charakter. Eine Ermach­tigungsgrundlage zum Aussprechen von SanierungsverfUgungen findet sich in § 24 Satz 1. Diese Norm raumt der zustandigen Behorde Ermessen ein. Dieses Ermessen kann sich nach dem zuvor Gesagten nur auf die Mittel zur Zweckerreichung beziehen.

3.3.4 UGB-BT

§ 302 UGB-BT enthalt eine Ermachtigungsgrundlage. Sie raumt der zustandigen Behorde Ermessen ein. Aufgrund der Lehre von der materiellen Polizeipfticht bezieht sich dieses Ermessen nur auf die Wahl der Mittel fUr die Zweckerreichung. § 302 UGB-BT enthalt eine Aufzahlung denkbarer Mittel zur DurchfUhrung einer Altlastsanierung.

3.3.5 Bewertung

Fur die materielle Pfticht zur Sanierung besteht kein Unterschied in den verschiedenen Normen. Die unterschiedliche AusfUhrlichkeit der Normen hat lediglich deklaratorischen Charakter.

3.4 Umfang der Sanierung

3.4.1 Polizeirecht

Von den MaBnahmen, die eine Totalsanierung erfaBt, konnen aufgrund des Polizeirechts nur diejenigen Handlungen verlangt werden, die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderlich sind. Damit entfallen die Rekul­tivierung des gereinigten Bodens sowie MaBnahmen umweltrechtlicher Vorsorge als durch das Polizeirecht abgedeckt. Das Polizeirecht kann also keinen optimalen Beitrag zur Altlastensanierung leisten. Fur eine optimale Altlastensanierung ist der EriaB spezieller Normen notwendig.

3.4.2 Landesrecht

Das hessische Recht enthait in § 20 eine sehr detaillierte Regelung uber die behordlichen Anordnungen zur Sanierung einer Altlast. Die zustandige

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BehOrde legt den Sanierungsumfang der festgestellten Altlast fest. Sie kann die AufstellUng eines Sanierungsplans verlangen, der enthiilt:

• MaBnahmen zur Verhiitung, Verminderung oder Beseitigung von Beeintdichtigungen des Wohls der Allgemeinheit durch die Altlast sowie

• MaBnahmen zur Wiedereingliederung von Altlasten in Natur und Landschaft, also: Sicherungs- und DekontaminationsmaBnahmen sowie RekultivierungsmaBnahmen.

Die zustandige Behorde muB den Sanierungsplan genehmigen. Das Recht von Mecklenburg-Vorpommern schweigt zu diesem Komplex.

Es kann in diesem Bundesland also nur das gefordert werden, was das Polizeirecht erlaubt. Freilich gibt es fur Abfalldeponien, die vor dem 1. Juli 1990 stillgelegt worden sind, in § 21 die Verpflichtung zur Rekultivierung. Hier stellt sieh angesichts des Umstands, daB das Gesetz am 5. August 1992 in Kraft getreten ist, die Frage, ob diese Rekultivierungspflicht riickwirkend angeordnet werden kann. Dieses Problem stellt sich auch fUr andere landesrechtliche Normen, die die Altlastensanierung betreffen. Das Problem kann hier nicht ausfUhrlich erortert werden. Es sei hingewiesen auf die Ergebnisse eines yom Autor verfaBten Aufsatzes (Peine 1993): Die Inanspruchnahme zur Rekultivierung eines privaten Rechtsnachfolgers eines ehemaligen Betreibers einer Deponie ist nicht moglich, weil das Recht der DDR eine Rekultivierungspflicht nieht fUr den Betreiber anordnete, sondern nur fiir den Foigenutzer. Damit ist natiirlich nicht ausgeschlossen, daB Lander oder Kommunen als Rechtsnachfolger ehemaliger staatlich be­triebener Deponien zur Rekultivierung verpflichtet sind.

3.4.3 EBodSchG

§ 18 Abs. 1 Satz 2 stellt fest, daB bei stofflichen Belastungen neben Dekontaminations- auch gleichwertige SicherungsmaBnahmen in Betracht kommen konnen. Soweit solche MaBnahmen nicht moglich oder unzumutbar sind, sind sonstige Sicherungs- und BeschrankungsmaBnahmen zu ergreifen. Ferner haben die Verpflichteten nach § 18 Abs. 3 FolgenbeseitigungsmaB­nahmen durchzufUhren. Sie betreffen zum einen Schaden, die durch die SanierungsmaBnahmen selbst entstehen, zum anderen ist der Zustand wiederherzustellen, wie er vor der Einwirkung auf den Boden bestand.

Die am Standort zu diesem Zeitpunkt bestehende Nutzung und vorhandene Vegetation bestimmt die Reichweite der durchzufiihrenden FolgenbeseitigungsmaBnahmen. Folgenbe­seitigung bedeutet ... nicht das Herstellen eines moglichst naturnahen Zustandes; sie ist kein Mittel der Umweltgestaltung, sondern Bestandteil der Schadensbeseitigung.

Nach § 19 kann die Behorde das Aufstellen eines Sanierungsplans fordern. Der Sanierungsplan muB Angaben enthalten iiber die Zusammenfassung der Gefahrdungsabschiitzung, die derzeitige und kiinftige Nutzung des Grundstiicks, Anforderungen an Dekontaminations-, Sicherungs- und

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BeschrankungsmaBnahmen, FolgenbeseitigungsmaBnahmen, Angaben zur zeitlichen Durchfuhrung der MaBnahmen. Die Behorde kann verlangen, daB der Sanierungsplan von einem Sachverstandigen erstellt wird. Der EBodSchG sieht eine Rekultivierungspfticht nicht vor. Die DurchfUhrung von FolgenbeseitigungsmaBnahmen kommt einer Rekultivierung nicht gleich. Insoweit bleibt er hinter dem hessischen Landesrecht zuruck.

3.4.4 UGB-BT

Das Recht des Sanierungsumfangs enthalt § 302. Diese Regelung ist sehr detailliert und abgestuft. Ausgangslage ist, daB die Behorde die Erstellung eines Sanierungsplans verlangen kann, wenn ein solcher Plan aufgrund der mit der Sanierung verbundenen Schwierigkeiten erforderlich ist; der Sanierungsplan enthalt:

• MaBnahmen zur Beseitigung von Bodenbelastungen, • MaBnahmen zur Wiedereingliederung gereinigter Boden in Natur und

Landschaft, also: Dekontaminations- und RekultivierungsmaBnahmen.

Ferner kann die Behorde die Verminderung der Bodenbelastung verlangen, wenn die vollstandige Beseitigung technisch nicht moglich, unzumutbar oder untunlich ist, sowie die in diesem Faile erforderlichen Oberwachungs­und SicherungsmaBnahmen. SchlieBlich darf die Behorde MaBnahmen zur Oberwachung und Sicherung der Bodenbelastung fordern, wenn eine Sanierung oder Minderung der Bodenbelastung technisch nicht moglich, unzumutbar oder untunlich ist. Der Grund fUr diese Regelung ist folgender: Es versteht sich von selbst, daB eine vollstandige Sanierung nicht gefordert werden kann, wenn sie technisch nicht moglich ist. Von einer unzumutbaren vollstandigen Sanierung ist auszugehen, wenn sie in Relation zu Siche­rungsmaBnahmen unverhaltnismaBig teuer ist; eine SicherungsmaBnahme ist z.B. die Einkapselung einer Altlast. Untunlich ist eine vollstandige Sanierung, wenn zu erwarten ist, daB aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts in absehbarer Zeit die Durchfuhrung der Sanierung mit Hilfe einer neuen Technik billiger sein wird als zum Zeitpunkt des ersten Ausspre­chens einer SanierungsverfUgung. Mit Blick auf die Rekultivierungspfticht entspricht das UGB-BT hessischem Recht.

3.4.5 Bewertung

Fur das Recht der Gefahrenbeseitigung sehe ich keine Differenzen zwischen dem EBodSchG und dem UGB-8T. Es ist besser als das hessische Recht, weil es eine abgestufte Regelung enthalt.

Das hessische Recht und das UG8-8T losen die Rekultivierungspro­blematik optimal. Der Entwurf des Bundesgesetzes hat m.E. durch den

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Verzicht auf die Anordnung von RekultivierungsmaBnahmen eine Chance verspielt. Wenn der Entwurf in dieser Form Gesetz werden sollte, haben freilich die Lander noch die Moglichkeit, die Rekultivierungspflicht anzuordnen. Insoweit konnen sich die Lander am hessischen Recht orientieren.

3.5 Storerauswahl und Haftungsbeschrankungen

3.5.1 Polizeirecht

Den schwierigsten Problembereich bildet die Frage, wer zur Gefahrenbe­seitigung verpflichtet ist. Das Polizeirecht kennt den Handlungs(Verhaltens)­und den Zustandsstorer. Die Verhaltensverantwortlichkeit einer Person greift ein, wenn die Gefahr durch ihr Tun oder Unterlassen unmittelbar begrundet wird; die Zustandsverantwortlichkeit trifft den Inhaber der tatsachlichen Gewalt uber die Sache, von der die Gefahr ausgeht. Bei Altlasten sind sowohl Verhaltensverantwortliche als auch Zustandsverant­wortliche vorstellbar; in der Praxis durfte aber wohl der Fall des Zustands­verantwortlichen die weitaus groBte Rolle spielen. Liegt ein Fall der poli­zeilichen Verantwortung vor, dann ist die Schadensbeseitigungs- bzw. -verhinderungspflicht eine kraft Gesetzes bestehende Pflicht; dieses folgt aus der schon erwahnten materiellen Polizeipflicht.

Mit Blick auf die Auswahl eines StOrers, wenn mehrere zur Beseitigung Verpflichtete existieren, besteht nach herrschender Meinung (h.M.) Ermessen der zustandigen Behorde. Es gibt insbesondere keine Rangfolge bei der Heranziehung von verpflichteten Personen - von wenigen gesetz­lichen Aussagen abgesehen, die Heranziehungsgebote und -verbote betreffen - einschlieBlich der Aussage, daB der Leistungsfiihige vor dem weniger Leistungsfahigen in Anspruch zu nehmen ist. Die Aussage, der Verhaltensstorer hafte vor dem Zustandsstorer, ist dem Recht nicht zu entnehmen.

1m folgenden werden einige in der Fachliteratur genannten Haftungs­grenzen vorgestellt:

• Der Handlungs- oder Verhaltensstorer haftet fUr die von ihm "verursachte" Gefahr. In den Begriff "Verursachung" flieBen Wertungsele­mente ein. 1m Sinne der h.M. verursacht der Handelnde eine Gefahr, wenn er sie "unmittelbar" auslost. Diese "Unmittelbarkeit" solI entfallen, weil fUr polizeirechtlich relevante Schiiden, die aufgrund der Inanspruchnahme der Genehmigung erfolgen, die Haftung ausscheide als Konsequenz einer sog. Legalisierungswirkung, die mit der Genehmigung verbunden sei: Die Wahrnehmung eines rechtlich durch die Genehmigung Erlaubten konne nicht spater eine polizeirechtliche Haftung auslosen. - Die Legalisierungs­wirkung ist als etwas rechtlich Selbstiindiges mit der Genehmigung nicht

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verbunden. Der Nachweis, daB diese Rechtsfigur neben anderen Wirkungen einer Genehmigung existiere und das Gewollte bewirke, konnte nicht gefiihrt werden. Die Rechtsfigur ist iiberfliissig; das Gewollte wird bereits durch die schon immer anerkannte "Tatbestandswirkung" eines Verwaltungsakts erreieht. Die Tatbestandswirkung einer Genehmigung besagt, daB es Drittbehorden verboten ist, ein Verhalten zu untersagen, welches die GenehmigungsbehOrde erlaubt hat. Ob ein Haftungsfall vorliegt, ist deshalb ein Problem des Umfangs der Genehmigung. Wurde das in der Genehmigungsurkunde Erlaubte iiberschritten, liegt ein Haftungsfall VOT. 1m iibrigen ist die sog. Legalisierungswirkung fUr Haftungsfragen bedeutungslos.

• Die polizeirechtliche Haftung Privater fUr von Altlasten ausgehende Gefahren ist heute oftmals problematisch, weil die Altlasten erst nach heutiger naturwissenschaftlicher Erkenntnis eine Gefahr darstellen. Nach friiherem Wissen verhielt sich der eine heutige Altlast verursachende Genehmigungsempfiinger im Rahmen des polizeirechtlich Erlaubten. Ob er heute aufgrund des fortgeschrittenen Erkenntnisstandes haften soil, ist eine Frage, deren Antwort heftig umstritten ist. Die h.M. nimmt an, ein Verhalten, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund des zur VerfUgung stehenden Wissens keine als eine Gefahr auslosende Handlung zu erkennen gewesen sei, bleibe polizeirechtlich neutral; die h.M. begriindet dieses Ergebnis mit dem Hinweis, eine nach Beendigung eines ursachlichen Verhaltens eingetretene Anderung des Erkenntnisstandes konne wegen des rechtsstaatlich begriindeten Verbots der Riickwirkung belastender Gesetze nicht dazu fUhren, daB das wahrend seiner Vornahme polizeirechtlich neutrale Geschehen nachtraglich zu polizeiwidrigem Verhalten werde. Die Begriindung fUr dieses Ergebnis erscheint mir zweifelhaft. Es handelt sich nieht urn einen Fall der Riickwirkung eines Gesetzes. Das Gesetz wird lediglich auf der Basis eines anderen und besseren Erkenntnisstandes inter­pretiert. Freilich erscheint mir das Ergebnis, daB derjenige haften solI, der in der Vergangenheit nichts anderes getan hat, als von der Genehmigung Gebrauch zu machen, ungerecht: Es entspricht nicht meiner Vorstellung einer gerechten Verteilung von Folgen fUr ein gemeinsam zu verantwortendes Tun, wenn einzelne die insoweit negativen Konsequenzen des Erkenntnis­fortschritts allein zu tragen haben. Das aber ware bei einer anderen als der oben dargestellten Auffassung der Fall.

• Die Grenzen der Zustandshaftung sind seit langem Gegenstand eines heftig gefUhrten Streits. Folgt man der Rechtsprechung, dann ist festzustellen, daB den Inhaber der tatsachlichen Gewalt iiber ein Grundstiick eine unbegrenzte Verantwortung trifft, wenn von dem Grundstiick eine Gefahr ausgeht, unabhiingig davon, ob die Gefahr von einer Altlast oder einer anderen Gefahrenquelle verursacht wird. Viele Versuche, diese unbegrenzte Haftung in bestimmten Fallen zu reduzieren, sind erfolglos geblieben. Nach der Rechtsprechung muB an der Zustandshaftung im Prinzip festgehalten werden, weil sie als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums

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Rechtliche Aspekte def Altlastenproblematik 111

keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Wenn man ausnahms­weise eine Begrenzung in Betracht zieht, dann nur im Rahmen der Ermes­sensentscheidung, die die Behorde bei der Auswahl unter mehreren Storern zu treffen hat. Insbesondere Erwiigungen zur finanziellen Zumutbarkeit sind nach der Rechtsprechung bedeutungslos. Deshalb bieten weder das Verfas­sungsrecht noch die Normen des Polizeirechts derzeit einen Ansatz fUr eine Begrenung der Zustandshaftung .

• Auch die Rechtsnachfolge in offentlich-rechtliche Pflichten fUhrt, folgt man der h.M., nicht zu einer Haftungsbegrenzung. Die Gefahrenbeseiti­gungspflicht des Handlungsstorers ist eine konkrete Pflicht; sie gilt, wie dargelegt, unabhiingig von einer PolizeiverfUgung. Mit der h.M. sind konkrete Pflichten rechtsnachfolgefiihig. Es haftet deshalb der Rechtsnach­folger der urspriinglich pflichtigen Person, z.B. ein aus Fusion oder Ver­schmelzung hervorgegangener Konzern. Nach Polizeirecht gibt es deshalb weder Beschriinkungen mit Blick auf die Storerauswahl noch sonstige Haftungsgrenzen.

3.5.2 Landesrecht

§ 21 des hessischen Gesetzes nennt insgesamt 6 denkbare Personenkreise, die zur DurchfUhrung der Sanierung verpflichtet sind:

• Inhaber sowie ehemalige Inhaber oder deren Rechtsnachfolger von Anlagen auf Altlasten, soweit die Verunreinigungen durch diese Anlagen verursacht worden sind;

• Ablagerer von Abfall, Abfallerzeuger oder deren Rechtsnachfolger bei Deponien;

• sonstige Verursacher der Verunreinigungen, wenn von ihnen wesentliche Beeintriichtigungen des Wohls der Allgemeinheit ausgehen;

• sonstige Personen, die aufgrund anderer Rechtsvorschriften eine Verantwortung fUr die Verunreinigungen oder hiervon ausgehende Beeintriichtigungen des Wohls der Allgemeinheit trifft;

• der Grundeigentiimer, es sei denn, daB er eine bestehende Verunreinigung beim Erwerb weder kannte noch kennen muBte;

• der ehemalige Grundeigentiimer, es sei denn, daB ihm eine bestehende Verunreinigung wiihrend der Zeit des Eigentums oder des Besitzes nicht bekannt wurde.

Nach § 21 Abs. 1 Satz 2 des hessischen Gesetzes trifft die zustiindige Behorde die Auswahl bei der Heranziehung von Sanierungsverantwortlichen nach pflichtgemiiBem Ermessen. 1m hessischen Recht fehlen deshalb Kriterien, die eine Rangfolge der Sanierungsverantwortlichen begriinden konnten. Insoweit wird das im allgemeinen Polizeirecht Geltende tradiert.

Das hessische Recht enthiilt eine Haftungsbegrenzung fUr den Grundei­gentiimer und den ehemaligen Grundeigentiimer. Wenn dieser Personenkreis

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eine bestehende Verunreinigung weder kannte noch kennen muBte, entfallt die Haftung. Die Haftung der ZustandsstOrer ist deshalb begrenzt. Der unschuldige Kaufer haftet nicht. Nach § 21 Abs. 2 entfallt die Haftung fiir aIle in Abs. 1 genannten Personen, wenn der Verantwortliche im Zeitpunkt des Entstehens der Verunreinigung darauf vertraut hat, daB eine Beein­trachtigung der Umwelt nicht entstehen konne, und wenn dieses Vertrauen unter Beriicksichtigung der Umstande des Einzelfalles schutzwiirdig ist. Dieses ist nach meiner Einschatzung der Fall, wenn sich die von einer Altlast ausgehende Gefahr erst nach heutiger naturwissenschaftlicher Erkenntnis als eine Gefahr darstellt. Die angemahnte Haftungsbegrenzung ist also in Hessen Gesetz geworden.

1m iibrigen fehlen Haftungsbeschrankungen. Dieser Befund entspricht der Rechtsprechung zum Polizeirecht.

Dem Recht von Mecklenburg-Vorpommern fehlen Aussagen zum Pro­blem der Storerauswahl sowie zur Haftungsbegrenzung. Insoweit gilt das allgemeine Polizeirecht. Es gibt deshalb nach mecklenburg-vorpommerschem Recht keine Haftungsbegrenzung. Das ist insofern erstaunlich, als in diesem neuen (verhiiItnismaBig armen) Bundesland ein harteres Haftungsrecht existiert als in einem alten (verhiiItnismiiBig reichen) Bundesland.

3.5.3 EBodSchG

Eine Reihenfolge mit Blick auf das Heranziehen von Sanierungsverant­wortlichen kennt der EBodSchG nicht. Insoweit entspricht er allgemeinem und besonderem Landesrecht.

Nach dem EBodSchG gibt es keine Haftungsbeschriinkung fiir Verhal­tens storer. § 25 Abs. 4 des Entwurfs enthiiIt eine Haftungsbegrenzung fiir Grundstiickseigentiimer. Der Grundstiickseigentiimer, der weder Verur­sacher ist noch bei Begriindung des Eigentums Kenntnis von der Altlast oder den sie begriindenden Umstiinden hatte oder hiitte haben konnen, ist nicht kostenpflichtig, soweit die angeordneten MaBnahmen den privatniit­zigen Gebrauch des Grundstiicks ausschlieBen. Der privatniitzige Gebrauch des Grundstiicks ist ausgeschlossen, soweit die zur Durchfiihrung der MaBnahmen erforderlichen Kosten den Wert des Grundstiicks nach Durch­fiihrung der MaBnahmen iibersteigen.

Da das hessische Recht auch fiir den VerhaltensstOrer eine Haftungsbe­grenzung kannte, bleibt der EBodSchG hinter dem hessischen Recht zuriick. Er bleibt hinter diesem auch mit Blick auf den Grundstiickseigentiimer zuriick. Denn nach diesem Recht haftet der Grundstiickseigentiimer iiberhaupt nicht, wenn er von der Altlast oder den sie begriindenden Umstiinden keine Kenntnis hatte oder hiitte haben konnen. Der EBodSchG sieht aber fiir den gutgliiubigen Grundstiickseigentiimer gleichwohl eine Haftung vor, wenn die Kosten den privatniitzigen Gebrauch des

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Rechtliche Aspekte der Altlastenproblematik 113

Grundstiicks nicht ausschlieBen. Der gutglaubige Kaufer haftet folglich bis zur Hahe des Verkehrswerts des sanierten Grundstiicks. Diese Regelung ist m.E. wenig vorteilhaft, weil sie zu einer Beschrankung des Grund­stiicksverkehrs fiihren wird. Niemand wird ein Grundstiick kaufen, wenn er anschlieBend mit Sanierungskosten in Hahe des Verkehrswerts des gesauberten Grundstiicks iiberzogen werden kann; denn zum Kaufpreis kommen diese Kosten hinzu. Der Grundstiickskaufer hat deshalb wenigstens mit einer Kostenverdoppelung zu rechnen. Ein solches Risiko wird niemand eingehen wollen. - Gegen diese Annahme kann nicht eingewandt werden, im Kaufvertrag kanne eine Haftung des Verkaufers fiir Sanierungskosten vereinbart oder ein Abschlag beim Kaufpreis vorgenommen werden. Es ist fraglich, ob diese Vereinbarungen sich immer durchsetzen lassen; ferner ist mit der IlIiquiditat des Verkaufers zu rechnen. Ein wirksamer Schutz des gutglaubigen Kaufers ist nur durch einen HaftungsausschluB zu erreichen.

3.5.4 UGB-BT

Die graBte Abweichung yom bislang geltenden Recht enthalt § 304 UGB­BT fUr die von der Beharde zu treffende Auswahl des Starers. Es wird eine Rangfolge bei der Heranziehung der verschiedenen Storer aufgestellt. § 304 Abs. 1 Satz 1 stellt zwar in Ubereinstimmung mit dem bisherigen Recht fest, daB die Auswahl unter den Verantwortlichen die zustandige Beharde nach pfiichtgemaBem Ermessen trifft. Die folgenden Absatze enthalten dann freilich eine Beschrankung dieses Ermessens. Nach Abs. 2 solI ein ehemaliger oder ein jetziger Grundstiickseigentiimer nur herangezogen werden, wenn ein Verhaltensstarer nicht ermittelt werden kann oder aus anderen Griinden, insbesondere wegen mangelnder wirtschaftlicher Leistungsfahigkeit, nicht oder nur teilweise herangezogen werden kann. Der Grundstiickseigentiimer ist also der letzte in der Haftungskette. Dieses erscheint gerecht, wei I er nicht derjenige ist, der die Altlast verursacht hat. Der Verursacher haftet also vor dem Zustandsstarer.

Das UGB-BT regelt die Verantwortlichkeit in § 303. Es stellt zunachst fest, daB der Verursacher einer Altlast sowie derjenige, der aufgrund gesetzlicher Bestimmungen fUr das Verhalten anderer einzustehen hat, sowie seine Rechtsnachfolger verpfiichtet sind, die DurchfUhrung der Sanierung sowie die entstehenden Kosten zu tragen. In Abs. 2 findet sich eine Vermutung des Inhalts, daB Verantwortlicher auch derjenige ist, der im Zeitraum, in dem die Bodenbelastung mutmaBlich entstanden ist, eine Anlage betrieben hat, von der die Bodenbelastung iiberwiegend wahrscheinlich ausgegangen sein kann. Abs. 3 enthalt eine auf 30 Jahre (das ist die Hachstdauer der Haftung nach BGB) begrenzte Haftung fUr den Grundstiickseigentiimer, indem festgestellt wird, daB verantwortlich auch derjenige ist, der Eigentiimer des Grundstiicks in dem Zeitraum gewesen ist, in dem die Bodenbelastung mutmaBlich entstanden ist. In Abs. 4 wird

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der jetzige Eigentumer des Grundstucks sowie der Inhaber der tatsiichlichen Sachherrschaft fUr die Altlastensanierung fUr verantwortlich erklart.

Abs. 5 enthalt eine Haftungsbeschrankung. Die Verantwortlichkeit nach den Abs. 1 und 2 entfallt, wenn die Inanspruchnahme unzumutbar ist, weil der Verantwortliche im Hinblick auf rechtmiiBiges behardliches Verhalten im Zeitpunkt des Entstehens der Bodenbelastung darauf vertraut hat, daB eine Gefahr nicht entstehen kanne, und wenn dieses Vertrauen unter Berucksichtigung der Umstande des Einzelfalls in besonderem MaBe schutzwurdig ist. Damit wird diejenige Haftungsbeschrankung aufgegriffen, die ich mit Blick auf die Veranderung des naturwissenschaftlichen Erkennt­nisstandes fUr gerechtfertigt halte. Ferner entfallt eine Haftung des jetzigen Grundstuckseigentumers, wenn der Verantwortliche beim Grundstuckser­werb oder ·bei der Ubernahme der tatsachlichen Sachherrschaft die Boden­belastung weder kannte noch kennen muBte. Diese Haftungsbeschrankung entspricht hessischem Recht. Sie geht we iter als der Entwurf des Bundes­gesetzes. Eine letzte Haftungsbeschrankung ist fur den jetzigen Eigentumer sowie den Inhaber der tatsiichlichen Sachherrschaft noch zu vermerken: Sie haften nur in dem Umfang, der fur einen fruheren Eigentumer bestand. Der Verkauf eines Grundstucks soil also nicht die Maglichkeit der Haftungs­erweiterung bieten. Diese Begrenzung der Haftung ist notwendig, urn den Grundstucksverkehr nicht uber Gebuhr zu beschranken; ferner ist diese Haftung vertraglich auf den Verkaufer abwalzbar, womit der Kaufer lediglich das Risiko der Illiquiditat des Verkaufers tragt.

Eine weitere Haftungsbegrenzung enthalt § 304 Abs. 3. Der Rechts­nachfolger haftet nur dann, wenn ein anderer Verantwortlicher nicht zu ermitteln ist oder aus anderen Grunden, insbesondere wegen mangelnder wirtschaftlicher Leistungfahigkeit, nicht oder nur teilweise herangezogen werden kann. Wenn beispielsweise ein Unternehmen noch existiert, sich aber von bestimmten Betriebsteilen getrennt hat und diese Betriebsteile von einem anderen Unternehmen ubernommen worden sind, dann haftet das ubernehmende Unternehmen nur dann, wenn eine Haftung des die Altlast verursachenden Unternehmens wegen dessen mangelnder wirtschaftIicher Leistungsfiihigkeit entfallt.

3.5.5 Bewertung

Wie schon deutlich wurde, bedarf das Polizeirecht der Erganzung: sowohl mit Blick auf die Starerauswahl als auch mit Blick auf Haftungsbegren­zungen. Fur das Problem der Starerauswahl enthaIt ausschliel3lich das UGB­BT eine Aussage. Beim Haftungsproblem bleibt das EBodSchG weit hinter dem zu Fordernden zuruck. Auch fUr dieses Problem enthaIt das UGB-BT eine angemessene Lasung; die hessische Lasung bleibt hinter ihr kaum zuruck.

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Rechtliche Aspekte der Altlastenproblematik 115

3.6 Altlastensanierung durch die ofTentliche Hand

3.6.1 Polizeirecht

Auf der Grundlage des Polizeirechts gibt es eine Altlastensanierung durch die offentliche Hand niehl.

3.6.2 Landesrecht

Nach § 22 des hessischen Rechts gibt es eine Altlastensanierungsgesellschafl. Diese Altlastensanierungsgesellschaft fiihrt die Sanierung in den Hillen durch, in denen ein Sanierungsverantwortlicher nieht oder nieht rechtzeitig in Anspruch genommen werden kann. Die Sanierung wird durchgefiihrt im Rahmen eines aufzustellenden Finanzierungsplans. Trager der Altlasten­sanierungsgesellschaft in Hessen ist die Hessische Industriemiill GmbH.

Nach nordrhein-westialischem Recht ist dann, wenn ein Privater als zur Durchfiihrung der Altlast Verpftichteter entfallt, ein offentlieh-rechtlicher Verband zur Durchfiihrung der Sanierung berechtigt. In einigen Bun­deslandern, so in Mecklenburg-Vorpommern, fehlen Regelungen iiber die "Ausfallhaftung" der offentlichen Hand.

Es gibt demnach unterschiedliche Modelle betreffend die Durchfiihrung der Sanierung durch die offentliche Hand: privatrechtliche und offentlich­rechtliehe Sanierungstrager sind in der Praxis vorhanden.

3.6.3 EBodSchG

Der Entwurf des Bundesgesetzes enthalt keine Regelungen dariiber, wie die Altlastensanierung durchzufiihren ist, wenn ein Privater als Haftender entialll.

3.6.4 UGB-BT

§ 311 stellt fest, daB in den Fallen, in denen ein Sanierungsverantwortlicher nicht oder nicht rechtzeitig in Anspruch genommen werden kann, der Trager der Altlastensanierung (Altlastensanierungsgesellschaft) nach MaBgabe der ihm zur Verfiigung stehenden Mittel und unter Beriicksichtigung der Empfehlungen einer Bewertungskommission die Durchfiihrung der Sanierung iibernimml. Die Lander konnen zum Trager der Altlasten­sanierung juristische Personen des offentlichen und privaten Rechts sowie natiirliehe Pesonen bestimmen.

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3.6.5 Bewertung

Das UGB-BT geht tiber den Entwurf des Bundes hinaus, tiberiaBt es aber den Landern, wie sie das Problem losen. Es erschien den Verfassern nicht sinnvoll, eine bereits eingespieIte Praxis zu verandern. DaB es aber eine Losung dieses Problems geben muB, ist unabweisbar angesichts des Umstandes, daB viele Private die Kosten fUr eine Sanierung nicht werden aufbringen konnen. Das Schweigen des EBodSchG ist deshalb tiberraschend.

4 Schlu8betrachtung

Es konnte gezeigt werden, daB die Regelungen des Polizeirechts nur ansatzweise den vielfaltigen Problemen gerecht werden, die sich im Zusam­menhang der AItlastensanierung stellen. Deshalb ist ein auf diese Probleme zugeschnittenes Spezialrecht erforderlich. Die Lander haben m.E. mit Blick auf den ErlaB dieses Spezialrechts versagt: dadurch, daB in den meisten Landern kaum materielles Sanierungsrecht existiert, sondern lediglich ein Recht, welches die vorhandenen Altlasten verwaltet, sowie dadurch, daB z.B. Hessen materielles Recht erlassen hat, dieses aber partiell zu weit geht, z.B. bei den Kostenregelungen. Die Problemlosung des Bundes ist weitgehend akzeptabel, enthaIt aber Defizite: fehlende Rekultivierungs­pflicht, fehlende Rangfolge bei der Heranziehung der Storer, fehlende Aussagen tiber die Sanierung durch die offentIiche Hand und eine falsche Regelung hinsichtlich der Haftung. Ein vollstandiges Sanierungsrecht enthaIt nur das UGB-BT. Dessen Aussagen, z.B. tiber die Haftungsbe­schrankungen, kommen einer ausgewogene Problemlosung sehr nahe.

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Kriterien und Steuerungsansatze okologischer Ressourcenpolitik - Ein Beitrag zurn Konzept okologisch tragfahiger Entwicklung

Martin Janicke

1 Einfiihrung

1m folgenden wird ein strukturierender Uberblick tiber Begriff, Indikatoren, Erfordernisse, Ansatzpunkte und Handlungsm6glichkeiten 6kologisch tragfahiger Entwicklung gegeben. Diese werden als Gegenstand von Ressourcenpolitik beschrieben, einer umweltpolitischen Strategie, die tiber Ansatze des Immissionsschutzes (70er Jahre) und des Emissionsschutzes (80er Jahre) prinzipiell hinausgeht. Ressourcen sind die in den Produktions­und KonsumtionsprozeB eingehenden Stoffe und Flachen. Ressourcenpolitik wird hier also weiter gefaBt als Stoffpolitik (Held 1991). Sie wird als Summe aller MaBnahmen zur Beeinflussung von Stoffstr6men und Flachennutzungen mit dem Ziel einer langfristigen Stabilisierung der Umweltsituation verstanden.

2 Zur BegriffskHirung

Die politische Sprache Iebt von mehrdeutigen, assoziationsreichen Leer­formeln. Die Sprache der Wissenschaft hingegen muB begriffliche Mehr­deutigkeiten prinzipiell meiden bzw. systematisch tiberwinden. Dies gilt auch fUr die politische Formel der tragfahigen Entwicklung (sustainable development). Ein diesbeztiglicher semantischer Konsens scheint am ehesten im Hinblick auf den Kernbereich der zu bewaltigenden 6kologischen Problematik m6glich. Diese wurde in Anlehnung an Herman Daly von Donella und Dennis Meadows in Form von Kriterien des materiellen Durchsatzes formuliert:

Die Nutzungsrate sich erneuernder Ressourcen darf deren Regenerationsrate nicht iiberschreiten. Die Nutzungsrate sich erschopfender Rohstoffe darf die Rate des Aufbaus sich regenerierender Rohstoffquellen nicht iibersteigen. Die Rate der Schadstoffemissionen darf die Kapazitiit zur Schadstoffabsorption der Umwelt nicht iibersteigen (Meadows et al. 1992, S 251).

Das zweite Kriterium ist freilich umstritten: Es scheint das bestehende hohe Niveau der Rohstoffnutzung fortzuschreiben und nur dessen Substitu­tion vorzusehen. Zugleich fehlen wichtige Minimalerfordernisse 6kologisch

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120 M. Janicke

tragHihiger Langzeitentwicklung, insbesondere das vollig ungelOste Problem der bauliehen FHichennutzung, der GroBrisiken und der bedrohten Arten­vielfalt. Wichtig ist auch die noch zu erHiuternde Differenzierung zwischen FluB- und BestandsgroBen. Der Begriff miiBte auch der Tatsache Rechnung tragen, daB langfristige Umweltprobleme vor allem in den IndustrieIandern hervorgerufen werden, Gegenkonzepte also vor allem auf diese Lander­gruppe anwendbar sein miiBten. Tragfahigkeit im Stadium okonomischer Unterentwicklung ist auch etwas anderes als unter den Bedingungen in­dustrieller Uberentwicklung.

Bezogen auf Industrielander konnte okologisch tragfahige Entwicklung (sustainable development) als eine Wirtschaftsweise verstanden werden, bei der

• der Verbrauch erneuerbarer Ressourcen deren Regenerationsfahigkeit nieht iibersteigt,

• Flachen- und Wasserverbrauch sowie Transportleistung auf einem Niveau stabilisiert werden, das Langzeitschaden ausschlieBt,

• der Verbrauch nieht erneuerbarer Ressourcen absolut reduziert wird, • die Absorptionsfahigkeit der Umwelt nieht iiberfordert, die Artenvielfalt

nieht verringert und • GroBrisiken vermieden werden.

Tragfahige Entwieklung bezeichnet als normative Leitlinie wirtschaftliche Entwieklungen, die in diesem Rahmen international und intergenerativ verallgemeinerbar sind. Diese Norm schlieBt Umweltschutzstrategien aus, die Probleme lediglich zeitlich oder raumlich verlagern. Das Konzept gewinnt seine dramatische Qualitat via negation is als Vermeidungsimperativ: Negatorisch markiert es Gefahren langfristiger Entwicklungen des Indu­strialismus, die meist erkannt, bisher aber nicht abgewendet wurden.

3 Indikatoren zur Messung okologisch tragfahiger Entwicklung

Damit sind Leitlinien umrissen, die der Operationalisierung bediirfen. Die entsprechenden Problemtendenzen miissen darstellbar sein. Erfolg und MiBerfolg von GegenmaBnahmen miissen empirisch iiberpriifbar sein. Hier liegen zugleich die Defizite, die es leicht zu einem Pseudokonsens unter diesem Schlagwort kommen lassen. Erst eine differenzierte Konkretisierung langfristiger okologischer Problemtendenzen macht klar, wie massiv die notwendigen Trendwenden in den ProduktionsprozeB eingreifen, wie wenig mit anderen Worten auf "Selbstheilungskrafte" des bestehenden Wirtschafts­systems allein gesetzt werden kann. Umweltpolitisch bedarf es derzeit weniger einer allgemeinen Theorie okologisch tragfahiger Entwicklung als der Ermittlung zentraler Indikatoren, die entsprechende Langzeitprobleme und mogliche Problemlosungen darstellbar und meBbar machen. Diese

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Kriterien und Steuerungsansatze okologischer Ressourcenpolitik 121

sollten als Zeitreihen verfiigbar, international vergleichbar und global hochrechenbar sein.

1m Lichte vielfiiltiger Systematisierungsversuche bieten sich zur Messung und Bewertung okologischer Tragfiihigkeit 3 mogliche Ebenen der Betrach­tung an:

• die Ressourceninputs, • die stofflichen Outputs des Produktionsprozesses und • die riiumlichen Auswirkungen bzw. Impacts (s. Abb. 1).

Inputs und Outputs betreffen den Verursachungsbereich. Die Impacts fallen als raumbezogene Wirkungen bei betroffenen "Akzeptoren" an. Die Umweltokonomische Gesamtrechnung (UGR) strukturiert diesen Zusammenhang iihnlich, wobei die Verursachungs- und die Belastungsebene jeweils noch einmal aufgegliedert werden (Bundesumweltministerium 1992). Auf jeder dieser 3 Ebenen ist das Problem der Nachhaltigkeit darstellbar. Priiventive Umweltpolitik wird sich vor all em auf die problemverursachenden Inputs and Outputs des Produktionsprozesses konzentrieren. In dem auf der Rio-Konferenz vorgestellten "System for Integrated Environmental and Economic Accounting" (SEEA) geschieht dies ebenfalls (Hamer u. Stahmer 1992).

1m folgenden sollen diese 3 Ebenen und die zentralen Indikatoren des materiellen Durchsatzes verdeutlicht werden:

• Die Inputs des Produktionsprozesses (von der Rohstoffgewinnung bis zum Endverbrauch); zentrale Indikatoren sind hier der Verbrauch an

- Materialien (nach Hauptgruppen), - Energietriigern (nach Hauptgruppen), - Wasser und - Boden.

UMWELTPOLITIK

Ressourcen­minimierung

INPUT

Rohstoffe .... Energie .... Flache ....

(Verursacher)

---- -

Produktionl Verbrauch

.... .... .... ....

Emissions­kontrolle

OUTPUT

Abfall Emissionen direkte Stoff-eintrage phys. Eingriffe

Immissions -I Naturschutz

IMPACTS (Akzeptoren)

.... Verluste - Flache, - Rohstoffe - Arten - Funktionen

Abb.t. Verursacher-Akzeptor-Ansatz der Umweltbilanzierung (Forschungsstelle fiir Umwelt­politik)

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122 M. Janicke

Die implizierten Transportstrome sollten hier als eigensHindiger Indikator erfaBt werden, auch wenn sie Teil des ("internen") Produktionsprozesses und in der Ressourcenbilanz mit ihrem Energie-, Material- und FHichen­verbrauch bereits berucksichtigt sind. Eine Produktion mit geringer MaterialintensiHit kann - bei starker regionaler Arbeitsteilung - gleich­wohl eine hohe Transportintensitiit aufweisen. Zumindest fUr eine okologische Bewertung der Produktionsstruktur und ihres Wandels ist dieser Indikator von unbestritten hoher Bedeutung. Zusiitzlich ist im Hinblick auf die Emissionen auch die separate Erfassung des Einsatzes von Luft ergiinzend notwendig (Steurer 1994; Schutz u. Bringezu 1993). Wenngleich dies methodisch nicht durchhaltbar ist, muB grundsatzlich die jeweilige Stoffmenge mit einem Risikofaktor bewertet werden; so un­terschiedliche Stoffe wie Kies und Plutonium mach en dies offensichtlich (wobei auch Kies bei Gewinnung, Transport oder Abfallbeseitigung alles andere als frei von Umweltproblemen ist).

• Die umweltwirksamen Outputs des Produktionsprozesses sind

- Abfiille, - Emissionen und dissipative Verluste und - Stoffeintriige in die Umwelt in Form von Dungemitteln und Pestiziden.

Hinzukommen als potentielle Abfalle die eigentlichen Produkte:

- Gater fUr den Endverbrauch und - Bauten und Anlagen.

Sie sind zwar kein Output im okologischen Sinne; denn sie verbleiben, solange sie genutzt oder als Abfall wiederverwertet werden, "im System"; aber die noch zu behandelnden Probleme des Recycling legen es nahe, systematisch daran zu erinnern, daB auch die Produkte potentieller Abfall sind und daB die Verringerung ihrer Masse ein unerlaBlicher Beitrag zur Umweltentlastung ist.

• SchlieBlich geht es urn die Impacts in Form von raumlich wirksamen Umweltbelastungen, Immissionen, Bodenbelastungen, Entnahmen aller Art fUr produktive Zwecke, Verluste aller Art (Biodiversitiit, Naturflachen etc.).

Produktionsinputs und -outputs lassen sich einigermaBen aufeinander be­ziehen. Dagegen ist eine exakte Zuordnung von Outputs und Impacts (z.B. Emissionen und Immissionen) methodisch kaum moglich. Sie bleibt notge­drungen unvollstiindig, wenn sie nur im regionalen oder nationalen MaBstab erfolgt, wo immer ein erheblicher, meist nicht erfaBbarer Teil importiert oder exportiert wird.

Am ehesten lassen sich Ursachen und Wirkungen als hochaggregierte, globale GroBen zuordnen: Aile stofflichen Inputs werden zu Emissionen oder Abfiillen, die sich im globalen MaBstab akkumulieren. Auf der regionalen Ebene kann hingegen in Regelfall nur gelten: Irgendwo bleiben

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Kriterien und Steuerungsansiitze okoiogischer Ressourcenpoiitik 123

die stoffiichen Inputs, und irgendwo wurden die ortlichen Umweltbelastungen hervorgerufen. Dies ist den groBraumigen Schadstofftransporten, den schwer zu erfassenden stofftichen Aspekten der internationalen Giiterstrome, den vielfaltigen chemischen Reaktionen von Schadstoffen oder den indirekten Umwelteffekten durch klimatische Veranderungen geschuldet. Eines der weiteren Probleme einer unmittelbaren Zuordnung von Ursache (Input/ Output) und Wirkung (Impact) ist die Tatsache, daB die aufnehmenden Raume unterschiedlich empfindlich, die Wirkungen also ebenfalls unter­schiedlich sind (Zieschank et al. 1993). DaB dennoch im Rahmen der geplanten Umweltokonomischen Gesamtrechnung (Bundesumwelt­ministerium 1992; Hamer u. Stahmer 1992) analog zur Bruttosozialprodukt­berechnung auch die Stoffstrome quantitativ so gut wie moglich miterfaBt werden, ist ein sinnvoller und auch weith in aussichtsreicher Versuch; aber es werden in der regionalen und nationalen Bilanz gleichwohl Liicken bleiben.

Insgesamt spricht manches fUr die SchluBfolgerung von Kuik und Verbruggen: "Given this state of affairs, it is preferable to monitor sus­tainable development with a set of 'quick and dirty' indicators" (Kuik u. Verbruggen 1991, S 2).

4 Notwendige Differenzierungen

Okologisch tragfahige Entwicklung ist zu unterscheiden von entkoppeltem ("qualitativem") Wachstum, im Sinne eines produzierten Wertzuwaches bei Nullzuwachs der okologisch relevanten Inputfaktoren. Sie ist mehr als das. Der herkommliche Begriff des "qualitativen Wachstums" beriicksichtigte (noch) nicht die Unterschiede zwischen den einzelnen Inputfaktoren. Ein Nullzuwachs der Siedlungsfiachen und des Wasserverbrauchs ware, wenn keine Ubernutzungen vorliegen, grundsatzlich okologisch tragfahig. Hier geht es urn die Stabilisierung auf akzeptablem Niveau. Ahnliches gilt fUr das Transportaufkommen und fUr die (hier ausgeklammerte) Larmproblematik. Hier ist wirklich das Wachstum das Problem. Ein Nullzuwachs bei den FluBgroBen Energie- und Materialverbrauch hingegen ist prinzipiell keine Problemlosung; denn hier wachst - unter sonst gleichbleibenden Bedingungen - die Menge schon in einem Jahr auch dann urn das Doppelte, wenn "Nullwachstum" besteht.

Das Problem der Industriegesellschaften liegt also nicht nur und nicht so sehr in ihrem Wachstum. Das eigentliche Problem entsteht durch den AkkumulationsprozeB der FluBgroBen Rohstoffe und Energietrager (bzw. Abfalle und Emissionen), die auch dann, wenn sie nicht wachsen, auf der Bestandsebene (ceteris paribus, also ohne Beriicksichtigung natiirlicher Abbauprozesse) von einem Jahr urns andere urn 100% zunehmen. Auch wenn der jahrliche Giiterberg nicht wachst, wachsen Jahr fUr Jahr die Miillhalden. Beim Flachenverbrauch hingegen ist das entscheidende Problem

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die ungeloste Wachstumsdynamik. Diese Unterschiede der Hauptindikatoren diirfen nieht iibersehen werden. Sie haben unterschiedliche umweltpolitische Konsequenzen. Das ist die erste Erkenntnis, die sich ergibt, wenn man die stofflichen Durchsatzmengen im Zeitverlauf erfaBt.

5 Zur Notwendigkeit nationaler Ressourcenbilanzen

Nationale Stoffbilanzen verdeutlichen auch die hohe Bedeutung der in der Umweltdebatte lange ausgeklammerten Giiter, Bauten und Anlagen. Sie zeigen u. a. auch die Grenzen des Recycling. Auffallend ist z.B., daB selbst in Japan die Recyclingquote, bezogen auf samtliche Rohstoffe, 1990 nur bei 8% lag, in der Bundesrepublik liegt sie noch niedriger. Fossile Energietrager lassen sich (jenseits der Abwarmenutzung) nicht wiederverwerten, eben­sowenig beispielsweise die eingesetzten Pestizide oder die dissipativen Verluste. Recycling ist auf Dauer immer auch ein Problem des steigenden spezifischen Energieeinsatzes. International vollstandige Stoffbilanzen, die aber bisher nur in Teilbereiehen vorliegen, wiirden iiberdies deutlich machen, wie kompliziert Vorstellungen einer "Kreislaufwirtschaft" im Hinblick auf die weltweite Arbeitsteilung und Vernetzung der Produktion sind. Was geschieht mit den Stoffen, die in Form von Waren importiert werden? Was geschieht mit den Vorprodukten, die aus allen Teilen der Welt zusammengetragen werden? Als Recyclingprodukte werden sie jedenfalls im Verbrauchsland weniger benotigt als in den Produktions­zentren. Wird sich bei dieser weltweiten Arbeitsteilung ein Kreislauf der Wiederverwertung bilden lassen?

Wenn wir die nationalen und die internationalen Stoffstrome als solche wie auch als Warenstrome kennen, lassen sich angemessene Strategien entwickeln. Die Frage der Indikatoren tragfahiger Entwicklung und die dazu gehorigen Datenmengen konnen in ihrer umweltpolitischen Bedeutung gar nicht iiberschatzt werden. Die Datenlage aber ist iiberaus beklagenswert. Die Gesamtmenge eingesetzter Rohstoffe ist nur fiir einige wenige Lander bekannt. Von einer standardisierten, international vergleichbaren Statistik kann keine Rede sein. Dabei ist zumindest die einheitliche Erfassung der wiehtigsten Rohstoffgruppen (Steine/Erden, Energietrager, Erze, Salze, biotische Rohstoffe, wiederverwertete Stoffe) unumganglich; denn auch diese Gruppen legen sehr unterschiedliche umweltpolitische Konsequenzen nahe.

6 Reduktionsimperative

Am Beispiel Japans kann gezeigt werden, daB ein entkoppeltes Wachstum grundsatzlich m6glich ist (s. Abb. 2). Zwischen 1973 und 1985 waren die

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Kriterien und Steuerungsansatze okologischer Ressourcenpolitik

320

300 - BruUowertschopfung (Preisbosis 1985)

280 --- Endenergieverbrouch

...... Stromverbrouch

260 .... Wasserverbrauch

240 ....... Bodenverbrouch

.+- Rohstoffyerbrouch

220 -9. Tronsportleistung (Strolle I Schiene)

200

180

125

160

.........

..............•

~~------~~~~ .- ...... _ ......... .. 140

120

100

........ - .. _ .................... . .... =~:=~.~: .. --.::.:::::--.--. .................. _---_._-- . /------

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

Abb. 2. Industrieller Ressoureenverbrauch in Japan (1970 = 100). (Forschungsstelle fUr Umweltpolitik; OECD, International Road Federation, Japan Statistics Bureau, Environment of Agency, Japan)

wichtigsten oben genannten Indikatoren okologisch tragfiihiger Entwicklung yom Anstieg der Industrieproduktion abgekoppelt (Janicke et al. 1992). Es laBt sich auch zeigen, daB dies vor aHem einer Effizienzrevolution innerhalb der Unternehmen zu verdanken ist. Wichtige Indikatoren wie der industrieHe Energieverbrauch blieben tiber lange Zeit konstant. Ab 1986 kommt es aber zu einem erneuten Anstieg. 1m Zeitverlauf ist eine so\Che Entkopplung offenbar nur durch immer erneute, massive Anstrengungen durchzuhalten. Das ist das erste Problem okologisch tragfahiger Industrieentwicklung.

Das zweite, wesentlich groBere Umweltproblem beginnt aber bereits vor der Wachstumsfrage. Selbst wenn Japan seine Entkopplung wichtiger InputgroBen durchhalten wtirde, wtirde dies nichts an der Tatsache andern, daB dort jahrlich (Stand 1990) tiber 2 Mrd. t Rohstoffe in Emissionen, Abfalle, Exporte, heimische Bauten und Produkte umgewandelt werden, wobei Bauten und Produkte nur zeitlich verzogert zu Abfallen werden. In der Bundesrepublik ist dies (1989) ungefahr 1 Mrd. t Rohstoffe (Wasser, Luft, Bodenaushub und Abraum sind in dieser Summe nicht enthalten). Auch ohne Wachstum wtirden Japans Einwohner pro Kopf und Jahr ca. 18 t Rohstoffe verbrauchen. In der Bundesrepublik und Osterreich liegt die Menge nach einer vorlaufigen Berechnung bei etwa 20t (s. Tabelle 1). Unter Einbeziehung von Bodenaushub, Abraum etc. steigt die Tonnenlast. Nach Berechnungen des Wuppertal Instituts Klima, Umwelt und Energie ergibt sich - bei Einbeziehung dieses "okologischen Rucksacks" (auch der

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126

Tabelle 1. Materialverbrauch ausgewahlter Industrielander" (in t je Einwohner). (Environment Agency 1992; Schutz u. Bringezu 1993; Steurer 1994)

Steine/Erden Energietrager Pflanzen, Holz" Erze Salze Summed

Bundesrcpublik Deutschland ( 19R9)

R,I 4,9 3,4 0,9 0,3

20

Osterrcich ( 19RR)

R.O 2,6 6,2 0,6 0,1

20

Japan h

( 1990)

7,0 3,0

IR

a Inlandische Entnahmc plus Importe, ohne Abraum, Boden­aushub, Wasser und Luft. hTeilsummen nicht voll vergleichbar. C Bundesrepublik Deutschland und Ostcrreich: ohne Tierfutter und Fieischproduktion. d Inklusive Guterimport.

M. Janicke

Importe) - ein Rohstoffverbrauch von 72 t pro Einwohner. Ein solcher Ressourcenverbrauch ist im WeltmaBstab nicht moglich. Er ist auch fur die Industrielander selbst langfristig ruinos.

Langfristig orientierte Umweltpolitik muB diese Mengen also radikal reduzieren. Okologisches Gleichgewicht und tragfahige Entwicklung werden erst zur Chance, wenn zumindest der Verbrauch nicht erneuerbarer Res­sourcen signifikant zuruckgeht, wenn wirklich eine tendenzielle Entma­terialisierung der Produktion (a Is Verringerung des spezifischen Ressour­cenverbrauchs) erreicht wird. Beim Energieverbrauch sind bereits sehr weitgehende Reduktionspotentiale ermittelt worden; z.B. gilt eine Halbierung des Pro-Kopf-Verbrauchs in den Industrielandern als moglich. Aber auch eine radikale Steigerung der Materialproduktivitat ist moglich durch eine

• Steigerung der Lebensdauer der Produkte, • intensivere Nutzung, Wieder- und Weiterverwendung der Produkte, • Verkleinerung der Produkte, • effizientere Materialnutzung auf allen Produktionsstufen sowie • durch Recycling.

Kommt es auf jeder dieser 5 Stufen zu einer Verbesserung urn ein Drittel, sinkt der Verbrauch nicht erneuerbarer Rohstoffe rechnerisch fast auf ein Zehntel. Denkbar ist auch eine hohere Steigerung (insbesondere bei der Wiederverwendung) mit entsprechend weiter verringertem Materialver­brauch. Der Verzicht auf materialintensive Produkte und die Anderung des Lebensstils bieten zusatzlich erhebliche Reduktionsmoglichkeiten. Neben

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Kriterien und Steuerungsansiitze okoiogischer Ressourcenpoiitik 127

der "Effizienzrevolution" wird in den reich en IndustrieHindern die Frage von Suffizienzgrenzen (wieviel ist genug?) zunehmend bedeutsam.

Nach Schmidt-Bleek (1994) muB die MaterialproduktiviHit in Industrie­landern urn den Faktor 10 steigen, der Materialeinsatz je Wertschopfungs­einheit also auf ein Zehntel sinken. Andere Autoren kommen hinsichtlich der Umweltintensitat der weltweiten Produktion zu einer ahnlichen GroBenordnung (vgl. Meadows et al. 1992; Ayres u. Simonis 1994). Weterings und Opschoor (1992) differenzieren die Reduktionsnormen von null (Aluminiumverbrauch) bis 85% (01), was auch eine Biomassever­ringerung (minus 60%) einschlieBt. Dabei wird bei den nicht erneuerbaren Rohstoffen eine Reserve von 50 Jahren als Tragfahigkeitsgrenze angesehen (s. Tabelle 2).

Vermutlich ist es nicht nur eine komplizierte, sondern auch unnotige Frage, welche Steigerung der Ressourcenproduktivitat exakt notig ist, urn weltweit ein okologisches Gleichgewicht zu erreichen. Umweltpolitisch geht es vor allem urn die von den Industrielandern vorzuexerzierende Trendwende beim Ressourcenverbrauch. Als nachste Etappe waren dann die Reduktionsraten zu steigern, in immer besserer Kenntnis des notigen AusmaBes.

Eine weitgehende Entmaterialisierung schlieBt nicht aus, daB das Risikoniveau dennoch steigt. Der Ubergang von Kohle zu Kernkraft ware stofftich ein Beispiel hierfiir. Es gilt also grundsatzlich das kombinierte, wenn auch kaum durchgangig zu erfiillende Kriterium: Stoffmenge mal Risikoniveau. Deshalb muB ein moderner, an den Stoffstromen orientierter Umweltschutz immer zweierlei anstreben:

• die Substitution besonders problemtrachtiger Stoffe (in Schweden gibt es hier ein spezielles Substitutionsprinzip) und

• die Mengenreduzierung zumindest der nicht erneuerbaren Stoffe.

7 Ausgewahlte Ma8nahmen

Wenn das Umweltproblem insbesondere auf der Seite der Stoffstrome genauer operationalisiert und in seiner Zeitdimension empirisch darstellbar wird, laBt sich der Handlungsbedarf okologischer Langzeitpolitik genauer fixieren. Ferner kommt es dar auf an, daB Analyse und Strategie wirklich verursacherbezogen sind: Ursachen sind physisch vor allem Stoffstrome, aber deren Verursacher sind gesellschaftliche Akteure. Es geht vor allem urn gesellschaftliche Makroakteure, ihre Erfindungen, Planungen, Pro­duktionen und Vermarktungen, die dem individuellen Kaufakt vorausgehen, diesem gegeniiber also entscheidende Bedeutung haben. Die vorrangige Thematisierung "des Menschen", seiner unangemessenen Werthaltungen etc. lauft demgegeniiber leicht auf eine Verdunkelung gesellschaftlicher Verursachungsprozesse hinaus.

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128 M. Jiinicke

Tabelle 2. Schliisselindikatoren - Ansatz des niederliindischen Rates fiir Umweltforschung. (Weterings u. Opschoor 1992, iibersetzt vom Rat von Sachverstiindigen fiir Umweltfragen 1994)

Bereich des Standard Trend bis 2040 notwendige betrachteter Indikators Ecocapacity Reduktion Raum

Verbrauch von fossilen Brennstoffen

01 Bestand Bestand ersch6pft 85% global Erdgas fiir 70% global Kohle 50 Jahre 20% global

Verbrauch von Metallen

Aluminium Bestand Bestand >50 a keine global Kupfer fiir ersch6pft 80% global Uran 50 Jahre abhiingig von nicht global

Nutzung quantifizierbar Kernenergie

Verbrauch erneuerbarer Ressourcen

Biomasse 20% der natiirlichen 50% der natiirlichen 60% global Produktion Produktion

Biodiversitiit Aussterben 5 365 bis 65 000 99% global Arten/a Arten/a

Verschmutzung

CO2-Emission 2,6 Gigatonnen 13 Gigatonnen 80% global Kohlenstoff/a Kohlenstoffla

Siiureeintrag 400 2400 bis 3600 85% kontinental Siiureiiquivalente Siiureiiquivalente ha· a ha' a

Niihrstoffdeposition

- Phosphat 30kg/ha· a keine Daten nicht national - Stickstoff 267kg/ha· a keine Daten quantifizierbar national

Deposition von Metallen

-Cadmium 2 t/a 50t/a 95% national - Kupfer 70t/a 830 t/a 90% national -Blei 58t/a 700t/a 90% national -Zink 215 t/a 5190t/a 95% national

Beeintriichtigung von Okosystemen

Entwiisserung Referenzjahr 1950 keine Daten nicht national quantifizierbar

Erosion 9,3 Mrd. t/a 45 bis 60 Mrd. t/a 85% global

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Kriterien und Steuerungsansatze iikologischer Ressourcenpolitik 129

Strategien okologisch tragfiihiger Entwicklung sind - mit der wichtigen Ausnahme des Fliichenverbrauchs - vor allem stoffbezogen. Eine systema­tische okologische Stoffpolitik wurde bisher nicht betrieben; aber wir verfiigen gleichwohl iiber einige Erfahrungen auf diesem Gebiet. Die Politik des "weg yom 01" war eine gigantische, weltweite Anstrengung in diesem Sinne. Von der (nationalen wie international en) Stoffstrombilanz bis hin zu den eingesetzten Instrumenten liegen hier wichtige stoffpolitische Erkennt­nisse VOL Ahnliches gilt fiir Verwendungsverbote oder -einschriinkungen fiir Stoffe wie DDT, PCB, FCKW, Asbest oder Cadmium. Generell wird es urn ein breites Spektrum von MaBnahmen gehen miissen. Neben den Steuerungsinstrumenten Geld und Recht kommt der informationellen Steuerung und der Dialogsteuerung (als Organisation von Kommunikations­prozessen) zunehmende Bedeutung zu.

Eine detaillierte Untersuchung umweltpolitischer Erfolgsfiille zeigt, daB das mechanistische Bild von Umweltpolitik (mit der Stufenfolge: Problemlage - Zielformulierung - Instrumente - Vollzug - Wirkung) aufgegeben werden muB (Jiinicke u. Weidner 1995). Neben einer Vielzahl moglicher Akteure und Rahmenbedingungen sind auch situative Variablen zu beriicksichtigen: Ob Rezession herrscht oder Hochkonjunktur, ob aktuelle Schlagzeilen oder MaBnahmen in anderen Liindern Interventionen erleichtern, ob Biindnismoglichkeiten bestehen, ob umweltintensive Branchen ohnehin unter Veriinderungsdruck stehen usw. ist fiir den Hand­lungserfolg von hoher Bedeutung. In der Regel ist umweltpolitischer Erfolg das Resultat einer Interaktionsdynamik, bei der aile Beteiligten ihre Positionen im Lichte von Lernprozessen veriindern. Gerade die situative Dimension der Umweltpolitik macht taktisches Geschick zu einer relevanten GroBe. Erwiihnt sei auch der gekonnte Umgang mit der Zeitdimension oder mit der Verwundbarkeit von Verursachern.

Angesichts des Staatsversagens (J iinicke 1990) gerade in okologischen Fragen kommt es auf zusiitzliche gesellschaftliche Interventionsfaktoren und den Wettbewerb unter ihnen an. Umweltorganisationen wie Greenpeace, der Handel, die Medien, innovative Institute, das Versicherungswesen oder Consultingbiiros spielen eine zunehmend wichtige umweltpolitische Rolle. Urn die Handlungsressourcen dieser Akteure zu verbessern, bedarf es einer entsprechenden "Meta-Politik".

Eine Reihe von MaBnahmen der okologischen Umorientierung wird seit langem empfohlen, andere Empfehlungen sind dem im Lichte neuerer Erkenntnisse hinzuzufiigen. Zur Verdeutlichung des Handlungsfeldes langfristiger Umweltpolitik seien hier einige mogliche MaBnahmen auf unterschiedlichen Ebenen (Nationalstaat, Branchen, Unternehmen, In­dustriestiidte) angefiihrt:

• Eine notwendige Voraussetzung fiir einen Ubergang zu Gleichge­wichtszustiinden ist der Verzicht auf staatliche Wachstumspolitik. Die massive, mit Offentlicher Verschuldung verbundene Wachstumsforderung seit Beginn

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130 M. Janicke

der 70er Jahre hat den standigen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit nieht verhindert und die Situation der offentlichen Finanzen eher verschlechtert. Offensichtlich bedarf es anderer Losungsansatze. Okologisch aber ist die Differenz von Wachstumsraten ein Umweltpolitikum fUr sich: niedrige Wachstumsraten sind okologisch eher kompensierbar als hohe. Japan hat trotz eindrucksvoller Strukturveranderungen keine absoluten Umweltent­lastungen erzielt, weil das hohe Wachstumstempo diese wieder aufhob, weil der negative Mengeneffekt den positiven Technikeffekt konterkarierte. Schweden hat mit einem geringeren Strukturwandel bei geringem Wachstum z.T. vergleichsweise groBere absolute Entlastungen erzielt (Janicke et al. 1992).

• Beim staatlichen Instrumentarium wird es heute urn ein breites Spektrum gehen. Dabei diirfen die immer wichtiger werdenden "weichen" Instrumente Information und Verhandlung nicht dariiber hinweg Hiuschen, daB bisher die staatliche AUflagenpolitik immer noch den groBten Anteil an den erzielten Umweltverbesserungen hatte. Ihr Problem sind die notorische Interventionsschwache des Staates, die langen Zeitverzogerungen, die Tendenz zur Symptombearbeitung, die unzureichende Beriicksichtigung von Innovationspotentialen und das UbermaB an Detailregelungen, das eine strategische Orientierung auf Grundprobleme erschwert.

Staatliche Handlungsschwache gegeniiber machtigen Industrien kann durch eine bessere Nutzung des Zeitfaktors verringert werden. Zu empfehlen ist eine Strategie der prospektiven Intervention, sozusagen ein Ansatz des "threat and control". Eingriffe in umweltbelastende Prozesse, die kurzfristig an Widerstanden der Verursacher scheitern, konnen mittelfristig durch einen eigendynamischen ProzeB erleichtert werden: Wird Intervention mittelfristig (nur) angekiindigt, so entsteht fUr die Zielgruppe ein Planungsrisiko, und zwar auch dann, wenn ihre Lobbymacht zur Verhinderung der MaBnahme an sich ausreicht. Die Folge sind in aller Regel Innovationsbemiihungen einzelner Verursacher zur Erhohung von Planungssicherheit. Liegt eine Innovation vor, die der angekiindigten, strengeren Norm gerecht wird, erleichtert dies deren Festsetzung. Dieses Wechselspiel von staatlicher Eingriffsankiindigung, innovativer Anpassungsreaktion und hierdurch erleichterter tatsachlicher Intervention ist in vielen Erfolgsfallen von Umweltpolitik zu beobachten, ob bei der FCKW-Reduzierung oder den Abgasregulierungen fiir Autos (vgl. Janicke u. Weidner 1995). Auch Greenpeace hat sich dieses Wechselspiels auf seine Weise bedient (chlor­freies Papier, FCKW-freie Kiihlschranke, demnachst moglicherweise das Energiesparauto) .

Haufig erhOht der staatliche Sektor seine EinfiuBmoglichkeiten, wenn er klare Notwendigkeiten formuliert, zunachst aber auf eigenverantwortliche Losungen "im Schatten der Hierarchie" (Scharpf 1991) setzt und sich klar definierte Interventionen vorbehalt. Innovationspotentiale werden hierdurch oft besser erschlossen.

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Kriterien und Steuerungsansiitze okologischer Ressourcenpolitik 131

• In der umweltwissenschaftlichen Debatte besteht nahezu Konsens iiber die Notwendigkeit einer strategischen Verteuerung der nicht vermehrbaren physischen und energetischen Ressourcen. Wichtigstes Mittel hierzu ist eine okologische Finanzreform, die den Verbrauch von Boden, nicht erneuerbaren Energietragern und Materialien verteuert und zugleich den Faktor Arbeit entlastet. Ansatze einer Steuerreform, die den Umwelt­verbrauch verteuert und zugleich den Faktor Arbeit entlastet, werden in Danemark bereits verwirklicht. Auch von der EG wird neuerdings kritisch hervorgehoben, daB 50% des Finanzaufkommens yom Faktor Arbeit und nur 10% yom Faktor Naturverbrauch erhoben werden. Eine okologische Finanzreform wiirde auch einen okologischen Subventionsabbau einschlieBen, der die staatliche Forderung umweltbelastender Produktionen beendet.

• Produktivitiitssteigerung zu Lasten des Umweltverbrauchs bei Schonung des Faktors Arbeit ist - von den fiskalischen Rahmenbedingungen abgesehen - Sache der Unternehmen, der Gewerkschaften, Tarifparteien usw. 1m Kern geht es darum, die technologische Steigerung der Produktivitat, die iiber 200 Jahre zu Lasten des Faktors Arbeit ging, kiinftig radikal und ahnlich langfristig auf den Ressourcenverbrauch zu konzentrieren. Die Umweltfrage muB in Zukunft immer mehr mit anderen Problemen, insbesondere denen der Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, konkurrieren. Deshalb hat sie langfristig nur eine Chance, wenn sie integrierte Problemlosungen mit mehr als einem Gewinner anstrebt.

• In diesem Zusammenhang erhalt das betriebliche Umweltmanagement seine hohe Bedeutung. Hier geht es nicht zuletzt urn die Tatsache, daB die okologisch relevanten Kosten eines Industriebetriebes in aller Regel hOher sind als die Personalkosten. Uberwiegend haben sie sogar eine stark ansteigende Tendenz. Gemeint sind die Ausgaben fUr Materialien, Energie, Wasser, Boden, Transport, Abfall, Versicherungen (fUr Haftung, Unfall­risiken etc.) und nachgeschaltete Umwelttechnik. Hier ist informationelle Steuerung insbesondere in Form des Beratungswesens eines der wichtigsten Instrumente.

• Zunehmende Bedeutung haben okologische Nachfragestrategien erhalten. Bisher waren entsprechende Vorschlage und tatsachliche Ver­haltensanderungen weitgehend auf den Endverbraucher und den Handel konzentriert. Umweltprobleme in Form von Ressourcenverbrauch, Emis­sionen, Abtallen, Transport und Lagerung entstehen aber auf allen Pro­duktionsstufen, bis hin zu den Grundstoffindustrien (s. Abb. 3). Auch sie haben in der Regel die Option, von nicht erneuerbaren zu biotischen oder wiederverwerteten, von risikoreichen zu risikoarmen Rohstoffen iiberzugehen. Die okologische Lenkungswirkung der Einkaufsabteilungen von Unternehmen konnte erheblich gesteigert werden. Hier liegen Interven­tionspotentiale verborgen, die das umweltpolitische Eingriffsvermogen des Staates nach Wirkungsbreite, Wirkungstiefe und Wirkungsgeschwindigkeit weit iiberbieten konnten. Die Attraktivitat dieses Vorgehens fUr Unter-

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132

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Abb.3. Modell einer Vertikalanalyse . (Umweltbundesamt 1992)

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Kriterien und Steuerungsansatze okoiogischer Ressourcenpoiitik 133

nehmen besteht darin, daB es den okologisch orientierten Nachfrager wenig belastet. Die Anpassungskosten und die Anpassungsrisiken tragt der Vorproduzent. Natiirlich ist auch die offentliche Nachfrage weiterhin ein wichtiges Instrument der Umsteuerung.

Instrumentelle Voraussetzung einer solchen Strategie sind Oko­Bilanzen, die die Gesamtbelastung eines Produkts von seiner Entstehung an darstellen. Input-Output-Analysen des Umweltverbrauchs von Branchen und (auf der nachsthoheren Ebene) U mweltokonomische Gesamtrechnungen waren hierbei eine wichtige Hintergrundinformation. Eine intensive Medieneinwirkung und ein aktives Beratungswesen sind hierbei uneriaBlich.

• Okologisch tragfiihige Entwicklung ist ohne einen dramatischen Strukturwandel in den Grundstoffindustrien nicht denkbar; und diese entscheidende Problematik wird nur bewaltigt werden, wenn man ihr ins Auge sieht. Bisher kam ein Strukturwandel umweltintensiver Branchen eher durch Krisenprozesse zustande als durch gezielte UmbaumaBnahmen. Er stoBt nicht zufallig auf Widerstande. Gerade eine Politik der tendenziellen Entmaterialisierung muB den hier bestehenden Interessen- und Machtlagen Rechnung tragen. Eine Verdopplung der Lebensdauer eines Produkts halbiert nun einmal (unter sonst gleichbleibenden Bedingungen) die entsprechende Produktion. Die oben genannten weiteren Moglichkeiten steigern die Probleme der zustandigen Grundstoffindustrien. Dies macht eine durchdachte Strukturpolitik notig. Hier sind soziale Abfederungen riicklaufiger Branchenentwicklungen uneriaBlich und Umorientierungshilfen aller Art (nach japanischer Erfahrung) moglich. Die gewollt riicklaufige Entwicklung der Mineralolindustrie in wichtigen Industrielandern konnte hier einige Erkenntnisse bieten.

Schrumpfungsprozessen im Grundstoffsektor stehen Wachstumsprozesse in den zukunftsgerechteren Zweigen, in Forschung, Entwicklung, Beratung, Reparatur, Recycling und wissensintensiven Produktionen aller Art gegeniiber, die als Beschiiftigungsersatz gezielt anvisiert werden miissen. Yom okologischen Strukturwandel (durch hohere Lebensdauer, hohere Nutzungseffizienz etc.) betroffene Hersteller von Fertigprodukten konnen ihre Chance auch darin sehen, daB sie das Produkt-Leasing mit Reparatur, Wartung, Beratung undRecyC\ing in ihre Angebotspalette aufnehmen. Langlebige Produkte bieten durch Modulbauweise die Moglichkeit, tech­nischen Fortschritt im Zeitverlauf weiterhin zu beriicksichtigen. Ferner wird (nicht nur) der okologische Strukturwandel durch eine starke Diversijizierung der Unternehmen erleichtert. Sie laBt mehr Option en und firmeninterne Umschichtungen zu, als dies in Unternehmen der Fall ist, die mit einem einzigen Produkt stehen oder fallen.

• Strukturwandel ist nicht nur eine Angelegenheit von - befristeten -Anpassungshilfen, Lohnzuschiissen fUr neue Unternehmen vor Ort (statt Erhaltungssubventionen), Produktionsquoten und dergleichen. Er hat auch

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134 M. Janicke

organisatorische Voraussetzungen. Nach bisheriger Erfahrung wird er am ehesten durch Mechanismen der Konzertierung und des Dialogs bewerk­stelligt. "Verhandlungssysteme" (Scharpf 1991) erhalten hier erhebliche Bedeutung. SoziaItechniken der Dialogsteuerung bedurfen der Professiona­lisierung und sind gerade in Deutschland ausbauHihig. Nach bisherigen Erfahrungen (vor allem aus den Niederlanden) geht es darum,

- die wichtigsten Akteure und Kontrahenten in Dialogbeziehungen zu bringen,

- sie mit qualifizierten und anerkannten Analysen uber absehbare Problem­tendenzen zu konfrontieren,

- einen ausdiskutierten Konsens uber bestehende Problemlagen und Handlungserfordernisse zu erzielen und schlieBlich

- Handlungsschritte der Beteiligten, einschliel3lich der Selbstbindung von Problemverursachern, festzulegen.

Momente von Wettbewerb und Offentlichkeit sind hierbei wichtig. Generell durfte der Institutionalisierung von Zukunftsdiskursen zwischen relevanten gesellschaftlichen Akteuren wachsende Bedeutung zukommen. Die normative Bindungswirkung soIcher Diskurse ist vor allem eine Frage intelligenter Organisationsleistungen und aktiver Medienbeteiligung .

• Was immer die generellen Moglichkeiten einer Gleichgewichtsoko­nomie sein mogen - institutionelle Arrangements und Unternehmensformen, die unter geringerem Wachstumsdruck stehen, konnen zur UmweItstabi­lisierung konkret ebenso beitragen wie die Substitution von Giltern durch Beratungsleistungen, die funktionale Aquivalente betreffen. So haben kommunale Stadtwerke einen schrumpfenden Wasserverbrauch vergleich­sweise gut verkraftet und mit Beratungsleistungen sogar gefordert. Strom­versorgungsunternehmen konnen durch veranderte Preisaufsicht mit dem Nichtverkauf von Strom ("Negawatt") hohere Gewinne erzielen als mit einem zusatzlichen Stromangebot. Oer Stromverkauf wird hierbei ersetzt durch Beratung und andere Dienstleistungen. In der Chemieindustrie ist der zumindest teilweise Ersatz von toxischen Produkten durch den Verkauf von Know-how eine Moglichkeit.

• Zur okologisch tragfahigen Entwicklung konnen auch die Stadte und urbanen Ballungsraume wesentlich beitragen: Oas Kriterium der Stadt­gemaBheit von Guterproduktion ist zugleich ein MaBstab fur okologische Tragfahigkeit. Stadtgerechte Industrien ("urban-type industries") sind In­dustrien mit geringer Material-, Energie-, Transport- und Risikointensitat. Auf sie werden Ballungsraume langfristig setzen mussen, wenn sie nicht einem Zwang zur Oeindustrialisierung durch Abwanderung unterliegen wollen. Hier lassen sich Imperative der Entmaterialisierung mit urbanen Standortproblemen der Industrie sinnvoll verknupfen. Stadtgerechte Industrien sind im Gegensatz zu traditionellen Schwer- und Grundstoff­industrien wenig ftachenintensiv, lassen vertikale Verdichtung zu und benotigen keine gesonderten Industrieftachen. Haufig ist sogar ihre Ansied-

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Kriterien und Steuerungsansatze okologischer Ressourcenpolitik 135

lung in Wohngebieten unproblematisch. Der technische Wandel hin zu wissens- und dienstleistungsintensiven Verfahren ist eine Alternative zur Auslagerung von Industrie aus den urbanen Ballungszentren (mit ihren Beschaftigungs- und Transportproblemen). Die entwickelten urbanen Zentren bieten gleichermaBen hohen Innovationsdruck und hohe Inno­vationspotentiale fUr okologisch angepaBtere Produktionen. Sie verfiigen iiber die entwickelteren Institutionen, iiber hohe Wandlungsbereitschaften, Know-how und die materiellen Bedingungen umfassender Umsteuerungen. Auslagerungen industrieller Giiterproduktion aus den Zentren verringern tendenziell den unerHiBlichen Innovationsdruck. Das global verallgemei­nerungsfahige Industrie- und Wohlstandsmodell kann nur in den ent­wickelten Ballungsraumen entstehen - sonst nirgends.

Realistisch betrachtet, konnte das fast utopische und dennoch iiber­lebenswichtige Pensum eines Ubergangs zu okonomisch-okologischen Gleichgewichtsmodellen den Staat sehr wohl iiberfordern. Nach Luhmann macht die Umweltproblematik "vollends deutlich, daB die Politik viel konnen miiBte und wenig konnen kann" (Luhmann 1990, S 169). Generell laBt sich ein radikaler Umbau des herkommlichen Industrialismus ohne eine wesentliche Erweiterung der okologischen Steuerungsmechanismen und ohne eine Star kung der institutionellen "Infrastruktur" staatlicher und nichtstaatlicher Umweltschutzakteure kaum denken. Ohne eine ent­sprechende Modernisierung der Politik wird die okologische Modernisierung mit dem Effekt tragfahiger Losungen kaum moglich sein.

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Klimaschutzpolitik als COrMinderungspolitik

Lutz Mez

1 Einfiihrung

Die Emission von Treibhausgasen in Industrie- und Entwicklungslandern, Waldvernichtung und Wtistenbildung bergen die Gefahr einer Klimaveran­derung in sich und sind, sowohl was die Ursachen als auch was die moglichen Folgen betrifft, ein globales Problem. Bei einem die ganze Welt betreffenden Problem muB die Losung auch mit einer gemeinsamen Strategie in Angriff genommen werden. Aber haben aile Staaten tiberhaupt ein gemeinsames Interesse an der Vermeidung des Treibhauseffekts? "Wahrend die COz­Konzentration global gleichmaBig zunimmt, werden die Klimaeffekte und die daraus entstehenden Probleme gerade auf der kontinentalen, regionalen und sogar lokalen Ebene sptirbar und politisch relevant" (Fischer u. Hackel 1987, S 292). Divergierende Interessen existieren nicht nur auf der intern a­tionalen Ebene, sondern auch innerhalb von Staaten mit verschiedenen Klimazonen. Zudem sind die spezifischen COz-Emissionen aufgrund des Anteils fossiler Energietrager am Energieverbrauch selbst in den Indu­strielandern hochst unterschiedlich (s. Abb. 1).

Hinter diesen Emissionen verbergen sich Interessenkonfiikte, die sich jedoch nur losen lassen, wenn ein objektives Problem gegeben ist und als solches wahrgenommen wird, wenn aile in erheblichem AusmaB davon betroffen sind und nur wenn eine Problemlosung moglich ist, die fUr Konfiikte tiber die Strategie oder Kostenverteilung keinen Raum bietet.

Noch 1987 prognostizierten Energieforscher, daB bei der Festlegung nationaler und internationaler Energiestrategien die Reduktion der COz­Emissionen in die Atmosphiire kein "bestimmender Faktor" (Fischer u. Hackel 1987, S 297) werde. Diese Prognose war offensichtlich verfehlt. Seit Ende der 80er Jahre bestimmt der Klimaschutz die energie- und umweltpolitische Tagesordnung zumindest in den westlichen Industrielan­dern. Die drohende Klimaveranderung ist zu einem Politikum geworden. Der COz-AusstoB und die Konzentration von CO2 in der Atmosphare wurden zur Mel3latte tiber Erfolg in der Umweltpolitik. Die Regierungen haben Programme zur Minderung der COz-Emissionen aufgelegt und Initiativen zur Realisierung einer "neuen" Energiepolitik ergriffen.

Wesentliche Elemente dieser neuen Energiepolitik sind, neben der Energieeinsparung und der Umorientierung von der Energieversorgung auf

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138

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Abb. 1. COz-Emissionen 1986 (in Tonnen pro Einwohner)

L. Mez

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20 25

das Erbringen von Energiedienstleistungen, die Substitution fossiler durch erneuerbare Energiequellen. Eine auf Klimastabilisierung ausgerichtete Energiepolitik muG in erster Linie nachfrageseitige Energieressourcen erschlieGen. Damit ist auch eine Verlagerung des Ansatzpunktes zur Steuerung von Energiepolitik verbunden. Wahrend traditionelle Ener­giepolitik auf die Angebotsseite (d.h. auf verschiedene Energietrager, wie z.B. "weg yom 01") konzentriert war, muG die neue Energiepolitik Steuerungseffekte auf der Nachfrageseite (d.h. bei der Nutzung von Energie durch Energiedienstleistung) erbringen. Dazu mtissen neue Institutionen geschaffen, Strategien und MaGnahmen erfunden, kombiniert und umgesetzt werden, die sowohl aus "harten" als auch "weichen" Politikinstrumenten bestehen.

Insbesondere auf der internationalen Ebene sind "weiche" Instrumente wie Konventionen oft die einzige Moglichkeit, die angestrebten Ziele zu erreichen. Die Enttauschung tiber die Ergebnisse der Weltkonferenz der Vereinten Nationen tiber Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro war groG, wei I keine politische Wende erfolgte und politische Entscheidungstrager faktisch keine wirklichen Neuorientierungen an­strebten. Dennoch ist die Rio-Konvention, bis zum Jahr 2000 die COr Emissionen des Jahres 1990 zu stablisieren, ein Schritt in die richtige Richtung. Daraus konnte sich wie bei den Konventionen tiber das Ozon­problem eine Dynamik ergeben, die Jahr fUr Jahr scharfere Anforderungen und ktirzere Zeitraume zur Efftillung zur Foige hat.

Gegenwartig sind 6 technische Losungsstrategien zur Verminderung der COrEmissionen in der Diskussion (Tabelle 1) .

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Klimaschutzpolitik als CO2-Minderungspolitik 139

Tabelle 1. Strategien zur Verminderung der CO2-Emissionen (GrieBhammer et al. 1989, S 97)

1 Reduktion durch Energieeinsparung (Effizienz, Verhaltensiinderung, Konsumverzicht) 2 Reduktion durch erneuerbare Energien/Solartechnik 3 Reduktion durch Atomenergie 4 Reduktion durch Substitution mit weniger COTemittierenden fossilen Energietriigern (z.B.

Gas statt Braunkohle) 5 Reduktion durch Emissionszuriickhaltung 6 Fixierung von CO2 durch zusiitzliche Biomasse (z.B. Wiederaufforstung)

Fossile Brennstoffe sind nicht regenerierbar. Da die fossilen Ressourcen begrenzt und die Reserven je nach Hbhe der Verbrauchsraten in absehbaren Zeitraumen erschbpft sind, miissen Substitutionsstrategien Prioritat haben.

Die VergrbBerung der COz-Senken durch den zusatzlichen Anbau von Biomasse ist angesichts der enormen Emissionsmengen (pro Tag emittieren die Kraftwerke, Schornsteine und Auspuffe weltweit 60 Mio. t CO2) kaum realisierbar, zumal dieser CO2-Absorptionseffekt mit der Verniehtung der tropischen Regenwalder und dem "Waldsterben" sowie der Zerstbrung von Wald- und Forstftachen aufgerechnet werden muB. Das Herausfiltern von CO2 aus den Rauchgasen ist zwar technisch mbglich, wirtschaftlich aber nicht vertretbar. Derartige End-of-pipe-Lbsungen sind zudem reaktiv und Ibsen nicht das Problem der Verschwendung fossiler Energietrager.

Die Nutzung von Erdgas ist zwar geeignet, kurzfristig hohe Emissionen zu senken; langfristig ist diese Strategie aber nieht tragfahig, da die Reserven durch die Ausweitung der Erdgasnutzung noch schneller erschbpft werden - sie kann nur als Ubergangsstrategie gelten. Kurzfristig gilt dies auch fUr die Nutzung sonstiger fossiler Energietrager, sofern die Effizienz der Umwandlungstechnik entsprechend gesteigert werden kann.

Die Atomstrategie ist in den meisten Industrielandern nieht mehr sozialvertraglich und im Vergleich zu anderen Energietechniken zu teuer, zumal die Atommiillfrage nicht gelbst ist. Sie wird nur noch von jenen Landern verfolgt, die eine eigene Atomindustrie haben, iiber ausreichend Kapital verfiigen und wo die realen Kosten wegen militarischer Interessen nieht offengelegt werden. Wegen der begrenzten Uranreserven ware diese Strategie auch nur bei der Nutzung von Schnellen Briitern als Ubergangsstrategie denkbar.

Damit bleiben als Strategien lediglich die Energieeinsparung und der Ubergang zu erneuerbaren Energiequellen. Das Problem der Klimabe­drohung kann langfristig nur durch eine Kombination dieser beiden Strategien gelbst werden. Die Realisierbarkeit hangt jedoch von der Entwieklung der "nachfrageseitigen Ressourcen", d.h. von MaBnahmen ab, die zur Umsetzung der technisch-wirtschaftlichen Potientiale eingesetzt werden. 4 Faktoren bestimmen die Mbglichkeiten der Energieeinsparung (Krause 1991, S 166):

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140 L. Mez

• Das Technologieniveau (kommerziell verfiigbar, Prototypen und Demon­strationsanlagen, voraussehbare Weiterentwicklungen, Umsetzung von Grundlagenforschung) ,

• der Zeithorizont (technische Lebensdauer, Planungszeitraume), • Wirtschaftlichkeitskriterien (Investitionsbewertung nach volks- und

betriebswirtschaftlichen Kriterien), • Markteingangsbarrieren (bestehende Preisverzerrungen sowie Programme

zur beschleunigten Markteinfiihrung). • Erfahrungen aus den USA und Europa zeigen, daB zur Verwirklichung

von Einsparpotentialen die Kombination von Effizienzstandards und Anreizprogrammen besonders effektiv sind.

2 Die Entwicklung des Weltenergieverbrauchs und die Rolle der Energiekonzerne

Zwischen 1860 und 1985 ist der globale Primarenergieverbrauch urn das 60fache gestiegen. Der Energieverbrauch nahm, trotz Kriegen, Wirtschaftskrisen, Inftationen und technischem Wandel, unaufhaltsam zu. Die Industrielander verbrauchen den GroBteil der Energie - Europaer im Durchschnitt 10- bis 30mal, Nordamerikaner sogar 40mal mehr kom­merzielle Energie als ein Bewohner der Dritten Welt (Meadows et al. 1992, S 94).

Die Welt-Energiekonferenz errechnete 1989, daB der Energieverbrauch bis zum Jahr 2020 - bei anhaltendem Wachstum von Bevolkerungszahl und Industriekapital - urn weitere 75% steigen werde. AIle traditionellen Pro­gnosen fUr die Entwicklung des Weltenergieverbrauchs erwarten, daB dieser we iter ansteigt. Die EU-Kommission geht fiir den Zeitraum 1987-2010 von einem Zuwachs von 62% bzw. 2,1% pro Jahr aus, die Internationale Energieagentur fUr die Periode 1989-2001 von einer Verbrauchssteigerung urn 43% bzw. 2,2% pro Jahr. Ais entscheidender Verursachungsfaktor fiir diesen Trend wird der Bedarf in den Entwicklungslandern angesehen -Bevolkerungszuwachs und industrieller Nachholbedarf; aber auch fiir einige Industrielander werden geringe Wachstumsraten beim Energieverbrauch prognostiziert. In diesen Prognosen findet eine nennenswerte Substitution von fossilen Energien durch erneuerbare Energiequellen nicht statt. Strukturveranderungen sind vor allem dem steigenden Erdgasverbrauch zuzuschreiben.

Transnationale Unternehmen sind die zentralen Akteure der Weltener­giewirtschaft. Sie kontrollieren nicht nur den Weltmarkt von Energietragern, sondern auch in den Industrie- und Entwicklungslandern Produktion, Umwandlung und Verteilung von Energie. Die Energiekonzerne investieren jahrlich Milliardenbetrage in die Infrastruktur der Energieversorgung und sind der groBte private Investor. Hunderttausende von Mitarbeitern und

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Klimaschutzpolitik als COrMinderungspolitik 141

ihre Gewerkschaften vertreten das Interesse der Energiewirtschaft und sind haufig symbiotisch mit der Politik verftochten. Kurzum, die Energiekonzerne iiben auf der okonomischen, politischen und informationellen Ebene einen entscheidenden EinftuB bis hin zur Vetomacht aus. Somit stellen die gewachsenen Machtlagen in der Energiepolitik das wesentliche strukturelle Hindernis dar. Dennoch gibt es Versuche, die Interessenlagen in der Energiewirtschaft nachhaltig zu verandern und in einer Perspektive von 30-50 lahren ein Energiesystem zu realisieren, das vor allem auf erneuerbare Energietrager setzt.

1m internationalen Vergleich sind bisher nur in Danemark und Deutschland die COrEmissionen riicklaufig. Am Beispiel der COr Reduktionspolitiken dieser Lander wird im folgenden skizziert, weIche Strategien eingeschlagen und weIche institutionellen Veranderungen erfolgt sind bzw. angestrebt werden sowie weIche MaBnahmen bzw. Politikinstru­mente von den Akteuren der Klimaschutzpolitik bisher faktisch angewandt wurden.

3 Danemark - Synergie am Werk

Danemark gilt weltweit als Vorreiter fur eine fortschrittliche Energie- und Umweltpolitik (vgl. z.B. Krawinkel 1991; Mez 1994). Neben Japan und der Schweiz ist es heute das Industrieland mit dem niedrigsten spezifischen Energieverbrauch.

Seit der Olpreiskrise von 1973 hat die danische Energiewirtschaft einen bemerkenswerten Wandel durchgemacht. Der Primarenergieverbrauch ging zuruck, und auch die Struktur anderte sich grundlegend (s. Abb. 2). Danemark hatte Anfang der 70er Jahre mit 93% sowohl den hochsten Olanteil als auch die groBte Importabhangigkeit der Industrielander, denn nur 1 % des Primarenergieverbrauchs wurde aus heimischen Quellen gedeckt. Seit Anfang der 80er Jahre fordert Danemark 01 und Gas und erreichte 1991 bei diesen Energietragern die volle Selbstversorgung. Pro­gnosen des Energieministeriums besagen, daB gegen Ende der 90er Jahre fast der gesamte Primarenergieverbrauch durch heimische Energiequellen gedeckt werden kann.

Die Ziele der danischen Energiepolitik waren die Verbesserung der Versorgungssicherheit durch Ausbau der heimischen 01- und Gasforderung, die Senkung des Energieverbrauchs durch Energieeinsparung und Erhohung der Energieeffizienz sowie die verstarkte Nutzung erneuerbarer Energiequellen. Diese Ziele wurden in den Energieplanen von 1976 und 1981 formuliert und durch neue Institutionen und Politikinstrumente umgesetzt. Eine Energieagentur wurde als Ausfuhrungsorgan gegrundet und 1979 dem neu geschaffenen Energieministerium zugeordnet. Die ehrgeizige Fernwarmepolitik - he ute wird bereits die Halfte der danischen Haushalte

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142

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Abb. 2. Primarenergieverbrauch in Oanemark nach Energietragern 1970-1993. (Energi Nyt 1993)

mit Fernwarme versorgt - wurde auf der Grundlage des Warmeplan­Gesetzes von 1979 durch regionale und kommunale Warmeplane vorange­trieben. In den Warmeplanen werden die besten soziookonomischen Systeme fUr Raumheizung und Warmwasser, zur Verminderung der Olabhangigkeit und zur Entkopplung von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum gepriift. Die Verbindlichkeit der Warmeplanung entspricht etwa der Bauplanung in Deutschland. Die Kommunen konnen den AnschluB an Fernwarme- bzw. Erdgasnetze erzwingen. 1990 wurde das Warmeplan­Gesetz novelliert, urn sicherzustellen, daB in Zukunft der GroBteil der Warme in Kraft-Warme-gekoppelten Anlagen gemeinsam mit Elektrizitat erzeugt wird. Aile Heizwerke, die groBer als 1 MW sind, miissen auf Kraft­Warme-Kopplung (KWK) umgestellt werden, wobei auch der eingesetzte Brennstoff vorgeschrieben werden kann.

1m April 1990 legte der danische Energieminister den neuen Energieplan "Energie 2000. Aktionsplan fiir eine tragfahige Entwicklung" VOL Die Regierung will bis zum Jahr 2005 die COrEmissionen gegeniiber dem Basisjahr urn fast 30% senken und in diesem Zusammenhang auch die SOr und NOx-Emissionen urn etwa 60% bzw. 50% reduzieren. Diese Ziele sollen vorwiegend mit einer Energieeinsparpolitik erreicht werden. Das danische Aktionsprogramm soli bis zum Jahr 2005 eine 15%ige Senkung des Primarenergieverbrauchs und eine Veranderung der Struktur bewirken. Die Anteile von Erdgas und den erneuerbaren Energiequellen werden zulasten von Kohle und 01 kraftig wachsen (s. Abb. 3).

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Klimaschutzpolitik als CO2-Minderungspolitik

816 Petajoule 01

45%

Kohle 41,1%

Biomasse Kohle 51% 23,4%

Erdglis 8,4%

706 Petajoule 01

39,7%

Erdgas 27,2%

143

Biomasse 9,8%

Abb. 3. Primarenergieverbrauch in Danemark; Struktur nach Energietragern 1988 und 2005. (Energistyrelsen 1993)

Besonderes Gewicht wird auf eine Verringerung des Stromverbrauchs gelegt. Urn eine effektivere Stromnutzung auf allen Sektoren zu erreichen, wurde ein Rat fiir Elektrizitiitseinsparungen geschaffen. In ihm sind die Energieagentur und die Elektrizitiitswirtschaft ebenso vertreten wie Hersteller von Elektrogeriiten und Verbraucherorganisationen.

Das diinische Aktionsprogramm entwickelt auf 4 Gebieten Initiativen:

• Energieverbrauch, • Veriinderung des Versorgungssystems, • Anwendung umweltvertriiglicher Energiequellen sowie • Forschung und Entwicklung.

1m Wohnungssektor gelten seit 1993 fiir Neubauten verschiirfte Wiirme­diimmnormen, die den Wiirmebedarf auf 75% der vorher giiltigen Norm reduzieren. Die Wiirmeanlagen in Neubauten werde fiir den Niedrigtem­peraturbetrieb ausgelegt, damit Solarwiirmeanlagen eingesetzt werden konnen. Spiitestens im Jahr 2000 sollen die Normen noch einmal auf 50% des heutigen Wiirmebedarfs verschiirft werden. Auch beim Gebiiudebestand werden die Energiestandards erheblich verbessert. Ferner wurde die Normung und Verbrauchskennzeichnung der elektrischen Haushaltsgeriite durch eine Verordnung geregelt, deren Ziel es ist, dem Verbraucher einen Vergleich des Stromverbrauchs der auf dem Markt verfiigbaren Geriite zu ermoglichen.

In Fernwiirmegebieten wird ein AnschluBgrad von 90-95% aller Gebiiude fiir moglich gehalten. In Erdgasgebieten sollen im Laufe von 10-15 Jahren 70-80% der Gebiiude mit Erdgas versorgt werden.

Die Nutzung von Biomasse in dezentralen KWK-Anlagen soli von 36 PJ auf etwa 50PJ erhOht werden (1 Petajoule = 1015 Joule). Das Ressourcen­potential wurde mit rund 130 PJ ermittelt. Ein Biomasseaktionsplan soli die ziigige ErschlieBung dieser Ressourcen sichern. Kriiftig ansteigen soli die Nutzung der Solarwiirme. Die jiihrliche Sonneneinstrahlung betriigt in Diinemark 150,000 PJ, rund 200mal mehr als der gegenwiirtige Primiir­energieverbrauch. Solarkollektoren konnen bis zu 40% der Heizwiirme und

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144 L. Mez

des Warmwasserbedarfs der Haushalte abdecken. Stark ansteigen wird die Stromproduktion in Heizkraftwerken und Windanlagen. 1m Jahr 2005 sollen Windkraftwerke mit einer Gesamtleistung von rund 1500 MW in Betrieb sein, die pro Jahr rund 3 TWh Strom produzieren. Die COrEmissionen konnen bis zum Jahr 2005 durch die Umstellung auf Gas urn 23% vermindert werden (s. Abb . 4).

Neben dem Instrument der Verbrauchsnorm wird vor all em auf monetare Instrumente wie Steuern, Abgaben und Tarife gesetzt. Als eines der ersten Lander in der EG hat Danemark zu den Energiesteuern auch eine COr Abgabe eingefiihrt. Die Stromsteuer wird als Endverbrauchersteuer auf aile Arten der Stromproduktion erhoben. Dagegen betrifft die Warmesteuer den Einsatz von Kohle und 01. Erdgas und Biobrennstoffe sind steuerfrei. Allerdings ist der Erdgaspreis an den Olpreis - einschlieBlich Steuern -gekoppelt. Das Folketing (danisches Parlament) verabschiedete 1992 eine Reihe von Gesetzen, die als "COrPaket" bezeichnet werden. Pro Tonne CO2 werden 100 DKK (26 DM) als Abgabe erhoben. Verbunden damit ist eine Reihe von Subventionen und eine Anpassung der vorhandenen Energiesteuern. Die Unternehmen erhalten demnach steuerliche Ver­giinstigungen, die in der Praxis zu einer faktischen Abgabe von 35 DKK fiihren. Diese Abgabe soli in den kommenden Jahren urn das 6fache auf 200 DKK steigen. Ziel der COrAbgabe ist es, die Preisrelationen zwischen verschiedenen Energietragern zu verandern. Fossile Energietrager wie Kohle sollen teurer, weniger umweltbelastende wie Erdgas billiger werden. Die Modernisierung der Fernwarmenetze wird mit 1 Mrd. DKK (260 Mio. DM) subventioniert. Strom aus erneuerbaren Energiequellen oder aus

Mio. t 60

50

40

30

20

10

0 1988 1992

37,8

2005 2005

D G .. verlant.

ilIIIlID Kohl.v .. lant.

ffilillll R.lllnarl.n

_ Prole8wirma

D Raumw l rma

• Fernwirmewarka

_ Kraltwarka

Abb.4. COz-Emissionen in Danemark; Entwicklung ohne Verkehrssektor. (Energi Nyt 1993)

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Klimaschutzpolitik als CO2-Minderungspolitik 145

erdgasgefeuerten KWK-Anlagen wirk mit 100DKK/MWh (26DM/MWh) bezuschuBt. Betreiber von Anlagen, die Biogas, Stroh oder Holzabfalle nutzen, erhaIten einen ZuschuB von 170DKK/MWh (44,20DM/MWh). Inzwischen ist bei kleinen KWK-Anlagen wie Blockheizkraftwerken (BHKW) ein regelrechter Boom zu verzeichnen. Durch die Zuschiisse verbessert sich die Wirtschaftlichkeit dieser Anlagen deutlich, und KWK wird auch fUr industrielle Anwender interessant.

1m lanuar 1993 kam eine Mitte-Links-Regierung an die Macht. Sie will die wirtschaftlichen Probleme vor allem mittels einer Steuerreform Ibsen, die mit einer "griinen Politik" verbunden ist. Knappe Ressourcen sollen besteuert und der Faktor Arbeit entlastet werden. 1m luni 1993 verabschie­dete das Folketing diese "bkologische Steuerreform". Die neuen griinen Abgaben treffen vor all em die Haushalte. Die Struktur des Steueraufkom­mens andert sich: Der Anteil der Einkommensteuer wird innerhalb von 5 lahren mehr als halbiert und der Anteil der griinen Abgaben steigt von 10 auf 15% an. Griine Steuern sind in Danemark nichts Neues. 1993 nahm der Staat an UmweIt- und Energiesteuern bereits rund 33 Mrd. DKK (8,2 Mrd. OM) ein. Neu dagegen ist, daB das Umweltsteueraufkommen in den nachsten 5 lahren in einem bisher unbekannten Tempo angehoben wird. Bei unverandertem Verhalten bei Energie- und Wasserverbrauch verfiinf­fachen sich die Kosten fiir griine Abgaben in verschiedenen Haushaltstypen. Fiir den Bereich der Wirtschaft wird iiber ein wei teres Abgabenpaket verhandeIt. Dennoch steht die Vernetzung der verschiedenen Aktivitaten und Instrumente, d.h. die Umsetzung der griinen Politik, auch in Danemark noch am Anfang.

4 Bundesrepuhlik Deutschland -ein umweltpolitischer Vorreiter?

In Deutschland sind seit lahren mehrere Akteure in der Klimaschutzpolitik aktiv. Die Enquete-Kommission "Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphare" hat mit ihren Berichten international bedeutsame Vorarbeiten zur Eindam­mung des Ozonabbaus in der Stratosphare und des Treibhauseffekts sowie zur Erhaltung der tropischen Regenwalder geleistet. Von ihr stammt auch die Empfehlung, zur Verwirklichung des Klimaschutzes eine neue Energiepolitik einzuleiten. Die Bundesregierung hat mit ihren Beschliissen vom 13. luni und 7. November 1990 sowie vom 11. Dezember 1991 als nation ales Ziel eine 25- bis 30%ige Reduktion der energiebedingten COr Emissionen bis 2005, bezogen auf den AusstoB im Basisjahr 1987, formuliert und die "Interministerielle Arbeitsgruppe COrReduktion" eingesetzt, die dem Bundeskabinett einen Bericht zum Gesamtkonzept vorlegen muB.

Zwischen 1987 und 1992 sind die CO2-Emissionen in Deutschland von 1064 Mio. tum 154 Mio. t auf 910 Mio. t (-14,5%) zuriickgegangen (s. Abb.

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146 L. Mez

Mio. t 1200 Jr----------------------------------------------.

1064 1044

1000

800

600

400

200

o 1987 1988 1989 1990 1991 1992

_ Deutschland D Alte Lander ~ Neue Lander

Abb.5. COrEmissionen in Deutschland seit 1987. (BMWi 1993)

5). In den neuen BundesHindern sanken die COrEmissionen pro Einwohner von 20,6t auf 11,2t (-44,3%). Die Ursachen dafiir liegen keineswegs nur in der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung. Nach Ansicht der Bundesregierung ging "der COrAusstoB ... wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, des erheblichen Bevolkerungsruckganges (urn eine Million) sowie der inzwischen greifenden MaBnahmen zur Modernisierung in Industrie, Gewerbe und Privathaushalten urn 50% zuruck" (Schafhausen 1994, S 26).

In den alten BundesHindern hat die Bevolkerung im Zeitraum 1987-1992 urn 4,1 Mio. Einwohner zugenommen, und auch das Bruttoinlandsprodukt wuchs urn 20,6%. Die energiebedingten COrEmissionen stiegen jedoch nur urn 2,1% an. Pro Kopf sanken sie dagegen urn 4,3%. Trotz dieser Entwicklung ist der Ruckgang "kaum auf ein 'Greifen' bereits eingeleiteter ReduktionsmaBnahmen von Bund und Uindern, sondern auf die milden Winter und auf den UmstrukturierungsprozeB in der Industrie der neuen Bundesliinder zuruckzufuhren" (Bundesumweltministerium 1993b, S 68). Inzwischen sind von der Bundesregierung eine Reihe von EinzelmaBnahmen zur Umsetzung des COrMinderungsprogramms verabschiedet worden bzw. in Kraft getreten (s. Tabelle 2). Diese MaBnahmen zielen zum Teil auf die direkte Verminderung der COrEmissionen (z.B. Forderprogramm Windenergie, Wiirmeschutzverordnung) oder auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen und den Abbau von Restriktionen (z.B. Stromein­speisungsgesetz, Bundestarifordnung Elektrizitiit). 1m Rahmen des COr Minderungsprogramms der Bundesregierung befinden sich folgende weitere MaBnahmen in der Bearbeitung (s. Tabelle 3).

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Klimaschutzpolitik als COr Minderungspolitik 147

Tabelle 2. Von der Bundesregierung verabschiedete und in Kraft getretene MaBnahmen zur Umsetzung des COrMinderungsprogramms. (Bundesumweltministerium 1993b, S 71)

Jahr

1990

1989-95

1990-93

1991

1990-99

1992-95

1992 1992

MaBnahme

Bundestarifordnung Elektrizitat

Forderprogramm Windenergie

Forderprogramm Photovoltaik

Stromeinspeisungsgesetz

Einigungsvertrag, Okologischcr Sanierungsplan in den NBL. Programm Aufschwung Ost

Bund-/Uinderprogramm Fernwarme in den NBL

Steueranderungsgesetz Programm Energiediagnose fUr Gebaude

Beratungsprogramm fiir KMU

ERP-Kredit-Programm fUr KMU

Umweltzeichen

1991 Verpackungsverordnung

1992 T A Siedlungsabfall

1993 Abfall- und Krcislaufwirtschaftsgesetz

1993 Heizungsanlagenverordnung

1993 Warmeschutzverordnung

Aufforstung 1991 und Mineralol- und Erdgassteuer 1994

Wirkung

Erhohung der Verbrauchsabhangigkeit der Stromtarife

Demonstrationsanlagen mit einer Gesamtleistung von 250 MW

Forderung von 1250 kleinen, dezentralen PV-Anlagen

Verpflichtung der EVUs zur Abnahme von eingespeistem Strom aus . erneuerbaren Energien und Festlegung einer Mindestvergiitung

SanierungsmaBnahmen im industriellen Bereich, stufenweise Anwendung der Immissionsschutzbestimmungen der ABL

Modernisierung und Sanierung der Fernwarmenetzc in den NBL, Schwerpunkt KWK

Steuerpraferenz fUr KWK Zuschiisse fUr Energiediagnosen im

Gebaudebereich Unterstiitzung kleiner und mittlerer

Unternehmen zur Optimierung der betrieblichen Energieversorgung

Kredite fUr ratione lie Energienutzung und erneuerbare Energien in kleinen und mittleren Unternehmen

Ausweitung der Vergabe auf Produkte mit besonders rationellem Energieeinsatz und Einsatz von erneuerbaren Energien

Riicknahme- und Verwertungspflicht von Verpackungen

Abfallvermeidung und getrennte Abfallverwertung, energetischc Nutzung von Deponiegas

Fcstlegung der Rangfolge: Vermeidung, stoffliche Verwertung, thermische Behandlung und Verwertung, Entsorgung

Novellierung mit Anpassung an die fortschrittliche Technik

Novellierung und Festlegung verringerter Verbrauchswerte

Erstaufforstungspramien Anhebung der Mineralolsteuer (ab

1. 1. 1994 16 Pf II bei Benzin und 7 Pf II bei Diesel) und Erhebung einer Erdgassteuer

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148 L. Mez

Tabelle 3. Von der Bundesregierung geplante MaBnahmen zur Umsetzung des COz­Minderungsprogramms. (Bundesumweltministerium 1993b, S 72)

MaBnahme

Kleinfeuerungsanlagen -Verordnung

Wiirmenutzungs-Verordnung

Freiwillige Selbstverpftichtung energieintensiver Industriezweige

CO2-IEnergiesteuer Energiewirtschaftsgesetz

HOAI-Novelle

Energieverbrauchs­Kennzeichnungsgesetz

Kraftfahrzeugsteuer

COe-Richtwerte bei Kraftfahrzeugen

Verkehrsabgaben

Wirkung

Verschiirfung der Vorschriften flir kleine Feuerungsanlagen

Genehmigungspfticht fiir Wiirmenutzungskonzepte gewerblicher und industrieller Anlagen. Nutzungspfticht fiir wirtschaftlich nutzbare Abwiirme

Erste Gespriiche mit sechs Industriezweigen im Winter 1992/93

EG-weite Regelung angestrebt Erweiterung des Zielkatalogs urn Umweltschutz und

Ressourcenschonung. Abbau bisheriger gesetzlicher Hemmnisse der rationellen Energienutzung

Ergiinzung der Honorarordnung fiir Architekten und Ingenieure urn "Besondere Leistungen" zur Motivierung der Planer zur ratione lien Energieverwendung und Nutzung erneuerbarer Energien

Kennzeichnungspfticht von Haushaltsgeriiten mit Angaben iiber den Energieverbrauch

Umwandlung der KFZ-Steuer in eine schadstoffabhiingige Steuer mit COz-Komponente

Fcstlegung von COe-Richtwerten bei KFZ, zur Reduzierung des Verbrauchs, z.B. bei PKW auf 5 his 6 III 00 km bis 2005

Autobahn-Vignette

Neben diesen MaBnahmen auf Bundesebene haben auch die Bundeslander und Kommunen MaBnahmen zur Reduzierung der COr Emissionen eingeleitet. Die Halfte der Bundeslander hat Energiekonzepte erstellt, die sich am Ziel der COrReduktion orientieren. Erneuerbare Energiequellen und die rationelle Energienutzung wird durch entsprechende Programme gef6rdert: Biogas in 10, Deponie- und Klargas in 7 sowie die Nutzung von Holz und Stroh in 9 Bundeslandern (Haage u. Bansamir 1993). Ferner sind auf Landerebene Energieagenturen entstanden, die Energieein­sparprojekte initiieren und betreuen.

Auf der kommunalen Ebene sind mehr als 70 deutsche Stadte und Gemeinden dem Klimabiindnis europaischer Stadte zum Erhalt der Erdatmosphare beigetreten. Uber 200 europaische Stadte wollen bis zum Jahr 2010 ihren COrAusstoB halbieren. Zu diesem Zweck werden COr Minderungskonzepte erarbeitet.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) pladiert fUr einen Verzicht auf ordnungsrechtliche Anforderungen wie die geplante Warmenut­zungsverordnung und abgabenpolitische Regelungen und bietet stattdessen branchenbezogene Selbstverpftichtungserklarungen der Wirtschaft zum

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Klimaschutzpolitik als CO2-Minderungspolitik 149

Klimaschutz an. 1m Winter 1992/93 haben auf Bundesebene erste Gespriiche mit 6 energieintensiven Branchen stattgefunden.

Die deutschen Energiekonzerne vollziehen langsam den Wandel in Richtung Energiedienstleistungen nach, den die Branche in den USA bereits in den 80er Jahren durchgemacht hat. Sie verstiirken das Beratungsangebot und bieten "Contracting" (d.h. Betreibermodelle) und andere Finanzie­rungsformen fUr den Betrieb von modernsten Energieumwandlungsanlagen an.

Ais energiepolitische Option wird inzwischen die KompromiBbildung durch Dialoge zwischen den Hauptakteuren fUr notwendig gehalten. In der Folge einer solchen Konzertierung kann, bei Repriisentation der Antagonisten in neuen Gremien bzw. Instititutionen, eine Integration der neuen Konfliktfronten und eine Politisierung der Energiewirtschaft eintreten. Voraussetzung dafiir sind jedoch radikale Veriinderungen der Rahmenbedingungen auf der politischen, okonomischen und inform a­tionellen Ebene.

5 Fazit

Zwischen den formulierten Programmen und dem bisher Erreichten klaffen noch riesige Liicken. Der Ankiindigung von Stabilisierung oder Reduktion der CO2-Emissionen sind bisher kaum entsprechende Taten gefolgt. Ferner muB in der Energiepolitik ein Richtungswechsel von der angebotsorientierten Philosophie hin zur Effizienzrevolution erfolgen. Selbst fiir Diinemark muB konstatiert werden, daB es noch wesentlicher Anstrengungen bedarf, wenn die 20-%-Zielsetzung bei den CO2-Emissionen realisiert werden soil. Der fiir den CO2-AusstoB besonders bedeutsame Stromverbrauch wuchs 1990-1993 doppelt so stark wie im Reduktionsszenario vorgesehen. Da der Ak­tionsplan zudem nur drei Viertel des gesamten diinischen Energieverbrauchs abdeckt - das restliche Viertel betrifft den Verkehr, fiir den bis 2005 nur eine Stabilisierung angestrebt wird -, miissen hier deutlich mehr als 20% der COrEmissionen reduziert werden.

Auch in Deutschland gibt es noch viel zu tun, urn das beschlossene COr Minderungsziel von 25-30% bis zum Jahr 2005 umzusetzen. Insbesondere der Verkehrsbereich, fiir den eine Zunahme der COrEmissionen bis zu 50% prognostiziert wird, und garantierte Fordermengen von Stein- und Braunkohle, konterkarieren die COrReduktionspolitik. Die Beispiele verdeutlichen auch, daB nationale Konzepte fUr den Schutz der Erdatmo­sphiire unzureichend sind und daB sich das COrProblem nicht im nationalen Alleingang losen liiBt. Die Losung des globalen Klimaproblems erfordert in der Energie- und Umweltpolitik nicht nur ein international konzertiertes Vorgehen, sondern auch innerstaatlich einen Paradigmenwechsel der politi­schen und wirtschaftlichen Strategien.

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150 L. Mez: Klimaschutzpolitik als COrMinderungspolitik

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Das U nternehmen als Initiator der okologischen Umorientierung

Michael Stitzel

1 Okologische Umorientierung -Warum gerade durch die Unternehmen?

1m Rahmen des Generalthemas "Langfristige Umweltveriinderungen" geht es in diesem betriebswirtschaftlichen Beitrag urn die Rolle, die die Un­ternehmen als Produzenten und Anbieter von Gutern bzw. Diensten auf die Entwicklung der Umweltsituation nehmen (konnen). Die Unternehmen, das sind in einer marktwirtschaftlich gesteuerten Volkswirtschaft eine unuberschaubar groBe Menge von Einzelakteuren, die aile ihren Eigennutzen optimieren wollen und deren gemeinsames Interesse zuniichst einmal nur in der Erhaltung der Strukturen besteht, die ihnen die Realisierung ihres Eigennutzens ermoglichen. Ein zumindest derzeit in aller Regel nur neben­oder nachgeordnetes Element dieser Strukturen ist eine einigermaBen intakte Umwelt; als viel wichtiger wird von den Unternehmen weitgehende Freiheit von Staatseingriffen, geringe Steuerbelastung etc. gesehen.

Diese Unternehmen - moglichst jedes fUr sich sowie ihre Gesamtheit -sollen Initiatoren einer okologischen Umorientierung sein? 1st das nicht eine Verkennung von Realitiiten, eine vielleicht sogar gefiihrliche Illusion, gefiihrlich deshalb, weil damit einer speziellen Gruppe von Akteuren innerhalb der Gesellschaft Verantwortung zugewiesen wird, die sie weder tragen kann noch will, so daB diese Verantwortung dann auch nicht realisiert wird? Es ist ja schlieBlich bekannt, daB den Unternehmen in der offentlichen Diskussion regelmiiBig die Rolle maBgeblicher Umweltschiidiger - fokussiert hiiufig in Chiffren wie "Die Industrie", "Die Chemie-Industrie" - zugewiesen wird. In vielen Fiillen erfolgt diese Zuweisung zu Recht: Unternehmen verbrauchen okologisch knappe Guter, emittieren Schadstoffe bei der Produktion und bringen Produkte auf den Markt, deren Verwendung und Entsorgung Umweltprobleme aufwirft.

Das ist allerdings nur die eine, wenn auch sehr ernst zu nehmende Seite der Medaille. Gerade weil die Unternehmen wegen ihrer schwerwiegenden Schiidigungspotentiale so groBen EinfluB auf die Umweltsituation haben und in vielen Fiillen real in erheblichem AusmaB die Umwelt schiidigen, lohnt es sich, die andere Seite der Medaille zu betrachten, die sich in den beiden folgenden Priimissen konkretisiert:

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152 M. Stitzel

• Unternehmungen haben gute strukturelle, interessenbezogene und motivationale Voraussetzungen fUr umweltvertragliches Handeln - auch wenn auf den ersten Blick Tendenzen zur Umweltschadigung starker zu sein scheinen .

• Markt und Staat sind, wie theoretisch und empirisch belegt werden kann, ohne die Mitwirkung der Unternehmen oder gar gegen sie nicht in der Lage, eine ausreichend intakte Umwelt sicherzustellen, so daB die aktive Mitwirkung der Unternehmen notwendige Voraussetzung fUr die 6kologische Umorientierung ist.

Die Diskussion der ersten Pramisse ist zentraler Gegenstand dieser Abhandlung; vorangestellt wird zunachst eine Begriindung der zweiten Pramisse. Ublicherweise werden Markt und Staat als diejenigen gesell­schaftlichen Strukturen angesehen, die fiir die Gewahrleistung eines hohen Umweltstandards zustandig sind und, so die Meinung, durchaus auch die Potentiale aufweisen, urn dieses Ziel zu realisieren. Diese Vermutung ist nur sehr bedingt richtig. Markte, wie wir sie kennen und wie sie durch die in den entwickelten Industrienationen gegebenen politischen Strukturen konstituiert werden, bestimmen Produktion und Konsum mit Hilfe kurzfristiger und an den jeweiligen Bediirfnissen der Akteure orientierter Mechanismen. Dabei spielen a priori weder 6kologisch relevante Zeitraume noch 6kologische Knappheiten eine Rolle. So werden 6kologische Schaden haufig erst nach langen Latenzzeitraumen manifest (z.B. die Wirkungen von FCKW). AuBerdem haben sie, auch wegen hoher Prognoseunsicherheiten, keinen EinftuB auf die Steuerungselemente des Marktes, speziell die Preise. Auch gehen nur akute Knappheiten, nicht jedoch die langfristigen VerfUgbarkeiten von Ressourcen in die Preise ein, wie es z.B. bei den aus 6kologischer Sicht viel zu billigen fossilen Energien deutlich wird. Der Markt in seiner zeitlichen und raumlichen Begrenztheit setzt nicht in ausreichendem MaBe Impulse, die sicher ein umweltvertragliches, nachhaltiges Wirtschaften bewirken k6nnten.

Der Staat als zweiter potentieller Garant einer intakten Umwelt verfolgt zwar explizit das Umweltschutzziel, aber eben nur als ein Ziel neben vielen anderen Zielen, die dazu in partieller Konkurrenz stehen, wie z.B. Wirtschaftswachstum oder Arbeitsplatzsicherung. Uberdies ist der Staat aufgrund der Wahlen der staat lichen Reprasentanten ein Spiegelbild der Gesellschaft; es kann nicht davon ausgegangen werden, daB staatliche Umweltaktivitaten iiber das hinausgehen, was als durchschnittliches realisierungsfahiges Umweltinteresse der Bev6lkerung vorhanden ist; und schlieBlich ist der Staat strukturell mit der Sicherung einer hohen Umweltqualitat iiberfordert. Zum einen scheitern wirklich radikale L6sungen, z.B. eine konsequente Realisierung des Verursacherprinzips, an der Schwerfalligkeit staatlicher Willensbildung und -durchsetzung. Zum anderen ist eine liickenlose Uberwachung der negativen Umweltwirkung der einzelwirtschaftlichen Akteure, also der Unternehmen und Konsumenten,

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Das Unternehmen als Initiator der 6kologischen Umorientierung 153

aus technik- und kostenbedingten Griinden nieht leistbar (Ullmann 1982). Der hiiufig geforderte starke Umweltstaat wiirde zudem die Unternehmungen umweltpolitisch in eine reine Anpasserrolle hineindrangen - sie wiirden also gerade jeweils so viel tun, wie der Staat von ihnen verlangt - was gleichzeitig bedeutet, daB die Unternehmen die ihnen hier zugesprochene Initiatorenrolle nieht realisieren wiirden.

2 Gewinne, Ertrage und Kosten als Steuerungselemente von Unternehmungen - Und wo bleibt die Umwelt?

Vor der Analyse einer moglichen Initiatorenrolle der Unternehmen im Umweltbereich wird als Kontrapunkt zunachst aufgezeigt, wie und warum Unternehmungen faktisch iiberwiegend als Schiidiger der Umwelt auftreten. Unter den Bedingungen dezentraler okonomischer Entscheidungsstrukturen, wie sie in modernen Industriewirtschaften anzutreffen sind, haben autonome Unternehmungen a priori keinen AnlaB, die okologischen Wirkungen ihres Handelns zu dominanten Entscheidungspramissen zu machen. Unternehmen werden gegriindet und betrieben, urn den Kapitalgebern Renditen auf das eingesetzte Kapital in Form von Gewinnen zu erwirtschaften. Gewinne, vereinfacht definiert als Differenz von Ertragen und Kosten, entstehen dann, wenn Ertrage hoch sind und die dam it korrespondierenden Kosten niedrig liegen, bzw. sie steigen, wenn die Ertrage vergroBert werden und/oder die Kosten sinken. BewuBt abweichend von der iiblichen betriebswirtschaftlichen Terminologie wird hier die positive Gewinnkomponente als "Ertrag", die negative als "Kosten" (exakt: Aufwand) bezeichnet. Fiir den nicht betriebswirtschaftlichen Leser verbindet sich damit eine besser vorstellbare GroBe.

Auf allen Stufen des Betriebsprozesses - Beschaffung, Produk­tion, Absatz - werden sich die Unternehmen deshalb darum bemiihen, die Ertrags-Kosten-Differenz moglichst groB werden zu lassen, und genau das ist zunachst einmal die Ursache fUr unternehmensbedingte Umweltschiidigungen. Korrespondierend mit der betrieblichen Wertschop­fung, also dem durch die betriebliche Tatigkeit entstehenden Zuwachs an Werten in Form von Einkommen, ergibt sich in Verfolgung okonomischer Ziele in sehr vielen Fallen auch eine okologische SchadschOpfung (in Analogie zur sog. "Wertschopfungskette" wird unterdessen auch von der parallelen "Schadschopfungskette" gesprochen), die sich vor aHem in folgenden Punkten manifestiert:

• MaterialwirtschaJt: Einsatzgiiter, speziell Rohstoffe und Energien, werden mogliehst kostengiinstig bezogen, wobei die zu zahlenden Preise augenblickliche Knappheiten reprasentieren, keineswegs jedoch okologisch begriindete Werte, wie z.B. langfristige VerfUgbarkeit und Bedeutung

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154 M. Stitzel

in funktionierenden Okosystemen. Schonender Umgang mit okologisch relevanten Ressourcen, in seiner Reinform als wesentliches Element von "sustainable development" verstanden, ist damit per se kein un-ternehmerisches Entscheidungskriterium. .

• Produktion: 1m Produktionsprozel3 besteht die Tendenz, anfallende nicht benotigte Kuppelprodukte wie z.B. Abraum, Abwasser, Abluft ohne weitere Veranderung in die umgebenden Umweltmedien zu entlassen, weil jedes Zuriickhalten bzw. jede Veranderung, z.B. durch den Einbau von Filtern, zusatzliche Kosten mit sich bringt, denen keine Ertrage gegeniiberstehen. Weil in diesem Bereich der Zusammenhang von betrieblicher Tatigkeit und massiver Umweltschadigung besonders augenscheinlich ist, versucht der Staat hier mit einer Vielzahl direkter und indirekter Eingriffe, z.B. iiber Verbote, Grenzwerte oder Internalisierungen (Abwasserabgabe), die Unternehmungen zu einer Reduktion der durch sie verursachten Umweltbeeintrachtigungen zu veranlassen. Die Unterneh­mungen verhalten sich gegeniiber diesen staatlichen Vorgaben iiberwiegend als Anpasser. Tragischerweise ist es unter den heute gegebenen Bedingungen allerdings haufig giinstiger, die U mweltverbote und -auftagen nicht zu befolgen. Die Strafen fUr Umweltschadigungen sind relativ niedrig, ebenso die Wahrscheinlichkeit, dal3 die Schadigung bekannt wird. Damit ist der Erwartungswert der Risikoalternative, also die kostenintensive umwelt­schiitzende Mal3nahme nicht zu realisieren, giinstiger als das Ergebnis der sicheren Alternative, in diesem Fall die Vornahme der umweltschonenden Investition. Aus der Sicht der betriebswirtschaftlichem Handeln iiblicherweise unterstellten Nutzenmaximierung werden einzelwirtschaftliche Akteure - so sie das Kalkiil durchschauen - die Umweltinvestition nicht vornehmen (Terhart 1986) .

• Absatz: 1m Absatzbereich tritt an die Stelle der Kostensenkung die Ertragsmaximierung als zweite Komponente des Gewinns (G = E./.K, wobei gilt E = Pi· Xij; Pi Preise der Giiter i; Xij Mengen j der Giiter i). Bei in der Regel vorgegebenen Marktpreisen kann somit der Gewinn vor allem durch eine Steigerung der verkauften Mengen erhoht werden. Grol3ere Verkaufsmengen und damit auch steigende Produktionszahlen bedeuten ceteris paribus (d.h. also, ohne dal3 zusatzliche umweltschiitzende Mal3nahmen ergriffen werden) vermehrten Ressourcenverzehr, zusiitzliche Umweltschadigung bei Produktge- und -verbrauch sowie mehr Abfall, also insgesamt eine quantitative Ausweitung der negativen Umweltwirkungen iiber die gesamte Schadschopfungskette.

Allerdings ist die aus Umweltsicht problematische Ausweitung der Verkaufszahlen auch unter Kostengesichtspunkten betriebswirtschaftlich sinnvoll, insbesondere in Hinblick auf die Steigerung der Wettbewerbs­fiihigkeit. Sinkende Stiickkosten erhOhen bei gleichbleibenden Preisen die Gewinnspannen, oder sie vergrol3ern bei variablen Preisen die Preis­spielraume. Kurzfristig, d.h. periodenbezogen, wird der Kostensenkungs­effekt durch die sog. Fixkostendegression erreicht, langfristig durch

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Das Unternehmen als Initiator der 6kologischen Umorientierung 155

Effizienzsteigerungen, die mit der Erfahrungskurve beschrieben werden. Die Fixkostendegression (Abb. 1) fiihrt zu sinkenden Stiickkosten bei Zunahme der Stiickzahlen, weil sich die fixen, also von der Produktions­menge unabhangigen Kosten - z.B. Kapitalkosten, Abschreibungen -auf eine steigende Zahl von Produkten verteilen. Dieser Effekt gewinnt vor aHem deshalb an Bedeutung, weil der Anteil der Fixkosten an den Gesamtkosten tendenzieH immer groBer wird, je moderner die Produk­tionstechnologie ist.

Uber mehrere Perioden hinweg fiihrt eine Outputmaximierung zu einer Stiickkostensenkung, weil aufgrund der empirisch gut bestiitigten Erfahrungskurve (Abb. 2) mit jeder Verdopplung der kumulierten Ausbringungsmenge die Stiickkosten urn einen konstanten Prozentsatz (in der Regel urn ca. 20-30%) sinken (genauer zu Mechanismus und

K k

g

K(x)

k (x) J Fixkostendegression

I

x x

Abb. 1. Fixkostendegression (bei Annahme einer linearen Gesamtkostenfunktion); K(x) Gesamtkosten in Abhiingigkeit von der Ausbringungsmenge, k(x) Stiickkosten in Abhiingigkeit von der Ausbringungsmenge, Kf Fixkosten, x Kapazitiitsgrenze

k E

I

I - -------

I

I

X'

Abb. 2. Erfahrungskurve (Die Linearitiit der Erfahrungskurve resultiert aus dem dop· peltlogarithmischen MaBstab); E Erfahrungskurve, x' kumulierte Ausbringungsmenge, kWJ1kw2 Stiickkosten Wettbewerber 1 bzw. Wettbewerber 2

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Begriindung der Erfahrungskurve vgl. z.B. Heinen 1991; S 665ff.). Somit kann die Unternehmung durch Outputsteigerung auch mittel- und lang­fristig Kosten- und damit Wettbewerbsvorteile durch eine Steigerung der Verkaufszahlen erreichen.

Die vorangegangene Darstellung, derzufolge bei Anlegung einer betriebswirtschaftlichen Rationalitat Umweltschaden quasi zwangslaufig aufreten, mag beim 6kologisch orientierten Leser wie eine Horrorvision erscheinen; die in der Uberschrift dieses Abschnilts genannte Frage "Wo bleibt die Umwelt?" scheint unter Zugrundelegung 6konomisch relevanter Kriterien wie Gewinn, Ertrage und Kosten nur negativ beantwortet werden zu k6nnen. Aber das ist nur die Halfte der Wahrheit.

3 Die Spielraume fUr eine okologische Umorientierung

Es k6nnen 3 zueinander interdependente Ebenen identifiziert werden, auf denen die Unternehmungen die oben aufgezeigten umweltschadigenden Tendenzen einzelwirtschaftlichen Handelns abmildern und ins Gegenteil umwandeln k6nnen, und zwar

• die Ebene der kurzfristigen Ertrags- und Kostenorientierung, • die Ebene langfristiger Unsicherheit der Unternehmensentwicklung und • die Ebene der Unternehmensethik.

Den 3 Ebenen liegen unterschiedliche Rationalitaten zugrunde, sie werden von verschiedenen Motiven gesteuert und sind instrumentell unterschiedlich ausgestattet. Zusammen ergeben sie ein ggf. wirkungsvolles Set zur angesprochenen U morientierung.

3.1 Kostensenkung und Ertragssteigerung durch umweltvertragliches Verhalten

Das auf dieser Ebene angesiedelte Rationalitatsverstandnis ist identisch mit dem oben der Analyse umweltschadigenden Verhaltens zugrundegelegten Rationalitatsbegriff; d.h., aus der gleichen Logik der Ertragserh6hung bzw. Kostensenkung heraus k6nnen umweltschadigende wie umweltschiitzende Aktivitaten entstehen. Die Beriicksichtigung von Umweltzielen in Produk­tions- und Absatzentscheidungen kann, in Abhangigkeit von Instrumen­teneinsatz und situativen Bedingungen, durchaus auch aus kurzfristiger Sicht kostensenkend und/oder ertragserh6hend, also einzelwirtschaftlich vor­teilhaft sein. In den einzelnen betrieblichen Funktionsbereichen wirkt sich das folgendermaBen aus:

• Materialwirtschaft: Die beiden grundsatzlichen M6glichkeiten sind Einsparungen bei 6kologisch wertvollen Giitern sowie die Substitution

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umweltschadigender Einsatzfaktoren durch umweltvertragliche. Das Einsparen von Materialien und Energien wirkt sich unmittelbar und in voller Hahe kostensenkend aus. Empirische Erhebungen weisen auf erhebliche, allerdings sehr oft weder in ihrer Art noch in ihrer Hahe in den Unternehmungen bislang erkannte Einsparpotentiaie hin (viele Beispiele bei Winter 1993) - ein wichtiger Aspekt gerade in der heute sehr stark in den Vordergrund geschobenen Kostenorientierung im Rahmen des "lean management". Unternehmen, die ein System des Oko-Controlling installiert haben, die also ihre Umweltwirkungen z.B. in Form von Stoff- und Energiebilanzen quantitativ erfassen, berichten, daB die dadurch sichtbar gewordene Einsparmaglichkeiten graBer sind als die (nicht unerheblichen) Kosten, die die Installation des Controlling-Systems verursacht hat. Eine weniger giinstige Situation liegt im Substitutionsbereich vor. Falls qualitativ gleichwertige Substitutionsprodukte iiberhaupt in ausreichender Menge vorhanden sind, sind sie haufig teurer als die bisherigen Einsatzfaktoren; das beginnt beim Recyclingpapier und endet bei dem Einsatz regenerativer Energien, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, (deutlich) hahere Preise haben als Energien aus fossilen Quellen.

• Produktionssektor: 1m Bereich der Produktion bieten sogenannte integrierte Technologien bzw. "clean technologies" (Kreikebaum 1992) erhebliche Maglichkeiten der Reduktion von Umweltschiidigungen. Clean technologies zeichnen sich durch einen gegeniiber konventionellen Tech­nologien geringeren Ressourceneinsatz aus, speziell durch geringeren Energieverbrauch. Zudem sind sie so ausgelegt, daB die Entstehung von Schadstoffen (weitgehend) verhindert wird. 1m Gegensatz dazu entstehen bei dem Einsatz von End-of-pipe-Technologien Schadstoffe, die dann z.B. durch Filter zuriickgehalten werden, was aber in der Folge wieder Entsorgungsprobleme aufwirft und damit nur eine Problemverlagerung darstellt. Clean technologies machen haufig eine Umstellung des Pro­duktionsapparates erforderlich, bedeuten also Re- oder Neuinvestitionen. Auch haben sie in der Regel einen haheren Anschaffungspreis als veraltete End-of-pipe-Technologien, damit hahere fixe Kosten; sie wei sen jedoch eine Kostenfunktion auf, die ihnen z.B. wegen Energieeinsparung und rationellerer Produktionsform ab einer bestimmten Ausbringungsmenge Kostenvorteile verschafft (Abb. 3).

Zum effizienten Einsatz dieser Technologien ist also eine entsprechend hohe Produktionsmenge erforderlich, und nur im Einzelfall kann entschieden werden, ob die Umweltentlastungen der clean technologies durch die Mengensteigerung nicht wieder ausgeglichen oder sogar negativ iiberkom­pensiert werden .

• Absatzsektor: Es gibt eine Vielzahl akologisch vertraglicher Marke­tingstrategien - z.B. Verlangerung der Produktlebensdauer, Senkung des Verpackungaufwandes, hohe Recyclingfahigkeit der Produkte - die mit umweltentlastendem Erfolg eingesetzt werden (Meffert u. Kirchgeorg

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K

Abb. 3. Kosten in Abhangigkeit von der eingesetzten Technologie; KJ(x) Kostenfunktion konventionelle End-of-pipe-Technologie, K2 (x) Kostenfunktion "clean technologies", Xk

kritische Ausbringungsmenge, ab der "clean technologies" kostengiinstiger sind

1992). Das kann allerdings nicht dariiber hinwegtauschen, daB speziell die Mengenproblematik des Marketing, also das Streben nach moglichst hohen verkauften Stiickzahlen zum Zweck von Ertragsmaximierung, Markt­und/oder KostenfUhrerschaft die oben beschriebenen Erfolge hiiufig konterkariert. Da fraglich ist, ob das gestiegene UmweltbewuBtsein eines Teiles der Konsumenten ausreicht, urn die umweltschiitzenden Komponenten des Marketing in den Vordergrund zu schieben, stellt der Absatzbereich sehr vie I mehr als Materialwirtschaft und Produktion einen umweltkritischen Bereich unter dem Gesichtspunkt einer kurzfristigen okonomischen Rationalitat dar.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daB auch die enge kurzfristige okonomische Realitat durchaus Spielraume fUr eine okologische Umorientierung eroffnet und daB auch gangbare Wege dorthin aufgezeigt werden konnen. Ebenso existieren aber strukturelle Begrenzungen (z.B. Fixkostendegression), die verhindern, daB unter Ertrags- und Kostengesichtspunkten durchgangig eine umweltvertragliche Unternehmens­politik okonomisch angezeigt ist.

3.2 Langfristige Unternehmenssicherung durch okologische Praferenzen

Ohne der miBverstandlichen und haufig miBverstandenen Vermutung das Wort reden zu wollen, Langfristokonomie sei deckungsgleich mit Okologie und damit systemlogisch umweltvertraglich, andert sich das im vorange­gangenen Abschnitt beschriebene Bild doch deutlich, wenn die Fokussierung auf eine kurzfristige Ertrags- und Kostenorientierung durch den Blick auf

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die langfristige Perspektive des Uberlebens der Unternehmung ersetzt wird. Das Anhaufen periodenbezogener Gewinne garantiert noch keineswegs, daB die Unternehmung auf lange Sicht erfolgreieh ist. Grund dafiir ist die zunehmende Dynamik der Umsysteme der Unternehmung, die dazu fUhren kann, daB gerade die punktuell und traditionell erfolgreiehen Muster der Gewinnerzielung AniaB zum Entzug von gesellschaftlicher, politischer und okonomischer Akzeptanz sind. In der strategischen Variante der Lehre von der UnternehmensfUhrung wird deshalb an die Stelle der kurzfristigen Gewinnmaximierung der Aufbau langfristiger Erfolgspotentiale gesetzt, die auch unter veranderten Rahmenbedingungen Freiraume fUr befriedigende Gewinnerzielung offenhalten.

Dieser Aspekt einer durch langen Atem gekennzeichneten strategischen Orientierung ist insbesondere bei Einbeziehung der Umweltwirkungen unternehmerischen Handelns von Bedeutung (Stitzel u. Wank 1990). Umweltschadigendes Verhalten birgt eine Vielzahl von Risiken, die auf lange Sieht fUr die Unternehmung existenzbedrohend sein konnen. Denkbar sind aus okonomischer Sicht eine deutliehe Verschiebung von Kundenpraferenzen hin zu umweltbewuBterem Konsum, aus politischer Sicht der Zwang, sich auf erheblich scharfere Umweltgesetze einstellen zu miissen, aus gesellschaftlicher Sicht intensivere umweltbezogene Anspriiche an die Unternehmungen und schlieBlich aus okologischer Sieht eine dramatische (raumlich/globale) Verschlechterung der Umweltsituation. Konsequenzen fUr die nicht umweltorientierte Unternehmung sind dann Verluste von Marktanteilen, hohe und sehr kurzfristig zu erbringende Anpassungskosten an scharfere Umweltstandards, im Extremfall erzwungene BetriebsschlieBungen (s. Boehringer, Hamburg), krafteraubende Kon­frontation mit gesellschaftlichen Anspruchsgruppen (Dyllick 1989) und vielleicht sogar das Ende der unternehmerischen Aktivitatsmoglichkeiten aufgrund einer weitgehend zerstorten Umwelt. Derartige drohende Gefahren, die in einem fUr die betrieblichen P~~mer schwer erhellbaren Unsicherheitsraum angesiedelt sind, erfordern strategische Antworten, die sich nieht mehr primar an kurzfristigen Ertragen und Kosten orientieren und auch iiber eine punktuelle Beriicksichtigung von Umweltaspekten, z.B. in Form von Abfalltrennung etc., hinausgehen. Hier handelt es sich urn ganzheitliche unternehmerische Losungen, die sich in einem umwelt­vertragliehen Produktionsprogramm (genauer: unter den gegebenen Bedingungen U mweltschaden minimierenden Produktionsprogramm), einem Forcieren von Forschung und Entwicklung unter Umweltschutz­gesichtspunkten, einem okologischen Abchecken der gesamten Schad­schOpfungskette von Materialbezug bis zur endgiiltigen Entsorgung der nicht mehr benotigten Produkte konkretisieren. Das wiirde z.B. bedeuten, daB Automobilproduzenten sich nicht mehr primar als Hersteller konventioneller Kraftfahrzeuge verstehen, sondern als systemisch orientierte, d.h. im Verbund mit anderen Transportmittelherstellern und -betreibern denkende Anbieter von Transportleistungen (Vester 1990).

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Das impliziert natiirlich veranderte Unternehmensphilosophien und UnternehmenskuIturen, erfordert Denken in strategischen Zeitraumen, die langer sind als die im strategischen Management iiblichen. Letztendlich ist der Aufbau derartiger umweltorientierter Erfolgspotentiale eine Investition mit hohen Anfangsaufwendungen und entsprechenden Verzinsungen erst in ferner Zukunft. Da Unternehmungen in unserem Wirtschaftssystem augenblicksbezogen auf die Erhaltung eines finanziellen Gleichgewichts im Sinne von Liquiditat angewiesen sind, tritt hier die Konkurrenz zwischen kurzfristiger Erfolgsorientierung und langfristiger 6konomisch-6kologischer Unternehmenssicherung besonders deutlich, vielleicht auch schmerzhaft, zutage. Wie groB unter Unsicherheitsbedingungen der kurz- und mittelfristig vorhandenene finanzielle Spielraum fiir eine umweltvertragliche Lang­fristorientierung ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden.

3.3 Unternehmensethik als 8egriindung fUr Umweltorientierung

Der dritte Ansatzpunkt, an dem sich eine 6kologische Neuorientierung der Unternehmung festmachen kann, baut auf einem Rationalitatsverstandnis auf, das von den beiden zuvor diskutierten Wegen vollig abweicht. Hier geht es nicht urn das aus der Sicht der Nutzungsoptimierung kurz- bzw. langfristig Empfehlungswerte, sondern urn das aus Verantwortung gegeniiber der Umwelt sowie gegeniiber der jetzigen und den kiinftigen Generationen sittlich Gebotene. Unternehmensethik stellt die Frage, wieviel durch einzelwirtschaftliches Handeln der Natur zugemutet werden kann und inwieweit heutige unternehmerische Naturnutzung spatere Lebenschancen beeintrachtigt. Sie ist dabei kein fixierter Kodex operationaler Normen, die auf eindeutige Weise zulassigen Naturgebrauch von unzulassiger Naturzerstorung trennen, sondern vielmehr Aufforderung zum permanenten Hinterfragen umweltrelevanten Handelns des Unternehmens. Wenn auch vielfach die Sinnhaftigkeit von Umweltethik in Frage gestellt (s. z.B. die kontroversen Auffassungen von Steinmann u. Lohr 1990 vs. Schneider 1990) und die Rede von der unternehmerischen Verantwortung haufig als Feigenblatt benutzt wird, kann die Unternehmung eine okologische Umorientierung ohne ethische Reflexion schwerer realisieren; die kurzfristige okonomische Rationalitat birgt zu viele einzelwirtschaftliche Disfunk­tionalitaten, die langfristige zu hohe Unsicherheiten, wenn konsequent umweItvertraglich gehandelt wird. Dabei stehen die Chancen fUr Un­ternehmensethik gar nicht schlecht, zumindest solange die wirtschaftIiche Existenz der Unternehmung nicht gefahrdet ist: Die verantwortlichen Akteure in Unternehmen sind keine ausschliel3lich an Nutzenmaximierung orientierten Automaten, sondern Individuen mit okologischen Wiinschen, Phantasien und Angsten. Wenn es gelingt, die okologischen Sensibilisierung gerade von Fiihrungskriiften zu verstarken, was z.B. an den Hochschulen

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passieren k6nnte, entsteht ein ethisches Klima in der Unternehmung, das eine 6kologische Umorientierung vorantreiben kann.

Als Resumee aus diesen Uberlegungen ergibt sich, daB die angespro­chene Umorientierung nur durch synergetisches Zusammenwirken aller 3 Ebenen gelingen kann. Isoliert kurzfristige Politik scheitert an den manifesten Zielkonkurrenzen zu unmittelbar bkonomischen Interessen, isoliert strategische Orientierung miBachtet die Tageserfordernisse, und isoliert ethische Ausrichtung ohne Einbindung in bkonomische Rationa­litaten ist weltfremd und nicht durchsetzungsfahig.

4 Der Blick in die Praxis: Das zogerliche Herangehen der Unternehmen an die okologische Umorientierung

Vieles von dem, was im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurde, ist eher Wunsch und Vision als unternehmerische Realitat. Umweltschutz ist aus vielerlei Grunden ein Thema in den Unternehmungen, so z.B. weil die staatliche Umweltpolitik es erzwingt, wei I Kostensenkungs- und Ertragssteigerungspotentiale erkannt bzw. vermutet werden und weil es, gerade an hervorgehobenen Positionen, unterdessen fast immer auch Menschen mit hoher 6kologischer Sensibilitat in den Unternehmen gibt. Die realen Auswirkungen dieses Diskussionsprozesses sind allerdings noch.nicht ausreichend, urn empirisch von einer von den Unternehmen initiietten 6kologischen Umorientierung zu sprechen.

Die beobachtbaren unternehmerischen Aktivitaten zum Abbau der von ihnen verursachten Umweltschaden sind grob in 2 Gruppen zu unterteilen: Zum ersten sind punktuelle Ansatze zu beobachten, bei denen in einem oder auch mehreren betrieblichen Funktionsbereichen umweltfreundliche L6sungen generiert werden. Gegenstand dieser Bemuhen sind haufig Einsparungen bei Material- und Energieeinsatz, Produktmodifikationen in Richtung geringeren Energieverbrauchs sowie Verminderung der Abfallmengen bzw. deren bessere Recycelbarkeit (viele Anregungen vgl. Bundesverband Junger Unternehmer 1989). Haufig wird dabei anhand standardisierter Checklisten vorgegangen (Beispiele bei Winter 1993). Neben einer groBen Zahl wenig aufregender und fast als selbstverstandlich anzusehender MaBnahmen mit zudem bkologisch oft geringem Wirkungsgrad lassen sich auch durchaus originelle und zukunftsweisende Einzellbsungen finden, so beispielsweise die energetische Versorgung eines fischverar­beitenden Betriebes durch ein selbsterstelltes Windkraftwerk. lnsgesamt gesehen kann man diesen punktuellen Ansatzen aber nicht den AnstoB zu einer 6kologischen Umorientierung zusprechen; im Grunde greifen sie nur auf, was auch in der (Konsum-)Gesellschaft zwischenzeitlich Gemeinplatz ist: dort, wo es kaum Einschrankungen mit sich bringt, einzelwirtschaftliches Handeln eben auch 6kologischen Kriterien zu unterwerfen.

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Zum zweiten gibt es ganzheitliche Ansatze, bei denen versucht wird, die Summe der Umweltwirkungen iiber die gesamte Schadstoffk:ette, also iiber Beschaffung, Produktion, Absatz und Entsorgung, zu analysieren und in Richtung Umweltvertraglichkeit zu entwickeln. Zusatzlich werden die nicht unmittelbar betroffenen Bereiche, wie z.B. der Mitarbeitersektor, duch entsprechende Motivations- und QualifikationsmaBnahmen oder der Informationsbereich durch EinfUhrung eines gesamtunternehmerischen Oko-Controllings in die ganzheitliche Konzeption integriert. Derartige Versuche sind selten (genannt sei hier das bekannte Winter-Modell sowie, mit Abstrichen, die Migros-Genossenschaft in der Schweiz); sie befinden sich insgesamt noch in der Entwicklungsphase. Dennoch ist in einer derartigen okologischen UnternehmensfUhrung ein Ansatzpunkt fUr eine Umorientierung zu sehen. Die konkrete Umsetzung freilich bereitet oft Schwierigkeiten, so daB mutige Schritte durch angstliches Zuriickzucken konterkariert werden. Die Bereitschaft eines Warenhauskonzerns, eine Umweltschutzorganisation als einen externen umweltorientierten Berater in das Unternehmen hereinzuholen, steht neben der Weigerung dieses Konzerns, Getrankedosen auszulisten, die aus der Sicht des Ressour­cenverzehrs und der Entsorgung okologisch sehr bedenklich sind; angeblich weil das, so die Begriindung, zu okonomisch nicht vertretbaren Nachteilen gefUhrt batte.

Insgesamt gesehen besitzen die Unternehmen groBe Potentiale, urn nicht nur als Anpasser auf staatliche und gesellschaftliche Anspriiche nach umweltvertraglichem Handeln zu reagieren, sondern urn mit anderen relevanten Akteuren eine okologische Umorientierung vorantreiben zu konnen. 1m Gegensatz und in Erganzung zu der zeitlich punktuellen Orientierung des Marktes und der Schwerfalligkeit des Staats bringen die Unternehmen eine Reihe giinstiger Voraussetzungen fUr die Initiierung umweltvertraglichen Handelns mit: Sie konnen dezentral und relativ unabbangig agieren, sie sind erfahren im Suchen und Auffinden innovativer Losungen und beschaftigen sich in der Regel auch mit den Problemen ihres langfristigen Uberlebens. Schumpeters dynamischer Unternehmer, der sich durch das Auffinden neuer und erfolgstrachtiger Produkt-Markt-Kombina­tionen auszeichnet, wird in Zunkunft wohl auch daran gemessen, was er zur Initiierung der okologischen Umorientierung beitragt.

Literatur

Bundesverband Junger Unternehmer (1989) BJU-Umweltschutz-Berater, 2 Bde. Verlagsgruppe Deutscher Wirtschaftsdienst (DWD), K61n

Dyllick T (1989) Management der Umweltbeziehungen Gabler, Wiesbaden Heinen E (1991) Industriebetriebslehre, 9. Aufl Gabler, Wiesbaden Kreikebaum H (1992) Umweltgerechte Produktion. Deutscher Fachschriften Verlag,

Wiesbaden

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Das Unternehmen als Initiator der okologischen Umorientierung 163

Meffert H, Kirchgeorg M (1992) Marktorientiertes Umweltmanagement. CE Poeschel, Stuttgart

Schneider D (1990) Unternehmensethik und Gewinnprinzip in der Betriebswirtschaftslehre. Z betriebswirtsch Forsch 42110: 869-891

Steinmann H, Lohr A (Hrsg) (1991) Unternehmensethik, 2. Auft CE Poeschel, Stuttgart Stitzel M, Wank L (1990) Was kann die Lehre vom strategischen Management zur Entwicklung

einer okologischen Unternehmensfiihrung beitragen? In: Freimann J (Hrsg) Okologische Herausforderung der Betriebswirtschaftslehre. Gabler Wiesbaden, S 105-131

Terhart K (1986) Die Befolgung von Umwcltschutzauftagen als betriebswirtschaftliches Problem. Duncker & Humblot, Berlin

Ullmann AA (1982) Industrie und Umweltschutz. Campus, Frankfurt New York Vester F (1990) Ausfahrt Zukunft - Strategien fur den Verkehr von morgen. Beck, Munchen Winter G (1993) Das umwcltbewuBte Unternehmen, 5. vollst erweit Auft Beck, Munchen

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Die Okologie der neuen WeItordnung

Elmar Altvater

1 Einftihrung

Von einer "Weltordnung" kann man, wenn iiberhaupt, erst im 20. Jahrhundert sprechen. Die "globalen Ordnungen" der Jahrhunderte zuvor umfaBten immer nur die jeweils bekannte und erreichbare Welt, und sie balancierten, wenn sie denn Ordnungen, also dauerhaft und als politischer Entwurf angelegt waren, die Krafte souveraner Nationalstaaten. Die jeweilige nationale Ordnung der Verhaltnisse bildete den Horizont und nicht eine Weltordnung, auch wenn Kant oder Schiller iiber eine Weltfriedensordnung oder das "europaische Haus" philosophierten. Die bipolare Weltordnung der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts jedoch war nicht mehr zu allererst durch die Attraktions- und Repulsionskrafte (Anziehungs- und AbstoBungskrafte) nationaler Staaten bestimmt. Ihr Hauptcharakteristikum war der "Systemwettbewerb" zwischen Staaten­bl6cken, zwischen kapitalistischem Westen und realsozialistischem Lager. Beide Systeme beanspruchten, der Welt eine (jeweils alternative) Ordnung bieten zu k6nnen, und sie warben in den nicht festgelegten Weltregionen des "Siidens" urn EinfluB. Nicht nur zur Austragung des Ost-West-Konflikts ist im Westen ein differenziertes, trans- und internationales Regelwerk entstanden, das einen passenden institutionellen Rahmen fUr beschleunigte Akkumulation in der Zeit und Expansion im Raum geboten hat. Zum Regime der Nachkriegsordnung geh6rten region ale integrierte Wirt­schaftsraume (in erster Linie die EG) ebenso wie politische Biindnissysteme und Institutionen von betrachtlichem Gewicht wie IWF, Weltbank oder GAIT.

Diese Nachkriegsordnung hat keine 50 Jahre gewahrt. Der Fall der Mauer in Berlin 1989 und der Kollaps des konkurrierenden Systems des "real existierenden Sozialismus" brachte das Ende der Bipolaritat. Seitdem ist von einer "neuen Weltordnung" die Rede. Die Welt des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gehorcht nach dem "Sieg im Kalten Krieg" und "am Ende der Geschichte" scheinbar alternativlos dem Prinzip der rational en Weltbeherrschung durch Prozesse, die 6konomisch vom Markt und politisch von formal-demokratischen Verfahren gesteuert werden. Allerdings hat die Verfolgung des Prinzips der Weltbeherrschung viele Fragen aufgeworfen, auf die in der "neuen Weltordnung" neue

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166 E. Altvater

Antworten gefunden werden miissen, nachdem sich die "alten" Antworten aus der Epoche der Bipolaritat als unzureichend oder gar kontraproduktiv herausgestellt haben: Wie solI mit dem Scheitern der Entwicklungsan­strengungen der vergangenen Dekaden im politischen (d.h. nicht unbedingt geographischen) Siiden des Globus umgegangen werden? Welche Regelwerke miissen vereinbart werden, urn die auBer Kontrolle geratenen internationalen Finanz- und Wahrungsbeziehungen zu "ordnen"? Kann Modernisierung und Industrialisierung nach dem Muster des "n6rdlichen Westens" auch in Zukunft ein Ziel aller Gesellschaften in allen Weltregionen, des "postsozialistischen" Ostens und des Siidens sein? Wie ist darauf zu reagieren, daB gleichzeitig mit der Perfektionierung der rationalen Weltbeherrschung die Natur "zuriickzuschlagen", daB die globalen Okosysteme - Wasser, Luft, Land und Eiskappen - aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen und dem Projekt der "rationalen Weltbeherrschung" mit der "Tiicke des Objekts" spotten?

Die Koordinaten der neuen Weltordnung k6nnen zur besseren Orientierung mit Ortsnamen beschildert werden (Lipietz 1993): Berlin, das ist der Ort, wo die Mauer fiel und der Kollaps des Realsozialismus sein uniibersehbares Symbol fand. In der Dammerung des heraufziehenden Nord-Siid-Gegensatzes ist das Weichbild Bagdads erkennbar, so wie auf den echtzeitigen CNN-Bildern der Raketenangriffe. Wahrend des Aufmarsches der US-Truppen in der saudischen Wiiste fiel erstmals im September 1990 der Begriff der "neuen Weltordnung". Rio de Janeiro steht fUr die beginnende Erkenntnis von der 6konomisch-6kologischen Paradoxie zwischen Wachstum ohne Grenzen und Grenzen der Belastbarkeit der globalen Okosysteme - und fUr die Notwendigkeit, daB neue politische Regelwerke fUr den Umgang der Menschen mit der Natur gefunden werden miissen. Die neuen Regeln und Prinzipien haben schon einen Namen: Er heiBt "sustainability". Berlin und Bagdad symbolisieren das Ende der alten Ordnung, Rio steht fUr m6gliche Prinzipien des Neuen in der "neuen Weltordnung" .

2 Okologische Grenzen von Industrialisierung und Modernisierung

Die Ausdehnung im und die Eroberung des globalen Raums und die Beschleunigung 6konomischer Prozesse in der Zeit sind zwar Foigen einer bestimmten "okzidentalen" Rationalitat. Ihre Ubertragung aus der Welt des Geistes, aus Religion und Philosophie in die materiale Welt jedoch gelingt erst in der Neuzeit mit der industriellen Revolution. Die biotischen Energien von Mensch und Tier sind der Natur nach begrenzt. Die Geschwindigkeit eines Menschen, eines Pferdes, eines Ochsen laBt sich nicht unbegrenzt steigern. Erst der Riickgriff auf fossile Energietrager, auf

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Die Okologie der neuen Weltordnung 167

"exosomatische" Krafte, ermoglicht den Quantensprung bei der Steigerung der Geschwindigkeit, der raumlichen Mobilitat und Reichweite und letztlich der Arbeitsproduktivitat. Nicholas Georgescu-Roegen (1971, 1986) spricht in diesem Zusammenhang von einer "prometheischen Revolution" in den Methoden der Produktivitatssteigerung, die die (zunachst europaische, spater die neoeuropaische) Menschheit mit der Umstellung ihres Energiesystems, der Produktionsweise, der sozialen Organisation durchgemacht hat. Marx zeigt in seiner Analyse des "Produktionsprozesses des Kapitals", wie die neuen Energien und Energiewandlungssysteme, wie das Ensemble von Bewegungs-, Transmissions- und Werkzeugmaschine in der "groBen Industrie" die nicht mehr nur "formelle", sondern die "reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" zur Produktion des relativen Mehrwerts ermoglicht. Das Grundprinzip heiBt Steigerung der Produktivitat der Arbeit; dessen Realisierung setzt ebenso die Verfiigung iiber neue Energietrager voraus wie die Fahigkeit, damit zur Steigerung der Pro­duktion je Arbeiter sinnvoll und risikobewuBt umgehen zu konnen.

Nun erst stehen die Mittel der Weltbeherrschung zur Verfiigung. Europa expandiert iiber seine vertrauten Grenzen hinaus, und die Aktivitaten der Menschen in Produktion und Reproduktion beschleunigen sich. Die Regel, daB die "Zeitporen die Elemente des Gewinns" darstellen und daher "time" "money" ist, kann zu einem dominanten Prinzip werden, das den sozialen Wandel selbst in nichtrevolutionaren Zeiten beschleunigt. Der Wandel wird zur Normalitat; Kontinuitat hingegen ist Stagnation, ist Krise. Am Ende der "great transformation" (Polanyi 1978) zur Marktwirtschaft in Verbindung mit der "prometheischen Revolution" der Industriegesellschaft (Georgescu-Roegen 1971, 1986), unterstiitzt von den "biirgerlichen Revolutionen" in England, Frankreich und in den USA, durch die Menschenrechten und demokratischem Prinzip eine Bresche geschlagen wurde, ist die moderne kapitalistische Produktionsweise mit ihrer "propagandistischen Tendenz, den Weltmarkt herzustellen" (Marx) nicht nur hervorgebracht, sondern siegreiches, und - wie viele heute meinen - alternativloses Prinzip der gesellschaftlichen Organisation des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur.

Die neue historische Dynamik tritt noch konturenreicher hervor, wenn wir die Rolle des Geldes im ProzeB der kapitalistischen Industrialisierung betrachten. Der "Quantitativismus des Geldes", den Aristoteles noch kritisierte, weil er sozial zersetzend wirkte, kann sich so recht entfalten, wenn die Energie- und technischen Wandlungssysteme die raumlichen und zeitIichen Grenzen des "Oikos" und der "Polis" we it hinter sich lassen und die korpereigenen (endosomatischen) Krafte von Mensch und Tier vervielfachen. Fiir die moderne Geldwirtschaft sind die fossilen Energietrager der prometheischen Revolution ein Treibsatz, der sie in den siebten Himmel heutiger globaler Finanzspekulation emporjagt. Mit den Transport- und Kommunikationsmedien des 20. lahrhunderts wird der zeitIichen und raumlichen Dynamik des Geldes und des Kapitals Tiir und Tor geoffnet.

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Ohne fossile Energien gabe es weder den kapitalistischen Produktions- und AkkumulationsprozeB noch den modernen monetaren Weltmarkt. Erst weil Raum und Zeit durch den "technischen Fortschritt" nachgerade vernichtet worden sind, so daB von der Okonomie kokett als einer "virtuellen" Veranstaltung gesprochen wird, miissen reelle "Standorte" zwischen La Plata, Rio Grande, Rhein, Po und Wolga mit hochst reellen Leistungen -Lohnkosten, Infrastruktur, Kompetenz staatlicher Verwaltungen etc. - urn investierbare liquide Fonds auf dem "virtuellen" monetaren Weltmarkt buhlen.

Wahrend in vormodernen Zeiten die Menschen nur in raumlich begrenztem MaBe zum Transport der Energietrager (des Holzes) in der Lage waren (Debeir et al. 1989) und daher ihre "Standorte" danach ausrichten muBten, verschaffen sich moderne kapitalistische Gesellschaften Energien und Rohstoffe aus allen Weltregionen, urn sie in den Zentren der Energie- und Stoffwandlungssysteme in jenes Ensemble von Gebrauchswerten zu verwandeln, das die Schaufenster der "modernen Wohlstandsgesellschaft" fiillt und den "Reichtum der Nationen" darstellt. Dies alles setzt Speicherbarkeit iiber langere Zeitraume, leichte Trans­portierbarkeit und problemlose Transformierbarkeit von Primar- in Sekundar- und Endenergien (aus Kohle in Warme und Bewegung sowie umgekehrt aus Bewegung in Warme und Elektrizitat) voraus. Diese Bedingungen werden von den fossilen Energietragern hervorragend erfiillt.

Doch die Globalisierung bedeutet keineswegs, daB die Entwicklung der modernen Industriesysteme gleichzeitig und gleichmaBig erfolgen oder daB integrale Extraktions-/Produktionssysteme entstehen wiirden. Die "Weltordnung" der zweiten Halfte des 20. lahrhunderts ist vielmehr durch den Gegensatz von Stoff- und Energiewandlungssystemen in den entwickel­ten Industriegesellschaften "Des Nordens" einerseits und "Syntropieinseln" (Duff), also weniger entwickelten RohstoffextraktionsHindern "des Sudens", andererseits charakterisiert. Es ist keineswegs gesichert, daB gerade jene Lander und Regionen besondere Chancen haben, okonomischen Wohlstand anzuhaufen, die uber reiche Rohstofflager verfugen. Wahrend im 19. lahrhundert Rohstoffreichtum noch eine Gunst des Standorts war, sind in der internationalen Arbeitsteilung des 20. lahrhunderts eher jene Lander bevorzugt, die nicht auf Rohstoffexporte angewiesen sind, sondern technisch und organisatorisch innovativ mit neuen Produkten, produziert von qualifizierten Arbeitskraften, auf die Weltmarkte drangen konnen. Rohstofflander bieten mit den exportierten Energietragern den Industrie­landern die Moglichkeit, ihren Wohlstand zu erhalten und zu steigern, wahrend nach der erfolgten Extraktion wenig mehr als ein "schwarzes Loch" ubrigbleibt. Die Ordnung der industriellen Welt erzeugt also die Unordnung der Extraktionsgebiete (dazu Altvater 1992), es sei denn, Rohstofflander schaffen es, die Faktoren (Arbeit und Kapital) durch politische Gestaltung der internen Faktor-Preis-Relationen aus dem Rohstoff- in den Industrie­sektor zu lenken. Allerdings muBten die Industrieprodukte konkurrenzfahig

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produziert und auf dem Weltmarkt angeboten werden konnen. Das ist schwierig genug; denn die "systemische Wettbewerbsfiihigkeit" bezieht sieh immer auf die Konkurrenz innerhalb und zwischen den Branchen. Dieser Sachverhalt wird sehr hiiufig in den Analysen zur Wettbewerbsfiihigkeit vernachliissigt. Da steht immer die Konkurrenz innerhalb der Branche mit vergleichbaren Produkten aus anderen Liindern und "Standorten" im Vordergrund. Die Grunde fUr die Schwierigkeiten, im jeweiligen Land den Faktortransfer "zwischen den Branchen" yom Rohstoffsektor in den Industriesektor zu vollbringen, sind vielfiiltig. Sie sind von Harold Innis in seiner Analyse der "staple products" (Kabeljau, FeIle, Holz) am Beispiel Kanadas dargelegt worden. Sie sind mit thermodynamischen Kategorien von Steven Bunker (1985) debattiert worden, urn die Entwicklungshemmnisse in Amazonien ("underdeveloping the Amazon") zu erkliiren (vgl. auch Altvater 1987, 1991).

DaB die Entwickungsunterschiede zwischen Ressourcen extrahierenden Rohstoffliindern und den Ressourcen verwendenden Industrieliindern zum Problem geworden sind, liegt an der umfassenden, inzwischen durch die Kommunikationsmedien realisierten Globalisierung von Standards und Leitbildern von Produktion und Konsumtion, die aIle Welt erreiehen will -und muB! MaBstiibe und Standards sind allerdings nicht unveriinderlich, die Latte wird, auch dies ist Ausdruck der Dynamik des ModeIls, von den jeweils Erfolgreichsten im Wettbewerb immer hoher gehiingt. Der erwiihnte Quantitativismus des Geldes bestimmt auch die Regeln und die Dynamik der internationalen Konkurrenz. Nichts bleibt wie es ist, aIle Konkurrenten stehen unter dem Zwang, nicht nur die Latte in gewaltigem Sprung nach vorn zu nehmen, sondern sogleieh die MaBstiibe hoher zu schrauben.

Hat dies etwas mit der globalen Oko\ogie zu tun? Konkurrenzfiihigkeit und Entwicklungserfolge schlagen als vermehrte Produktion zu Buche. Das ist zuniichst nur eine hohere Geldeinanhme. Aber die vermehrte Produktion ist auf Dauer nur moglich, wenn auch der Verbrauch von stoffiiehen und energetischen Inputs steigt - selbst bei verbesserter Energieeffizienz. So schurzt sich das - neben den begrenzten Ressourcen - andere Problem der globalen Ordnung: Durch die Nebenprodukte der Stoff- und Energiewandlung in der Produktions- und Konsumtionssphiire werden die naturlichen Senken fUr fiussige, gasformige und feste Schadstoffe auf der Erde beansprucht - und schlieBlich uberbeansprucht. Die Senken sind ebenso erschopfiich wie die Ressourcen, bei deren Umwandlung in gewunschte Gebrauchswerte sie entstehen. Das okologische Problem der globalen Ordnung kann also in ein "Ressourcen-" und in ein "Senken­problem" aufgegliedert werden. Das erstgenannte Problem stand am Beginn der modernen Okologiedebatte, es wurde zum entscheidenden Thema des ersten Berichts des Club of Rome. Das zweite Thema kam erst spiiter hinzu, ist aber moglicherweise wichtiger als das erste. Dabei muB allerdings berucksichtigt werden, daB die Unterscheidung im konkreten Fall nieht immer stichhaltig ist. Wiilder beispielsweise sind "Ressourcen" (Holz, von

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anderen Waldprodukten abgesehen) und Senken (fUr CO2-Emissionen, die durch die Biomasse im WachstumsprozeB gebunden werden). Dariiber hinaus sind sie - die tropischen Regenwalder sind dabei besonders wichtig -Lebensraume fUr eine Vielfalt und Vielzahl von Lebewesen.

Die globalen 6kologischen Probleme sind daher im Prinzip dreifacher Natur:

• Ersch6pfiiche, endliche Ressourcen werden bis zur Neige ausgebeutet und prinzipiell nichtersch6pfiiche und erneuerbare Ressourcen werden iiber die Regenerationsfahigkeit hinaus (aus)genutzt.

• Sen ken werden der grenzenlos quantitativen Logik der kapitalistisch­industriellen Produktionsweise folgend in einem AusmaB belastet, das die Aufnahme- und Regenerationsfahigkeit iiberschreitet.

• Mit der Uberlastung von Ressourcen und Senken werden Lebensraume von Lebewesen vernichtet, die anders als der Mensch keine "exosomati­schen Instrumente" haben ausbilden k6nnen, urn sich eine "zweite", an die veranderten Umweltbedingungen angepaBte Natur zu formen.

Wenn die Veranderung von "Umwelten" zu schnell erfolgt, als daB sich die innere Natur daran anpassen k6nnte, sterben die Arten aus. Die Katastrophe besteht genau darin, daB die zeitlichen Spielraume - auch eine Folge des Prinzips des raum-zeitlichen Imperialismus, von Beschleunigung und Expansion - so eingeengt sind, daB Vorkehrungen zur Anpassung an eine radikal geanderte Umwelt unm6glich sind. So wird der EvolutionsprozeB des Lebens gelenkt, wie ein Supertanker von einem blinden und betrunkenen Kapitan mit einer inkompetenten Mannschaft.

3 Von globaler Apartheid zu einem "globalen Umweltregime"?

Die Ubernutzung der globalen Okosysteme ist ein "tragisches" Resultat der in kapitalistischen, besitzindividualistischen Gesellschaften geltenden Spiel­regeln. Individuelle Rationalitat kann nicht nur in kollektive Irrationalitat umschlagen (ein Thema, dem sich die Sozialwissenschaften seit ihrem Entstehen widmen). Wegen der (positiven) Riickkopplungen mit anderen ebenso individuell und rational interessegeleiteten Akteuren und infolge des gemeinsamen Zugriffs auf begrenzte und sich daher fiir aile anderen quantitativ und qualitativ, aufgrund individueller Aktion, andernden Ressourcen und Senken (dadurch allein wird die Annahme von der In­dividualitat des entscheidenden Akteurs fragwiirdig) k6nnen die eigenen Interessen allenfalls voriibergehend realisiert werden.

Dies alles setzt der entwicklungspolitisch angestrebten und durch die Konkurrenz erzwungenen 6konomischen Ausdehnung und Steigerung doch

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wieder Grenzen, die eigentlich durch den Riickgriff auf die exosomatischen Energien iiberwunden sein sollten: Grenzen der "ecological scale of produc­tion and consumption". Wie der Besen sich yom ZauberJehrling selbstiindig macht, verselbstiindigen sich die exosomatischen Apparate gegeniiber ihren Anwendern und verwandeln deren okonomische Rationalitiit in okologische Irrationalitiit. Die Menschheit befindet sich vor der unerfreulichen Alterna­tive, iiber ein sophistifiziertes monetiires, okonomisch hochst effizientes Steuerungssystem mit Marktpreisen zu verfiigen, das aber tragischerweise ungeeignet ist, Regeln fiir den Umgang mit selbstproduzierten globalen okologischen Problemen anzubieten. Andere Medien der Regulation freilich sind nicht vorhanden. Die Verfolgung der "Rationalitiit der Weltbeherr­schung" zeitigt ein tragisches Resultat. le we iter dieses Programm vorangetrieben wird, desto mehr stellt sich die Unmoglichkeit heraus, die Welt wirklich beherrschen zu konnen. Denn "a society that does not take into account the repercussions of its transformation of nature can hardly be said to dominate nature at all" (Grundmann 1991, S 109).

Prinzipiell gibt es 2 Antworten auf die Herausforderung begrenzter Ressourcen und Senken fiir den (im Prinzip unbegrenzten) industriell­kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsprozel3. Die eine liil3t sich mit dem Stichwort "containment" beschreiben (Sachs 1992): Eindiimmung der negativen Konsequenzen der Ubernutzung von Ressourcen und Senken im "Siiden", urn in den privilegierten Industrieliindern des "Nordens" das eingeiibte Produktionsmodell und den Iieb gewordenen "life style" fortsetzen zu konnen. Die okologischen Kosten der globalisierten Industriegesellschaft werden also auf einem Globus "externalisiert", der gerade durch die zeitliche und riiumliche Dynamik kapitalistischer Verwertungslogik eine Externa­Iisierung ausschliel3t. Das Modell einer gespaltenen Welt, einer "globalen Apartheid", ist auf lange Sicht nicht nur okologisch, sondern auch politisch und militiirisch ausgeschlossen.

"Containment" ist eine Strategie des Schlul3strichs: Sie erkennt an, dal3 raum-zeitliche Expansion an nachgerade eherne, natiirliche Schranken stol3t, so dal3 die Privilegierten ihre Claims gegen die anderen verteidigen (miissen). Der Unterschied zu den raum-zeitlichen Regimes der vergangenen Epochen kapitalistischer Entwicklung ist eklatant. In der kolonialistischen Friihphase des Kapitalismus wurden die "weil3en Flecken" auf dem Globus erobert, besiedelt, unterworfen und ausgebeutet und auf brutale Weise, durch Ausrottung ganzer Volker, subaltern, eben als Kolonien, in den Zirkel der kapitalistischen Metropolen einbezogen. Die imperialistischen Staaten des 19. und 20. lahrhunderts unternahmen aile Anstrengungen, die bereits territorial aufgeteilte Welt riiumlich zu reorganisieren - und sie gerieten bei diesem Unterfangen untereinander in kriegerische Konftikte, die sich zu Weltkriegen zuspitzten, da es ja urn eine Neuordnung der Welt ging. Die Strategie der Eindiimmung, also keine Strategie der territorialen, nationalstaatlichen Ausdehnung, sondern der Abschottung bringt eine giinzlich neue riiumliche Organisation der Erde hervor. Sie ist den Strukturen

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der im Verlauf der Nachkriegsordnung entstandenen Privilegien nachge­bildet. Die wohlsHindigen Gesellschaften versuchen die Zugriffsmoglichkei­ten auf Ressourcen und Senken zu sichern, miissen aber bei den erkannten Grenzen der globalen Okosysteme dafiir Sorge tragen, daB Einschrankungen vor allem bei anderen wirksam werden. Das Prinzip der Gleichheit von Bediirfnissen, Anspriichen und Rechten der Menschen iiberall auf der Erde wird ersetzt durch ein anderes: das der Rationierung begrenzter Okosysteme. Ein Teil der Menschheit bekommt groBe, ein anderer Teil nur kleine Rationen zugeteilt. Die Rationierung durch den Preismechanismus (jene' G-7-Biirger mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 20000 US$ pro Jahr konnen groBere Rationen greifen als jene G-77-Biirger mit einem jahrlichen Pro-Kopf-Einkommen von 500 US$) wird in der "neuen" Weltordnung mit politischen und militarischen Mitteln perfektioniert. Dabei spielen Hilfs­leistungen (Entwicklungshife, Global Environmental Facility etc.) eine ebenso wichtige Rolle wie politische und militarische "Befriedung" (Golfkrieg; Somalia etc.), wenn andere Mittel nicht greifen.

Die Alternative zu "containment" und globaler Apartheid ist Koordinierung von Politik und Kooperation zwischen prinzipiell gleichbe­rechtigten Akteuren, also die Bildung eines internationalen okologischen Regimes, das sich auf gemeinsame WertvorsteHungen, politische Normen, Regeln und vor aHem auf handlungsfahige Institutionen stiitzen kann und sich schlieBlich darauf verlassen miiBte, daB die Akteure gemaB den Regeln des Regimes tatsachlich iiber okologische Fragen problemgerecht und gleichberechtigt kommunizieren konnen. Die UNCED-Konferenz von Rio de Janeiro im Juni 1992 wird von einer Reihe von Beobachtern als bedeutender Schritt zur Regimebildung interpretiert (Bruckmeier 1994; Simonis 1993; Rowlands 1992), zumal der UNCED-Konferenz andere Abkommen zur globalen Regulation des Stoffwechsels mit der Natur vorausgegangen sind. Ihnen ist eines gemeinsam: eine Art "conditionality", die die Prinzipien des unbedingten "free trade" und der "freien Unternehmerinitiative" gewissermaBen an eine (allerdings sehr lange) Leine legt, ohne dem Prinzip nationalstaatlichen Protektionismus (dieses Prinzip stammt aus der Weltordnung der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts) das Wort zu reden. Dazu gehoren das Abkommen iiber den Schutz von seltenen Tieren und Pflanzen (Washington Agreement) von 1975, die FCKW­Konvention von Montreal (1987) mit den Nachfolgevereinbarungen, das Baseler Miillabkommen von 1989, das im Marz 1994 in Genf betrachtlich verscharft worden ist, die Tropical Timber Trade Organization von Tokio und Yokohama und schlieBlich die in Rio beschlossene, inzwischen ratifizierte COrKonvention sowie die weniger verbindlichen Abkommen iiber den Schutz der Walder und der Artenvielfalt, ebenfalls von Rio de Janeiro. Es ware iibertrieben, diese Abkommen bereits als "Regime" mit den oben genannten Elementen zu interpretieren, das Rahmen, Ziele und Wege des umweltpolitischen Handelns von internationalen Akteuren umschreiben wiirde. Das Novum der Bildung eines internationalen

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~

"-

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Umweltregimes besteht darin, daB die Regulation des Stoffwechsels mit der Natur nicht mehr aile in der Preissprache des Weltmarkts, aber auch nicht mehr den Kompetenzen von in der neuen Weltordnung doch nicht souveranen Nationalstaaten iiberlassen bleibt. Das nachfolgende Schema (Abb. 1) indiziert diesen Zusammenhang.

4 Die politische Gestaltung der okologischen "Budgetrestriktion"

Woran konnen sich politisch gesetzte (also nicht mehr allein durch Preise definierte) Grenzen der Nutzung von globalen Ressourcen und Senken orientieren, wo sind sie zu etablieren? Grenzen auf raumlichem Territorium zu setzen und zu kontrollieren ist Privileg und Kompetenz des souveranen Nationalstaates. Aber "sein" eingegrenztes und eingefriedetes Territorium

......

Globale Regulation Nationale Regulation

I I Oekologische und I I Free Trade soziale

Principle Konditionalitiit Protektionismus - (z.B. Art XX r" -GATT)

Laissez faire principle: Keine beschrankenden Regeln Ober

Regeln, keine Produktions· Nationale soziale Kompensation; .. .....................• prozesse und ~ . .................................... und okologische

Regulation durch Produkte; Soziale Standards die "penetrative und Okologische

power of the price Standards system"

.. I Ansatze der Bildung eines globalen Umwelt·Regimes

"- .. .. .. .. .. .. CFC· C02- Waste

Protection of

Convention Convention Convention animals and Tropical timber Forests, Species

(Montreal) (Rio) (Basle) plants ITIO (fokio) Protection (Rio)

(Washington)

.......

.......

.....

........... - - - ~ - - - - - -Abb. 1. Regulation 6kologischer Standards; Ansiitze der internationalen Regimebildung

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ist ja mannigfachen, nicht zuletzt okologischen Einwirkungen ausgesetzt. Was sind die Grenzen des grenzenlos kosmopolitischen Freihandels? Sie sind jene der Budgetrestriktion des Geldes, also eine nichtterritorial­raumliche, sondern eine (okonomisch) funktionsraumliche Grenze (zu dieser Unterscheidung vgl. Altvater 1987): Nur die Handelstransaktionen sind durchfiihrbar, und nur jene Produktionsprozesse werden eingeleitet, die gemessen an den internationalen Zinssatzen rentabel, profit abel sind.

Die Grenzen der Nutzung von okologischen Ressourcen, beispielsweise des Eintrags von Schadstoffen in die Atmosphare, konnen nicht in national­staatlicher Abgrenzung definiert oder der okonomischen Budgetrestriktion unterworfen werden. Versuche, die in diese Richtung weisen, scheitern entweder daran, daB sie sich territorial nicht eingrenzen lassen, oder daran, daB die Verfolgung des Rentabilitats- und Profitprinzips "globale Kosten der Industriegesellschaft" erzeugt. Vielmehr verlangt ihre Festlegung eine Verstandigung iiber okologische "Budgetrestriktionen", die doppelt bestimmt werden konnen. Erstens - passiv - mit der Tragfahigkeit und Belastbarkeit der globalen Okosysteme im Hinblick auf anthropozentrische Einwirkungen und zweitens - aktiv - mit dem AusmaB von Belastungen, die im ProzeB von Produktion und Konsumtion durch Menschen auf dem Erdball erzeugt werden. Diese neue Grenze zwischen okologischer Belast­barkeit und okonomischer Belastung, zwischen "ecological scale" und "economic scale" von Produktion und Akkumulation wird in der interna­tionalen Debatte, insbesondere seit Erscheinen des Brundtland-Berichts 1987, mit dem Begriff der "sustainability" bezeichnet. Der Begriff ist normativ aufgeladen und analytisch wenig stringent. Sinnvollerweise muB er an den oben bezeichneten global en okologischen Problem en ankniipfen und Gestaltungen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur begriinden, deren Maf3 die Fahigkeit zur Reproduktion und Evolution der Arten ist: Weder diirfen Ressourcen und Senken iiber die Regenerationsfahigkeit hinaus genutzt, noch darf die Evolution der Arten den Interessen der Geldvermogens(und Genbanken-)besitzern iiberantwortet, also der okonomischen Budgetrestriktion und der ihr unterworfenen Logik des Handelns okonomischer Akteure ausgesetzt werden. Dabei konnte nur eine hochentropische Monokultur herauskommen. Also ware "Nachhaltigkeit" sinnvollerweise thermodynamisch zu definieren (Daly 1991; Altvater 1992): Die Entropieproduktionsrate muB auf der Erde = 0 gesetzt werden, d.h. Energiezufuhr (von der Sonne) und Entropiezunahme in Form von Abwarme, Abwasser, Miill, Abluft etc. miissen sich die Waage halten. Letztlich erreichbar ist dieses "FlieBgleichgewicht" nur bei Verfolgung einer "Sonnenstrategie" (Scheer 1993).

Dem Prinzip der Nachhaltigkeit kann auf 2 Wegen Rechnung getragen werden: Die Nutzung von Okosystemen hangt ja erstens davon ab, wie viele Ressourcen entnommen und wie viele Emissionen in die natiirlichen Senken eingetragen werden, also von der "ecological scale of production and consumption". Dies ist die stofflich-energetische, die gebrauchswertmaBige

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Seite von Produktion und Konsumtion. Zweitens wird das AusmaB der Ressourcennutzung von dem Niveau, der Wachstumsrate und der Verteilung des Einkommens in der Weltgesellschaft, von der "economic scale of produc­tion and consumption" bestimmt. Dabei handelt es sich urn die wertmaBige Seite okonomischer Prozesse. Die Regeln eines internatioalen Regimes konnen nun an der einen oder der anderen "scale" ansetzen oder an beiden. Die Nutzung von Ressourcen und Senken (ecological scale) erfordert auf jeden Fall die Setzung verbindlicher quantitativer Hochstwerte und qualita­tiver Standards, beispielsweise uber zulassige COrEmissionen, die Art der Waldnutzung, die Gewasserbelastung, die Produktion und Behandlung von Mull einschlieBlich der MaBnahmen zum Recycling etc.

Die Beachtung der Grenzen der "economic scale" hingegen kann im Prinzip mit okonomischen Anreizen herbeigefuhrt werden: Akteure werden veranlaBt, Umweltbelastungen, die sie verursachen, zu internalisieren. Dazu konnen einerseits Umweltsteuern und die Streichung aller umweItbelastenden Subventionen (im Transportsektor, in der Landwirtschaft, in der Energie­produktion) sowie eine angemessene Gestaltung Offentlicher Tarife eingesetzt werden. Andererseits kann mit Regeln der Preisbildung seitens der Unternehmen die "Preiswahrheit" gesteigert werden ("getting the prices right"). Marktliberale Vertreter gehen davon aus, daB eine Erhohung der Allokationseffizienz durch Internalisierung der (externalisierten) Kosten der Umweltbelastung in die Preiskalkulation eine Reduzierung von Ressour­cenverbrauch und Schadstoffeintrag herbeifUhren konnten, ein gegebenes Einkommensniveau vorausgesetzt.

Allerdings sind ernsthafte Zweifel an den Erwartungen, mit "richtigen Preisen" die Umwelt entlasten zu konnen, nicht nur mit aus empirischen Untersuchungen gewonnenen Argumenten anzumelden. Die Preise auf dem WeItmarkt sind gar nicht Resultat des freien Spiels der Kriifte, sondern Ergebnis mikrookonomischer Preissetzungsmacht des Managements von transnationalen Unternehmen (administered pricing). Mindestens 25% des Welthandels ist "intra-firm trade" (OECD). Am wichtigsten aber ist der Sachverhalt, daB der die Budgetrestriktion des Geldes ausubende Preis einer kapitalistischen Geldwirtschaft, der Zins namlich, eine hOchst unzuverlassige Variable ist, insbesondere in Zeiten okonomischer Instabi­litat. Seine Hohe reflektiert nicht - wie die Klassiker annahmen - die realen und "naturlichen" Moglichkeiten der Erzielung eines Uberschusses (indiziert yom Anstieg des Produktionspotentials). Infolge des globalen "debt overhang" und der Internationalitat des Kredits bei gleichzeitiger Nationa­Iitat von Wahrungen - ein permanenter AnlaB fUr Spekulation - wird im Zins vor allem das Risiko abgegolten. Der mit einer bestimmten Kapitalsumme erzielbare produktive UberschuB in Form des Profits ist fUr die Renditekalkulationen der innovativen "Finanzinstrumente" auf dem monetaren Weltmarkt unbedeutend. Die Hohe des Zinses ist von der realen Leistungsfahigkeit von Schuldnern abgekoppelt. Dies war in vorkapita­Iistischen (und vorfossilistischen) Zeiten AnlaB fUr das aristotelische, das

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kanonische und islamische Zinsverbot. Da es sich in der gegenwartigen Welt zu einem Gutteil urn souverane Schuldner (Staaten) handelt, werden in der Foige politisch moderierte Umverteilungsprozesse zugunsten der interna­tionalen Geldvermogensbesitzer ausgelost. "Moderatoren" sind dabei vor allem die Weltbank, der Internationale Wahrungsfonds, die Clubs von London und Paris, die Bank fUr internationalen Zahlungsausgleich in Basel etc. Die Bildung des Zinssatzes ist zwar okonomisch rational, der Preis ist als hoch reagibler Marktpreis theoretisch "richtig". Wenn aber die Hohe des Zinses sich von den realen 8edingungen der UberschuBproduktion lost und vor allem die Hohe des Risikos von Ausleihungen reflektiert, kann er nicht okologisch und sozial "richtig" sein und rationale Entscheidungen anleiten.

Die Limitierung der "economic scale" kann auch erfolgen, indem die Weltmarktkonkurrenz reguliert wird. Es konnte eine "ecological condition­ality" eingefiihrt werden. In diese Richtung weisen Diskussionen iiber ein "greening of the GAIT" (Daly 1994; Anderson u. Blackhurst 1992). Eine okologische Konditionalitat wiirde auf jeden Fall mit dem Prinzip des Freihandels, mit Nichtdiskriminierung und Meistbegiinstigung brechen und so die tragenden Saulen des GAIT unterminieren. Die Entscheidung fUr eine okologische Konditionalitat, urn die kein Weg herumfUhrt, sofern die UNCED-Beschliisse von Rio und danach ernst genom men werden, zieht eine Alternative nach sich: Entweder liegt die Kontrolle der okologischen Normen bei den Nationalstaaten, oder sie werden in einem internationalen Handelsabkommen verankert und von einer internationalen Institution iiberwacht. 1m ersten Fall sind "Oko-Dumping" (Nichtberiicksichtigung der okologischen Kosten in der Preisgestaltung) auf der einen und "Oko­Protektionismus" (tarifiire oder nichttarifare Hiirden gegen Produkte, deren okologische Kosten nicht vollstandig im Preis beriicksichtigt werden) auf der anderen Seite kaum zu vermeiden, und zwischenstaatliche Handelskonflikte sind schon jetzt vorgezeichnet. Diese Perspektive muB nicht schrecken, zumal die Alternative des okologisch nicht regulierten freien Handels keineswegs freundlicher ist. Die von den Klassikern versprochenen "komparativen Kostenvorteile" sind bei hochst mobilem Kapital und trans­nationaler Migration von Arbeitskraften noch nicht einmal theoretisch zu begriinden. Vorzuziehen ware freilich die Errichtung einer internationalen Institution (bzw. die Ausstattung des GATT mit entsprechenden Kompetenzen), die die Regimebildung nach UNCED einen Schritt vorwarts bringen konnte. Da es dabei immer urn Nutzungsrechte an Natur geht, die fUr die Erhaltung von Einkommensniveaus unabdingbar sind, da obendrein finanzielle Beitrage zu leisten sind, ist Regimebildung notwendigerweise mit Verteilungskonflikten verkniipft.

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5 Akteore des globalen Umweltregimes ond ihre Interessen

Auf internationaler Ebene sind die Nationalstaaten nicht mehr die einzigen, und in mancher Hinsicht moglicherweise nicht mehr die ausschlaggebenden Akteure, auch wenn die kulturellen, sprachlichen, politisch-historischen Traditionen staatlich vermittelter UmverteilungsmaBnahmen eher die beno­tigte Legitimation verleihen als Appelle an die kosmopolitischen Gemein­samkeiten, Rechte und Pflichten von Weltbiirgern. Neben Staatengruppen, wie der groBen und machtigen Europaischen Union oder der kleinen und schwachen "Alliance of Small Island States" (AOSIS), neben losen Allianzen wie der Gruppe der 77 und fest institutionalisierten Koordinierungsgremien wie der Gruppe der 7 treten in der international en Arena transnationale Unternehmen und Banken mit ihrer in politische Macht umgesetzten okonomischen Potenz auf. Es sind internationale Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale Wahrungsfonds, das GATT oder die ILO, haufig als Verstarker der okonomischen und politischen Macht der Industrielander prasent, und es wirken Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) im ProzeB der Entscheidung, insbesondere in den Umwelt und Entwickung betreffenden Fragenkomplexen mit.

Die erwahnten Akteure verfolgen Interessen. Diese konnen nach Verursacher- und Betroffeneninteressen untergliedert werden. Als Zwi­schenkategorie werden noch die von Prittwitz (1990) so genannten "Helfer­interessen" beriicksichtigt. Aus der so entstehenden Matrix von Akteuren und Rollenverteilung kann man bereits einen Eindruck von der Komplexitat und Widerspriichlichkeit der Interessenstruktur auf internationaler Ebene gewinnen, wenn es urn die Aushandlung von Regimen geht, die Entwicklung und Umwelt regulieren sollen. Tabelle 1 deutet diese Zusammenhange an, sie kniipft an einer Darstellung von Simonis (1993) an und fiihrt sie we iter.

Die "neue Weltordnung" ist keine reine Staatenordnung mehr. Infolge der globalen Kommunikation und Vernetzung hat der Staat,' haben die Diplomaten von Regierungen nicht mehr das Monopol der Gestaltung internationaler Beziehungen. Die "Zivilgesellschaft" ist dabei, sich zu trans­und zu internationalisieren. So entstehen auf der einen Seite wegen der Bedrohung der natiirlichen Umwelt auf Erden die "neuen Betroffenheiten" und auf der anderen Seite die internationalen Vernetzungen, die mehr und mehr organisatorische Form gewinnen. NRO haben bei der Aushandlung internationaler Abkommen, insbesondere im Bereich von Umwelt und Entwicklung, inzwischen wichtige Aufgaben iibernommen. Damit wird ein staatstheoretisches Problem aufgeworfen.

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Tabelle I. Akteure und deren Interessen in der globalen Umweltpolitik

Internationale Verursacher von Betroffene von Geber von Empfiinger von Akteure Emissionen Emissionen Hilfe Hilfe

USA stark schwach stark nein EU stark stark stark nein Osteuropa stark stark schwach stark OPEC stark schwach schwach schwach Gruppe 77 schwach stark schwach stark AOSIS weniger als sehr stark nein schwach

schwach Transnationale stark stark/schwach nem nein

Unternehmen N icht -Re gierungs- nein stark stark stark

organisationen Internationale nein nein stark nein

Institutionen (IWF etc.)

6 Eine "globale Zivilgesellscbaft" jenseits der Nationalstaaten?

1m internationalen System sind die Akteure mit langster Tradition, groBter Machtausstattung, unbefragter Legitimation, groBter Expertise jene souveranen Staaten, die seit der Heraufkunft der Moderne die intern a­tionale "Ordnung" bilden, von der zu Beginn die Rede war. Die Souveranitat des Nationalstaats ist doppeJt definiert und gleichzeitig begrenzt. Die Staatsmacht bezieht sich auf ein Territorium, hat also eine territoriale, raumliche Dimension, und sie leitet sich geschichtlich aus dem Staatsvolk her, das als eigentlicher Souveran, zumindest in demokratischen Systemen, die jeweilige nation ale Regierung mit legitimierten Handlungsvoll­machten ausstattet. Beide Ressourcen von Macht und Souveranitat -Territorium und Staatsvolk - sind erschopflich. Die Grenzen des National­staats des 19. und 20. lahrhunderts sind immer weniger kompatibel mit der Reichweite der okonomischen Prozesse und mit den raumlichen und zeitlichen okologischen Folgen von Stoff- und Energietransformationen. Aus dem Prinzip "cujus regia, ejus religio", mit dem nach der Reformation die Religionswahl zwischen Protestantism us und Katholizismus in die Hand des jeweiligen regionalen Herrschers gelegt war und das ein Element der "westfalischen Ordnung" nach 1648 wurde, kann die Regel "cujus regia, ejus economia" nicht mehr abgeleitet werden. Infolge der Internationa­lisierung der Okonomie ist das System der modernen Nationalstaaten "fluid" (Ruggie 1993: 139) geworden.

Nun kann aus dieser Tendenz keineswegs geschluBfolgert werden, daB der Nationalstaat seine einstmals historisch entscheidende Rolle am Ende

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des 20. lahrhunderts vollends ausgespielt habe. Die Beschaffung von Legitimation fur Regierungshandeln erfolgt immer noch in erster Linie in der durch die Nationalitat definierten Gesellschaft, durch das Wahlvolk. Die Territorialitat des Nationalstaats wird "entbundelt", wie Ruggie (1993) den ProzeB der Erosion des nationalstaatlichen Territoriums als funktionaler Einheit und die Aufiosung eines nationalen Territoriums in der Welt der sozialen Vorstellungen und Bilder (im "l'immaginaire social") bezeichnet. Auch das Staatsvolk ist keine selbstverstandliche Einheit mehr, wenn es das denn je war. Modernes "Nomadentum" fuhrt zur Aufiosung der nichtter­ritorialen Abgrenzungen, etwa von Anspruchsberechtigten in der modernen Sozialversicherung. Zugleich bilden sich innerhalb des Nationalstaates regionale Einheiten heraus, die eine "subnationale" Identitat vermitteln, die nicht mehr auf den uberlieferten Nationalstaat bezogen ist.

Dennoch: Alle diese Tendenzen haben die Nationalstaaten nicht von der Buhne getrieben, sie haben nur die Regeln des Spiels verandert und neue Akteure auf den Plan gerufen. Denn nicht zuletzt sind Nationen als Wahrungsraume paradoxerweise international und national-okonomisch zugleich definiert. Sie sind durch Wechselkurse gegeneinander abgegrenzt und mit der Zahlungsbilanz aufeinander als Nationalstaaten bezogen. Allerdings sind die Wecheslkurse nur bedingt in der Gestaltungsmacht nationaler Staaten oder internationaler Institutionen. Sie sind das Resultat des freien Spiels der monetaren Krafte auf Devisenmarkten, auf denen heute taglich 1000 Mrd. US$ umgesetzt werden - davon werden allenfalls 10 Mrd. US$, also rund 1 %, zur Abwicklung des Welthandels (rund 3500 Mrd. US$ pro lahr) benotigt. Der Rest ist Spekulation, die wegen der nationalen VerfaBtheit der Wahrungsraume bei Globalisierung der Kapitalbeziehungen eine Notwendigkeit der Absicherung des Werts von Geldvermogen gegen Wechselkursbewegungen ist und gleichzeitig die "volatility" der Kursschwankungen erhoht.

Die "Ungleichzeitigkeitslucke" zwischen nationalstaatlicher VerfaBtheit, der Herausbildung eines internationalen okonomischen und politischen Systems und der Globalitat der okonomischen und okologischen Probleme kann prinzipiell auf 2 Weisen geschlossen werden. Es bildet sich in der "Einen Welt" ein globaler Staat, der aber eher autoritarer Alptraum ist und obendrein eine geringe Kapazitat zur Losung der Probleme von Weltmarkt und globaler Okologie besitzen durfte. Inwieweit ein globaler Staat "personified, symbolized, imagined" (Walzer) werden und so als Staat einer globalen Gesellschaft Legitimation erwerben und auf Basiskonsens zahlen kann, sei erst recht dahingestellt. Aus der Globalisierung der Okonomie lieBe sich sicherlich die funktionale Notwendigkeit globalisierter politischer Systeme der Regulation ableiten (Knieper 1991,1993); denn die okologischen Probeme sind ebenso globaler Natur wie die okonomischen Probleme, wenn erst einmal die Boden, die Ozeane und die Atmosphare uberlastet sind und die Vernichtung der Artenvielfalt den EvolutionsprozeB in unbekannte Richtung lenkt. Dies entspricht dem Wesen von Geld und Kapital.

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180 E. Altvater

Allerdings ergibt sich an dieser Stelle sofort ein politisch-okonomisch­okologisches Paradox. Politik erfiillt sich in der Regeneration von Macht, im Setzen von Regeln, in der Beschaffung von Legitimation fiir politische Intervention, in der Erzeugung und Pftege von Konsens. Sind diese Prizipien globalisierbar? Wohl kaum, miiBte doch das politische Prinzip der Setzung von Grenzen in die Grenzenlosigkeit des globalen Systems wirklich umschlagen.

7 Zwischen Nationalstaat ond globalem System: "Intermediare" Nicht-Regierongsorganisationen

Die Ungleichzeitigkeit und riiumlich-zeitliche Nichtkompatibilitat von Okonomie, Okologie und Politik sind weder durch Schaffung eines globalen Staates noch durch Rekurs auf die tradierte Nationalstaatlichkeit aufzuheben. Es stellt sich dann aber die Frage, wie diese "Dysfunktionalitiit" von Funktionsraumen auf dem "einen" Globus zu einer Produktivkraft werden konnte. Wenn die Nationalstaaten ungeeignet sind, die globalen okologischen und okonomischen Probleme zu bewaltigen, ein globaler Staat aber eine Illusion ist, wiichst den intermediaren Institutionen und Organisa­tionen ein doppelter Komplex von Aufgaben im Zuge der internationalen okologischen Regimebildung zu: Erstens werden NRO unverzichtbare Vermittler und Multiplikatoren des Konsenses innerhalb je nationaler (oder regionaler) Gesellschaften, urn radikale und daher (zuniichst) unpopuliire MaBnahmen zur Reduktion der Schadstoffemissionen, zur Schonung von Ressourcen, zur Erhaltung der Raume fur Arten, deren "okonomischer Nutzen" nicht kalkuliert werden kann und darf, iiberhaupt von den politischen Instanzen erzwingen zu konnen. Interessen am Schutz der natiirlichen Umwelt sind nicht vertikal abgrenzbare Klasseninteressen oder horizontal zuschreibbare ungleiche Interessen einzelner Gruppen. Sie durchziehen jedes Individuum, betreffen vertikale Klassen und horizon tale Gruppen gleichermaBen. In diesem Sinne hat Ulrich Beck Recht, wenn er zugespitzt feststellt, daB Smog "demokratisch" sei. NRO ihrerseits sind daher weder klassenspezifisch noch auf Gruppeninteressen festzulegen, sie haben eher anwaltliche Aufgaben.

Zweitens sind NRO die Bindeglieder internationaler Netzwerke, die von Nationalstaaten nicht geknupft werden konnen, da sie "subetatistisch", unterhalb der Problemlagen, wo Souveriinitiit und daher traditionelle Diplomatie eine Rolle spielen, geftochten werden. Sie sind somit gewis­sermaBen die Bindeglieder einer internationalen Zivilgesellschaft. "Menschheitsinteressen" (und, dies sei hinzugefiigt: Menschenrechte und Rechte der Volker) jenseits der nationalen Interessen konnen NRO, fiir die Souveriinitiit und nationalstaatliche territorial- und funktionsriiumliche Macht kein leitendes Prinzip sind, besser artikulieren als nationale Staaten,

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Die Okologie der neuen Weltordnung 181

die sich auf internationale Verhandlungen einlassen. Die internationalen Netzwerke von NRO sind der politisch-formliche Ausdruck der Globalitat der okologischen Krise.

ledoch zeigen die Erfahrungen von Rio auch, daB NRO nicht schon wegen ihres gemeinsamen intermediaren Charakters und wegen der poli­tischen Form, in der sie Politik gestalten, auf gleicher Welle kommunizieren konnten. Rowlands stellt zwar "an unprecedented level of cooperation among some members of the NGO community" fest, beschreibt aber auch die Unterschiede zwischen NRO aus dem Norden und aus dem Siiden, im AusmaB der Professionalitat ihrer Aktivitaten, im Grad ihrer Basisver­ankerung, hinsichtlich des Einflusses, den sie auf die Reprasentanten von groBen Nationalstaaten oder von internationalen Institutionen ausziiben vermogen (Rowlands 1992, S 215ff.). Es wird also noch viel CO2 in die Atmosphiire geblasen, bevor sich die Prinzipien okologischer Nachhaltigkeit in der neuen Weltordnung durchsetzen.

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Nutzung und Schutz tropischer Regenwalder -Zur Problematik der gro88achigen Zonierung im brasilianischen Amazonasgebiet

Manfred Nitsch

1 Einfiihrung

Die Abholzung der tropischen Regenwiilder gehOrt zu den global en Umweltproblemen, die von der Offentlichkeit seit einigen Jahren mit be sonde rem Interesse verfolgt werden. Es geht dabei urn den EinfluB auf das Klima und die Artenvielfalt, aber auch urn das Lebensrecht der indigenen Volker und der anderen Volker des Waldes; es geht urn nation ale Sou­veriinitiit und urn den Konflikt zwischen "Entwicklung" im iiblichen Sinne von "Inwertsetzung" und "Wachstum" auf der einen und Naturschutz auf der anderen Seite.

Die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen wie UNO und Weltbank sowie in Deutschland unter den offiziellen Organen allen voran der Deutsche Bundestag haben die Problematik erkannt und dokumentiert. Die "Grupper der 7" hat 1991 in Zusammenarbeit mit Weltbank, EG-Kommission und brasilianischer Regierung ein an­spruchsvolles "Pilotprogramm zur Erhaltung brasilianischer Regenwiilder" entworfen und inzwischen auch begonnen, es in die Tat umzusetzen; dabei ist jedoch eine Fiille von politischen, konzeptionellen und praktischen Problemen aufgetaucht, und die Abholzung geht - wenn auch weniger schnell - weiter, so daB man we it davon entfernt ist, von einer "Losung" sprechen zu konnen.

Die Problemlage ist auch alles andere als klar, denn bis vor kurzem noch sind Kolonisationsvorhaben zu Lasten von Primiirwiildern und sonstigen Naturriiumen einhellig als zivilisatorischer "Fortschritt" und Beitrag zur Losung der Erniihrungsprobleme einer rasch wachsenden Bevolkerung gepriesen worden. - Und an irgendeinem Baum soli nun SchluB damit sein und Abholzung fUr Barbarei statt fUr Zivilisation stehen? SchlieBlich ist bei genauerem Hinsehen eine "Grenze", von der leicht in Anlehnung an die "Frontier" im amerikanischen Westen gesprochen wird, nicht ohne Willkiir zu definieren, denn seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, leben auf einem Kontinuum zwischen wirklich abgelegenen Primiirwaldgebieten und seit langem kolonisierten Fliichen Tausende von Menschen, und zwar nicht nur Indianer.

Vor diesem Hintergrund sind die politisch-administrativen Ansiitze zu sehen, die in Brasilien derzeit mit internationaler Unterstiitzung in die Tat

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184 M. Nitsch

umgesetzt werden. Dabei spielt die groBfHichige Zonierung ("zoneamento"), also die flachendeckende Einteilung von groBen, meist einen ganzen Bundesstaat umfassenden Gebieten, in Nutzungszonen mit unterschiedlicher Intensitat zwischen 1 (Siedlungsgebiete mit ackerbaulicher und agroforst­licher Nutzung im Umfeld der Stadte und StraBen) und 6 (vollstandig geschutzter Primarwald, Indianergebiete und Bioreservate) eine besondere Rolle.

1m folgenden sollen die ersten Erfahrungen mit diesem Instrument aufgearbeitet und insofern mit dem interdisziplinaren Anspruch dieses Bandes verknupft werden, als im ersten Teil die eher naturwissenschaftliche Herangehensweise an das Problem der Landnutzung und des Naturschutzes dargestellt wird und dann im zweiten Teil die spezifisch wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Analyse zu ihrem Recht kommt, so daB sich abschlieBend ein Resumee ergibt, welches Starken und Schwachen beider Herangehensweisen auflistet und eine Integration versucht.

2 Handlungsansatze aus der Sieht der Okosystemforschung

Zur Bedeutung der tropischen Walder fUr das globale Klima und fur die ErhaJtung der in Jahrmillionen entstandenen Artenvielfalt braucht dem allgemein bekannten Wissen hier nichts hinzugefugt zu werden. Wichtig ist allenfalls, auf das Problem der UngewiBheit ausdrucklich hinzuweisen, weil aile wirtschafts- und umweltpolitischen MaBnahmen in der Praxis sich nicht auf hundertprozentig gesichertes Wissen verlassen konnen, sondern so oder so mit "Risiko" umgehen mussen, also einer bei Entscheidungen in Kauf genommenen Gefahr. Das gilt fUr den Schutz des Waldes ebenso wie fUr die Entscheidung, die betreffende Flache fur eine anderweitige Nutzung freizugeben.

Bei Schutz- und Nutzungsentscheidungen uber den tropischen Regenwald wird bei der naturwissenschaftlichen Herangehensweise typischerweise mit dem Begriff des "Okosystems" operiert, welches durch den Eingriff des Menschen zerstort wird. In Amazonien sind dafUr nicht nur die Raubbauwirtschaft an Holz und die Landnahme durch Siedler verantwortlich, sondern auch der Bergbau im groBen wie im kleinen Stil sowie die ex­tensive Viehwirtschaft, die bis vor kurzem auch noch mit steuerlichen Anreizen in erheblichem Umfang gefordert worden ist. Schaut man sich die ErschlieBungsphasen und -wege etwas genauer an (Abb. 1), dann erkennt man rasch, daB die traditionellen Wasserwege erst relativ spat, namlich nach 1960, von der StraBe erganzt und in weiten Gebieten ersetzt worden sind. Die Abbildung zeigt auch die Einteilung des brasilianischen Amazoniens in Bundesstaaten, wobei im folgenden vor allem auf Rondonia, das etwa so groB ist wie die alte Bundesrepublik, eingegangen werden soli.

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186 M. Nitsch

Dieses Bundesland ist durch das vom Gouverneur (Ministerprasidenten) erlassene Dekret Nr. 3782 vom 14.06.1988 "zoniert", also flachendeckend in Nutzungszonen zwischen 1 (urn die Stadte und StraBen herum) und 6 (Indianergebiete und Bioreservate) eingeteilt worden. Die "sozio­okonomisch-okologischen" Zonen wurden von den Planern auf der Basis von Boden- und Vegetationskarten definiert, denen eine "Bestimmung" zur ackerbaulichen oder forstwirtschaftlichen Nutzung oder auch zum Naturschutz hinzugefiigt wurde, so daB jeder Hektar Landes auf der Karte in der Farbe einer bestimmten Zone erschien, aber nicht mehr zu erkennen war, ob die Ausweisung in 1, 2, 3 oder 6 auf den natiirlichen Istzustand oder auf den geplanten Sollzustand zuriickzufiihren war.

In der entsprechenden brasilianischen Fachliteratur ist der Begriff "voca<;ao" ("Berufung") typisch, den ein geographischer Raum aufgrund seiner natiirlichen Bedingungen fUr diese oder jene Nutzung durch den Menschen haben solI. Fruchtbare Boden sind danach in der Regel fiir den Ackerbau "bestimmt" und fragile Okosysteme fUr den Naturschutz. Dariiber hinaus erscheint oft der Begriff "Holismus" oder "holistisch" (gr. holos -ganz, vollstandig, umfassend), urn den okosystemaren oder "-systemischen" Ansatz gegen den "kartesianischen" abzugrenzen, welcher Mensch und Natur kiinstlich auseinanderreiBe. Von Zoneamento-Planern ist ausdriicklich auf den auch in Brasilien erschienenen internationalen Bestseller des Physikers Fritjof Capra "The Turning Point" (1982; deutsch: "Wendezeit" 1983) Bezug genommen worden, welcher die Gegeniiberstellung von "kartesianisch" und "holistisch-systemisch" sowie die Wiederherstellung der "Harmonie" zwischen Mensch und Natur zu seinem Leitmotiv gemacht hat:

SchlieBlich brauchen wir eine neue planetare Ethik und neue Formen der politischen Organisa­tion auf planetarer Ebene, und zwar als Konsequenz der Erkenntnis, daB wir unseren Planeten nicht "managen" ki:innen, sondern uns selbst harmonisch in seine multiplen, sich selbst organisierenden Systemc intcgrieren miissen (Capra 1983, S 449f.).

Nicht nur in Brasilien wird von Okosystemforschern der Mensch und das soziale System in einer Weise modelliert, daB die menschlich bestimmten Okosysteme und Landnutzungen als "Schnittmengen" von "Natiirlichem System" einerseits und "Sozio-okonomischem System" andererseits erscheinen (Abb. 2). Damit soil der zweifellos enge Zusammenhang zum Ausdruck gebracht werden, und so erscheint das in Brasilien gewahlte Vorgehen bei der Regionalplanung gerade fUr naturnahe und nach Naturschutz "rufende", ja "schreiende" tropische Regenwaldgebiete zunachst auch ganz iiberzeugend. Zweifel beschleichen vermutlich die Leserinnen und Leser allenfalls im Hinblick auf die Umsetzung einer solchen ehrgeizigen Flachennutzungsplanung und auf die Kontrolle ihrer Einhaltung unter den brasilianischen Bedingungen.

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Nutzung und Schutz tropischer Regenwiilder

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3 Handlungsansatze aus wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Sicht

Ein Blick auf die Erfahrungen , die in Brasilien inzwischen mit diesem Instrument gemacht worden sind, lehrt, weIche Tiicken in dem geschilderten naturwissenschaftlich gepragten Handlungs- und Planungsansatz stecken.

Nachdem die erwahnte Karte per Dekret in Kraft gesetzt worden war, gab es eine Verfassungsreform, durch die das "Zoneamento" zur Aufgabe des bundesstaatlichen Parlaments erklart wurde; der daraufhin yom Planungsministerium eingebrachte Gesetzentwurf fand jedoch keine Mehrheit. Auch eine "Zweite Anniiherung" mit detaillierteren Karten scheiterte, obwohl die Zentralregierung bei Verabschiedung erhebliche Infrastrukturmittel in Aussicht stellte und Weltbank und EG-Kommission ebenfalls driingten und lockten. Erst sehr viel spiiter wurde dann schlieBIich eine Fassung beschlossen, die detaillierter war, stellenweise eine intensivere Nutzung erlaubte und mehr Infrastrukturversprechungen beinhaltete.

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188 M. Nitsch

Folgendes war passiert: Jeder Grundeigentumer in Rondonia fand sein Stuck Land in einer bestimmten Zone wieder, konnte sich aber vorstellen, daB zumindest ein Teil seiner Flache auch in hoheren Nutzungszonen eingestuft werden konnte. Da der Bodenpreis offensichtlich von der Einstu­fung in Zone 1, 2 oder 6 abhing, war eigentlich niemand mit der Karte zufrieden, denn auch die Arbeitnehmer und Verwalter, Gewerbetreibenden, Fischer und Handler, ja selbst die Gummizapfer und Indianer schielten zumindest auf die Zone nachsthoherer Intensitat, weil sie sonst riskier­ten, keinen Wegebau, keine Schule, keinen Krankenposten und noch nicht einmal fur den bescheidenen Subsistenzbedarf eine Abholz- oder Jagdge­nehmigung zu bekommen. Es war also kein Wunder, daB das Zoneamento­Gesetz zunachst keine Mehrheit fand und daB es schlieBlich erst nach der Ausweisung immer intensiverer Nutzungsmoglichkeiten und nach dem Inaussichtstellen von massiven Infrastrukturinvestitionen verabschiedet wurde.

AIle Beteiligten lernten uberdies, daB es sehr wichtig war, welche Flachen mit welchen Nutzungsbeschrankungen ausgewiesen wurden, und die Planer lernten uberdies, daB man gut daran tat, die Voruberlegungen geheim zu halten, urn nicht zu massiven Druck zu provozieren. So war es nur folgerichtig, daB die Zustandigkeit fur das Zoneamento, das inzwischen auf das ganze Land Brasilien ausgedehnt werden sollte, einer interministeriellen Kommission unter Vorsitz des von Militars gefuhrten "Sekretariats fUr Strategische Fragen" (Secretaria de Assuntos Estrategicos - SAE) beim Staatsprasidenten anzuvertrauen, denn Landkarten, noch dazu in Grenzregionen, Geheimhaltung und "geopolitische" groBftachige strategische Planungen "rufen" geradezu nach dem Militar als Institution.

1m Hinblick auf die erst kurzlich erfolgte Demokratisierung der politischen Strukturen Brasiliens ist das nicht unproblematisch. Die SAE ist namlich Nachfolgeinstitution des in den Zeiten des Militarregimes gefUrchteten militarischen Geheimdienstes "Servi<;o Nacional de Informa<;6es - SNI"; innerhalb der neuen Organisation soli die alte SNI-Fraktion zwar nur eine Minderheit darstellen, und der derzeitige Chef der SAE gilt als ein Militar neuen, demokratischen Typs - aber bis zu einem gewissen Grade wird mit der Zustandigkeit fUr das "Zoneamento" die betont technokratische Linie des Militarregimes, jetzt unter okologischem Vorzeichen, fortgesetzt.

Es gibt jedenfalls zu denken, daB in den giiltigen "Methodologischen Richtlinien" der SAE (1991: 3) fiir das Zone amen to die Rede von der Notwendigkeit einer "holistisch-systemischen Vision" ist; noch pro­blematischer erscheint, daB sich die "Umweltsysteme" mit den yom Menschen ausgelosten Prozessen durch das Zoneamento "harmonisch" verbinden sollen, denn jeder Anderungswunsch gerat dadurch in den Geruch, die von Militars definierte "Harmonie" zu staren.

Hinsichtlich der von Weltbank und Europaischer Union angestrebten "Erhaltung" des Regenwaldes ergab sich das Problem, daB bei jeder neuen Runde in Rondonia die Intensitat der Nutzung stieg, weil nur in dieser

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Richtung politischer Druck spurbar wurde, so daB der Regenwaldschutz immer ein biBchen weiter aus dem Blick geriet. Das lag, wie die obige Uberlegung zum Interesse aller Bewohner und Wahler gezeigt hat, auch nieht an den spezifischen Verhaltnissen im "Wilden Westen" Brasiliens, denn bei "lupenreiner" Demokratie und "preuBischer" Durchsetzungs­verwaltung ware, von der Entscheidungslogik her, sogar noch groBerer Widerstand gegen diese Art von Planung zu erwarten, weil man weniger mit der Umgehung des ungeliebten Gesetzes rechnen konnte.

Was ist also verkehrt mit dem Zoneamento? Die philosophische Kritik des okologischen Diskurses zeigt, welche Uberraschungen und Gefahren sich in "Ganzheitliehkeit" und "Holismus" verbergen konnen, wenn diese Begriffe unkritisch und ideologisch verwendet werden. So heiBt es bei Bohler (1991, S 1005f.):

(Die) Chance einer Kritik und Erweiterung der Rationalitat 6kologischer Forschung wird griindlich vertan durch das in der Okologiebewegung populare Verstandnis der Okologie als ganzheitlicher Wissenschaft der "vernetzten" Systeme bzw. des globalen Okosystems schlechthin, die auch eine ganzheitliche Steuerungstechnik erm6g1ichen soli ... Solche Oko-Technokratie kassierte die moderne Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Ethik und damit die Un­terscheidung von Sein und Sollen. Sie verbande sich liickenlos mit harmonistischen Natur­My then bzw. Kosmos-Mythen, welche eine freie 6ffentliche Diskussion und Zielorientierung ersetzen wiirde durch das Sich-Einfiigen in ein "Okosystem", das doch kaum etwas anderes als das Definitionsprodukt von Okotechnokraten ware.

Das liest sich wie ein Echo auf Fritjof Capra und die brasilianischen Militars und zeigt, daB es bei der Kritik von Texten nicht nur urn abstrakt­akademische, sondern urn ganz handfeste politische und okologische Auswirkungen geht. Fur den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler ist es eine Herausforderung, den Interessenlagen noch ein Stuck weiter nachzugehen und uberdies Alternativen zu der Planungsmethode des "Zoneamento" zu analysieren.

Ausgangspunkt fUr eine angemessene wirtschafts- und sozialwissen­schaftliehe Reftexion ist die Tatsache, daB nicht nur wir im industrialisierten Europa, sondern auch die Brasilianer - von wenigen Indianern abgesehen -unglaublieh weit weg vom Zustand der "Unschuld" als biologische, vom akosystem der unmittelbaren Umgebung abhangige Wesen leben. Seit Jahrtausenden bereits ein Bergbau und Fernhandel treibendes Wesen, hat der Mensch als "homo minerus" sich spates tens seit der Industriellen Revolution und ganz besonders jetzt im alzeitalter we it weg bewegt vom Ursprung in Abb. 3, also dem Punkt ohne "kommerzielle Energie", sprich: Kohle, aI, Erdgas, Kernenergie und Hydroelektrizitat. Dies gilt nicht nur fUr die Energie, sondern auch fUr andere Stoffe (s. Beitrage von Janicke und Mez).

Die moderne Stadt, selbst eine Stadt wie Porto Velho in Rondonia, ist aus dem unmittelbaren Umfeld uberhaupt nicht zu unterhalten. So hat auch kein Quadratmeter Land der Erde die "Berufung", eine Stadt zu tragen oder asphaltiert zu werden; wenn aber die Flachen der Stadte und StraBen

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190

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Abb. 3. Bruttosozialprodukt und Energieverbrauch pro Kopf in ausgewiihlten Liindern, 1965 und 1990. (Weltbank 1992; eigene Berechnungen und Zeichnung)

geradezu per definitionem iiber ihre natiirliche "Tragfahigkeit" hinaus belastet sind, dann kann die Bodenfruchtbarkeit oder die Fragilitat des Okosystems in landlichen Gebieten, einschlieBlich Waldern, auch dort kein allein ausschlaggebendes Kriterium fUr die Nutzung sein. Guter Boden in Stadtnahe kann sinnvollerweise als Naturschutzgebiet und Park ausgewiesen werden, wahrend auch schlechte Boden mit modernen Bewirtschaftungsmethoden unter den Pflug genom men oder mit Obstbaumen bepflanzt werden konnen. Die ausgedehnten Flachen Amazoniens sind auch nicht samtlich von so schlechter Bodenqualitat, daB sich schlechterdings jede permanente Bewirtschaftung verbieten wiirde.

Es gibt deshalb auch in Amazonien eine breite Palette von Landnut­zungsmoglichkeiten fUr jeden einzelnen Hektar. Das Sein kann das Sollen nicht prajudizieren - so gern auch okologisch und/oder technokratisch argumentierende Aktivisten die Definitionsgewait fUr Nutzungszonen jeweils in ihrem Sinne usurpieren wiirden.

Die moderne Gesellschaft hat mit ihren okonomischen Mechanismen ein komplexes System entwickeit, welches die Allokation von Ressourcen in erster Linie iiber Zahlungen regeit. Ebenso stehen die politischen Mechanismen bereit, urn unter den vielfaitigen Optionen eine Wahl zu treffen, und zwar in der demokratischen Gesellschaft letztlich iiber den Stimmzettel. Die okonomischen und politischen Entscheidungsmechanismen tiber konkrete Landnutzungen lassen sich nicht unter Berufung auf eine angeblich mit dieser und keiner anderen Landnutzungskarte gewahrleisteten "Ganzheitlichkeit" und "Harmonie" zwischen Natur und Gesellschaft auBer Kraft setzen. GroBflachiges "Zoneamento" bedeutet also nicht nur Usurpation von Macht durch eine Oko-Technokratie, sondern dariiber

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hinaus ist diese Anstrengung auch noch politisch-okonomisch vergeblich und okologisch kontraproduktiv.

Die Breite der Option en in der modernen Gesellschaft, insbesondere ihrer reichen, stadtischen Segmente, verfiihrt gewiB dazu, die natiirlichen Lebensgrundlagen des Menschen aus dem Blick zu verlieren und den zukiinftigen Generationen unverantwortliche "Restrisiken" zu hinterlassen. Insofern ist es richtig, auf eine neue Integration von Natur und Gesellschaft in einer Gesamtschau zu drangen. Das kann jedoch nicht kurzschliissig erfolgen, sondern erfordert ein differenziertes analytisches Vorgehen. Gesellschaftstheoretiker wie Luhmann (1988) haben herausgearbeitet, wie unwahrscheinlich es ist, daB die moderne Gesellschaft adaquat auf 6kologische Herausforderungen reagiert. Die von ihm vertretene sozio­logische Systemtheorie betont den "autopoietischen" (gr. "autos" - selbst; "poiein" - machen, tun) Charakter sozialer Teilsysteme, also die Eigenschaft, daB beispielsweise die Wirtschaft ihr Medium Geld und ihren binaren Code des Zahlens oder Nichtzahlens selbst reproduziert und vor allem mit sich selbst beschaftigt ist. Damit 6kologische Fragen in der modernen Wirtschaft verarbeitet werden konnen, miissen sie in GeldgroBen iibersetzt werden, z.B. in Bodenpreise, Steuererleichterungen oder BuBgelder. Gegen andere Formen der Kommunikation ist die Wirtschaft blind und taub. Ahnlich verhalt es sich mit der Politik als demjenigen Teilsystem der modernen demokratischen Gesellschaft, welches nur Stimmzettel und den binaren Code des (Wieder-)Gewahlt- oder Nichtgewahltwerdens versteht. Damit 6kologische Fragen im Erziehungssystem Resonanz finden, miissen sie in Priifungsleistungen mit bestanden/nicht bestanden iibersetzt werden, im Justizsystem gilt der Code strafbar/nicht strafbar usw.

Bezogen auf das Beispiel der Zonierung bedeutet diese Herangehens­weise, daB die Schritte yom Okosystem und seiner Beschreibung und Normierung durch Planer in einer Karte nicht direkt iiber Dekret und Verwaltung in Investitionen bzw. SchutzmaBnahmen erfolgen, sondern daB de facto die Karte von den entsprechenden gesellschaftlichen Instanzen in den wirtschaftlichen Code der Bodenpreise iibersetzt wird und daB diese wiederum in demokratischen politischen Abstimmungsprozessen Resonanz finden. Die yom Planer ins Auge gefaBten Investitionen und SchutzmaBnahmen konnen dabei bis zur Unkenntlichkeit modifiziert werden.

Die Naturvergessenheit der modernen Wirtschaft und Politik wird dadurch erklarbar, daB gerade nicht - wie im vorschnell "holistischen" Ansatz unterstellt - davon ausgegangen werden kann, daB alles sowieso mit aHem zusammenhangt. 1m Gegenteil, die gesellschaftlichen Teilsysteme arbeiten, jedes fUr sich, - "autopoietisch" - vor sich hin. Die Gesellschaft als aus menschlichen Kommunikationen bestehendes umfassendes soziales System verdankt ihre Koharenz der Tatsache, daB mit der Umgangssprache zwar ein einigendes, "holistisches" Band die sozialen Teilsysteme mitein­ander verbindet; gegeniiber der Natur ist die menschliche Gesellschaft aber

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als Ganzes im Prinzip blind und taub, solange nicht NaturzusHinde durch Messungen, Kartierungen oder sonstige SensoraktiviHiten in menschliche Kommunikation iibersetzt und damit sozial iiberhaupt verarbeitbar werden.

4 Ansatze zur Integration von Natur-, Geistes­und Sozialwissenschaften

Anhand von Abb. 4 soli versucht werden, ein methodisches und ein umweltpolitisches Resiimee zu ziehen: Durch die Darstellung des menschlich gepragten Okosystems als Schnittmenge von Natur und Gesellschaft (a) wird ein iibertriebener Holismus suggeriert, welcher dem autopoietischen Charakter nicht nur der sozialen, sondern auch der biologischen und physikalischen Teilsysteme in der Natur (b) nicht ausreichend Rechnung tragt. Auch in der Natur bzw. in einem regional abgegrenzten biophysischen Raum gilt die Eigenlogik und die Selbstreproduktion der speziellen Teilsysteme, denn kein Vogel kann ein Schildkrotenei befruchten, und die Energiestrome gehorchen anderen Gesetzen als das Wasser. Deshalb sollte noch nicht einmal in vom Menschen unberiihrten natiirlichen Okosystemen ohne Reflexion und Kritik von "Harmonie" und "Gleichgewicht" gesprochen werden. In der neueren anspruchsvollen naturwissenschaftlichen (Oko-) Systemtheorie ist denn auch mehr von "Selbstorganisation", "Komplexitat" und "Chaos" die Rede (z.B. Waldrop 1993) als von "Harmonie" und suggestivem "Holismus" wie in der alteren Popularwissenschaft a la Capra.

Auf der anderen Seite sollte bei der Analyse im Hinblick auf die menschliche Gesellschaft nicht nur auf die Autopoiese der spezialisierten Teilsysteme abgestellt werden, sondern auch auf das eher "holistische", integrative soziale System, welches sich in der Umgangssprache manifestiert (c). SchlieBlich gilt es, den Menschen an die Schnittstelle zwischen Natur und Gesellschaft zu plazieren (d), denn er oder sie sind es, die nicht nur natiirliche wie gesellschaftliche Wesen sind, sondern die Zeichnung soli auch symbolisieren, daB die reflektierte menschliche Ubersetzungsleistung zwischen den prinzipiell ("kartesianisch") getrennten Spharen von Natur und Gesellschaft gefordert ist.

Der kurzschliissige, falsche Holismus der "Schnittmenge" ist also durch das Bild des komplexen, auf Reflexion iiber Sein und Sollen, auf bewuBtes Herstellen von Anschliissen und auf Ubersetzung der Codes von autopoietischen Systemen, also durch die Vorstellung von einem komplexen und moglicherweise wenig harmonischen Gesamtsystem mit einer Fiille von "Schnittstellen" und Optionen, zu ersetzen.

Das konkrete Problem, wie der Schutz des tropischen Regenwaldes in Amazonien gewahrleistet werden kann, stellt sich im Lichte dieser methodisch-theoretischen Uberlegungen wie folgt dar: GemaB der Eigenlogik von Politik als Teilsystem der Gesellschaft ist stets zu erwarten, daB

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Nutzung und Schutz tropischer Regenwiilder

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System A

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Abb. 4. Differenzierung der Natur-Mensch-Gesellschaft-Systeme

193

Naturschutz als offentliches Gut zu wenig geschiitzt wird, wenn die Betroffenen auch die Entscheidenden sind. Nicht umsonst sind Natur­schutzgebiete typischerweise Nationalparks, also Gebiete, iiber die auf der nationalen, nicht der lokalen Ebene entschieden wird. Das gilt im iibrigen auch in Brasilien, wo die Indianergebiete und die Nationalparks nicht den Entscheidungen der Bundesstaaten und damit auch nicht dem einzelstaatlichen, sondern nur dem gesamtstaatlichen Zoneamento un­terliegen. Einmal formell unter Schutz gestellt, ist das betreffende Waldgebiet

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allerdings noch nieht vor Raubbau geschiitzt; welches Interesse die lokale Bev6lkerung an dem Schutz hat oder entwickeln k6nnte, ist deshalb sowohl im Hinblick auf das Verhalten dieser lokalen Bev6lkerung als auch hinsichtlich der Verhinderung von "Invasionen" externer Interessenten eine wichtige, jeweils lokal zu untersuchende Frage.

Was auf den Ebenen Zentralstaat- Bundesstaat gilt, ist ebenso auf die Ebenen Bundesstaat - Kommune anwendbar: Staatsforsten und staatliche Schutzgebiete sind leichter auszuweisen als kommunale. Wichtig ist auch hier fUr Naturschiitzer, nicht "integriert" wie beim Zoneamento vorzugehen, sondern gerade zu verhindern, daB der Schutz eines bestimmten Gebietes mit dem Ressourcenschutz und sonstigen Nutzungsbeschriinkungen in anderen Gebieten gebiindelt wird, denn dam it wird riskiert und geradezu provoziert, daB bei einem politischen Spiel iiber Schutz und Nutzung von stadtnahen Gebieten, Bergbauregionen oder Verkehrsachsen beispielsweise auch der Schutz eines eigentlich unangefochtenen Bioreservats unn6tig in die Arena gezogen und beeintriichtigt wird.

Die Zonierung ist denn auch ein Planungsinstrument, das normalerweise kaum auf liindliche Gebiete und Naturschutzgebiete angewandt wird, sondern allenfalls auf die Stadtplanung in urbanisierten Gegenden und auf das Umfeld von Stiidten. 1m Gegensatz zum liindlichen Raum ist in Stiidten der Bodenpreis nicht immer positiv mit der Intensitiit der Nutzung korreliert, denn jeder Grundeigentiimer hiitte zwar tendenziell gern auf seinem Grundstiick ein Gewerbegeliinde - aber das Grundstiick seines Nachbarn wiirde er gern unter Naturschutz stellen. Dadurch ergibt sich 6konomisch so etwas wie ein Gleichgewichtspunkt zwischen den Interessen an intensiverer und an weniger intensiver Nutzung, und der politische ProzeB fUhrt dem­entsprechend dazu, daB urn diesen Gleichgewichtspunkt herum einmal etwas mehr Griinftiichen und einmal etwas mehr Industriegebiete im Fliichennutzungsplan der Kommune ausgewiesen werden. Auf dem Lande hingegen sind die Naturschutzinteressen tendenziell weniger ausgepriigt, da praktisch jedermann an der Intensitatssteigerung durch Infrastrukturinvesti­tionen interessiert ist.

Ais Fazit liiBt sich also festhalten, daB die "Zonierung" als integrale, auf demokratische Partizipation der regionalen Bev6lkerung unter Beriicksichtigung der Boden- und Vegetationsverhiiltnisse abgestellte Planungsmethode zwar auf den ersten Blick ein erfolgversprechender Weg zur Sicherung von Schutz und nachhaltig-schonender Nutzung des Regenwaldes zu sein scheint, daB aber bei genauerer philosophischer sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Analyse dieser Weg sich als eindeutig abschiissig in Richtung immer intensiverer Nutzung und immer weniger Naturschutz erweist sowie antidemokratischen Tendenzen Vorschub Ieistet.

Hinsichtlich der in diesem Band zu diskutierenden L6sungsansiitze fiir langfristige Umweltprobleme gilt es zu unterstreichen, daB stets ein geh6riges Quantum Skepsis gegeniiber zu kurz springenden Schliissen von der Natur

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auf die Gesellschaft, vom Sein zum Sollen und von der guten Absicht zum guten ErfoJg angebracht ist.

Literatur

Bohler D (1991) Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten. In dubio contra projectum. Dt Z Philosophie 9: 999-1019; leicht verandert wieder abgedruckt. In: Schmadelbach H, Keil G (Hrsg) (1993) Philosophie der Gegenwart - Gegenwart der Philosophie. Junius Verlag, Hamburg, S 235-261

Brazil, Government of/The World Band/Commission of European Communities (May 1991) Pilot program for conservation of the Brazilian rainforests, Preliminary proposal, 0.0.

Capra F (1983) Wendezeit. Bausteine fUr ein neues Welthild (The turning point, 0.0. 1982),5. Auft. Scherz Verlag, Bern

Deutscher Bundestag (1990) Schutz der tropischen Walder. Eine internationale Schwer­punktaufgabe. Zwciter Bericht der Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages "Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphare", Bonn

Kohlhepp G (1986) Amazonien. Regionalentwicklung im Spannungsfeld okonomischer In­teressen sowie sozialcr und okologischer Notwendigkeiten. Aulis-Verlag Deubner, Koln (Prohlemraume der Welt Bd 8)

Luhmann N (1988) Okologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf okologische Gefahrdungen cinstellen? 2. Auft. Westdeutschcr Verlag, Opladen

MAB - Man and the Biosphere (1991) Methoden zur angewandten Okosystemforschung. Werkstattbericht. MAB-Mitteilungen No 35.1 und 35.2. Freising-Weihenstephan

Nitsch M (1993) Vom Nutzen des systemtheoretischen Ansatzes fUr die Analyse von Umweltschutz und Entwicklung - mit Beispielen aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. In: Sautter H (Hrsg) Umweltschutz und Entwicklungspolitik, Duncker & Humblot (Schriften des Vereins fUr Socialpolitik) Berlin, S 235-269

SAE - Secretaria de Assuntos Estategicos (1991) Program a de Zoneamento Ecol6gico­Economico da Amazonia Legal, Brasflia

Waldrop MM (1992, 1993) Complexity: The emerging science at the edgc of order and chaos ,simon & Schuster, New York. Deutsch: Inseln im Chaos. Die Erforschung komplexer Systeme. Rowohlt, Reinhek

Welthank (1992) Wcltentwicklungsbericht 1992: Entwicklung und Umwelt. Washington, DC

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Umweltbewu8tsein

Gerhard de Haan

1 Umweltbewu6tsein als Einstellungs- und Steuerungsgro6e

Der Terminus "UmweltbewuBtsein" wird gewohnlich recht nachliissig und mithin mehrdeutig gebraucht. Die sozialwissenschaftliche Forschung ist allerdings auf Differenzierungen angewiesen, urn zu soliden Aussagen zu gelangen. In diesem Zusammenhang wird das "UmweltbewuBtsein" zumeist in 3 Komponenten zerlegt. Es umfaBt das Umweltwissen, das UmweltbewuBtsein im engeren Sinne und das Umweltverhalten. Damit erkennbar bleibt, wovon im folgenden jeweils die Rede ist, gentigen 3 knappe Definitionen:

• Unter Umweltwissen wird der Kenntnis- und der Informationsstand einer Person tiber Naturphiinomene, tiber Trends und Entwicklungen in okologischen Aufmerksamkeitsfeldern, tiber Methoden, Denkmuster und Traditionen im Hinblick auf Umweltfragen verstanden.

• Der Terminus Umweltbewuj3tsein wird hier eng gefaBt. Es werden Angste, Emporung, Zorn, normative Orientierungen und Werthaltungen sowie Handlungsbereitschaften darunter subsumiert, die darauf basieren, die gegenwiirtigen Umweltzustiinde als unhaltbar anzusehen. Man ist von diesen Umweltzustiinden einerseits emotional bertihrt, andererseits ist man mental gegen die wahrgenommenen Problemlagen eingestellt, will sie also behoben wissen. Zum UmweltbewuBtsein wird auch die konative Dimension des Handelns, also die verbalisierte Handlungsbereitschaft geziihlt (Urban 1986, 1991).

• Umweltverhalten meint, daB das tatsiichliche Verhalten in Alltagssitua­tionen umweltgerecht ausfiillt. Was als "umweltgerecht" gelten kann, ist dabei Resultat eines Bewertungsprozesses von Umweltphiinomenen.

Nun denkt man sich das als Alltagsmensch zumeist so: Ein hohes Umweltwissen ftihrt zu einer hohen Betroffenheit von Umweltproblemen und zu neuen Wertvorstellungen, also zu einem veriinderten, umwelt­freundlichen BewuBtsein. Dieses veriinderte BewuBtsein, so kann man nun zuniichst annehmen, fiihrt wiederum zu verstiirktem umweltgerechtem Verhalten.

Zu wissen, ob sich die Sache tatsiichlich so verhiilt, ist von entscheidendem Interesse, wenn man an der Verbreitung von umweltgerechtem Verhalten

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198 G. de Haan

interessiert ist - und das sind politisch engagierte Personen, Mitglieder von Umweltverbanden, Lehrende in Schulen und Universitiiten eben so wie Mutter und Vater und nicht zuletzt Medien- und Meinungsmacher allemal. Fur sie ist die Frage virulent: Stimmt der Zusammenhang, den man als Alltagsmensch vermutet? 1st das umweltgerechte Verhalten ruckfuhrbar auf das Umweltwissen und das UmweltbewuBtsein der Person? Hier eine gewisse Sicherheit zu erlangen, ist schon aus Kosten- und Zeitgrunden von immenser Bedeutung. So lite sich namlich zeigen, daB es in der Tat einen Weg uber das Umweltwissen zum UmweltbewuBtsein und von dort zum Umweltverhalten gibt, dann kann die gezielte, vielleicht auch gegenuber dem Ist-Zustand noch verstarkte Vermittlung von Wissen strategisch angemessen sein, urn ein fur umweltgerecht gehaltenes Verhalten zu pro­vozieren. Und wem die reine Vermittlung von Sachwissen nicht genugt, der kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Lehrende und Eltern sowie viele Beitrage der Massenmedien appellieren auch noch an die Angste, an das Gewissen und die Grundorientierungen der Zuschauer, Lernenden bzw. Kinder - mithin an das UmweltbewuBtsein -, urn sicher zu gehen, daB sich das Verhalten der nun nicht nur Belehrten, sondern auch betroffen Gemachten, umweltfreundlich gestaltet.

1st aber mit gesteigertem Wissen und einer Neueinstellung des Gewissens kein wesentlich verandertes Umweltverhalten verbunden, dann sind Verfahren, die auf Lehren und Erziehen basieren, aus Zeit- und monetaren Grunden eher negativ einzuschiitzen. Dann konnten eher externe Mittel tauglich sein, das Verhalten zu steuern. Dann konnten, soweit diese wiederum durchsetzbar sind, Verbote, Auftagen, Gebuhren, Emissionszertifikate, monetare Anreize etc. wohl die effektiveren Instrumente der Verhaltens­steuerung abgeben (Kirsch 1991). Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Umweltwissen, -bewuBtsein und -verhalten laBt sich mithin in einem ersten Schritt in einem Dual ausdifferenzieren: Innere Einstellung vs. iiuf3ere Steuerung, so stellt sich zuniichst die Alternative dar.

2 Ernpirische Studien zurn Urnweltbewu8tsein

Schaut man sich nun an, was die empirischen Studien zum Zusammenhang zwischen Umweltwissen, UmweltbewuBtsein und Umweltverhalten derzeit bieten, dann wird man sagen mussen: Die Forschungsergebnisse sind im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Umweltwissen und -bewuf3tsein - urn nur diese Beziehung der Triade zunachst zu betrachten - durchaus als irritierend zu bezeichnen. Fur jene, die auf die Vermittlung von Wissen und auf das Hervorbringen veranderten emotional en BewuBtseins setzen, sind die Ergebnisse der Empirie enttauschend. Weder die Quantitat schulischer Umwelterziehung noch der Medienkonsum noch das nachweisbare, akkumulierte Wissen in Naturdingen zeigen einen wesentlichen Effekt im

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UmweltbewuBtsein 199

Hinblick auf das UmweltbewuBtsein. In zahlreichen Studien klart das Umweltwissen allenfalls 10% des UmweltbewuBtseins - und im Regelfall gar nichts im Hinblick auf das Umweltverhalten - auf (so das Ergebnis einer noch unveroffentlichten Synopse aus ca. 50 einschlagigen Studien von de Haan u. Kuckartz 1994; vgl. exemplarisch Langeheine u. Lehmann 1986; Urban 1986, 1991; Dieckmann u. Preisendorfer 1992).

Wer mithin dachte, durch die Vermittlung sogenannter Fakten, durch die Steigerung von Kenntnissen iiber den Sommersmog, das Ozonloch, den Treibhauseffekt, Tierschutzgesetze, Abfallbeseitigung etc. ein verandertes UmweltbewuBtsein erzeugen zu konnen, darf derzeit auf empirisch nachweisbare Effekte nicht hoffen. Wenn es aber stimmt, daB es derzeit gleichgiiltig im Hinblick auf das BewuBtsein zu Umweltproblemen ist, ob viel oder wenig in Sachen Umwelt gewuBt wird, dann laBt sich vermuten: Die Identifikation von Umweltphanomenen als Umweltprobleme hangt von anderem ab als von Sachstandsbeschreibungen. Das meint: Wenn Kenntnisse iiber die angenommenen Ursachen des vermuteten Treibhauseffektes keine nachweisbare Wirkung haben auf das BewuBtsein zum Treibhauseffekt, dann scheint es sinnvoll zu sein, zwischen der Beschreibung oder Darstellung von Umweltthemen und ihrer emotional gefarbten Bewertung strikt zu trennen. Also: Ob ein Umweltphanomen fiir ein Kind oder auch einen Erwachsenen ein Umweltproblem markiert, dariiber entscheidet nicht das U mweltwissen.

Fragt man nach einem nachweisbaren Zusammenhang zwischen Umweltbewuf3tsein und dem (verbalisierten) Umweltverhalten, so wissen zwar zahlreiche Studien davon zu berichten, daB es einen positiven Zusammen­hang zwischen verschiedenen Aspekten des UmweltbewuBtseins und Antworten auf die Frage nach dem eigenen umweltgerechten Verhalten gibt, allerdings ist auch dieser Zusammenhang nur sehr schwach ausgepragt, ja ebenfalls enttauschend gering. Schaut man sich die aktuell vorliegenden Studien zum artikulierten Umweltverhalten an, so wird man sagen miissen: Durch das UmweltbewuBtsein "allein werden nur selten mehr als 10-15% der erhobenen Verhaltensvarianz erklart; m.a.W. bleiben 85-90% der Varianz unerklart, wenn allein diesem Faktor Aufmerksamkeit gewidmet wird" (Dieckmann u. Preisendorfer 1992, S 227). Entsprechend sucht man schon seit einigen Jahren iiber Ausdifferenzierungen in den Verhaltens­merkmalen hohere Aufklarungswerte zu erreichen. So findet sich etwa ein Zusammenhang zwischen der politischen Nahe zu Griinen und Sozialdemokratie, Nutzung von Biichern und Veranstaltungen zu oko­iogischen Themen, deren subjektiver Bedeutsamkeit und dem verbalisierten okologischen Handeln. Diese Ergebnisse waren kaum anders zu erwarten.

Differenziert man allerdings das verbalisierte Handeln weiter aus, dann kann sich durchaus auch unter hartgesottenen Empirikern Frustration breit machen. So haben Langeheine und Lehmann auch nach dem okologischen Handeln im eigenen Haushalt gefragt - und muBten feststellen, daB hier das Alter der Befragten mehr zur Aufklarung beitragt als die verbalisierte

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200 G. de Haan

Handlungsbereitschaft. Nur 10% des okologischen Handelns im Haushalt war iiberhaupt mit den gestellten Fragen aufkHirbar (Langeheine u. Lehmann 1986, S 122).

Was an diesen Untersuchungen insgesamt deutlich wird, ist:

1. Es gibt nur auGerst schwache Zusammenhange zwischen dem Offentlich verbalisierten okologischen Handeln und der Betroffenheit einer Person. Wer gegen Verpackungsflut ist und wen der Pestizideinsatz in der Land­wirtschaft betroffen macht, der verhalt sich in der Miilltrennung oder hinsichtlich der Nutzung des privaten PKW nicht nachweislich anders als jemand, der das dauernde Gerede iiber die Belastung von Pflanzen und BOden durch Gifte fiir iibertrieben halt.

2. Ein EinfluB von Umweltwissen - also etwa das Wissen urn die getrennte Miillsammlung - auf das Umweltverhalten ist ebensowenig nachweisbar wie ein EinfluB des Wissens auf das BewuBtsein. Wer iiber den Effekt von FCKW, die Identifikation von Waldschaden und die Artenvielfalt in seiner naheren Umgebung recht gut informiert ist, zeigt sich nicht wesentlich umweltbewuBter im Kauf von Haushaltsartikeln oder im Betreiben der eigenen Heizung als jene Person en , die hier recht unin­formiert und kenntnisarm sind.

3. Es ist unbefriedigend, wenn man die Einstellungen gegeniiber der Um­welt wiederum durch Einstellungen erklaren muB - etwa durch die Einstellungen zu politischen Parteien, zum Fortschrittsdenken oder auch zum Wirtschaftswachstum (Langeheine u. Lehmann 1986, S 112). Das ist­wie die Autoren selbst bemerken - immer eine schlechte Losung, denn zumindest statistisch kann man ein BewuBtsein fast immer ganzlich durch ein anderes BewuBtsein erklaren. Aber was ist schon gewonnen, wenn man herausfindet, daB derjenige, der "eine positive Einstellung zur Erhaltung der StOrche hat, ... sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sehr positiv fUr den Schutz der Frosche" (Langeheine u. Lehmann 1986, S 114) engagiert?

4. Problematisiert wird, daB beim Umweltverhalten oft zu wenig differen­ziert wird. Es sei nicht ein generell in allen Lebensbereichen identifizier­bares umweltgerechtes Verhalten zu erwarten, vielmehr miisse man segmentieren bzw. disaggregieren, so lautet eine Forderung (Liidemann 1993); denn zwischen allgemeiner Einstellung, wie etwa den moralischen Orientierungen einer Person, und ihren konkreten Handlungen - das weiB man aus der Einstellungs- und Verhaltensforschung generell - wird man nur schwache Zusammenhange finden konnen (Liidemann 1993). Zum Beispiel kann man nicht erwarten, daB, wer iiber die Folgen ex­ponentiellen Wirtschaftswachstums nachdenkt, auch taglich offentliche Verkehrsmittel benutzt oder in einem Bioladen kauft; oder daB, wer beim Verlassen des Buros die Heizung drosselt, auch mit seinen Arbeits­kollegen einen Diskurs iiber die Moglichkeiten der Verhinderung des Waldsterbens fUhrt. Das spricht auch gegen den Versuch etwa innerhalb

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der Sozialpsychologie - nun auf der Basis einer so allgemeinen Theorie, wie jener der Kohlbergschen Moralstufen, konkretes Umweltverhalten aufkHiren zu wollen (vgl. zu diesem Projekt den Beitrag von Hoff u. Lecher). So versucht man, aktuell im Rekurs auf die genannten Kritikpunkte, aus der alten Opposition zwischen innerem BewuBtsein und auBerer Steuerung herauszukommen. Nicht inneres BewuBtsein versus auBere Steuerung, sondern inneres Bewuf3tsein und iiuf3ere Steuerung heif3t die Losung, die nun mit mancher Forschungsstrategie zu stiitzen versucht wird: Man fragt nach den Kosten des umweltgerechten Verhaltens fUr den Geldbeutel wie fUr das Bediirfnis nach Bequemlich­keit. Ferner wird versucht herauszufiltern, ab welcher Schwelle das UmweItbewuBtsein nicht mehr das Umweltverhalten steuert. 1st dies nicht mehr der Fall, so wird angenommen, daB ab diesem Punkt die okonomischen Faktoren das BewuBtsein niederringen. So ware dann fUr den eher sekundaren Low-cost-Bereich die Forderung des umweIt­bezogenen BewuBtseins, also Erziehung, von Bedeutung, im bedeut­sameren High-cost-Bereich dagegen muB man mit Geboten, Verboten, Gebiihren und monehiren Anreizen das Umweltverhalten modifizieren. So haben Dieckmann u. Preisendorfer festgestelIt, daB das UmweIt­bewuBtsein das KaufverhaIten signifikant beeinfluBt - und damit nach ihrer Ansicht einen Low-cost-Bereich identifiziert. 1st die Korrelation zwischen UmweItbewuBtsein und VerhaIten allerdings nur schwach sig­nifikant, wie fiir den Energiekonsum nachweisbar, dann nimmt man an, daB es sich hier urn einen High-cost-Bereich handelt (Dieckmann u. Preisendorfer 1992). Betrachtet man den High-cost-Bereich "Energie" genauer, dann zeigen jene Personen ein umweItfreundliches Energie­verhaIten, die die Zahl der Vollbader bewuBt beschranken, sich urn einen geringen Warmwasserverbrauch bemiihen, bei langerer Ab­wesenheit die Heizung in der Wohnung abdrehen und auf das Auto am Wochenende verzichten (Dieckmann u. Preisendorfer 1992, S 244; zur Kritik an dem Ansatz von Dieckmann u. Preisendorfer 1992, vgl. Liidemann 1993).

Die von Dieckmann u. Preisendorfer gestellten Fragen sind offensichtlich so ausgelegt, daB es im Sinne umweltgerechten VerhaItens von Vorteil sein kann, arm zu sein. Wer warmes Wasser aus Kostengriinden sparen muB, wem die Heizkosten individuell abgerechnet werden und wer kein Auto besitzt, ist hinsichtlich des umweltgerechten Energieverhaltens im Vorteil. Wen wundert es da noch, daB umweltgerechtes EnergieverhaIten gerade im Rentenalter zunehmend zu beobachten ist, auch wenn diese AItersgruppe weniger positives UmweltbewuBtsein zeigt als die freizeitmobile gehobene Mittelschicht?

Der Bereich des Konsums wird dagegen zum Low-cost-Sektor gerechnet. Es ist also ein Bereich, in dem das UmweItbewuBtsein signifikant mit dem Verhalten korreliert. Den hochsten Wert im Hinblick auf umweltfreundliches

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Einkaufsverhalten realisieren Personen, wenn sie regelmaBig eme Einkaufstasche mitnehmen, auf Getrankedosen verzichten, Milch offen bzw. in Pfandflaschen kaufen und in den letzten 2 Wochen im Bio- bzw. Okoladen eingekauft haben (Dieckmann u. Preisendorfer 1992).

Menschen auf dem Land und solche mit geringem Einkommen geraten da freilich schnell ins Hintertreffen, denn auf dem Land sind nur wenige OkoHiden zu finden, und Milch in Pfandflaschen ist teurer als H-Milch in der Verbundpackung. DaB ferner Frauen hier besser abschneiden als Manner, darf nicht verwundern. Das ist zu erwarten - und laBt erkennen, daB in den bisherigen Studien zum UmweltbewuBtsein Aspekte des traditionellen Rollenverhaltens nicht bedacht wurden. Wir wissen, daB in der Regel immer noch die Frauen fur den Einkauf von Lebensmitteln zustandig sind. So ist an diesem Punkt gar nicht so einfach auszumachen, ob das umweltgerechtere Konsumverhalten von Frauen nicht einfach dadurch zustande kommt, daB sie sich geschlechtsrollenkonform verhalten, wahrend Manner - insoweit sie in ihrer Geschlechtsrollenkonformitat verharren - gar nicht die Chance haben, als umweltgerechte Einkaufer zu erscheinen, da sie nur als Minoritat mit einer Einkaufstasche ausgestattet einen Bioladen betreten, urn eine Flasche Milch zu kaufen.

Insgesamt verbirgt sich darin nicht nur eine gewisse Nachlassigkeit in der Erstellung der Items. Vielmehr tangiert die Kritik das Low- und High­cost-Modell generell: Wer es sich leisten kann, wem es also keine hohen Kosten in Relation zum Gesamtbudget verursacht, der kauft Milch im Bioladen, der definiert aber auch Bequemlichkeit anders als ein Mensch mit geringerem Einkommen. Insofern fragt das Low- und High-cost-Instrument innerhalb unterschiedlicher Lebensstile und Konsummoglichkeiten jeweils anderes ab: Fur Personen mit groBerem Budget wird die Kostenseite eher zurucktreten, und es werden Bequemlichkeiten und Lebensstilfragen im Vordergrund stehen, wahrend es fUr monetar nicht so gut ausgestattete Personenkreise ganz andere Motivlagen und Verhaltenshintergunde geben wird.

Der Versuch, zwischen innerem BewuBtsein und auBerer Steuerung im Hinblick auf das Umweltverhalten vermitteln zu wollen, ist bei aller Kritik durchaus verstandlich, weil daran, wie oben erwahnt, Strategien politischer Steuerung und moglicher padagogischer EinfluBnahmen gebunden werden konnen. Doch bevor man sich in der Empirie auf we iter diversifizierte und disaggregierte Kostenmodelle sturz!, lohnt es sich, das Umweltverhalten noch einmal genauer zu betrachten. In den Studien wird namlich immer schon unterstellt, man konne festlegen, was umweltgerechtes Verhalten sei bzw. wann eine Umweltsituation als problematisch betrachtet werden muB. DaB man hier ganz anderer Auffassung sein kann, soli im folgenden belegt werden.

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3 Umweltbewu6tsein und -verhalten im kulturellen Kontext

Demoskopische Untersuchungen von EMNID aus dem Jahr 1991 besagen: Zirka 85% der Bundesburger behaupten, regelmiiBig ihr Altglas zum Con­tainer zu bringen. Nun ergeben aber die harten Daten des Bundesverbandes Glasfaserindustrie und Mineralfaserindustrie e. V., daB der Absatz von Behiilterglas 1991 4,2 Mio. t betrug. Und dem Datenmaterial des Bundesministers fUr Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liiBt sich entnehmen, daB 1991 insgesamt 4,6Mio. t Glasverpackungen verbraucht wurden, wovon 0,8Mio. t auf Mehrwegverpackungen entfielen. Nach Daten des Umweltbundesamtes erbrachte dagegen das Altglasrecycling 1991 lediglich 2,3 Mio. t, also eine Quote urn 55%. Wenn 85% der Bev61kerung angeben, Glasverpackungen regelmaBig dem Altglas zuzufUhren, die aufgebrachte Quote aber nur bei 55% liegt, so markiert das - bei aller Unsicherheit im Datenvergleich - eine erhebliche Diskrepanz zwischen behauptetem und tatsachlichem Verhalten. Woran liegt das? Man darf annehmen, daB die Befragten sich im Sinne der sozialen Erwunschtheit auBern. Wer sagt schon gerne, daB er regelmiiBig Einwegflaschen kauft und diese dann in den allgemeinen Hausmull gibt?

Wie sehr die Aussagekraft der Frage nach umweltgerechten Verhaltens­weisen unter diesem auf dem Burger lastenden Konformitatsdruck leiden kann, belegt eine altere Studie aus den USA. "Should it be everyone's responsibility to pick up litter when they see it or should it be left for the people whose job it is to pick up?" fragte Bickman schon 1972 im Rahmen seiner Untersuchung zum Umweltverhalten (Bickman 1972, S 324). 94% der Befragten antworteten mit ja: Selbstverstandlich so lite jeder ein Stuck von anderen weggeworfenes Papier aufheben und in den nachsten Abfallbehalter geben. Aber die so Antwortenden verhielten sich faktisch ganz anders: Nur 8 von 506 Befragten hatten das demonstrativ auf ihrem Weg plazierte zerkniillte Papier aufgehoben, an dem sie noch wenigen Sekunden vor der Befragung vorbeigegangen waren. Das ist eine Quote von nur 1,4%. Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen der verbalisierten und der faktischen Dimension des VerhaItens besonders kraB. Insofern wird man selbst bei den schwachen Zusammenhangen zwischen UmweltbewuBtsein und verbalisiertem Umweltverhalten noch erhebliche Abstriche machen miissen, wenn der Blick auf das faktische Verhalten gerichtet wird. Wie aber ist die Differenz zwischen der Altglasentsorgung und dem Papieraufheben zu erklaren? Innerhalb der Differenzierung zwischen Low- und Hight-cost­Verhalten kann man vermuten, daB die Entsorgung von AItglas 1991 schon zu den Low-cost-Verhaltensformen zu rechnen war, so daB - weil dieses Handeln kaum noch mit Muhen verbunden und uber das BewuBtsein habitualisiert war - hier die Liicke zwischen Behauptung und faktischem Handeln nicht mehr in dem MaBe zu Buche schlug wie in Bickmans Ex­periment. Papier aufzuheben, gebietet der kulturelle Anstand, aIle in verbietet es die - ebenfalls kulturell vermittelte - personliche Ekelschranke.

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Insofern HiBt sieh vermuten: Bei der muhelos zu bewerkstelligenden Aufgabe, ein zerknulltes Papier aufzuheben, handelt es sich urn ein Umweltverhalten aus dem High-cost-Bereich: Das mentale Wohlbefinden wurde durch dieses Handeln gestort. Mit der Differenz zwischen verbalisiertem und faktischem Umweltverhalten ist allerdings nieht nur ein forschungsmethodisches Problem markiert, das durch den Einsatz von Beobachtungsverfahren zu beheben ware.

Differenzen finden sich in markanter Form auch im offentlichen Diskurs. Man ist sich selbst in relativ homogenen Kulturen keineswegs daruber einig, was ein Umweltproblem ist und welche Bedeutung man ihm beimessen sollte. Zeigen die Themenkurven der Demoskopie, daB Umweltprobleme in der Bundesrepublik seit 1988 kontinuierlich einen hohen Stellenwert erreicht haben, so zeigt sich gleichzeitig mit der Einbeziehung der neuen Bundeslander, daB die gleich bezeichneten Gefahrdungstatbestande bei den Burgern der alten und neuen Bundeslander subjektiv stark unterschiedlich empfunden werden. Schaut man sich namlich an, welche politischen Aufgaben und Ziele in Ost und West als "sehr wichtig" fUr die Zukunft angesehen werden, so firmierte 1992 nach Daten des Umweltbundesamtes fUr die Burger der alten Lander ein wirksamer Umweltschutz mit 73% Nennungen vor Fragen des Wohnungsmarktes und der Rentensicherung (be ide ca. 70%), wahrend fUr die Burger in den neuen Landern 1992 die Arbeitsplatzsicherung (88%), die Verbrechensbekampfung (81 %), das Schaffen gleicher Lebensverhaltnisse und der Kampf gegen Rauschgift (je 76%) noch wichtiger waren als die Stabilisierung der Wirtschaft (75%). Das Thema "wirksamer Umweltschutz" wird mit 66% der Nennungen lediglich zu einem sekundaren Problem erhoben. Das ist erstaunlich, denn allgemein werden die fUr die menschliche Gesundheit gefahrlichen Umweltbelastungen und -zerstorungen in zahlreichen Regionen der neuen Bundeslander (insbesondere in den Ballungsgebieten) als weitaus groBer eingeschatzt als in den Altlandern.

Man ist nun leicht geneigt, daraus zu schlieBen, die Gefahrdung durch Umweltbelastungen wurde im Osten nicht so deutlich gesehen wie im Westen. Ebenso schnell wird eine Diskrepanz zwischen manifestem, breit publiziertem Wissen urn Umweltbelastungen und der Wertung dieser Aussagen als Gefahrdungstatbestande als mangelndes UmweltbewuBtsein gedeutet; und es wird dann an das Erziehungssystem im weitesten Sinne (von den Bildungseinrichtungen uber die Zeitung bis hin zur Kom­munalverwaltung und zum Fernsehen) die Anforderung gestellt, hier etwas zu verandern, d.h. ein den Gefahrdungstatbestanden angemessenes UmweltbewuBtsein zu erzeugen.

Nun weiB man aus der Risikoforschung und den Studien zur Toxokopie (=Kopie einer Vergiftung), daB die Wahrnehmung von Umweltphiinomenen als Umweltprobleme wie das Empfinden gesundheitlicher Storungen abhangig ist von den Gemeinschaften, in denen diese Umweltprobleme bzw. Vergiftungserscheinungen wahrgenommen werden. Man weiB: Zwischen

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5 und 20% der bundesrepublikanischen Bevolkerung suchen jahrlich Arzte mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Schlafiosigkeit etc. auf; und sie behaupten, diese ihre Krankheiten resultierten aus Umweltveranderungen durch nahegelegene Industrieanlagen, Umweltgifte am Arbeitsplatz oder in ihrem Wohnbereich. Nun kann man in solchen Fallen medizinisch gesehen nur konstatieren, daB es sich urn Umwelt­krankheiten - wenigstens dem diagnostischen Bild nach - handelt. Gleichzei­tig aber gelingt es fast nie, dementsprechend auch toxische Stoffe nachzu­weisen: weder an den Orten noch im Korper der Patienten. 1st also alles nur Hysterie? Umweltmediziner sind da inzwischen sehr vorsichtig. Derartige sogenannte "toxikopische Syndrome" wurden oftmals bei neuen Indu­strieansiedlungen "in kleineren Orten festgestellt, bei denen die lokale Gemeinschaft sich aus unterschiedlichen Befindenslagen und unter­schiedlichen psychosozialen Interessenlagen auf diese [Umweltgifte betref­fende] Interpretation ihrer Beschwerden geeinigt hatte" (Tretter 1993, S 277).

Das stiitzt zunachst die These von der kulturellen Bedingtheit von Umweltwahrnehmung und -beurteilung. Diese Einsicht fiihrt in der medizinischen Debatte aber nicht dazu, ganze Sozietaten psychiatrisieren zu wollen. Vielmehr wird beziiglich der environtologischen Negativbefunde inzwischen von "funktionellen, umweltbezogenen Befindensstorungen" gesprochen (Tretter 1993, S 278), da man einerseits nicht sicher sein kann, ob nicht auch unterhalb der Grenzwerte und sogar unterhalb der Nachweisgrenzen Stoffe eine toxische Wirkung haben konnen. Andererseits weiB man, daB die Psychologisierung der individuellen wie kollektiven Krankheitsbilder dazu fiihrt, daB das Vertrauen in die naturwissen­schaftlichen Erkenntnisse, Politik und Medizin, ja selbst in die gesamte Lebensumwelt schwindet und die Umweltsyndrome nur anwachsen.

Es gibt aus dieser Perspektive gute Griinde, dem anderen seine eigenen Umweltwahrnehmungsmuster nicht aufzudrangen. Ein allgemeines Argu­ment fiir diesen Verzicht laBt sich so fassen: Wir konnen unsere Erfahrungen nicht dahingehend priifen, ob sie mit der Wirklichkeit iibereinstimmen; denn urn dieses iiberpriifen zu konnen, brauchten wir einen anderen Zugang zur Wirklichkeit als iiber Erfahrung - der aber ist nicht in Sicht. So bleibt uns fUr die Selbstiiberpriifung und in der Kommunikation iiber Umweltprobleme und umweltgerechtes Verhalten mit anderen nur, Erfahrungen zu vergleichen - etwa im Hinblick auf umweltbezogene Befindensstorungen. Die Welt da drauBen bleibt immer auBen vor. Wir konnen aber immerhin Regelwerke konstruieren - aber eben nur kon­struieren -, nach und mit denen wir unsere Erfahrungen strukturieren; dazu zahlt die Toxikologie ebenso wie die Umweltpsychologie, dazu gehoren aber auch die ganz individuellen Empfindungen. Diese Konstruktion vollziehen wir zwar immer im Rahmen von kulturellen - und das heiBt einschrankenden - Bedingungen, aber die jeweils individuelle Konstruktion ist trotz dieser Einschrankung nur eine aus vielen auch moglichen, die ihr

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WahrheitsmaB nicht in etwas haben konnen, das "die Welt da drauBen" genannt werden konnte (Maturana 1985; Rorty 1991).

4 Umweltrisiko als Konstrukt

Die Bestimmung dessen, wann man ein Umweltrisiko als solches identifiziert und als handlungsbedeutsam definiert, ist mithin nicht allein Sache von Fachwissenschaftlern und ebenfalls nicht aile in Sache des einzelnen. Die Einschatzung einer Umweltsituation als problematisch und die Akzeptanz von Risiken ist vor allem ein in den Denkkollektiven oder Kulturen gehandeltes, erst sekundar individuelles Problem: Man verhait sich beziigJich der Risikobewertung in der Regel so, wie es in der Bezugsgruppe, in der man sich bewegt, erwartet wird (Douglas u. Wildavsky 1982; Dake u. Wildavsky 1990).

Erstaunlich ist nun, daB auch hinsichtlich der Zustimmung zu oder Ablehnung von Konkreten Bestimmungen von Umweltrisiken der Umfang und die Differenziertheit des Umweltwissens - wie schon im Verhaitnis zwischen Umweltwissen und -bewuBtsein - nicht von Bedeutung ist. Schaut man sich die derzeit vorliegenden Studien zur Risikowahrnehmung an, dann zeigt sich bei aller HeterogeniHit der Ergebnisse, daB es keine Verbindung gibt zwischen dem, was jemand iiber die Umweitgefahren weiB, und der Angst oder auch der gleichgiiltigen oder gar positiven Einstellung, die Menschen gegeniiber diesen Gefahren haben (vgl. die Synopse bei Wildavsky 1993, S 193ff.). Umweltschiitzer wie Klimaforscher, Unternehmer, Lehrer und Hausfrauen urteilen iiber das, was schadlich oder sicher ist, nicht auf der Basis ihres Umweltwissens. Das aber sollte einer auf Verrationalisierung setzenden Politik oder Diskursphilosophie zu den ken geben: Wenn es im Hinblick auf die Verhaitens- und Orientierungsmuster des einzelnen recht gleichgiiltig ist, in welchem Umfang er oder sie iiber mogliche Klimakatastrophen, die toxische Wirkung von Dioxin, DieselruB u.a. informiert ist, dann hilft das Aufriisten in den Wissensbestanden hier nicht we iter. Verstandigung wird offensichtlich tiber andere Modalitaten geregelt als iiber den Austausch der differierenden Fakten tiber Umweltzustande und ihre Folgewirkungen. Wissenszuwachse fUhren keineswegs zur Ver­rationalisierung der Debatten.

Tragfahige Pradikatoren fUr die Wahrnehmung von Umweltrisiken sind nach dem AusschluB des Pradikators "Wissen" in erster Linie politische und solche des Vertrauens. Weniger die Tatsache, welche Aussagen tiber Umweltrisiken getroffen werden, ist also von Bedeutung, als vielmehr das Vertrauen, das man der Person oder Institution zu schenken bereit ist, die diese Aussagen macht; und das Vertrauen wiederum hangt davon ab, wie man sich selbst politisch zuordnet. So fUrchten sich Personen, die politisch eher konservativ sind und hierarchisch denken, weniger vor denkbaren

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gesundheits- und umweltschadigenden Folgen innovativer Techniken wie etwa der Gentechnologie. Sie neigen dazu, den brancheninternen Experten und Fachwissenschaftlern zu glauben. Ahnlich verhalten sich auch wettbewerbsorientierte, liberal eingestellte Personen. Ganz anders hingegen sind egalitar orientierte Menschen eingestellt. Sie sehen in jeder innovativen Technik tendenziell einen weiteren Baustein, der soziale Ungleichheit erzeugen wird und der Umwelt schadet (Dake u. Willdavsky 1990; Douglas u. Wildavsky 1982).

Begreift man nun diese divergierenden Personenkreise als einzelne Kulturen, so laBt sich sagen, daB sich Menschen ihre Furchtgegenstande so auswahlen, daB sie sie innerhalb ihrer Kultur fiirchten miissen. Anders gesagt: Man muB sich nicht nur anschauen, wie mit dem vermeintlichen Wissen der Umweltexperten innerhalb einzelner Denkkollektive oder Kulturen verfahren wird, man muB sich auch anschauen, welch en Kenntnis­sen uberhaupt eine Bedeutung beigemessen wird; und man wird sehen, daB es, obwohl nur Einzelpersonen wahrnehmen, kulturell gesteuert ist, was wahrgenommen wird und wie diese Wahrnehmungen auszulegen sind. Die Wahl der Moglichkeiten des Umgangs mit dem Wissen aus der Umweltforschung, mit Vorstellungen vom richtigen Umgang mit der Natur ist ein kulturelles Konstrukt. Was an Alternativen gewahlt werden wird, ist durch die Anhanger von rivalisierenden Kulturen bestimmt. Sie geben der Sache jeweils verschiedene Bedeutungen, ohne daB man hinter der Heterogenitat noch die eine letzte, dann "wahr" zu nennende Bedeutung sehen konnte. Kurz: Nicht der Naturzustand "an sich", sondern die Bedeutung, die einem Umweltphanomen beigemessen wird, ist es, die zur Option fur oder gegen bestimmte Haltungen und Interpretationen dieser Naturzustande, Umweltrisiken etc. fiihrt.

Man wird mit N. Luhmann darauf insistieren mussen, daB diesem Befund nicht mehr mit der Unterscheidung zwischen "rational/irrational" beizukommen ist und daB eben diese Unterscheidung "selbst nur ein Moment der Kontroverse" markiert (Luhmann 1991, S 5). Die Auflosung dieser Differenz bleibt auch dort noch wirksam, wo man sich in einer Kultur darauf verstandigt hat, was als richtiger Umgang mit Natur bezeichnet werden soli. Denn damit ist noch gar nicht ausgemacht, welchen Motiven die einzelnen folgen, wenn sie sich nun - entsprechend der Konvention -naturgerecht verhalten. Ob das eigene Tun auf der Sorge urn kollek­tive Naturguter beruht oder ob das Verhalten dem Eigeninteresse an der personlichen Gesundheit, an monetaren oder statusbezogenen Effekten, ob es moralischen Vorstellungen oder ethischer Reflexion entspringt, kann man weder von auBen noch personlich entscheiden.

So kann zum Beispiel der Kauf eines FCKW-freien Foron-Kuhlschrankes aus dem Interesse am kollektiven Naturgut resultieren, denn der Kaufer darf vermuten, daB dieser Kuhlschrank nicht zur ZerstOrung der Ozonschicht beitragen wird. Ebensogut aber kann man annehmen, daB ein solcher Kuhlschrank gekauft wurde, urn sich innerhalb der Sozietat, in der man sich

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bewegt, als besonders umweltfreundlich geben zu konnen. Auch ist denkbar, daB dieser Kiihlsehrank gekauft wurde, weil der Verkaufer sich als sym­pathischer Mensch erwies, dem man Vertrauen schenkte hinsichtlich der von ihm behaupteten allgemeinen Vorteile des Kiihlschranks - etwa beziiglich des geringen Stromverbrauchs. Kurz: Gleiches Handeln kann durchaus unterschiedlichen Motiven entspringen - ebenso wie sich die Motive selbstverstandlich fiir den einzelnen unaufloslich durchmischen konnen: Selbst wer behauptet, er folge mit dem gekauften FCKW-freien Kiihlschrank seiner allgemeinen Maxime, im eigenen Verhalten das Gut Natur moglichst wenig schadigen zu wollen, kann sich nicht sicher sein, ob er einzig dieser Maxime folgt; denn am Ende wird nicht nur der Kul­turtheoretiker mit dem Verweis auf die Prafiguration des Denkens durch das Kollektiv aufwarten, sondern auch noch der Psychoanalytiker mit dem Hinweis kommen, daB das Individuum sich selbst gar nicht transparent sein kann.

Diese Einsicht fiihrt nicht - weil am Ziel einer einheitlichen Weltsicht geriittelt wird - unweigerlich in die Denunziation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als irrationales Gerede. Es muB nieht bezweifelt werden, daB der AusstoB von Schwefel- und Stickoxiden aus Verbrennungsmotoren und Kraftwerken zentraler Bestandteil des winterlichen Smogs ist. Man muB auch nicht bestreiten, daB die Reduktion des Ozons in der Stratosphare zu erhohten Hautkrebsraten fiihrt oder daB mit dem Eintrag von Diingemitteln in einen Weiher die Flora und Fauna in diesem Gewasser sich grundlegend verandert. Man muB auch gar nicht bestreiten wollen, daB die Temperaturen weltweit in den letzten Jahren im Mittel gestiegen sind - auch wenn man dies iibrigens ohne Probleme konnte.

Man sollte aber bedenken, daB Menschen nur schwer als passive Empfanger von etwas, was "da drauBen" geschieht, betrachtet werden konnen, Es macht Sinn, sie so zu sehen, daB sie die Inhalte und den Umgang mit dem Wissen jeweils nach dem kulturellen Kontext, in dem sie sich bewegen, festlegen. Das laBt sich etwa an der Einschiitzung poten­tieller Umweltgefahren und Techniknebenfolgen, urn die man nicht genau weiB, ablesen. Es ist ein klassisches Gebiet der Auseinandersetzung mit Umweltrisiken in den USA und in unserem Sprachraum, und es gehort hierzulande schon zu den Standardforderungen, dort, wo man wenig oder gar nichts iiber die moglichen Foigen techniseher Innovationen oder Eingriffe in den N aturhaushalt weiB, diese Innovationen nicht umzusetzen (etwa im Bereich der Gentechnologie) bzw. den Eingriff zu unterlassen. Nun zeigen Kulturvergleiche: Das Unbekannte an Risiken so drastisch zu bewerten, daB man Unterlassungen im Handeln fordern konnte, ist in den USA und hier weitaus eher moglieh als etwa in Norwegen oder Ungarn. Dort verfahrt man eher nach dem Muster, daB dann, wenn Risiken nieht exakt benannt werden konnen, diese synonym zu setzen seien mit unbedeutenden Risiken (Cvetkovich u. Timothy 1993). Man sieht: Eine mit allgemein anerkannter Autoritat versehene Statusposition, von der aus jemand sagen kann, dieses

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oder jenes sei eine einheitliche OrientierungsgroBe bei der Beurteilung von Umweltrisiken, gibt es nicht. Es kann eine privilegierte Statusposition von Personen oder Wissenschaften auch gar nicht geben, da die Gegenwart lediglich ein Durchangsstadium zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, in der - wenigstens dieses wissen wir inzwischen - ja alles anders gelesen und verstanden wurde bzw. werden kann, als Wissenschaftler dies heute tun (Kuhn 1981). Die Konsequenz ist eine gewisse "Richtungslosigkeit": Wir haben keinen festen Korpus dessen mehr, an das man sich halten kann, was zu tun notwendig ist oder was als vollig unmoglich gilt. Die Konsequenz lautet nicht, man solIe jegliche urn Rationalitat bemiihte Umweltkommunikation aufgeben.

5 Diskursunsicherheit, Nichtwissen und Differenzenpflege

Urn Rationalitat bemiihte Umweltkommunikation verliert nicht ihren Sinn -aber den Zwang, sich auf eine naturwissenschaftliche Rationalitat als Basis aller Einsicht in Naturdinge und als Verstandigungshorizont fiir UmweItverhaIten zu beziehen. Verstandigungen, so laBt sich dann sagen, sind von Wissen, Emotionen, Spekulationen und Bediirfnissen durchtrankte Ubereinkiinfte auf Zeit. Unter der Unausweichlichkeit des Sich-nicht-sicher­sein-Konnens haben sie nichts mit Konsens zu tun. "Sie fixieren nur dem Streit entzogene Bezugspunkte fiir weitere Kontroversen, an denen sich Koalitionen und Gegnerschaften neu formieren konnen" (Luhmann 1992, S 139). Behauptet jemand entgegen dieser Einsicht, er verfiige iiber sichere Prognosen, so ist ihm heute - dank der umfassenden Verfiigbarkeit gespeicherten Wissens durch Datenbanken - leicht nachzuweisen, daB es Sicherheit in den derzeit die okologische Debatte dominierenden Thematiken - vom Treibhauseffekt iiber das Ozonloch und die Konsequenzen der Abholzung des tropischen Regenwaldes, von den Folgen der Verseuchung der Boden, des Arten- und Waldsterbens, des Einsatzes von chemischen Pestiziden bis hin zur Gentechnologie - in keinem Fall gibt.

So gewinnt Luhmann aus den Katastrophendiskursen die Einsicht, "daB die okologische Kommunikation ihre Intensitat dem Nichtwissen verdankt" (Luhmann 1992, S 154), ohne dann aber zum Kompensationsaktivismus, also zur Akkumulation von mehr Wissen aufzurufen; denn das Nichtwissen bleibt ein grundlegendes Dilemma des umweltbezogenen Handelns, und man kann von dort her zu einer interessanten Konzeption vorstoBen, die hier als "Umweltkommunikation der Differenzpflege" bezeichnet wird.

Wenn sich die "scientific community" langst in Lager und Gruppen gespaIten hat, die sich in ihren jeweils eigenen Sprachspielen und Ansichten von der Sache bewegen, so kann eine auf Differenzpflege ausgelegte Verstandigung exakt aus diesem unausweichlichen Streit eine Thematik der Auseinandersetzung gewinnen:

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Jede Kritik Hiuft leer, wenn sie ohne weitere Priifung mit der Unterstellung arbeitet, daB man k6nnte, wenn man nur wollte, und deshalb zur Fuchtel der moralischen Ermahnung greift. Vielleicht ist es deshalb ratsam, die Kommunikation mit der Kommunikation von Nichtwissen beginnen zu lassen, statt sie ... an die Aufrechterhaltung einer "illusion of control" zu binden (Luhmann 1992. S 211f.).

Mit der Kommunikation des Nichtwissens (tiber die zentraJen Zusam­menhange in der Biosphare, tiber die Entwicklung von Technik und Bevolkerung, tiber die Folgen gentechnischer Freilandversuche, tiber den Einsatz neuer chemischer Verbindungen etc.) zu beginnen, statt mit hoffnungslosen Versuchen anzufangen, das Nichtwissen zum Verschwinden bringen zu wollen, hat weitreichende Konsequenzen. So wtirde etwa ein Kuriosum sichtbar werden: Kann man sich einerseits durch das Reklamieren von Nichtwissen im Alltag jeglicher Kompetenz und auch Verantwortung fUr eine Sache entledigen, so wird andererseits verIangt, daB man in Umweltfragen aus dem Nichtwissen - als Erkenntnisdefizit - eine moralische Konsequenz zieht: Wenn man nicht weiB, welche Folgen das Handeln hat, so ist man - wenigstens in der hiesigen Kultur in der okologischen Debatte -geneigt zu fordern, daB dieses Handeln zu unterIassen sei (s. Abschnitt 4). Selbstverstandlich kann man verlangen, daB Handelnde fUr ihr Handeln auch die Verantwortung tibernehmen. Nur wird dieses Ansinnen gerade dort schwierig, wo man nicht weiB, was die Folgen des Handelns sein konnten; und dieses Nichtwissen macht ja derzeit den Kern jeg/icher Aktivitat aus, die sich auf Umwelt richtet. Das bringt dann einige VerIegenheit ftir den mit sich, der Verantwortbarkeit von Entscheidungen an ein Wissen bindet, das gar nicht zu haben ist. Es reicht dann nicht hin, gemeinsam mit den sich "betroffen" Zeigenden weiteres Sachwissen anzuhaufen und nach der allseitigen Offenlegung der eigenen Gewohnheiten und Motivlagen sich kollektiv zu verstandigen, welches Folgerisiko noch zu tragen ist und welches nicht. Vielmehr wird die Frage virulent, mit welchen Modellen und mithin mit welchen Unterscheidungen bei der Umweltkom­munikation operiert wird. Was man also machen kann ist: sich anschauen, wie okologische Probleme in einem Denkkollektiv von anderen Individuen und durch das eigene BewuBtsein eine Bearbeitung erfahren. Wie werden sie be- und umgeschrieben, wie gehen andere mit dem Nichtwissen urn? Wie richten sie sich in diesem Nichtwissen ein und wie sttitzen sie sich ab, damit sie nicht absttirzen, wenn das eintritt, was man fUr einen Ernstfall hiilt?

Das hier vorgestellte Modell einer Umweltkommunikation zwischen Nichtwissen und Differenzpflege hat durchaus Konsequenzen fUr das Design von Sozialforschung zum UmweltbewuBtsein. So kann man versuchen zu eruieren, wie es urn unser Wohlbefinden im Nichtwissen bestellt ist und inwiefern wir zu Rationalisierungsstrategien neigen, indem wir dort Sicherheit in der Beantwortung von umweltrelevanten Fragen annehmen, wo anderslautende Bescheide uns in unserem Wohlbefinden beeintrachtigen wtirden. Empirisch mochte es sich daher lohnen, gerade in der Frage nach dem Umweltwissen zunachst darauf abzustellen, was die Befragten in

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unserer Kultur nicht genau wissen und welcher Meinung sie folgen. Bezliglich des Umweltbewuf3tseins mochte es sich dann lohnen, erstens die kursierenden Vorstellungen liber das Wohlbefinden zu reftektieren und dort, wo es als nicht kompatibel mit dem Umweltverhalten einer Person erscheint, in der Konsequenz andere Modi des Wohlbefindens anzubieten, statt nach Low­cost-Padagogik Verzicht zu predigen oder im Rahmen von High-cost-Politik Geld einzutreiben. Das ist dann keine strategische Frage mehr, sondern die nach den Moglichkeiten, subjektives Wohlbefinden erlangen zu konnen. Und was zweitens einem im Hinblick auf die Moglichkeiten, Wohlbefinden zu erlangen zunachst vom Denkhorizont her zur Verfiigung steht, ist -jenseits des Politischen und Monetaren - abhangig von dem Horizont dessen, was einem tiber Lernprozesse an Moglichkeiten offeriert wurde.

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Okoiogisches Verantwortungsbewu6tsein

Ernst-H. Hoff und Thomas Lecher

1 Arbeitspsychologische Ausgangsfragen

In diesem Beitrag wird eine psychologische Konzeption vorgestellt, die sich auf handlungsleitende Vorstellungen zur okologischen Verantwortung -insbesondere im Arbeits- und Berufsleben - richtet. Betrachtet man die globalen und langfristigen Ursachen und Folgen der Umweltproblematik, wird auf individueller Ebene die Tragweite jener Vorstellungen deutlich, in denen die zeitliche Dimension zentral ist. Darauf haben wir bei der Entwicklung unserer Konzeption besonders geachtet. Doch bevor wir darauf im einzelnen eingehen, mochten wir unsere Ausgangsfragen skizzieren. Urspriinglich hatten wir uns gar nicht mit der Okologiethematik, sondern mit allgemeinen Forschungsfragen beschaftigt, die 2 "blinde Flecken" in unseren Arbeitsgebieten der beruflichen Sozialisationsforschung und der Arbeitspsychologie betreffen:

Ein erster "blinder Fleck" der Arbeitspsychologie besteht in ihrer vollsUindigen Ignoranz gegeniiber einem Hauptziel men schlicher Arbeit. In den arbeitspsychologischen Lehrbiichern geht es zwar urn "humane" Arbeit, das heiBt: urn eine Arbeit, die der Personlichkeitsentwicklung und -forderung dienen soil. Ubrigens haben sich die Forscher am liebsten der okonomisch zentralen, aber okologisch problematischen Automobilindustrie zugewandt und eben dort jene "neuen" Arbeitsformen untersucht, die als personlich­keitsforderlich gelten. Allerdings hat man bei der humanen, personlich­keitsforderlichen Arbeit bislang immer nur an den Herstellungsprozej3 und nicht an dessen Ziel, an das Arbeitsprodukt gedacht. Darauf bezog sich ein erster Hauptkomplex unserer Forschungsfragen: Entwickeln Personen Kompetenzen und sogenannte Schliisselqualifikationen schon allein dann, wenn man ihre Arbeit angenehm und anspruchsvoll gestaltet, wenn sie am Arbeitsplatz mitbestimmen konnen - ohne daB es dabei zugleich eine Rolle spielt, woran sie eigentlich arbeiten? 1st es fUr die Ausbildung von indivi­duellem Lebenssinn und von Identitat Iediglich wichtig, Autonomie iiber den ArbeitsprozeB zu haben, aber gleichgiiltig, ob man Zahnpasta, Autos, Mettwurst, chemische Stoffe oder Panzer produziert?

Ein zweiter "blinder Fleck" betrifft das Thema der berufiichen Verant­wortung. Davon ist im Alltag zwar standig die Rede - man denke z.B. an Manager, Wissenschaftler oder Arzte, aber dazu gibt es kaum psychologische

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Forschung. Das liegt vielleicht daran, daB man sich so lange auf die fordi­stische Produktionsweise und dort auf Industriearbeiter konzentriert hatte. Die sogenannte Taylorisierung der Arbeit bedeutete dort ja auch Taylori­sierung der Verantwortung, Zerstiickelung von Zustiindigkeit und Her­ausnahme von Eigenverantwortung aus dem eigentlichen ProduktionsprozeB.

Wir hatten uns allerdings in einem friiheren Projekt (Hoff et al. 1991) theoretisch und empirisch mit 2 Arten von individuellen Vorstellungen, von personlichen Uberzeugungen und von Handlungsorientierungen beschiiftigt, die zusammengenommen wohl ganz gut das abdecken, was man im Alltag unter "VerantwortungsbewuBtsein" versteht (vgl. Hoff 1992).

Es handelt sich erstens urn Vorstellungen zur Kontrolle. Dieser Begriff "Kontrolle" hat sich in einer US-amerikanisch gepriigten Forschungstradition (vor allem im AnschluB an Rotter 1966) eingebiirgert und erscheint im Deutschen nicht ganz gliicklich gewiihlt. Vielleicht sollte man besser von Vorstellungen zur Verursachung von Handeln und dessen Folgen, zu Moglichkeiten der EinftuBnahme, zu Handlungsfreiheit und zu Selbstbestim­mung sprechen. Menschen konnen solche Vorstellungen, die sie selbst, ihre Unwelt und ihr Handeln betreffen, in ganz unterschiedlicher Weise ausbilden. Beispielsweise konnen sie sich mehr oder minder stark als "Spielball des Schicksals" und ihr Verhalten als yom Zufall, von Gliick oder Pech bestimmt sehen (fatalistische Kontrollvorstellung). Sie konnen sich mehr oder minder stark als Subjekt des eigenen Tuns und der eigenen Umwelt, als ihres eigenen "Gliickes Schmied" (internale Kontrollvorstellung) oder mehr oder minder stark als auBengelenkt, als "Riidchen im Getriebe" begreifen (externale Kontrollvorstellung). Sie konnen auch eine dieser Vorstellungsar­ten an einen Lebens- oder Erfahrungsbereich, z.B. an ihre Arbeit, und eine andere Vorstellungsart an einen anderen Bereich, z.B. an ihre Freizeit, binden (additiv-deterministische Kontrollvorstellung), oder sie k6nnen sich schlieBlich hier wie dort stets zugleich als Subjekt und Objekt begreifen und von Situation zu Situation ftexibel einschiitzen, in welchem Verhiiltnis Freiheitsgrade und Zwiinge stehen (interaktionistische Kontrollvorstellung; zur genauen Beschreibung und Analyse solcher Formen von KontrollbewuBt­sein bzw. von einzelnen Kontrollvorstellungen, vgl. Hoff 1986; Hoff u. Hohner 1992).

Zweitens hatten wir Vorstellungen untersucht, die mit Hilfe des Begriffs "Moral" gekennzeichnet werden. Auch dieser Begriff hat sich in einer eigenstiindigen psychologischen Theorietradition (im AnschluB an Kohlberg 1984) eingebiirgert und erscheint nicht ganz gliicklich gewiihlt; denn im Alltag hat der Begriff "Moral" hiiufig einen leicht negativen Beigeschmack. In der Psychologie werden dagegen in einem sehr weiten Sinn aIle Urteile, BewuBtseinsformen, Vorstellungen und Orientierungen als moralische gekennzeichnet, die sich auf die mehr oder minder als innerlich verpftichtend empfundenen, auf die priiskriptiven Aspekte von Handeln und dessen Folgen beziehen. Menschen k6nnen sehr unterschiedliche Orientierungen aufwei­sen. Beispielsweise k6nnen sie primiir dem eigenen Standpunkt verhaftet

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bleiben (priikonventionelles oder egozentrisches Niveau des MoralbewuBt­seins); oder sie sind fahig und bereit, sich an den Interessen ihrer Mitmen­schen, an den Normen von Gruppen und Institutionen sowie an Gesetzen zu orientieren. Die KonformiHit gegeniiber Normen und Gesetzen kann hier jedoch noch nicht mit Verweis auf iibergeordnete Prinzipien in Frage gestellt werden (konventionelles oder soziozentrisches Niveau des MoralbewuBtseins). Sie konnen schlieBIich versuchen, die Interessen von "ego" mit denen von "alter" , mit dem Allgemeinwohl oder mit dem Gesetz in Einklang zu bringen. Dort, wo dies nicht gelingt oder wo verschiedene Vorschriften einander widersprechen, orientieren sie sich an Prinzipien, in deren Licht auch Gesetze falsch erscheinen konnen. Dabei sind sie auch fahig, die Eigenarten von Personen und die Besonderheiten von Situationen differenziert zu beriicksichtigen und die Foigen von Handlungsalternativen, auf die auch Max Weber mit seinem Begriff der "Verantwortungsethik" zielt, abzuwagen (postkonventionelles oder aquilibriertes Niveau des MoralbewuBtseins; zur genauen Beschreibung und Analyse solcher Niveaus von MoralbewuBtsein vgl. Lempert 1988).

Mit Riickgriff auf diese Begriffssysteme wollten wir einen zweiten Komplex von Forschungsfragen bearbeiten: Welche Vorstellungen zu Kontrolle und Moral, welche Konstellationen von handlungsleitenden individuellen Orientierungen und Uberzeugungen - kurz: welche For­men von VerantwortungsbewuJ3tsein - kommen in welchen Berufsbio­graphien vor? Wie und warum kommt es im Verlauf des Arbeits- und des Privatlebens zu Veranderungen, Verfestigungen und Entwicklungen des VerantwortungsbewuBtseins?

Es lag nun auf der Hand, den ersten Fragenkomplex zum Arbeitsprodukt mit diesem zweiten Komplex zu beruflicher Verantwortung zu verbinden und folgendes zu fragen: Welche Formen von VerantwortungsbewuBtsein (d.h. welche Konstellationen von Kontroll- und Moralvorstellungen) bilden sich bei Menschen heraus, verfestigen oder entwickeln sich, deren Arbeitspro­dukt problematisch erscheint oder erst allmahlich als schadlich erkannt wird, weil es auch niitzlich, weil ihre Arbeit also produktiv und destruktiv zugleich ist? Wie sieht es hier im Vergleich zu solchen Menschen aus, deren Arbeits­produkt in den Augen der Allgemeinheit ausschlieBIich als niitzlich gilt? Erst dann haben wir diese Fragen mit Blick auf Beschaftigte in okologisch problematischen Branchen zugespitzt: Wie sieht es mit dem okologischen VerantwortungsbewuBtsein etwa bei Beschaftigten in der Automobilindustrie aus? Entwickelt oder verfestigt es sich bei Personen, deren Arbeitsprodukt zunehmend kritischer bewertet wird, und die Produzenten und Konsumenten, NutznieBer und Problemerzeuger zugleich sind?

Bei dieser Zuspitzung erschien uns von Anfang an folgendes wichtig: Ein VerantwortungsbewuBtsein, dessen hochstes Niveau sich durch eine Verkniipfung interaktionistischer Kontroll- und postkonventioneller Moral­vorstellungen kennzeichnen laBt, kann sich dann, wenn es urn okologische Problemlagen geht, nicht bloB auf Prozesse in der (beruflichen) Gegenwart

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einer Person beziehen. Hier spielen vielmehr dariiber hinausgehende vergangene und zukiinftige Prozesse eine zentrale Rolle. Dabei geraten dann die in der Chronologie etwa des Produktionsprozesses zeitlich voranste­henden Voraussetzungen (z.B. Abbau und Transport von Rohstoffen und deren mogliche kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die Natur), aber auch die zukiinftige Verwendung des Produktes, dessen moglicherweise nichtintendierten und zeitlich noch weiter in die Zukunft weisenden - mogli­cherweise fUr die Umwelt schadlichen - Folgen in den Blick. Ferner muB ein okologisches VerantwortungsbewuBtsein auf hochstem Niveau auch den Verbleib des verbrauchten Produktes (z.B. seine mogliche Wiederaufarbei­tung oder Endlagerung auf einer Miilldeponie) und die damit verbundenen moglichen weiteren Folgen umfassen. Insgesamt laBt sich ein solches VerantwortungsbewuBtsein besonders dadurch charakterisieren, daB unweigerlich auch mittel- bis langfristige Folgen der eigenen Arbeit in das Blickfeld geraten, fUr die man mitverantwortlich ist.

2 Defizite der Umweltbewu8tseinsforschung

Vor der empirischen Forschung im Rahmen der eben genannten Kontroll­und Moraltradition erschien es uns notwendig, diese Konzepte theoretisch auf die Ebenen der individuellen Wahrnehmung und Einschatzung okologi­scher Problemlagen zu beziehen. Unsere Hoffnung, hier schnell eine Verkniipfung mit einer brauchbaren Konzeption von Umweltbewuf3tsein herstellen zu konnen, hat sich jedoch zerschlagen; denn wir stellten fest, daB es kaum eine theoretische Fundierung der UmweltbewuBtseinsforschung gibt. Was mit UmweltbewuBtsein genau gemeint ist, bleibt unklar und kann in vielen Studien nur ansatzweise aus Interviewleitfaden oder Fragebogen erschlossen werden. Gerade auch mit Blick auf langfristige Umweltveran­derungen fiel uns auf, daB die Dimension "Zeit" in ihnen kaum eine Rolle spielt. Angesichts dieser Lage standen wir vor der Aufgabe, selbst ein Konzept zu entwickeln. Dies geschah in Auseinandersetzung mit folgenden Defiziten der UmweltbewuBtseinsforschung, die uns gerade als Arbeitspsy­chologen und Sozialisationsforscher (mit einer Orientierung an struktur­genetischen Ansatzen) besonders gravierend erscheinen:

1. Als wir samtliche Fragebogen und Studien im AnschluB an die bekannte erste Untersuchung von Maloney und Ward (1973) durchsahen, wurde deutlich, daB es darin ausschlieBIich urn den Menschen als Konsumen­ten und Privatperson geht. Personen werden z.B. befragt, wie sie zu Hause mit tropfenden Wasserhahnen umgehen, ob sie auf Parties Plastikgeschirr benutzen, ob sie der Abfall in Parks stort, wie haufig sie Offentliche Ver­kehrsmittel benutzen usw. Zumindest in den psychologischen (nicht in den soziologischen) Studien taucht der arbeitende Mensch als Verursacher von Umweltproblemen nicht auf. Man konnte auch ironisch iiberspitzt sagen:

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Die Forscher, die hier die eigentlichen Ursachen auJBer acht lassen, gehen von einer Art "End-of-pipe-Denken" aus; sie selbst weisen also nieht gerade den hochsten Stand jenes UmweltbewuBtseins auf, das sie untersuchen mochten.

2. Welches ist nun aber der "hOchste" Stand des BewuBtseins, der normative Bezugspunkt der Forscher, von dem aus sie dann auch Formen eines geringer ausgepdigten UmweltbewuBtseins bestimmen k6nnen? Einen solchen Bezugspunkt findet man kaum explizit und the~retisch gut begriindet. Man kann ihn aber aus der Art der empirischen Messungen erschlieBen: H6chste Punktwerte als Ausdruck des am hochsten entwickelten Umwelt­bewuBtseins erhalten Probanden, die eine m6glichst groBe inhaltliche Breite des Wissens und jener Problembereiche aufweisen, zu denen sie verbal irgendeine Form von Engagement bekunden.

3. Es geht also nur urn Inhalte des BewuBtseins bzw. Denkens und nirgendwo urn des sen Strukturen. Obwohl auch im Alltagssprachgebrauch oft strukturelle Aspekte betont werden - etwa wenn von "vernetztem" Denken die Rede ist, untersucht man in der psychologischen UmweltbewuBt­seins- und in der 6kologischen Einstellungsforschung nur die Inhaltsebene und fragt hier die "Breite" von Wissen sowie von Einstellungen abo Wenn aber eine Person beispielsweise viele Umweltprobleme in vielen Lebens­bereichen benennen oder eine Vielzahl umweltgetahrdender chemischer Stoffe aufzahlen kann, deren schadliche Folgen nieht unmittelbar zum Zeitpunkt ihrer Anwendung auftreten miissen, dano besagt das noch gar nichts dariiber, ob sie z.B. komplexe Zusammenhange zwischen lokalen und globalen Phanomenen begreifen, "systemisch" denken kann oder ein Verstandnis fUr Kumulationseffekte hat. Fiir solche Effekte ist u.a. cha­rakteristisch, daB sie sich erst aus einem langandauernden Zusammenspiel von vielen voneinander unabhangigen EinzelhandluQgen ergeben, und sie werden zumeist auch nicht zeitgleieh siehtbar, sondern erst zu sehr vie I spateren Zeitpunkten. Auch ein "systemisches" bzw. "vernetztes" Denken und ein VersHindnis davon, daB zwischen Ursachen und Folgen eine raum­liche Distanz liegen kann, sind logisch eng verkniipft mit Vorstellungen iiber Entwicklungsverlaufe, die durchaus sehr weit in die Zukunft reiehen k6nnen.

4. Die Unterschiede zwischen Personen und Gruppen, zwischen ihrem "Mehr und Minder" an UmweltbewuBtsein erscheinen flieBend und werden als graduelle auf einem Kontinuum bestimmt. Qualitativ gravierende Diffe­renzen, die bei einer Betrachtung unterschiedlicher Denkstrukturen eher naheliegen, werden nicht in Rechnung gestellt. Dem entspricht eine fehlende theoretische Reflexion von menschlicher Entwicklung in der UmweltbewuBt­seinsforschung. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Entwicklungs­stadien derselben Person konnen namlich von der gleichen qualitativen Art sein wie die Unterschiede zwischen Personen. Dann wiirde man z.B. Entwicklungsspriinge vom Umweltsaulus (der etwa nur in simplen Ursache­Wirkungs-Ketten denkt) zum U mweltpaulus (der ganz pl6tzlich systemisch denken kann) als kaum wahrscheinlich erwarten.

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5. Es geht in der Forschung auch urn Einstellungen, urn deren Intensitat und urn deren Verhaltensnahe. Man versucht, Indikatoren fur "Umwelten­gagement" zu ermitteln und diskutiert Diskrepanzen zwischen "Sagen und Tun", zwischen Einstellung und Verhalten bzw. zwischen Umweltbewuf3tsein und 6kologisch sinnvollem Handeln. Dazu wird jedoch keine the ore tisch befriedigende Brucke angeboten, wie wir sie in den Konzepten von handlungsleitenden Kontroll- und Moralvorstellungen sehen. (Eine Ausnahme bildet die wichtige Studie von Eckensberger et al. 1988, in der diese Konzepte allerdings theoretisch nicht miteinander verknupft werden.)

3 Okologisches Verantwortungsbewu8tsein

Diese Mangel haben wir zu iiberwinden versucht, und mit Blick darauf lassen sich zugleich die theoretisch konstitutiven Merkmale der 3 Teilkonzepte

• des 6kologischen Bewuf3tseins, • der 6kologischen Kontroll- und • der 6kologischen Moralvorstellungen

bestimmen, aus denen sich unsere Gesamtkonzeption des 6kologischen VerantwortungsbewuBtseins zusammensetzt: In allen 3 Teilkonzepten geht es in erster Linie urn Bewuf3tseinsstrukturen, die qualitativ unterschiedlich sind und anhand derer sich interindividuelle Differenzen ebenso wie intra­individuelle Entwicklungsverlaufe yom normativen Bezugspunkt eines h6chsten Strukturniveaus her kennzeichnen lassen. Aus dieser analogen Konstruktion, bei der jeweilige Strukturniveaus von 6kologischem BewuBt­sein, von Kontroll- und von Moralvorstellungen einander im AusmaB an kognitiver Komplexitat entsprechen, ergeben sich auch schon die wichtigsten theoretischen Beziige der Teilkonzepte untereinander (s. Abb. 1).

3.1 Okologisches Bewu8tsein

Eine erste und zentrale Uberlegung, die uns schon friiher bei der Bildung anderer Konzepte geleitet hat (Hoff 1986), richtet sich auf den Austausch zwischen wissenschaftlichen und "subjektiven" Theorien, zwischen wis­senschaftlichem Denken und Alltagsdenken. In unserem Fall kann man den 6ffentlichen "6kologischen Diskurs", von dem bei Beck (1986) und anderen Autoren die Rede ist, auch als ProzeB eines permanenten Austausches zwischen wissenschaftlichem Denken und dem "gesunden Menschenver­stand" interpretieren. (Diesen "gesunden Menschenverstand" sollte man jedoch nicht mit dem "gesunden Volksempfinden" gleichsetzen.) Damit liegt der Gedanke nahe, daB sich ein h6chstes Strukturniveau des 6kologischen BewuBtseins im Alltag durch diesel ben Denkstrukturen und Prinzipien

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Okologisches VerantwortungsbewuBtsein 219

kennzeiehnen liiBt, die aueh fUr die Wissensehaft Okologie konstitutiv sind. Auf diese Weise gelangen wir im Gegensatz zur UmweltbewuBtseinsfor­sehung zu einem wohlbegriindeten normativen Bezugspunkt, der sieh kiinftig natiirlich mit der Entwicklung der Wissenschaft Okologie und ihrer Rezep­tion im Alltag aueh noeh iindern kann.

In einem ersten Schritt haben wir nun die wichtigsten Lehrbiicher und geschichtlichen Darstellungen zur biologischen Subdisziplin Okologie (z.B. Odum 1983; Trepl 1987) durchgesehen und jene Strukturprinzipien heraus­zuarbeiten versueht, von denen wir theoretisch annehmen, daB sie auch fUr das Niveau der hochsten kognitiven Komplexitiit des okologischen BewuBt­seins im Alltag charakteristisch sind: das Prinzip der Historizitiit, das der Riickkopplung, das der Wechselwirkung, das Kreislaufprinzip, das System­prinzip (auch: das der Offenheit von Systemen), das Prinzip der zeit-riiumli­chen Distanz von Ursachen und Wirkungen (sowie der Kumulation von Folgen), das der funktionellen Integration und schlieBlich das Prinzip der dynamischen Stabilitiit. Gerade durch die Integration der Dimension "Zeit" unterscheiden sich die okologischen Prinzipien von solchen, wie sie etwa aus kybernetischen oder systemwissenschaftlichen Konzepten bekannt sind (zur Erliiuterung vgl. Lecher u. Hoff 1993).

In einem zweiten Schritt haben wir dann versucht, pdiziser zu analysieren, auf welche allgemeineren kognitiven Dimensionen diese Prinzipien ver­weisen; denn auf diese Weise kann man auch Merkmale der niedrigen Niveaus des okologischen BewuBtseins bestimmen.

Dazu nur ein einziges Beispiel: Das zuerst genannte Prinzip der Histo­rizitiit verweist erstens auf eine Dimension der zeitlichen Reichweite. Man kann okologische BewuBtseinsformen auf dieser Dimension danach diffe­renzieren, ob sie sich nur punktuell auf die Gegenwart beschriinken oder ob sie sich dariiber hinaus zeitlich wesentlich umfassender auf Vergangenheit und Zukunft eines Menschenlebens, auf die von Generationen oder auf die der Menschheit und der Arten richten. Zweitens impliziert die Vorstellung einer Historizitiit von Ereignissen und Prozessen deren Einordnung in einen - im Prinzip nicht zu beendenden - Entwicklungsverlauf und richtet sich damit auch auf deren sehr langfristige Folgen; und auf einer allgemeineren Dimension zu Kognitionen iiber Entwicklung kann man nun folgende Niveaus unterscheiden: ein konkretistisch-punktuelles, auf dem Entwick­lungsprozesse eigentlich noch gar nicht in den Blick geraten; dann Vorstel­lungen eines ewigen Kommens und Gehens, einer Wiederkehr des Gleichen; weiter eine Sichtweise, die zwar dynamisch, aber noch linear ist; und schlieBlich auch Vorstellungen von exponentiellen, sich beschleunigenden und logistischen EntwicklungsverUiufen. (Man denke beispielsweise an alltagssprachlich gebriiuchliche Metaphern im 6kologischen Diskurs, z.B. auf den Verweis, daB es jetzt "flinf vor zw6lf" sei.) Insgesamt haben wir 10 Arten von Kognitionen bzw. kognitiven Dimensionen unterschieden, deren Auspriigungen oder qualitative Abstufungen wir schlieBlich in einem dritten Schritt wieder zu einer Gesamtabfolge von Niveaus des 6kologischen

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BewuBtseins zusammengefaBt haben. Dabei war eine Orientierung an kognitionspsychologischen Ansatzen zur kognitiven Komplexitiit (z.B. Dorner et al. 1983) sehr hilfreich (vgl. Lecher u. Hoff 1993). An dieser Stelle konnen nur die 3 Niveaus des okologischen BewuBtseins und nicht deren feinere Unterteilungen nach Stufen beschrieben werden (s. Abb. 1, linke Spalte):

Auf dem untersten Niveau, das wir als konkretistisch-punktuell bezeich­net haben, wird dann, wenn Umweltprobleme iiberhaupt wahrgenommen werden, nicht nach Ursachen gefragt oder nach Erklarungen gesucht, oder kausale Verkniipfungen bleiben konkret und werden nicht verallgemeinert (beispielsweise die Vernichtung einer Pflanze durch ein spezifisches Mittel). Es fehlt der Gedanke an ganzheitliche okologische Zusammenhange, an Systeme, an Riickkopplungen, an Kreislaufe, an Entwicklungsprozesse, an intendierte und nichtintendierte Folgen und deren Kumulation, an eine groBere zeitliche und raumliche Reichweite und an Verbindungen zwischen okologisch relevanten Prozessen in der nahen, der regionalen und der globalen Umwelt. Es ist eine empirische Frage, ob man dieses Niveau nur bei Kindem oder in anderen Kulturen oder auch bei Erwachsenen in unserer Gesellschaft finden kann.

Okologisches BewuBtsein Okologische Kontrollvorstellungen Okologische Moralvorstellungen

konkretistisch-punktuelles Niveau latalistisch/externales Niveau priikonventionelles Niveau

Stule 1 nicht-kausal Glaube an Zulall. Schicksal Stule 1 Orientierung

und eijjene Ohnmacht an

Stule 2 prii-kausal Stule 2 Eigeninteressen

kausal-verallgemeinerndes Niveau kausal-deterministisches Niveau konventionelles Niveau

Stule 3 mono-kausal internal oder/und external: Stule 3 Gruppennormen

Subjekt der persanlichen Welt.

Stule 4 multi-kausal Objekt auBerer Einflusse Stule 4 Gesetzen

z. B. in Politik. Wirtschaft ...

systemisch-prozessuales Niveau interaktionistisches Niveau postkonventionelles Niveau

Stule 5 einlach-systemisch Subjekt und Objekt zugleich. Stule 5 Prinzipien

Lasung von Problemen individuell fUr Menschheit.

Stule 6 komplex-systemisch und kollektiv fUr "System Erde"

Abb. I. Niveaus des dkologischen BewuBtseins, dcr dkologischen Kontroll- und der dkologi­schen Moralvorstellungen

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Gkoiogisches VerantwortungsbewuBtsein 221

Auf dem mittleren Niveau, das wir als kausal-verallgemeinernd bezeich­net haben, kommen Verkniipfungen von Ursachen und Folgen nach dem Motto "immer wenn X, dann Y" oder "je mehr X, desto mehr Y" vor (Beispiel: Je mehr Menschen mit ihren Autos die Luft verschmutzen, desto mehr leiden die Baume in Deutschland). Etwas komplexer ist dann eine multikausale Beriicksichtigung z.B. intendierter und nichtintendierter Folgen oder langerer Ketten, in denen eine Folge wiederum als Ursache weiterer Folgen gilt. Das 6kologische BewuBtsein bleibt jedoch noch linear und ist nicht auf Wechselwirkungen, Riickkopplungen, Kreislaufe und komplexe Systeme gerichtet. Entwicklungsverlaufe werden als Wiederkehr des Glei­chen oder mechanistisch fehlinterpretiert. Die raumliche Reichweite des 6kologischen BewuBtseins erweitert sich und geht iiber die unmittelbare Umgebung hinaus, es bleibt aber weiterhin eingeschrankt und laBt sich noch nicht als global beschreiben. Auch die Langfristigkeit der Umweltpro­blematik gerat auf dem mittleren Niveau noch nicht in den Blick.

Vor allem auf dem h6chsten, dem systemisch-prozessualen Niveau werden wohl feinere Differenzierungen wichtig. Hier kann man z.B. danach unterscheiden, ob Personen eher dazu neigen, einzelne Systeme und Kreislaufe als v611ig geschlossene oder als miteinander verbundene oder ineinander verschachtelte zu begreifen; oder danach, ob sie noch Problem­bereiche segmentieren oder gewissermaBen dem Prinzip folgen: "Alles hangt mit allem zusammen". Erst diesem Niveau lassen sich dann Vorstellungen zuordnen, die auBerst langfristige Zeitraume umfassen und sich beispiels­weise auf die Menschheits- und Artengeschichte insgesamt richten. Fiir systemisch-prozessuale Vorstellungen ist ein Verstandnis von Natur typisch, das diese nicht wie in der klassischen Physik auf ein zeitloses Produkt von Masse und Bewegung reduziert, sondern es wird gesehen, daB Natur sich kontinuierlich weiterentwickelt.

3.2 Okologische Kontroll- und Moralvorstellungen

Wie bereits ausgefiihrt, sprechen wir nicht nur von 6kologischem BewuBt­sein, sondern von 6kologischem VerantwortungsbewuBtsein und betrachten jene Vorstellungen zu Kontrolle und Moral, die man in ihrer Kopplung (vgl. Hoff 1990) auch mit Vorstellungen zur Verantwortung gleichsetzen kann, als Briicke zwischen BewuBtsein und Handeln. In der Ubersichtsdarstellung (s. Abb. 1, die nun zeilenweise zu lesen ist) sollen die theoretischen Par­aile len zwischen dem eben beschriebenen ersten Teilkonzept und den zuvor schon skizzierten beiden anderen Teilkonzepten deutlich werden: Die jeweils unteren, mittleren und h6chsten Niveaus des 6kologischen BewuBtseins, der Kontroll- und der Moralvorstellungen entsprechen einander im AusmaB der kognitiven Komplexitat:

Ebenso wie 6kologische Probleme auf dem untersten Niveau des 6kologischen BewuBtseins gar nicht erklarungsbediirftig erscheinen oder

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hOehst konkretistiseh erklart werden, gilt aueh das eigene Verhalten als nieht erklarungsbedurftig oder als irrelevant angesichts allgemeinerer Pro­blemlagen. Mit fatalistisehen oder externalen Kontrollvorstellungen sind sinngemaB die folgenden gemeint: "Ieh kann ja doch nichts tun" oder: "Es hatte gar keinen Sinn, wenn ich als kleines Radchen im Getriebe etwas tate. Ich bin ohnmaehtig angesiehts von Zufallen oder von ubermaehtigen auBeren Einftussen". Damit korrespondieren priikonventionelle Moralvorstellungen etwa folgender Art: "Ich bin auch nieht moralisch verantwortlich, sondern muB zusehen, daB ieh in dem Betrieb, den andere vielleicht fur okologiseh bedenklieh halten, mein Geld verdiene." 1m ubrigen ist eine spezifisehe kausale Verknupfung von Kontroll- und Moralvorstellungen aus Diskus­sionen uber die Nazivergangenheit wohlbekannt, die man ebenso auf okologische Problemlagen ubertragen kann: "Weil ich sowieso nichts dagegen tun konnte/kann, trage ich auch (moralisch) keine Verantwortung".

In gleicher Weise, wie auf dem mittleren Niveau des okologischen BewuBtseins einzelne Umweltprobleme isoliert betrachtet und auf eine oder mehrere Ursaehen zuruekgefuhrt werden, sind aueh Kontrollvorstellungen mono- oder multikausal-deterministisch ausgerichtet. Einseitige internale Kontrollvorstellungen von der eigenen Person als dem Subjekt ihrer Welt riehten sieh beispielsweise auf die "Machbarkeit" der ganz personlichen, nahen Umwelt: "Was mich und meine Familie anbelangt, da kann ich etwas gegen Umweltversehmutzung tun". Auf Probleme jenseits dieser kleinen Welt bezieht sieh dagegen eine bei denselben Personen anzutreffende ein­seitig extern ale Sieht: "Da kann ieh als einzelner niehts tun, da ist die Unternehmensleitung, da sind die Politiker, da sind die Gesetzgeber zustandig". Damit korrespondiert das konventionelle Niveau der Moral­vorstellungen, auf dem man sieh als Mitglied der Allgemeinheit begreift und ein regel- oder gesetzeskonformes Handeln bejaht.

Ebenso, wie der Wechselwirkungsgedanke auf dem hochsten, dem systemiseh-prozessualen Niveau des okologischen BewuBtseins konstitutiv ist, bestimmt er das hochste, entspreehend als interaktionistiseh benannte Niveau der Kontrollvorstellungen. Personen begreifen hier ihr eigenes Handeln als ProzeB einer Weehselwirkung von internen und externen Faktoren und die eigene Person immer als einftuBnehmende und beeinftuBt werdende zugleich. Sie argumentieren prototypiseh so: "In vielen okologisch brisanten Bereichen kann ich trotz auBerer Widerstande etwas tun; und dort, wo ich als einzelner zunachst ohnmachtig erscheine, kann ich meine individuelle Energie in kollektives Handeln einbringen". Damit korrespon­dieren postkonventionelle Moralvorstellungen einer Orientierung an Prin­zipien; und wieder sind die kausalen Verknupfungen zwischen Kontroll- und Moralvorstellungen sehr gelaufig, die etwa folgendermaBen verbalisiert werden konnten: "Weil ich immer und aus Prinzip fur mich, fUr andere Mensehen und fur die Umwelt (deren Teil ich bin) mitverantwortlieh bin, deswegen muB ieh sehen, wo und wie ich am besten EinftuB nehmen kann -als einzelner oder gemeinsam mit anderen".

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4 Schlu8bemerkungen

Zur Validierung dieser Konzeption haben wir Intensivinterviews durchge­fUhrt (Lecher et al. 1992), die wir zur Zeit auswerten. Dabei zeigt sich einerseits, daB Unterschiede zwischen Personen sehr gut anhand aller genannten Niveaus beschrieben werden konnen. Auch stimmen die Niveaus des okologischen BewuBtseins und der okologischen Moralvorstellungen bei denselben Personen vOilig iiberein (s. Abb. 1). Andererseits sind wir bei der Analyse von Kontrollvorstellungen auf Probleme gestoBen, die uns nicht zur Revision, wohl aber zu einer exakteren Formulierung unserer theoretischen Uberiegungen zwingen. Besonders die enorme zeitliche und raumliche Spanne zwischen menschlichem Handeln und dessen okologisch probie­matischen Folgen, die auch fUr das "Prinzip Verantwortung" bei Hans Jonas (1984) so wichtig ist, muB vie I griindlicher bedacht werden. Das heiBt fiir unsere Konzeption von Kontrollvorstellungen, daB wir eine vie I subtilere Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit von Sichtweisen in Rechnung stellen miissen. Ein und dieselbe Person kann beispieisweise in "interaktionistischer" Weise Chancen und Barrieren eigenen sowie kollektiven okologischen Handelns einschatzen und bereit sein, aile ihre Chancen zu nutzen, aber dabei gleichwohl mit Blick auf die ganz langfristigen und kumulativen Folgen "fatalistisch" und vielleicht verzweifelt denken: "Eigentlich hat doch alles keinen Zweck".

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Francisco

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224 E.-H. Hoff und T. Lecher: Okologisches VerantwortungsbewuBtsein

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Technikentwicklong, Unsicherheit ond Risikopolitik

Jobst Conrad

1 Einftihrung

Vor dem Hintergrund globaler langfristiger Umweltveranderungen geht es in diesem Beitrag l im Hinblick auf mogliche Strategien okologischer Risikominimierung urn die thesenartige Synthese unterschiedlicher dis­ziplinarer Erkenntnisse und gesellschaftstheoretischer Perspektiven fUr die Technologie- und Risikopolitik, ohne dabei auf die jeweiligen wissenschaft­lichen Fachdebatten einzugehen. Hierfiir werden in psychologischer und soziologischer Perspektive Quintessenzen iiber die Rolle von Unsicherheit und Technikentwicklung in modernen Gesellschaften vorgestellt, und dann wird nach den sich hieraus ergebenden techno logie- und risikopolitischen Optionen gefragt, urn zu einer angemessenen Gesamteinschatzung des Zusammenhangs von Technikentwicklung, Unsicherheit und Risikopolitik zu gelangen.

2 Psychostruktur und Sicherheit

"Exposure to uncertainty is perhaps the most important negative aspect of what many have considered to be the central feature of human life and action distinguished from lower forms of living systems" (Parsons 1980, S 145). GemaB diesem Grundkonsens der anthropologischen Forschung ist Unsicherheit eine anthropologisch tiefsitzende, spezifisch menschliche Erfahrung, die als fehlende GewiBheit zukiinftiger Ereignisse zumindest ein Wissen dariiber voraussetzt, daB die Zukunft immer auch anders ausfallen kann. Menschen benotigen Sicherheit fiir ihr Wohlbefinden und ihre Stabilitat. Soweit sie mit Unsicherheit zu leben und mit ihr umzugehen vermogen, sind sie dazu aufgrund einer mehr oder weniger entwickelten Selbstsicherheit in der Lage. Der Grad der Selbstsicherheit hangt stark von friihkindlichen Erfahrungen und Pragungsprozessen abo Erst die Ausbildung

I Oer Beitrag beruht im wesentlichen auf einem 1992 an der Univcrsitat Erlangen geha1tenen Vortrag.

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eines im UnbewuBten verankerten Urvertrauens aufgrund entsprechender liebesbasierter Zuwendung und Interaktion von primiiren Bezugspersonen und darauf aufbauender Eigenidentitiit und Selbstsicherheit macht den Umgang mit Unsicherheit ohne prinzipiell vorhandene (existentielle) Angste moglich. Selbstsicherheit hat mit relativer Autonomie und Unabhiingigkeit von spezifischen Dingen zu tun.

Kaufmann (1973) sieht in der zunehmenden Bedeutung der Sicherheits­thematik in modernen Gesellschaften eine Amalgierung von 4 Sicherheits­dimensionen: Sicherheit ist dann gegeben, wenn Sorglosigkeit angesichts der GewiBheit iiber die Zuverliissigkeit der Gefahrlosigkeit einer Situation bzw. des Schutzes vor einer Gefahr besteht. Da das Gefiihl von Unsicherheit die personliche Identitiit in Frage zu stellen droht, verstiirkt es im allgemeinen die Suche nach Sicherheit mit allen verfiigbaren Mitteln. Infolgedessen verhalten sich Sicherheitsbediirfnis und Risikofreude typischerweise gegenliiufig in Abhiingigkeit von der empfundenen Sicherheit.

Bietet nach Gruen (1986) die menschliche Entwicklung zwei grund­siitzliche Moglichkeiten, die der Liebe und die der Macht, so fiihrt der den meisten Kulturen zugrundeliegende Weg der Macht zu einem Selbst, das die Ideologie des Herrschens widerspiegelt. Es ist im Gegensatz zum Zustand personlicher Autonomie und Authentizitiit ein Selbst, das auf einem Gespaltensein beruht, niimlich jener Abspaltung im Selbst, welche Leiden und Hilftosigkeit als eigentliche Schwiiche ablehnt und Macht und Herrschaft als Mittel, Hilftosigkeit zu verneinen, in den Vordergrund stellt.

Daraus resultiert bereits das Paradox von Sicherheit und Macht. Machtorientierte Menschen werden Sicherheit durch Macht und Kontrolle anstreben. Je unsicherer die Umstiinde, urn so groBer die Anstrengungen, sie (durch geniigend Macht) zu kontrollieren. Die kontraproduktiven Effekte dieser Dynamik sind durchaus bekannt, etwa im Sicherheitsdilemma des Wettriistens.

Somit gibt es bereits starke individualpsychologische Griinde fiir das von Beck hervorgehobene Dilemma der Technokratie in der Risikogesellschaft, gerade angesichts steigender (okologischer) Risiken deren hinreichende Kontrolle vorgeben zu miissen.

3 Moderne und Unsicherheit

Kontingenzerhohung ist ein Grundzug der Entwicklung der Moderne. Indem so mit bislang Gegebenes immer mehr auch in anderer Form als moglich betrachtet und erfahren wird, meint Kontingenzerhohung allgemein den Perspektivenwechsel von Wirklichkeiten zu Moglichkeiten, von Hand­lungsgrenzen zu Handlungsoptionen, von Substanzen zu Funktionen, von absoluten Werten zu relativen Priiferenzen. Kontingenzerhohung ist ein Muster, das in unsere Kultur eingebaut wurde mit dem Ubergang zu

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• positiver, objektiver Erkenntnis der Natur, • einem nichtmoralischen Begriff der Natur und • der moralischen Aufwertung der Autonomie und der Rechte der

mensch lichen Person (van den Daele 1991).

Aufgrund dieser Entwicklungsdynamik der Moderne hat die Notwendigkeit, mit U nsicherheit( en) umzugehen, auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene stetig zugenommen. Daraus erklaren sich entsprechend das gewachsene Bediirfnis nach Sicherheit, die Thematisierung und der Aufstieg von "Sicherheit" als gesellschaftlicher Wertidee, die Aktualitat und Vehemenz der durch die Moderne gleichsam in den Unter­grund gedrangten Gegenstromung der Fundamentalisierung und die Suche nach Sicherheit versprechenden Formen gesellschaftlicher Institutiona­lisierung, politischer Regulierung und technokratischen Managements in der Risikogesellschaft.

Fragen der Sicherheit spielen dabei auf zunehmend allen sozialen Ebenen eine zentrale Rolle: von erschwerter Identitatsfindung der einzelnen Person angesichts der Individualisierung, Standardisierung und Rollensegmentierung von Lebenslagen iiber die Widerspriichlichkeiten und Offenheiten von (Liebes)Beziehungen, die sozialstaatlich organisierte wirtschaftliche Absi­cherung in kapitalistischen Industriegesellschaften, die Risiken und Kata­strophenpotentiale moderner Technologien, die (schleichende) globale Umweltkrise, die Auftosung sinnstiftender Werte, Normen und Traditionen, den subtilen generellen Legitimationsverlust formeller, institutionalisierter Politik, die prekare Sicherheit nationalstaatlich verfaBter Gesellschaften infolge von Krieg, Militartechnologie und Riistungsdynamik mit entspre­chender Prioritat in der Politik bis hin zu den jiingsten Traumen von einer neuen globalen Ordnung in einer turbulenten Weltgesellschaft. Entsprechend verbreiten sich zunehmend Angstthemen und Angstkommunikation in modernen Gesellschaften (Luhmann 1986).

Dabei ist es in gewisser Weise gerade der auf dem strukturell einge­bauten Zwang zum technischen Fortschritt basierende Erfolg der halbierten Moderne (Beck) der modern en Industriegesellschaft, der auf substantieller Ebene die gravierenden (globalen) Probleme erzeugt hat.

Insbesondere Umweltprobleme werden zukiinftig aufgrund objektiven Problemdrucks, z.B. durch weltweite Erosion oder Wiistenausbreitung, aufgrund ihrer zunehmenden politischen Perzeption und Bedeutungs­zuschreibung und aufgrund der durch sie induzierten Folgeprobleme, z.B. Umweltftiichtlinge, im Ozean aufgrund globalen Temperaturanstiegs versinkende Inseln, bewuBte okologische Kriegsfiihrung, eine voraussichtlich entscheidende Rolle im Hinblick auf die weitere Entwicklung der (Welt) Gesellschaft spielen, wie dies in der sich im letzten lahrzehnt ausbreitenden Diskussion urn nachhaltige Entwicklung zum Ausdruck kommt.

Die starke Gegenstromung der Fundamentalisierung wird angesichts individueller psychischer Sicherheitsbediirfnisse und ungleicher Modernisie-

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rungsgrade, insbesondere in der Dritten Welt, somit nur urn so versHind­lieher, aueh wenn sie naeh van den Daele (1991) - zumindest innerhalb des Projekts der Moderne - eher eine Untergrundstromung bleiben wird.

ZusammengefaBt fiihren die Prozesse der funktionalen Differenzierung und Rollensegmentierung, der Auflosung verbindlieher Wert- und Norm­systeme, der Individualisierung und die Steigerung teehniseher und indu­strieller Optionen im Projekt der Moderne zu Kontingenzerhohung und damit zu vermehrter Unsieherheit und Entseheidungsabhiingigkeit der Zukunft der Gesellsehaft.

4 Risikogesellschaft und epochaler Wandel

Rekonstruiert man die untersehiedliehen auf die zunehmende Bedeutung von Unsicherheit und Risiko bezogenen Diagnosen zur Risikogesellsehaft, so laBt sieh im Kern durehaus eine weitgehende Ubereinstimmung ausmaehen.

1. Naeh Lau zeiehnen sich die neuen Risiken dadureh aus, "daB sie auf menschliches Handeln zuriickfUhrbar sind und aueh fUr die Geschiidigten die Anonymitat und Zwangslaufigkeit von Naturkatastrophen haben. Es ist dieses paradoxe VerhaItnis von personlicher Verantwortbarkeit und kollek­tivem Verhiingnis, das die logische Struktur von Risikodiskursen pragt" (Lau 1989, S 424). Auch Luhmann (1991) konzediert, daB in modernen Gesellschaften die fUr Risiken im Unterschied zu (naturgegebenen) Gefahren unterstellte Zurechenbarkeit auf Entscheidungen fUr solche Gefahren zweiter Ordnung eben nicht mehr unterstellt werden kann, bei denen die (Neben)Folgen (individueller) Entscheidungen und Handlungen aufgrund iiberkomplexer und nieht mehr verfolgbarer KausalverhaItnisse nicht mehr absehbar und kausal eindeutig zureehenbar sind und auf die sich die von Beck (1988) denunzierte organisierte Unverantwortlichkeit primar bezieht.

Allerdings erlaubt die systemtheoretische Perspektive schon modell­theoretisch keine Angaben dariiber, ob aufgrund substantieller Unterschiede durehaus mit guten Griinden zugunsten, einer anstelle einer anderen Option entschieden werden kann. In der Praxis ist eben doch zu erwarten, daB "weiterhin bei jeder neuen Technologie fallweise Risiken und Vorteile abgewogen, legitime und illegitime Zweeke unterschieden, MiBbrauehe und Fehlentwicklungen kontrolliert werden" (van den Daele 1991, S 601). Die Auflosung von gesellschaftliehen Problemen und Unsieherheiten besteht genau darin, daB sie nicht ein fUr aile mal "gelost", sondern bestandiger gesellschaftlicher Bearbeitung in einer Fiille alltaglicher Auseinander­setzungen zugefUhrt wird.

2. Weitgehende Ubereinstimmung besteht auch darin, daB es ins­besondere die Steigerung technologischer Optionen, deren prinzipiell nur begrenzte Kontrollierbarkeit (Perrow 1987) und die mit ihnen verbundenen

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okologischen Risiken und Katastrophenpotentiale sind, die fUr die gesell­schaftliche Signifikanz der Perspektive der Risikogesellschaft verantwortlich sind, da gerade sie dieses Paradox von Gefahren zweiter Ordnung erzeugen, infolge derer Katastrophenpotentiale und mangelnde Zurechenbarkeit nicht mehr versicherbar sind, womit Risikodiskurse haufig nur mehr der ritualisierten, symbolischen Bewaltigung real nicht zu beseitigender Gefahrenpotentiale dienen.

3. Dariiber hinaus ist die technologische Gesellschaft, die ihren Fortbestand auf den Fortschritt des Wissens griindet, notwendig Risikoge­sellschaft. Sie kann nicht anders. Damit werden aber argumentative Auseinandersetzungen urn Risiken "zu Einfallstoren jenes Prozesses formaler Rationalisierung, der Begriindungsmuster nach MaBgabe wissen­schaftlicher Rationalitatskriterien systematisierter, logisch konsistenter, differenzierter und intersubjektiv iiberpriifbar werden laBt" (Lau 1989, S 432). 1m Ergebnis ist es nur konsequent, daB sich politische Auseinander­setzungen in der Risikogesellschaft auf Definitionsverhiiltnisse konzentrieren; denn die Anbindung offentlicher Risikodiskurse an die formalen Verfahren wissenschaftlicher Geltungskontrolle bietet vielfaltige Moglichkeiten fUr strategische Argumentation und die Legitimationsbasis fUr einen opportu­nistischen, situativ-strategischen Umgang mit wissenschaftlichen Aussagen durch Risikointeressenten und -definitoren (Lau 1989), was Weingart (1983) als gleichzeitige Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und Politisierung der Wissenschaft beschrieb. Dariiber hinaus macht wissenschaftliche Forschung in der Risikogesellschaft die Gesellschaft, wenn auch nicht unbedingt intentional, in der Tendenz zunehmend zum Labor, weshalb ihre kulturell verankerte Freistellung von der Verantwortung von den Folgen notwendigerweise zunehmend in Frage gestellt wird.

4. Einigkeit besteht auch darin, daB die Medien Recht und Geld, die Orientierung an Normfragen und Knappheitsfragen nicht ausreichen, urn mit der Risikoproblematik angemessen umzugehen. 1m Kontext der Deregulierungsdiskussion der 80er Jahre wurde gerade etwa auch in der Umweltpolitik die Begrenztheit rechtlicher Ge- und Verbote und okonomischer Steuerungsinstrumente zunehmend gesehen und eine auf der Metaebene ansetzende, auf mehr Selbstorganisation und Reflexivitat griindende Umweltpolitik gefordert.

5. SchlieBlich ist aber auch festzuhalten, daB technologische Proteste und Kontroversen auf mehrschichtigen Konfliktlagen beruhen, vor allem auf dem Protest gegen die Uberwaltigung durch Innovationsprozesse, iiber die man nicht mitentscheiden kann (Conrad 1990; van den Daele 1989b). Dafiir, daB diese unterschiedlichen Konflikte und Anspriiche vorzugsweise in Risikokritik iibersetzt werden, gibt es eine Reihe von Griinden: der besondere politische "Appeal" von Risikoargumenten, die gesellschaftliche Zentralitat von Sicherheitsanspriichen, Gefahrenabwehr und -vorsorge als legitime Ziele staatlicher Politik, die Variabilitat von Risikodefinitionen. "Risikobewaltigung ist unbezweifelbar ein zentrales Feld gegenwartiger

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Technikpolitik; aber die Konzentration auf dieses Feld muB letzten Endes die Erwartungen enttauschen. Risikodefinitionen lassen sich nicht beliebig verschieben; und die Kontrolle tiber Risiken eroffnet nur begrenzte politische Verfiigung tiber die Dynamik technischer Entwicklung" (van den Daele 1989b, S 98). So fUhrt die Einbindung der Technikkritik in die Risiko­thematik nicht nur zu politischer Mobilisierung, sondern auch zu ihrer Kanalisierung und verfassungsrechtlichen Zahmung (van den Daele 1989a). Brock (1991) hat die Frage nach der Einordnung der Risikogesellschaft als eine neue Epoche mit damit verbundenen historischen Diskontinuitaten m.E. zu Recht negativ dahingehend beantwortet, daB es sich weniger urn einen epochal en Wandel als urn eine weitere Stufe industriegesellschaftlicher Entwicklung handelt, mit der durchaus nicht auszuschlieBenden Moglichkeit der

... allmiihlichen Ziihmung der Risikoproblcmatik durch eine Reihe von institutionellen Vorkehrungen, die in ihrer Logik wie Rcichweite vielleicht unbefriedigcnd bleiben werden, aber letztlich doch den industriegcsellschaftlichen Modernisierungspfad vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren vermiigen. Aber auch solehe Vorkehrungen rcchnen nicht mehr zu den zweifellos erwartbaren Anpassungsleistungen moderncr Industriegesellschaften (Brock 1991, Sill).

Von daher ist der kiinftige Stellenwert der gesamten Risikoproblematik vollig offen, wie er wiederum relativ konsensuell in der Industrialismuskritik zum Tragen kommt.

Unterschiedliche Autoren wie Beck, Perrow oder Luhmann heben durchaus auf unterschiedliche mogliche Bruchstellen in der Fortsetzung des technisch-industriellen Entwicklungspfades der Moderne ab: normale Katastrophen, organisierte Unverantwortlichkeit, notwendiges Planungs­wissen, Fragilitat funktional differenzierter Gesellschaften. Sie stimmen jedoch letztlich in der SchluBfolgerung der pre karen und zunehmend bedrohten Basis der industriegesellschaftlichen Moderne tiberein.

,Interessanterweise halt gerade Beck im Sinne der Aufklarung und in deutlicher Parallele zu Marx an der Fortsetzung des Projekts der Moderne als einer reflexiv werdenden Moderne fest und setzt unverdrossen auf die Moglichkeit einer "gemeinschaftlichen" Technikkontrolle. Entgegen den eigenen Thesen zum Thema In.dividualisierung scheint er gegentiber der eher zynischen Haltung Luhmanns eine letztlich optimistische Position zu ver­treten und von Zweifeln und dam it implizierten Begriindungsanforderungen relativ unbelastet zu sein.

5 Technikentwicklung und Risiko

Festzuhalten gilt fUr die gesellschaftliche Durchsetzung von Technik zunachst einmal, daB grundlegende Entscheidungen tiber AusmaB und Richtung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im allgemeinen nicht im Verlauf

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eines rationalen Dialogs gefallt, sondern entweder erkampft und sozial durchgesetzt oder auch iiberhaupt nicht als bewuBte Entscheidungen getroffen wurden und werden. Sie sind Resultat des Zusammenwirkens vieler kleiner Einzelschritte und bestimmter politischer und gesellschaftlicher Mechanismen. Technikentwicklung begreife ich daher als einen gesell­schaftlich-historischen ProzeB, in den okonomische Interessen, politische Machtkonstellationen und kulturelle Wertvorstellungen hineinwirken und gleichzeitig dadurch verandert werden. So folgt der technische Wandel weder einer Strukturlogik von Entwicklung, die auBer Richweite der sozialen Akteure Iiegt, noch bietet er sich umstandslos und unmittelbar als Manovriermasse fiir die Steuerungsintentionen sozialer Akteure an.

Entsprechend finden sich bislang kaum empirische Beispiele, daB Technik etwa prioritar unter dem Vorzeichen ihrer Sanftheit und Sozial­vertraglichkeit (Konvivialitat) entwickelt wird, wie dies die moderne Technikkritik fordert. Vielmehr pftegte sich eine Technologie in diesem lahrhundert im allgemeinen unter folgenden Bedingungen durchzusetzen: groBe relative Kostenvorteile, technische Ausgereiftheit und Zuverlassigkeit, groBe Breite ihrer Verwendungsmoglichkeiten, Sicherheit fiir Hersteller, Verwender und unbeteiligte Dritte, giinstige Machtposition ihrer Forderer und Betreiber, militarische Verwendbarkeit und inzwischen auch zunehmend ihre Umweltvertraglichkeit.

Zu den widerspriichlichen Zusammenhangen von Gesellschaft, Technik und Risiko halt Luhmann (1991, SIlO) fest:

Strukturelle Kopplungen von Gesellschaft und Technologie (oder genauer: von sehr spezifischen sozialen Systemen und Teilbereichen komplexer Technologien) haben ... eine Mehrzahl von verschiedenen, zum Teil konfligierenden Wirkungen. In weiten Bereichen stellt sich die Gesellschaft im normalen Alltag auf ein Funktionieren der Technik ein und entwickelt ihre eigenen Strukturen mehr oder weniger auf der Basis dieser Voraussetzung. Zweitens gilt dies auch im Umgang mit den technischen Einrichtungen einschlieBlich der Einrichtungen, die zum Abfangen ihrer Risiken bestimmt sind. Orittens, und das ist der neueste Trend, wird mehr und mehr bemerkt, daB das Problem der durch Technik bedingten Risiken auf diese Weise nicht sicher gelost werden kann, und das erzeugt extrem instabile Reaktionen, wie sie durch Perrows Formel der "normal accidents" beleuchtet werden. Fur den Gesamteffekt dieser verschiedenen Auswirkungen struktureller Kopplungen gibt es keine einheitliche Formel mehr, geschweige denn eine Idee, wie das Problem gelost werden konnte. Man kann bei allen drei Aspekten ansetzen und vorschlagen, (I) die Abhangigkeit der Gesellsehaft von Teehnik zu reduzieren, (2) die Aufmerksamkeit von Forsehung und Organisation auf die "informalen" und in sieh riskanten Weisen des konkreten Umgangs mit installierter Teehnik zu len ken und schlieBlich (3) sich ubertriebene Angst und Aufregung zu ersparen und nicht allein dadurch schon praventives Unheil auszulosen.

Die Moglichkeiten der Techniksteuerung und -kontrolle, die u.a. Beck anstrebt, sind in modernen Gesellschaften nicht nur sozialstrukturell, sondern auch kulturell deutlich begrenzt und damit auch diejenigen der durch Technikentwicklung bedingten Risiken. Entsprechend konstatiert van den Daele (1991, S 598f.):

1m allgemeinen begunstigt das System der politisehen Regulierung die Erhohung von Kontingenz. Oer Grund dafUr liegt darin, daB die Oynamik der Wissenschafts- und Teeh-

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nikentwieklung, auf der Kontingenzerhohung vor allem beruht, politischer und rechtlicher Regulierung weitgehend entzogen bleibt. Vor allem ist das Entstehen technischer Optionen politisch nieht beherrschbar ... Technologiepolitik ist viel weniger Steuerung als Reaktion, sie liiuft gleichsam einer von ihr unabhiingigen gesellschaftlichen Dynamik korrigierend und kompensierend hinterher.

Nur wenn aus der Nutzung von Technologien unvermeidbare Gefahren fUr in der Wertordnung moderner westlicher Industriegesellschaften (gesetz­lich) ebenfalls geschiitzte Rechte oder Gemeinschaftsgiiter resultieren, stehen ansonsten durch garantierte Individualrechte gedeckte technische Moglichkeiten politisch zur Disposition. Von daher ist Gefahrenabwehr nicht nur ein, sondern meist der einzig mogliche Ansatz politischer Tech­nikeinschrankung. Deshalb stellt staatliche Regulierung in differenzierten Gesellschaften offenbar kein Mittel dar, die Dynamik technischer Entwick­lung irgendwie in den Griff zu bekommen, geschweige denn aus ihr auszusteigen (van den Daele 1989a).

Sicherlich kann sich das staatliche Mandat zur Technikregulierung prinzipiell auch ausweiten, insofern die heutige Konstellation von gesell­schaftlicher Funktionenteilung, individuellen Freiheiten und staatlichem Handlungsspielraum historisch varia bel ist und sich verschieben kann. Das muB aber durch kulturellen und Verfassungswandel geschehen. Falls sich in der Gesellschaft etwa die Uberzeugung durchsetzen so lite , daB menschenwiirdiges Leben und Uberleben nur noch gewahrleistet werden kann, wenn der ProzeB wissenschaftlich-technischer Innovation angehalten wird, dann wiirde dagegen auch die Berufung auf die verfassungsmaBige Freiheit der Forschung oder das Recht der Gesundheit nicht mehr durch­schlagen, denn damit waren die kulturellen Grundlagen fUr individuelle Anspriiche auf die Entwicklung und Nutzung neuer Technik und fUr die aus diesen Anspriichen folgenden Grenzen regulativer Politik entfallen (van den Daele 1989a, 1991).

Knapp zusammengefaBt: Unter den kulturellen Pramissen moderner westlicher Industriegesellschaften ist eine (praventive) gesellschaftspolitische Steuerung von Technikentwicklung und -einsatz nicht moglich. Ob es mit der weiteren Entwicklung der Risikogesellschaft iiber den Sieg der Okologiebewegung hinsichtlich der politischen Thematisierung hinaus zu einer substantiellen Infragestellung dieser Pramissen kommt, ist offen, aber sicher nicht rasch zu erwarten. Allenfalls diirfte die Verbreitung von Perrows Erkenntnis der Unvermeidbarkeit normaler Katastrophen (1987) zu gewissen Einschrankungen besonders katastrophentrachtiger Technologie­konfigurationen wie groBer kerntechnischer Anlagen fUhren.

Gerade bei einer Aufhebung dieser kulturellen Vorgaben diirften sich die gesellschaftlichen Entscheidungsprobleme unter Unsicherheit nur vergroBern aufgrund grundlegender kognitiver Grenzen, insbesondere beim Umgang mit okologischen Problemlagen und kontingenter Technikent­wicklung; denn UngewiBheit und soziale Handlungsfahigkeit befinden sich in einem durchweg prekaren Verhaltnis.

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Dabei werden 6kologische Probleme

· .. gerade dadurch ausgelost, daB die Technik funktioniert und ihr Ziel erreicht. Zwar lassen sich auch unerwiinschte Nebenfolgen, wenn bekannt, mehr oder weniger als technisch zu losende Probleme auffassen, aber das heiBt nur, daB diese Sekundartechniken dann ihrerseits wieder okologische Probleme auslosen konnen (Luhmann 1991, S 106f.).

Somit fUhrt gerade der Erfolg einer gesellschaftlich kaum steuerbaren Technikentwicklung in die Risikogesellschaft. Dabei verschiirft sich deren Problematik auf globaler Ebene zusiitzlich dadurch, daB die wirtschaftlichen, sozialen, politischen etc. Ressourcen fUr einen weniger gefiihrlichen Umgang mit Hochtechnologien in vielen Regionen gar nicht zur Verftigung stehen, wie jtingst noch einmal drastisch am AusmaB 6kologischer Probleme in den osteuropiiischen und ehemals sowjetischen Liindern deutlich wurde.

6 Politikdeterminanten ond -optionen in der Risikogesellschaft

Uber die Restriktionen von Politik in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften gibt es vielfiiltige und umfangreiche Untersuchungen. Zugleich haben etwa vergleichende Analysen zur Umweltpolitik auch Faktoren herausgearbeitet, die auf (liinderspezifisch) unterschiedliche Gestaltungsm6glichkeiten von Politik verweisen und damit durchaus sub­stantielle politische Handlungsspielriiume annehmen. (Allerdings beschriinkt sich Umweltpolitik desto eher auf verba Ie Bekundungen, je internationaler sie angesiedelt ist.) Janicke (1990, S 222) benennt etwa folgende 4 Faktoren der Modernisierungsfiihigkeit moderner Industriegesellschaften:

• ihre Wirtschaftsleistung. • ihre Innovationsfiihigkeit, "als Summe aller Entfaltungsm6glichkeiten fUr

Innovateure und Vertreter neuer Interessen", • ihre Strategiefiihigkeit, "als politische Fiihigkeit eines Landes, langfristige

Ziele koordiniert und tiber liingere Zeitriiume durchzusetzen", und • ihre Konsensfiihigkeit, "als Fiihigkeit eines Landes, tiber einen koopera-

tiven Politikstil zu ausgehandelten L6sungen zu gelangen".

Allerdings sind die M6glichkeiten der Identifizierung relativ eindeutiger, nicht nur fallspezifischer Politikdeterminanten vor dem Hintergrund bislang durchgeftihrter international vergleichender Politikanalysen skeptisch zu beurteilen.

Nun bedeutet der Umstand, daB ein kulturelles Thema wie die Risikogesellschaft die Chance hat, zu einem politischen Thema zu werden, weder seine tatsiichliche Behandlung als politisches Thema durch das politische Entscheidungsgeftige noch seine L6sung im Sinne der Betreiber des Themas. Nach Luhmann (1991, S 157, 176f.) spezialisiert sich das politische System im Hinblick auf (technologische und 6kologische) Risiken auf "talk",

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... namlich auf Darstellung der Bemiihungen urn rationale Entscheidungen. Und das Risiko besteht dann darin, daB die bloBe Verbalakustik zum Aufbau von Erwartungen fiihrt, die man nicht erfiiIlen kann oder nicht erfiillen will ... Ais voll temporalisiertes System ist das politische System nicht in der Lage, die ihm aufgedrangte Risikolast zu behalten und sich dauernd mit denselben Fallen herumzuschlagen. Politik arbeitet in Episoden, in Kleingeschich­ten, an deren Ende jeweils eine kollektiv bindende Entscheidung, eine symbolische AbschluB­geste steht.

Deutlich wird hieran, daB die Wahrscheinlichkeit substantieller (Risiko) Politik in der Risikogesellschaft eher geringer anzusetzen ist als fUr tra­ditionelle Politiken.

1m Hinblick auf grundsatzliche Optionen von Technologie- und Risikopolitik lassen sich restriktive, kompensatorische und konstruktive (Technologie)Politik unterscheiden, wobei die erste sich auf die Abwehr technischer Gefahren bis hin zum moglichen Verbot einer Technik kon­zentriert, die zweite typischerweise die Folgen einer Technologie abzufedern und Fehlentwicklungen vorzubeugen und die dritte gezieJt technische Entwicklungen herbeizufUhren versucht. Mit Blick auf die angesprochenen technologiepolitischen Moglichkeiten und Grenzen pladiert van den Daele (1989b) vor allem fur eine konstruktive Technologiepolitik: Danach fUhren politische Anstrengungen, neue Technologien zu verhindern, in eine Sackgasse, aus der nur die Ausweitung technischer Optionen, mit dem Ersatz schlechter neuer durch bessere neue Technologien herausfUhrt.

Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, jegliche Unsicherheit durch scharfere Kontrollen der Technik abzuwehren ... Es konnte jedoch Aufagbe der Politik werden, den in der Gesellschaft mit neuen Techniken angestellten Experimenten eigene Experimente entgegenzusetzen und Bedingungen zu schaffen, unter denen die Einfiihrung neuer Techniken wirklich ein Experi­ment ware, das heiBt ein rationales Verfahren, urn kontrolliert zu lernen ... Eine solche konstruktive Technologiepolitik wiirde zwei Gefahren vern"leiden: die Gefahr; sich auf eine letztlich aussichtslose Maximierung von Risikokontrolle zu fixiereil und die Gefahr, sich vorbehaltlos den in der Gesellschaft vorgezeichneten herrschenden technischen Entwicklungen anzuschlieBen (van den Dae1e 1989b, S 106, 108f.).

Vor dem Hintergrund der skizzierten Szenerie und Entwicklungsdynamik der Risikogesellschaft lassen sich - neben vielen moglichen Bezugspunkten und Kriterien - etwa folgende grundsatzliche Optionen von Risikopolitik unterscheiden.

Zum einen kann die Politik die ganze Risikodiskussion als voruber­gehende Mode einordnen un~ darauf setzen, durch Nichtbeachtung und Symbolpolitik diese Episode zu uberwintern, allerdings mit dem politischen Risiko, angesichts der Virulenz der offentlichen Risikokommunikation aufs Abstellgleis geschoben zu werden.

Zum zweiten kann Politik im Luhmannschen Sinne zynisch reagieren, indem sie die benannte Kombination von Risikopotentialen technischer und sozialer Natur zwar als durchaus real ansieht, ihre politische Aufiosung jedoch als nicht erreichbar betrachtet und deshalb dem industriellen Fatalismus seinen Lauf laBt und gar nicht erst eigene Anstrengungen zu seiner Uberwindung unternimmt.

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Zum dritten kann Politik technokratisch auf die - technische und sozialpsychologische - L6sbarkeit der Problemlagen der Risikogesellschaft setzen, z.B. mit Hilfe der Informations- und der Gentechnologien, wobei die systemimmanente Bewaltigung von Hochtechnologierisiken und von sozialen Erosionstendenzen fUr machbar gehalten wird.

Zum vierten kann Politik den Weg einer grundlegenden Reorientierung gesellschaftlicher Selektionsmechanismen und Entscheidungsprozesse ansteuern (eventuell mit dem Ziel, die Abhangigkeit der Gesellschaft von Technik zu reduzieren) im Vertrauen auf die Notwendigkeit und die M6glichkeit, hieriiber die andernfalls in einer Katastrophe endende Risikogesellschaft in einer humaneren Zukunft iiberleben zu lassen.

Zwar diirfte in der "risk assessment community" weitgehender Konsens bestehen, daB allein die Optionen 3 und 4 als solche einer substantiellen Risikopolitik anzusehen sind, aber man braucht sich nur in die Rolle eines BMFf-Referenten hineinzuversetzen, der mit Douglas und Wildavsky (1982) die rationale Unbegreifiichkeit der "Risikohysterie" beziiglich neuer Technologien schluBfolgert und der seine Illusionen iiber den EinfiuB des BMFf auf Technikgestaltung und gesellschaftliche Akzeptanz verloren hat, urn die Rationalitat der Option 1 einer Risikopolitik zuzugestehen. Analog wird ein Luhmann-Anhanger die Aussichtslosigkeit individuellen Agierens angesichts der Autopoiesis der Gesellschaft durch Kommunikation und nichts als Kommunikation im Hinblick auf eine wirksame Risikopolitik konstatieren.

Die risikopolitischen Optionen 3 und 4 korrespondieren im wesentlichen mit den 2 Entwicklungsphasen der Risikogesellschaft von Beck (1988). Dabei sind beide risikopolitischen Optionen durchaus mit der oben gekennzeichneten konstruktiven Technologiepolitik vertraglich.

Sicherlich kann jede Risikopolitik aus den Erfahrungen der ihr ver­wandten Umweltpolitik lernen: Infolge ihres Charakters einer Querschnitts­politik, ihres Bezugs zu verschiedenen Technologiebereichen und ihrer Eingebundenheit in den allgemeinen gesellschaftsstrukturellen Wandel diirfte die Institutionalisierung einer eigenstandigen Risikopolitik anstelle der sukzessiven Integration von RisikobewuBtsein in andere Politikbereiche voraussichtlich zum Scheitern verurteilt sein. Wie das Beispiel des allmah­lichen Eindringens von Umweltgesichtspunkten in die Agrarpolitik zeigt, ist ein solcher IntegrationsprozeB bei giinstigen gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen und in einer Dezennienperspektive aber keineswegs von vornherein als chancenlos abzutun (Conrad 1992).

7 Politische Relevanz der Risikoperspektive

Zusammenfassend laBt sich festhalten, daB das Projekt der Moderne qua ihres Macher- und Kontrollfetischismus und ihrer Refiexivitat Kontin­genzerh6hung, dilemmatische Zuspitzungen und massive Ubergangsprobleme

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erzeugt und damit objektiv und subjektiv Unsicherheit und Ambivalenz als anthropologisch prekare Erfahrungstatbestande vermehrt, die sich politisch und sozial nur schwer bewaItigen lassen (Conrad 1994). Besonders an der Umweltproblematik wird diese gesellschaftIiche Entwicklungsdynamik deutlich, in der es kaum eine wirksame Kontrolle technischer Entwick­lungsdynamik samt ihrer Folgeprobleme gibt. Somit tragt gerade die auf Beherrschung und Kontrolle der Natur ausgerichtete Technikentwicklung zur Zunahme von Unsicherheit und UmweItproblemen in Risikogesellschaften bei.

Dabei besteht das strukturelle Dilemma funktional differenzierter moderner Gesellschaften im Umgang mit okologischen Risiken in sowohl zu geringer als auch zu starker Kopplung zwischen den sozialen Funktions­systemen. Auch unter institutionellen Vorkehrungen fiir das systematische Offenhalten alternativer Optionen fiihrt somit kein Weg an einem ProzeB sozialen Lernens mit Versuch und Irrtum unter Bedingungen potentieller Katastrophen und mangelhafter Feedbacks vorbei, wobei offen bleibt, wieviel UngewiBheit soziale Handlungssysteme ertragen konnen (lapp 1990). "Occasional small disasters offer an important learning opportunity, but the choice between several small and one large calamity is intuitive at best" (Holling 1978).

Entsprechend laBt sich abschlieBend die gesellschaftspolitische Relevanz der Risikoperspektive wie folgt resiimieren:

1. Die systemtheoretische Feststellung einer notwendigen neuen Perspektive entlang von RisikolGefahr, in der alles menschliche Handeln zum Risiko wird, wurde als iibergeneralisiert und iiberabstrakt eingeordnet.

2. DemgemaB ist die iibermaBige Konzentration auf Risikosemantik, -kritik und gegebenenfalls -politik zwar soziologisch erklarbar, aber letztlich unangemessen.

3. Die Risikogesellschaft wurde eher als neue Stufe industriegesellschaft­licher Entwicklung denn als Epochenwandel eingestuft, die die Moglich­keit institutioneller Vorkehrungen und technokratischer Losungen ihrer Problemlagen zunachst offenlaBt.

4. Auf globaler Ebene ist die Zentralitat des Konzepts der Risikogesellschaft aufgrund ihrer Ableitung aus Gefahren zweiter Ordnung im Kontext der Entwicklung der Moderne zumindest in diesem lahrhundert als fraglich einzustufen.

5. Vor allem Zunahme von Unsicherheit und erst sekundar Risiko als spezifische Form der Relationierung von ungewiBheitsbelasteten Ent­scheidungen und moglichen Gefahren (lapp 1990, S 37) kennzeichnen m.E. die Entwicklung der Moderne.

1m Faile eines Obergangs der Moderne in eine andere "postmoderne" Weltordnung wiirden die aus der Struktur der Moderne abgeleiteten Problemlagen obsolet werden, obgleich in der Obergangsphase Unsicherheit zweifellos noch zunehmen diirfte. Auch wenn derzeit sicher wenig fUr einen

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Technikentwicklung, Unsicherheit und Risikopolitik 237

Wandel zugunsten etwa liebes- statt machtbasierter Strukturmuster von Gesellschaft spricht, so erscheint es durchaus nicht unbegrundet, angesichts der derzeitigen Weltlage und der globalen Entwicklungstendenzen die Moglichkeit gewaltiger Strukturbruche einzudiumen.

SchlieBlich ist gerade angesichts der Auflosung vieler bislang als gegeben annehmbarer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auch das Setzen auf einzelne dominante, seien es auch abstrakt generelle Determinanten sozialer Entwicklung in Zweifel zu ziehen. Bei einer Auflosung des Sozialen (Ende 1988) wird jedwede generalisierte sozialwissenschaftliche Beschreibung und Erkliirung sozialer Phiinomene fragwurdig. Zumindest spricht eine solche Tendenz gegen eine Vorherrschaft der Risikoperspektive in der Politik.

Riskopolitik als Querschnittspolitik durfte selbst im FaIle ihrer institu­tioneIlen, sachlichen und sozialen Verankerung immmer nur eine unter mehreren Dimensionen in der praktischen, an real en Problemen orientierten Politik ausmachen. Ob sie hierbei einen signifikanten Stellenwert erlangt, durfte primiir von ihrer Internalisierung auf BewuBtseinsebene unter den beteiligten Akteuren abhiingen - und dies werden zunehmend nichtstaatliche sein. Gerade auf globaler Ebene ist Konsens uber Problemsichten selten zu erwarten, und dies erst recht nicht uber Risiko. Es verbleibt dann das auf formaler Ebene diagnostizierte Risiko, wenn nicht gar Faktum fehlender Konsensfiihigkeit uber Katastrophenschwellen und Risikomanagement.

Deshalb mag es ratsam sein, daneben und davon deutlich unterschieden auch den Weg (soIcher) Verstiindigungen zu pflegen. der unabhiingig davon funktionieren kann, ob und wie weit die Beteiligten wechselseitig die Welten ihrer Beobachtung rekonstruieren konnen (Luhmann 1991, S 247).

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Ethik fur die Zukunft erfordert Institutionalisierung von Diskurs und Verantwortung

Dietrich Bohler

1 Einfiihrung

DaB Moralphilosophie bzw. Ethik einerseits den normativen Orientie­rungsrahmen von Umweltforschung zu erarbeiten habe und andererseits selbst mit zur Umweltforschung gehore, wird heute kaum bestritten; ist auch kaum .bestreitbar, weil Umweltforschung letztlich aus dem neuartigen ethi­schen Problem der Verantwortung fUr die Zukunft entspringt.

Seit der Erfahrung des dramatisch zunehmenden okologischen Ungleich­gewichts zwischen hochtechnologisch produzierender sowie konsumierender Zivilisation und Natur, zwischen explodierender Menschheit und Natur und seit der Erfahrung der sich rapide vertiefenden Kluft zwischen einer heute marktdynamisch sowie technologiedynamisch luxurierenden Industriegesell­schaft und der dadurch gefahrlich belasteten, ja in Frage gestellten Zukunft der Menschheit, beginnen wir, Umweltforschung als interdisziplinare Forschungs- und Dialogaufgabe im Dienste einer Zukunftsverantwortung zu verstehen. Nach deren Begriff, nach deren Prinzipien und Verfahrensweisen, auch nach deren politisch-rechtlicher Institutionalisierung fragen wir zugleich noch. So ergibt sich die scheinbar widersprtichliche Situation: einerseits haben wir Wissenschaft, Politik und Recht zukunftsverantwortungsethisch zu prtifen und die Geltung ihres So-weiter-Machens in Frage zu stellen - das ist die Stunde des interdisziplinaren Argumentierens als Wissenschafts- und Weltkritik; andererseits haben wir innerphilosophische Begrtindungsreftexion und Verfahrensreftexion der Zukunftsverantwortung noch durchzufiihren -das ist die Stunde des Philosophierens tiber (Moral-)Philosophie (vgl. Bohler 1994a). Ein Zeichen fUr diese gedoppelte Anstrengung in der Umwelt- und Zukunfts-Not hat die Freie Universitat Berlin mit der Ehrenpromotion von Hans Jonas gesetzt (dokumentiert in Bohler u. Neuberth 1993). Zumal mit Blick auf die Ideen seines "Prinzips Verantwortung" sind, so scheint mir, Umweltforschung und "Ethik fUr die Zukunft" im Wechselgesprach zu entwickeln.

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2 Die Idee des argumentativen Diskurses und die Versuchungen pragmatisch verkiirzter One-project-"Diskurse" in der Technologiefolgenabschatzung

In der 6ffentlichen Diskussion uber die Zukunftsfolgen von Hochtech­nologien und auch auf der Ebene der Institutionen bzw. Verfahren zur Technologiefolgenabschatzung scheint die Ethik, insbesondere die dialogische Diskursethik und die Ethik des "Prinzips Verantwortung", Konjunktur zu haben. Dementsprechend scheint die klassisch-moderne Expertenpolitik -nicht Ethiker und nicht kritische Offentlichkeit, sondern nur die am Projekt interessierten Experten kommen zu Wort - der Vergangenheit anzugeh6ren; auch wenn Industriepostillen oder erfolgsmeldende Universitatsinfos den hochtechnologischen Fortschritt lieber ohne st6rende Ethiker wurdigen lassen. Doch wenn man die offenbar auf der ethischen Haben-Seite zu verbuchenden Einrichtungen wie "Ethikkommissionen" in Kliniken und Dialoge zur Technologiefolgenabschatzung naher betrachtet, folgt die Ernuchterung auf dem FuBe. In "Ethikkommissionen", die fast nur aus dem weiteren Kreis der Interessierten bestehen, wie es in Kliniken ublich ist, wird "Ethik", statt als Reflexion kritisch prasent zu sein, leicht zur Ideologie. Ernst zu nehmen war hingegen der Versuch, einen Dialog zur Technikfol­genabschatzung von Herbizid-Gentech-Pflanzen zwischen den Interessen­vertretern (Industrie und genetische Forschung), Beh6rdenvertretern und kritischen Okologen bzw. Umweltschutzern durchzufUhren. An ernsthaften Ansatzen wie diesem - ein anderes Beispiel ist der von Matthias Haller zunachst mit Ciba-Geigy initiierte "Risikodialog" (vgl. Schmidt 1992) - laBt sich freilich zeigen, wieviel nuchterne moralphilosophische Reflexion, also ethisches Fachwissen, in einem soIchen Projekt anwesend sein muBte ...

Der vom Bundesministerium fUr Forschung und Technologie mit 1,6 Mio DM finanzierte, von Wolfgang van den Daele (Wissenschaftszentrum Berlin) mitgeleitete Dialog zur Technikfolgenabschatzung von herbizidresistenten Gentech-Pflanzen ist auf scharfe Kritik der beteiligten Umweltverbande gestoBen. Nach uber zweijahriger Mitarbeit verlieBen sie unter Protest das Projekt, dessen Ziel es war, die Folgen des Anbaus von herbizidresistenten Nutzpflanzen zu er6rtern und gemeinsame Handlungsempfehlungen auszuarbeiten. Laut Bericht des Genetischen Informationsdienstes vom Juli 1993 (GID 1993a, S lOff.) bezog sich die Kritik am Verfahren selbst unter anderem auf die Achillesferse jeder Technikfolgenabschatzung, die nur nach Chancen oder Risiken einer bestimmten Technologie fragt, ohne Alternativen zu diskutieren. Das ist freilich das Manko jeder nicht pro­blemorientierten, sondern "technikinduzierten" Fragestellung, wie Reinhard Ueberhorst hervorhebt (vgl. Ueberhorst 1990; Burns u. Ueberhorst 1988, S lOf., 103ff., 112ff., 147f.).

Die Pramisse der Interessenten, die landwirtschaftliche Anwendung der Herbizidresistenzgentechnologie sei erforderlich, wird von einer soIchen Fragestellung ausgeblendet. Auf diese Weise unterstellt man Konsens in

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Ethik fUr die Zukunft erfordert Institutionalisierung von Diskurs 241

einem Punkt, der selbst hatte zum Gegenstand der Priifung in einem Diskurs gemacht werden miissen, damit er als argumentativer Konsenspunkt gelten konnte - oder aber widerlegt wiirde.

Weiterhin ist die Hintanstellung alternativer Agrarmethoden ohne Herbizide kritisiert worden. Wie dem auch sei, jedenfalls war das Dialog­projekt nicht darauf angelegt, in Alternativen zu diskutieren.

Das Projekt kann daher auch nicht als Annaherungsversuch an einen argumentativen Diskurs betrachtet werden. Von der Idee eines solchen geht die Begriindungsrefiexion der Diskursethik aus. Knapp skizziert besagt sie:

Zu den konstitutiven Regeln unserer Rolle als Argumentationspartner, die wir kontrafaktisch anerkannt haben, gehort es, als letzte Geltungsinstanz sowohl fiir die Richtigkeit von Handlungen und Normen wie auch fUr die Wahrheit theoretischer bzw. empirischer Aussagen das unbegrenzte Dis­kursuniversum zu beachten, in dem sich ein idealer argumentativer Konsens einstellen wiirde. Dieser Diskursgrundsatz (D) beruht auf der erkenntniskri­tischen Einsicht, daB wir in der vielfach vernunftbegrenzten realen oder faktischen Welt (Einschrankungen unserer Zeit, unseres Wissens, unseres guten Willens samt Dialogbereitschaft) keine letzte Instanz des Giiltigen in der Hand haben konnen wie eine MeBIatte. Deshalb fragen wir "kontra­faktisch", also in Distanz zur faktischen Welt, wir fragen nach dem eigent­lich und letztlich Richtigen bzw. Wahren als Idee. In deren Licht konnen wir unsere faktischen Aussagen und Konsense iiber Handlungen und Sachverhalte, die den Anspruch auf Richtigkeit oder Wahrheit erheben, als kritikbediirftig beurteilen.

Wenn wir unsere Geltungsanspriiche ernst nehmen, miissen wir aile moglichen sinnvollen und sachrelevanten Kritiken (Gegenargumente, begriindete Zweifel) aufsuchen, starkmachen und priifen - als waren sie unser eigenstes Anliegen. Tun wir das, befolgen wir den zweiten Grundsatz des Miteinanderargumentierens: sich (nicht zuletzt selbstkritisch, und zwar wechselseitig selbstkritisch) um jenen argumentativen Kansens und dessen Realisierungsbedingungen in der Welt zu bemuhen, der sich bei gleichbe­rechtigter und friedlicher, zeitdruckentIasteter Ermittlung und bei strikt argumentativer, vorbehaltlos dialogischer Prufung aller sinnvallen sachrele­vanten Argumente ergeben wurde. Das Streben nach argumentativem Konsens schlieBt die Erhebung, Ausarbeitung und Priifung aller sinnvollen relevanten Kritiken bzw. Dissenspunkte ein, zumal aller sinnvollen Argumente, die fur mogliche Betraffene im weitesten Sinn (auch in der organischen Natur) gegenuber folgentrachtigen Handlungsweisen geltend gemacht werden konnen. Dieser Grundsatz zielt auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit, auf einen Konsens, dessen Giiltigkeit allgemein ware, logisch universal; daher wird er in der Diskursethik "U" (fUr Universali­sierung) genannt (vgl. Habermas 1983, S 75f.; Apel 1988, S 119ff.; Bohler 1992, S 205f., 218ff.).

Freilich ist es weder moglich noch moralisch verantwortbar, die im nachkantischen Sinne "regulative Idee" des argumentativen Konsensus zu dem Modell eines Verfahrens im antagonistischen offentIichen Raum zu

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machen; sofern namlich die Kommunikation hier nieht nur unter Zeitdruck und unter dem Zwang steht, vorgefundene Entscheidungssituationen von der Art "Ja oder Nein zu Technologie X oder zu deren Verbesserung?" zu meistern, sondern auch durch Asymmetrien von Macht, Zeit, Geld etc. gepragt ist.

Eine direkte Ubertragung des regulativen Prinzips, nach argumentativem Konsens zu streben, auf die politische Verfahrensebene ist nicht moglich, solange auch nur ein relevanter Teilnehmer bzw. eine relevante Teilnehmer­gruppe sich nicht vorbehaltlos dialogisch-offen, dialogisch-kooperativ und nach MaBgabe des argumentativen Diskursprinzips verhalt. Nun muB in der realen Sozialwelt ein gleichsam strategisches Durchsetzungsverhalten als Normalerscheinung gelten. Es laBt sich sowohl moraltheoretisch - vorkon­ventionelle Orientierung an Eigennutzen ist der natiirliche Ausgangspunkt und bleibt eine Riickzugsebene der Handlungsorientierung - wie auch gesellschaftstheoretisch-systemfunktional erklaren: Rollenverhalten in gesellschaftliehen Subsystemen schlieBt Anpassung an Systemfunktionen ein, die zu den Selbststeuerungsmechanismen ausdifferenzierter Gesellschaften gehOren.

Wenn wir das beriicksichtigen, ergibt sich eine Differenzierung des Universalisierungsgrundsatzes U zu einer Orientierung des Handelns an der langfristigen Verantwortung fur den Erfolg des Moralischen (V-E):

Berniiht euch in der realen Welt. in der keine rein kornrnunikativen Verhiiltnisse vorliegen (z.B. antagonistisch strategische Handlungssituationen und arnoralische Systernzwiinge), urn die Anniiherung an Bedingungen eines dialogischen Diskursuniversurns, indern ihr jene Strukturenl Institutionen bewahrt und ausbaut sowie jene Traditionen ausschopft, die eine solche An­niiherung errnoglichen!

Eine weitere Differenzierung ergibt sich, wenn wir bedenken, daB sich die Menschheit im Verhaltnis zur Natur zunehmend okologisch ungleichgewichtig entwickelt. Aus der Anwendung von U auf diese Entwicklung folgt ein Grundsatz der soziookologischen Verantwortung fUr die Zukunft (V-Z):

Bemiiht euch in der realen Welt, deren Okologie (und darnit deren Zukunft) durch die rnarktwirtschaftliche sowie (hoch)technologische Naturaneignung und die BevOlkerungsexplo­sion gefiihrdet wird, solcherart urn die Anniiherung an Verhiiltnisse eines dialogischen Dis­kursuniversurns, daB die soziookologischen Bedingungen fUr jene Anniiherung geschiitzt werden!

Aus der Einsicht, daB in der sozialen Welt ein Spannungsverhaltnis von vorbehaltlos kommunikativ-dialogischer Einstellung versus strategischem Verhalten (oder amoralischer Systemzwange) besteht, ergibt sich die Pftieht, auf wohlabgewogene strategische Weise Verantwortung fUr den langfristigen Erfolg des Moralischen zu iibernehmen (V-Estrat):

Verhaltet euch nur in dern MaBe dialogisch-offen und kooperativ. als ein solches Verhalten in der realen Welt mit arnoralischen Strategien, Systemzwiingen etc. erfolgreich (im Sinne von V-E und V-Z) sein kann!

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Ethik fiir die Zukunft erfordert Institutionalisierung von Diskurs 243

Anders gewendet:

Verhaltet euch allein in dem Mape strategisch (oder iibt n6tigenfalls auch in dem MaBe zivilen Ungehorsam aus), als sich in streng argumentativen Diskursen nach D und U demonstrieren liiBt, daB Strategien (oder notfalls sogar ziviler Ungehorsam) sowohl unvermeidlich wie auch im Einzelfall erfolgversprechend sind, urn solche amoralischen Strategien oder Systemzwiinge, die fiir davon Betroffene absolut unzumutbare Foigen und Nebenwirkungen hervorrufen k6nnen, zu neutralisieren!

Aus der Einsicht, daB ein SpannungsverhaItnis besteht zwischen der pro­gnostischen Beurteilbarkeit 6kologisch riskanter Einzelprojekte und der globalen Verantwortungspf/icht fur die Okosphiire (jedenfalls als Zukunftsraum der Menschheit) ergibt sich schlieBlich eine besondere Vorsorgepf/icht fUr die okologische Vertraglichkeit von Technologie, die sich dialogmethodisch als Regulativ (V-Zmcth) fassen laBt:

Verhaltet euch in dem MaBe methodisch-skeptisch gegeniiber 6kologisch riskanten Entwicklun­gen/Projekten, als diese zu irreversiblen Schiidigungen der Lebensbedingungen, zu irreversiblen Schiidigungen von Natur (als Inbegriff der 6kologischen Lebensbedingungen kiinftiger Genera­tionen) und/oder zu irreversiblen Schiidigungen der Anniiherungsbedingungen an dialogische Diskursverhiiltnisse fiihren k6nnen. Priift solche Entwicklungen/Projekte nach der Beweislast­regel >in dubio contra projectum<.

3 Okologische Verantwortung bei Prognosedefizit: Hans Jonas' Regulativ

Die Bemiihung urn Bewahrung und Verbesserung der 6kologischen Menschheitsbedingungen scheint eine heikle Wissensvoraussetzung zu haben; namlich die Voraussetzung, sich ein solches 6kologisches Wissen zu beschaf­fen, das zur Folgenbeurteilung der einzelnen High-tech-Projekte ausreicht. 1st das jedoch die unerlaBliche Voraussetzung fUr 6kologische Verantwort­lichkeit? Hans Jonas sagt: Nein.

Offenkundig stoBt die projektbezogene Beschaffung prognostischen Wissens an schmerzliche Grenzen, weil sich jede Technologie etc. in kom­plexen sozi06kologischen Gesamtsituationen auswirken wiirde. Vor allem deren Kumulativwirkungen in offenen, lebendigen und sich geschichtlich wandelnden "Systemen", 6kologische Fernwirkungen zumal, entziehen sich der exakten bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System m6glich ist. Die Kluft zwischen unserem 6kologischen Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte, Praktiken und Lebensgewohnheiten erzeugt "ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird ... die Kehrseite der Pllicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik" (Jonas 1979, S 28).

Aus diesem Grund pladiert Hans Jonas fUr eine "Heuristik der Furcht", fUr "eine Furcht geistiger Art", die uns fahig machen soli, das nichter­fahrbare "Unheil kommender Geschlechter" vorauszudenken und uns davon

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betreffen zu lassen (Jonas 1979, S 64f.). Daraus hat er fur unsere offentlichen Dialoge uber das, was zu tun sei, und damit fur unsere Forschungsplanung, fUr wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie fUr politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, "der Unheilsprophezeiung mehr Gehor zu geben ... als der Heilsprophezeiung" (Jonas 1979, S 70), also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der guten einzuraumen.

Diese Forderung laBt sich im Sinne von V-Zmcth als Dialogregel rekon­struieren, die den BefUrwortern eines Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast fur deren Unschadlichkeit und Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum (et contra quaestum) wurde das Kriterium fur unsere offentlichen Diskurse lauten mussen (ausgefuhrt in Bohler 1995a). Genaugenommen ware es das Kriterium fUr die Anerkennungswurdigkeit der dort verhandelten Vorschlage, aber auch der Diskursresultate selbst; sind sie doch fallibel und daher unter Umstanden revisionsbedurftig. Als Kriterium ist es nur "regulativ" in nachkantisch diskurspragmatischem Sinne: eine Geltungsinstanz, die wir schon anerkannt haben durch den Anspruch auf die Geltung einer Behauptung - etwa der behaupteten Zweckrationalitat einer Technologie (vgl. Bohler 1994a), eines Produkts bzw. einer darauf bezogenen Forderung oder einer dafUr einschlagigen Gesetzgebung.

Ein regulatives Gultigkeitskriterium ist kein fixer MaBstab, den wir einfach "anlegen" und als direktes Entscheidungskriterium einsetzen konnten; wohl aber taugt es als Legitimationskriterium im Diskurs. Seine Anwendung ware durch zweckmaBige Vorschriften offentlicher Verfahren sicherzustellen, die auch gewahrleisten, daB ein Projekt keinesfalls durch einen ungepruften Verdacht zu Fall gebracht werden kann.

4 Vorschlage zur Institutionalisierung der Zukunftsverantwortung

Es geht urn Verfahrensrationalitat in der hochtechnologischen Gefahren­zivilisation, nicht etwa urn Willkurherrschaft eines technologiefeindlichen Kassandrismus. Demzufolge kann "in dubio contra projectum" die for­schungs-, wirtschafts- und okologiepolitischen Entscheidungen, gegebenen­falls auch forschungspolitische Moratoriums- oder Verbotsentscheidungen, nur in dem MaBe orientieren, als es durch Institutionalisierung konkreter Diskurse wirksam wird. In diesem Sinne mache ich dreierlei Vorschlage:

4.1 Diskutierende TechnologiefoJgenabschiitzung

Wenn wir berucksichtigen, daB auch die soziookologische Zukunftsverant­wortung unter Bedingungen gesellschaftlicher Interessenkampfe, unter

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Zeitdruck, unter sachzwangahnlichen Vorgaben und daher zum Teil nur in Entscheidungssituationen wahrgenommen werden kann, wo es kaum mehr urn das Spektrum des verantwortlich Wiinschenswerten, sondern primar darum geht, ob eine bestimmte Technologie mehr Chancen oder mehr Gefahren enthalt, dann kann Technologiefolgenabschatzung nur den Status eines Interessenkompromisses und den Sinn einer instrumentellen Geset­zesvorbereitung haben. Diese Aufgabe konnte eine stiindige parlamentarische Kommission zur Technikfolgenabschiitzung iibernehmen. SolI sie in diesem eingeschrankten Rahmen moglichst rational verfahren, so muB sie als demokratische Diskussion der relevanten Gruppen organisiert und durch eine Mehrheitsempfehlung mit der Moglichkeit von Minderheitsvoten abgeschlossen werden.

In einer solchen Diskussion diirfte es vielfach zugehen wie bei harten vorteilsorientierten Verhandlungen zwischen gegensatzlichen Interessenver­tretern (Bohler u. Katsakoulis 1994, S 819ff.), wobei FairneB, Information und Partizipation durch Verfahrensregeln moglichst zu sichern waren. Dariiber hinaus kame es darauf an, diese Verhandlungen durch einen Rahmen verfassungsrechtlicher Bestimmungen und rechtspolitischer MaBnahmen zu normieren, die sich am Postulat der Zukunftsverantwortung orientieren und seiner Umsetzung wie auch der Annaherung an dialogische Diskursverhaltnisse forderlich sind.

4.2 Verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Rahmen

1. Zwar sieht es nach dem Versagen der Verfassungskommission des Deutschen Bundestages so aus, daB es im Grundgesetz lediglich ein Staatsziel zum Umweltschutz geben wird. Aber was bedeutet das schon? Umweltrechtliche Prozesse konnten nur mit einem Grundrecht gewonnen werden, welches den Umweltschutz zur Verfassungsnorm erhebt. Es ist schon fast vergessen, daB sich Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher im Wahlkampf 1972 auf ein solches Grundrecht festgelegt hatten.

2. Dringend erforderlich erscheint zudem, was 1990 der "Runde Tisch Neue Verfassung der DDR" und 1991 das "Kuratorium fUr eine de mokra­tische Verfassung im Bund deutscher Lander" postuliert haben: Die grundgesetzliche Erganzung des Rechtes auf Wissenschaftsfreiheit durch eine Klausel zur Sicherung der Zukunftsverantwortung. Der Vorschlag des "Runden Tisches" liefe, auf das Grundgesetz iibertragen, darauf hinaus, Artikel 5 Abs. III mit dem Zusatz zu versehen: "Durch Gesetz kann die Zulassigkeit von Mitteln oder Methoden der Forschung beschrankt werden. Es kann Informationspfticht in bezug auf besonders risikobehaftete For­schungen vorsehen" (Frankfurter Rundschau 1990). Der Entwurf des Biirger­kuratoriums pladiert dafUr, folgenden Absatz hinzuzufUgen: "Forschungen, die mit besonderen Risiken verbunden sind, sind offentlich anzuzeigen. Sie unterliegen gesetzlichen Beschrankungen, wenn sie geeignet sind, die

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Menschenwiirde zu verletzen oder die natiirlichen Lebensgrundlagen zu zerstoren" (Kuratorium fUr eine demokratische Verfassung im Bund deut­scher Linder 1991, S 73).

3. Bei allen Genehmigungsverfahren ist strikt auf Offentlichkeitsbetei­ligung zu achten; denn nur dadurch wird die Information der Offentlichkeit gewahrleistet. Andernfalls sind die Kritiker genotigt, selbst die offentliche Informationsarbeit zu leisten. Dazu sind sie vielfach weder hinlanglich vermogend und potent noch reich genug an Zeit; auBerdem ist solche Informationsarbeit Sache der res publica und darf daher nicht als Privatan­gelegenheit angesehen werden.

DemgemaB ist der in der Novellierung des Gentechnikgesetzes (GID 1993b, S 6ff.) vorgesehene Verzicht auf offentliche Genehmigungs- bzw. Anhorungsverfahren vor der Freisetzung gentechnisch manipulierter Organismen ein nicht zu rechtfertigender Ruckschritt. Er sollte unbedingt revidiert werden, auch aus Grunden der okologischen bzw. biologischen Sicherheit. Jiingstes Beispiel dafur war die Anhorung zu dem von der TU Miinchen mit Hilfe der Hoechst AG geplanten Freisetzungsversuch von herbizidresistenten Raps- und Maispflanzen (vgl. GID 1993b, S 9f.).

4. Auf Regierungsebene scheint notig zu sein, was der Staatsrechtler Hans-Peter Schneider vorgeschlagen hat, namlich ein "verfassungsrechtlich abzusicherndes Veto-Recht des Umweltministers bei allen naturbelastenden Vorhaben (analog dem Zustimmungsrecht des Finanzministers nach Art. 112 GG)" (vgl. Schneider 1990, S 144). Erhebliche Verantwortungs- und Rationalitatsfortschritte waren m.E. auch gewahrleistet, wenn zwei weitere Vorschlage Schneiders aufgegriffen wurden:

5. Das nation ale Schadensersatzrecht sei in der Weise umzugestalten, "daB bei Foigeschaden, die aus der Nutzung bestimmter riskanter Tech­nologien resultieren, eine Beweislastumkehr stattfindet, d.h. daB der jeweilige Hersteller oder NutznieBer einen Unschadlichkeitsnachweis fUhren und ansonsten das Gegenteil sowie die Kausalitat des Schadens vermutet werden" (vgl. Schneider 1990, S 142).

6. Bei Gerichten und Staatsanwaltschaften sollten fUr Technik- und Umweltfragen sachkundige Entscheidungseinheiten wie Umweltkammern, -senate oder -dezernate geschaffen werden.

7. So dringlich wie wirksam diirfte der Vorschlag sein, "das Steuersystem von Grund auf zu andern und eine 'Umweltsteuer' einzufUhren mit den Steuertatbestanden

- Energienutzung, - Verbrauch von Wasser und Abwasser und - Abfallvolumen.

Aus diesem Tatbestand ist jedoch nur der jeweilige 'Hebesatz' zu entnehmen. Ansonsten ist diese 'Umweltsteuer' nicht als Verbrauchssteuer, sondern als direkte Steuer auszugestalten und ahnlich wie die Einkommen- und Korperschaftssteuer (die entsprechend ermaBigt werden muBten, deren

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bisher aber weitgehend brachliegendes Steuerungspotential man sich hier mindestens teilweise zunutze machen konnte), allen Haushalten und Betrie­ben nach einem progressiv gestaffelten Tarif aufzuerlegen" (vgl. Schneider 1990, S 143)

4.3 Diskursiver Zukunftsrat

Eine starke Annaherung an dialogformige Diskurse, in denen nichts zahlen wiirde als die Kraft des Argumentes und die argumentative Beriicksichtigung der Anspriiche moglicher Betroffener sowie der Wertvermutungen zugunsten gefahrdeter Natur, verlangt eine Entlastung von Entscheidungsdruck und Entscheidungszwang wie auch eine Uberwindung der strategischen Ver­handlungskampfe zum Zweck ernsthafter dialogischer Kooperation. Das ist nicht moglich bei der iiblichen Technologiefolgenabschatzung, die von "sachzwang" - und technikinduzierten Fragestellungen ausgeht und demgemaB einer instrumentellen Politikberatung bzw. Gesetzesvorbereitung dient. Wohl aber ware es moglich und erfolgversprechend bei der Klarung langfristiger konzeptioneller Fragen; diskursive MuBe und Freiheit, dialogische Achtung und Verfahrensweise, Aufsuchen und Diskutieren von Alternativen sind hier Erfolgsbedingungen.

Denkbar ware in diesem Sinne ein diskursiv verfahrender Zukunftsrat mit dem Auf trag der Zukunftsverantwortung, in dem Industrievertreter und Umweltverbande, natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Sachverstand ebenso wie ethische Kompetenz vertreten sein sollten. Es wiirde sich urn ein Diskursgremium im Gegensatz zum Verhandlungs- und Debattenparlament der Parteien handeln. Hier ware zumal in Alternativen zu diskutieren, urn nach MaBgabe der allgemeinen Diskurs- und Verantwortungsprinzipien (D und V, besonders V-Z) Entwurfe wunschenswerter und verantwortbarer Zukunft, also auch gerechtfertigte Utopien, auszuarbeiten.

Sinnvoll ware es, einem soJchen Diskursgremium auch ein Vetorecht mit aufschiebender Wirkung gegeniiber dem Gesetzgebungsparlament zu geben, namlich gegeniiber allen Gesetzgebungsvorhaben, die von einer qualifizierten Minderheit des Zukunftsrates als in hohem MaBe okologisch gefahrlich oder aus anderen Griinden als unvereinbar mit dem Prinzip der Zukunftsverant­wortung angesehen werden. In soJchem Faile ware ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren zu unterbrechen und die Sache an deu Zukunftsrat zu verweisen.

Einen behutsameren Vorschlag hat der ehemalige Bundesprasident Richard von Weizsacker ins Spiel gebracht:

"Oft gibt es schwierige klarungsbediirftige Fragen, fUr die man in GroBbritannien die Institution der 'Royal Commissions' gefunden hat. Diese werden iibrigens anders als der Name es vermuten laBt, nicht von der K6nigin, sondern von der Regierung eingesetzt. Aber das k6nnte man in einer Republik einmal etwas besser machen, mit 'presidential commissions'. Das Staatsoberhaupt ware nicht dazu da, die Kommissionsarbeit zu len ken oder auf ihre Ergebnisse

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248 D. Bohler: Ethik fiir die Zukunft erfordert Institutionalisierung von Diskurs

EinfluB zu nehmen. Auch konnte eine solehe Kommission selbstverstandlich nicht die Befugnisse von Parlament und Regierung ersetzen. Aber uns fehlt ganz deutlich die Praxis soleher Einrichtungen. Sie konnten langfristig bedeutungsvolle Themen sachverstandig aufbereiten und Empfehlung geben (vgl. Hofmann u. Perger 1992, S 163).

Seit dem 18. lahrhundert ist der bedrohliche, die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft gefiihrdende Leviathan einer absolutistischen Staatsmacht durch die Teilung der staatlichen Gewalt geziihmt worden. Heute, im Ubergang zum 21. lahrhundert, kommt es wohl darauf an, den Leviathan der hoch­technologischen Zivilisation, die Macht der Risikoforschung und Risiko­technologie, offentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Diese Aufgabe stellt sich freilich zunehmend auf europiiischer Ebene, letztlich auch auf der der Vereinten Nationen.

Literatur

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Sachverzeichnis

Abfall 78, 88f., 90, 98, 111, 122,246 Abfallrecht 87f., 93, 97ff. Abfallvermeidung 88, 91ff., 137 Abgaben 91, 144f. Abholzung 26 Absorptionspektroskopie 49 Aerosol 36ff., 52ff. Agrarpolitik 235 Akkumulation 123 Akteure 81,127, 151ff., 160, 170, 172,

177f., 231 Albedo 20ff., 49 Altlasten 6,89, 97ff., 100, 102, 104, III Altlastenrecht 97ff. Altlastensanierung 99ff., 106, 114ff. Amazonien 183, 192 Antarktis 35 Apartheid, globale 170f. Arbeitspsychologie 213 Artensterben 209 Atmosphare 12ff., 32, 47, 51f., 174, 181 Autopoiesis 191

Bauschutt 78, 80 Berlin 61ff., 66 Berliner Phanomen 41 Betreibermodelle 149 BewuBtsein,okologisches 199,218,221,223 Biomasse 21,74,143, 170 Bioreservate 184, 194 Biosphare 47,210 Biozonose 74f. Boden 24, 97ff., 121, 190 Bodenbelastung 101, 104, 108, 113f. Bodensanierung 97ff., 105ff., 113ff. Bodenschutzrecht 97ff. BodenwarmefluB 21 Bowen-Yerhaltnis 22 Brasilien 183, 186, 188f.

Chlor 35, 39ff., 43 Chlorophyllabsorption 49

Danemark 131, 141ff. Denkstrukturen 207,210,217 Deponien 98, 107, 111 Deutschland 125f., 134, 141, 183 Dezentralisierung 83 Dialog 129,134,241,244 Differenzpflege 209f. Diskurs 206,209, 218f., 239, 241, 244, 247 Dissipative Yerluste 124 Druckgradient 18f.

ecological scale 174f. economic scale 174 Effizienzrevolution 125, 127 Einstellungsforschung 200 Eiszeiten 13 Emission 49, 67f., 92,122,180 End-of-pipe treatment 139,157,217 Energie 75, 78, 121, 123f., 167f., 189,201 Energieagentur 141, 143, 148 Energiebilanzen 22,94, 192 Energiedienstleistung 149 Energieeffizienz 148, 169 Energiehaushalt 20 Energiepolitik 138, 145, 149 Energiequellen, erneuerbare 139f., 148 Energiequellen, umweltvertragliche 143 Energiesteuer 144f. Energietrager, erneuerbare 138,141 Energietrager, fossile 121, 123f., 138ff.,

167f., 142ff., 189 Energieumwandlung 167ff.,178 Energieverbrauch 76,83,126,140,141,146,

201 ENSO-Phanomen 18 Entmaterialisierung l26f., 133f. Entropie 174 Entwicklungslander Y, 46,140 Erdbevolkerung 61 Erdoberflache 48f., 51, 55, 59, 62, 64 Erosion 26

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250

Ethik 4, 7f., 156, 160, 186, 189,207,215, 239f.

Europiiische Gemeinschaften (Europiiische Union) 131, 140, 144

Externalisierung 171

FCKW 34,39,46, 129f., 172,200, 207f. Fernerkundung 5,23, 47f., 51, 53f., 59 Fernwiirme 141f. Fliichennutzung 23,54, 76f., 97,102,119,

123, 184, 186, 194

Gefahrenabwehr 90f., 98, l00ff., 110, 228f.

Gefahrerforschung 98, 101ff. Gefahrstoffrecht 90 Gentechnologie 207, 209 Geoinformationssysteme 55 Getrennthaltungsgebot 88 Global Environment Facility 172 Globaler Wandel 11 Ground-truth-Verfahren 55 Grundstoffindustrien 131, 133 Grundwasserspiegel 26

Hadley-Zelle 12 Halone 34, 39, 46 Handeln unter Unsicherheit 1, 8, 209f.,

225f. Handlungsspielriiume 187,200,218,226,

232f. Hautkrebs 39 Herbizide 240f. High- und Low-cost-Verhalten 201ff. Holismus 186 Hydroelektrizitiit 189 Hydrosphiire 47

Immission 61,66 ff. Immissionsschutz 85,87, 90ff. in dubio contra humanitate 244 in dubio contra projectum 244 Indikatoren 119ff., 123 Industrie 63, 166ff. Industriegesellschaft 174, 227, 239 Infrarotstrahlung 20 Infrastruktur 168, 187 Innovation 92, 94, 135, 208, 233 Input-Output-Analysen 133 Institutionen 206, 239f., 244 Instrumente 91, 93f., 130, 138, 141, 144f.,

171,175,184,187,198,202 Internalisierung 154,175,237

Sachverzeichnis

Intervention, prospektive 130 intra-firm trade 175

Japan 125f.,130

Katastrophendiskurs 209,229 KaufverhaIten 131, 158, 201f. Kausalitiitsnachweis 4 Klimaforschung 2,12, 14ff., 28, 47,137,149 Klimaschutzpolitik 7,137,145 Kohlendioxid (C02) 7, 14f., 22, 35,137,

144, 147, 170, 172, 175, 181 Kohlenwasserstoffe 66, 69 KOHONEN-Netz 59 Kommission der Europiiischen

Gemeinschaften 140, 183, 187f. Konsensfiihigkeit 233 Kontingenzerh6hung 226, 228, 235 Kontrollvorstellungen 214ff., 218, 221, 226 Kraft-Wiirme-Kopplung 142 Kreislaufwirtschaft 92,219,221 Kryosphiire 18 Kulturlandschaft 76f.

Lachgas 35 Landoberftiiche 22f. LANDSAT 23 Landschaft, anthropogene 76 Landschafts6kologie 75 Landwirtschaft 26f., 235 Langzeitrisiken, 6kologische 3,48, 127 Leasing 94 Londoner Abkommen 33

major warming 41,43 Marketing, 6kologisches 157 Materialproduktivitiit 126f. medialer Ansatz 97 Mesosphiire 32 Methan 35 Mikrowellenstrahlung 51 Moderne 226,228,230 Modernisierung 135, 166 Montrealer Protokoll 45 Moralvorstellungen 214f., 218, 221, 223,

239 Motivlagen 202, 210 Multidisziplinaritiit 1, 3

Naturschutz 77, 184, 186, 190, 194 Naturwissenschaften 3, 5, 47, 74, 85ff., 114,

184, 187, 192,247 Neuronale Netze 57,59

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Sachverzeichnis

Nicht-Regierungsorganisationen 81, 177, 1S0f., 232, 247

Niederschliige 25ff., 64, 66 Normierter Differenz-Vegetationsindex 55

Oko-Audit 95 Oko-Bilanzen 133 Oko-Controlling 157, 162 Okologischer Marshall-Plan VI Okologischer Rucksack 125 Okosystem 6, 73ff., 78, 166, 172, 174, 186,

189ff. Osterreich 125f. Ozeanstriimungen 13, 16 Ozon 32,35,36,73 Ozonabbau 5, 13,31,33,35, 37ff., 43, 45,

145,207,209 Ozonsmog 69

Partizipation 245 Photolyse 31f.,39 Polarwirbel 39ff. Priivention 97 Prinzip Verantwortung 223,239f. Produktivitiitssteigerung 131, 167 Produktlebensdauer 126, 133 Produktverantwortung 88 Professorenentwurf 97, 100 Prognostik If., 48, 209

Querschnittspolitik 237

Recycling 74ff., 83, 88, 90, 94, 124, 126 Regenwald 7,183,186, 188f., 192,209 RekultivierungsmaBnahmen 100ff. Ressourcennutzung 89, 91f., 127, 131,

169ff., 174, 178, 180, 190, 194 Ressourcenpolitik 6, 119 Revolution, prometheische 167 Risiken 8,204, 227f., 229, 230f. Risikodiskurse 229,234,240 Risikogesellschaft 8, 226ff., 234ft. Risikomanagement 8,225,229, 234ff., 237,

240 Rohstoffsektor 123, 168f. Riicknahmepflicht 92f.

Schweden 127, 130 Schwefeldioxid (S02) 66ff. Schwermetalle 76 Semiaride Gebiete 23,29 Senken 171 Sicherheit 225ff.

251

Smog 43,6Sf. Sonnenfleckenzyklus 36 Sonnenreflexionsspektrum 53 Sozialwissenschaften S5, 170, 184, 187, 189,

192,210,213 Spektrometer 51, 54f., 57 Staatsversagen 129 Stadt 61,73, 76f., 194,204 Stadtgerechte Industrien 134 Stadtklima 6, 6 Iff. , 77 Stadtumwelt 6, 73, 76f. Steuerreform, iikologische 131, 144f., 246 Steuerungssysteme 91,93,119,129,131,

135,171,201,229 Stickoxide 66, 69 Stoffbilanzen 78,95, 124 Stoffkreislauf 6, 13,22, 74, 76, 78, 85, 87,

119,124,127 Stoffpolitik 88ff., 90ff., 129, 13S, 140, 157 Strahlung 12, 48f., 53 Strategie 129,233 Stratosphiire 15, 31ff., 35ff., 39, 41ff. Strukturpolitik, iikologische 133 Sustainable Development 82, 119ff., 129,

142, 152, 154, 166, 174, 177, 183,227

Technik 8, 157, 168,207,210, 225ff., 230f., 236

Techniksteuerung 208, 230f., 234, 240, 244, 247

Treibhauseffekt V, 11f., 19,28,137,145, 209

Treibhausgase 28, 3 Iff. , 137 Trinkwasser 27f. Tropen 12f., 18,35,38 Tropopause 15 Troposphiire 14f., 43

Umorientierung, iikologische 151, 161 Umwelt als komplexes System 1,3 Umweltbeohachtung, globale 2f. UmweltbewuBtsein 7f., 197ff., 216, 218 Umweltforschung 1,2,4,85,207,239 Umweltgesetzbuch (UGB) 97,100ff. Umwelthaftung 99f., 1 !Of., 112, 114 Umweltkommunikation 209f. Umweltiikonomische Gesamtrechnung 121,

123, 133 Umweltpolitik 4,8, 124f., 126, 129f., 131,

149, 172, ISO, 192 Umweltpolitische Steuerungsmechanismen

91,93,119,131,135,171,201,229,242 Umweltregime, globale 170ff., 177, 180

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252

Umweltsteuer 94, 175, 191 Umweltveranderungen V, 1,5,73,97,120 U mweltverhalten 8, 197ff. Umweltwissen I 97ff. UNCED 138, 172 USA 140,149, 167,208 UV-Strahlung 32,38,43,69

Vegetation 22f., 26, 49, 59, 75, 80 Verantwortung 210, 213ff., 218, 221,

239,242ff. Verdunstung 25f. Verhalten, umweltgercchtes 200ff. Verursacher 99,109, III, 113, 127 Vulkaneruptionen 36, 38

Waldsterben 139,209 Wasser 25ff., 78, 91, 101

Sachverzeichnis

Wasserkreislauf I1ff., 16, 18ff., 22f. ,25ff. Wasserreserven 11, 26 Weltbank 183, 187f. Weltordnung 7, 165ff., 168, 172, 181, 236 Wettbewerbsfahigkeit 93, 169 Wirtschaftswachstum I 23ff. , 129f., 134, 183 Wohlstandsmodell 135, 168 Wiistenbildung 12, 26

Zonierung 184ff., 194 Zukunftsrat 247