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»Und voll mit wilden Rosen« 33 Gedichte mit Interpretationen von Friedrich Hölderlin, Marcel Reich-Ranicki 1. Auflage »Und voll mit wilden Rosen« – Hölderlin / Reich-Ranicki schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Literaturkritik: Hermeneutik und Interpretation Insel 2009 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 458 17442 4

»Und voll mit wilden Rosen« - beck-shop.de · Ludwig Harig 81 Des Morgens Se b astian Kleinschmidt 85 An die Deutschen P eter von Matt 89 H eidelberg Ulla Hahn ... Renate Schostack

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»Und voll mit wilden Rosen«

33 Gedichte mit Interpretationen

vonFriedrich Hölderlin, Marcel Reich-Ranicki

1. Auflage

»Und voll mit wilden Rosen« – Hölderlin / Reich-Ranicki

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Thematische Gliederung:

Literaturkritik: Hermeneutik und Interpretation

Insel 2009

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 458 17442 4

Leseprobe

Hölderlin, Friedrich

»Und voll mit wilden Rosen«

33 Gedichte mit Interpretationen

Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Mit einem Vorwort von Peter von

Matt

© Insel Verlag

978-3-458-17442-4

Insel Verlag

Friedrich Hölderlin»Und voll mit wilden Rosen«

33 Gedichte mit InterpretationenHerausgegeben von Marcel Reich-Ranicki

Mit einem Vorwort von Peter von MattInsel Verlag

Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz & Druck: Memminger MedienCentrum AG

Printed in GermanyISBN 978-3-458-17442-4

1 2 3 4 5 6 – 14 13 12 11 10 09

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inhalt

9 Vorwort

17 Die EichbäumeUlla Hahn

21 An DiotimaPeter von Matt

25 An die ParzenMarcel Reich-Ranicki

29 AbbitteGerhard Schulz

33 Die KürzeWolfgang Schneider

37 MenschenbeifallKlaus Siblewski

41 Die HeimatRüdiger Görner

45 An die jungen DichterWulf Segebrecht

51 Sokrates und AlkibiadesWalter Hinderer

55 Hyperions SchicksalsliedRuth Klüger

6 Inhalt

59 Da ich ein Knabe warEckart Kleßmann

65 Der Tod für’s VaterlandWolf Biermann

71 Der ZeitgeistWerner Ross

75 AbendphantasieLudwig Harig

81 Des MorgensSebastian Kleinschmidt

85 An die DeutschenPeter von Matt

89 HeidelbergUlla Hahn

95 LebenslaufElisabeth Borchers

99 Der Gang aufs LandJochen Hieber

105 Natur und Kunst oder Saturn und JupiterDieter Borchmeyer

111 An die HoffnungSabine Doering

117 GanymedSamuel Bächli

123 Hälfte des LebensErnst Jandl

7Inhalt

127 LebensalterHans Maier

131 Der Winkel von HahrdtPeter Härtling

135 Wie Meeresküsten . . .Ludwig Harig

139 HeimatMarleen Stoessel

145 Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossenHans Christoph Buch

149 An ZimmernCyrus Atabay

153 Wenn aus dem Himmel . . .Friedrich Wilhelm Korff

159 Der SommerUlrich Greiner

163 Der FrühlingWalter Jens

167 Der SpaziergangRenate Schostack

171 Bibliographische Notiz172 Verzeichnis der Interpreten179 Alphabetisches Verzeichnis

der Gedichtüberschriften und -anfänge

9

vorwort

Wenn man einmal wisse, meinte Lichtenberg, daß einerblind sei, sehe man es ihm auch von hinten an. Der Satzbetrifft nicht nur unseren Umgang mit menschlichen Ge-brechen. Er betrifft auch unser Verhalten zu den großenDichtern. Wenn man einmal weiß, daß einer früh sterbenmußte, liest man diese Nachricht schon aus den jugendlichunbekümmerten Werken heraus. Und wenn man weiß, daßeiner sehr alt wurde, kann er sich als junger Mann noch sotraurig geben, wir finden alles halb so schlimm.Den Selbstmörder Kleist wittern wir bereits in der »Fami-lie Schroffenstein«, den seelisch zerstörten Hölderlin sogarin der überwältigenden Pracht der Hymne »Der Archipe-lagus«. Als hätte alles kommen müssen, wie es kam! Hätteder unaufhaltsame Napoleon Preußen nicht so jämmerlichin den Staub geworfen, was hätte der rasende Patriot Kleistsich umbringen sollen? Dann wäre ihm auf Erden sehr wohlzu helfen gewesen. Und wenn Hölderlins »Archipelagus«schon um 1801 die gewaltige Zustimmung gefunden hätte,die ihm hundert Jahre später zuteil wurde, wenn der Dich-ter nicht allein schon auf den Druck dieses Gesangs in ei-ner Zeitschrift jahrelang hätte warten müssen, wer weiß, obihm die Verfinsterung nicht erspart geblieben wäre. Unaus-weichlich erscheint jedes Schicksal erst im nachhinein, undwir erklären es nur deshalb so gern für zwingend, weil da-durch die Unerträglichkeit des sinnlosen Zufalls auch imeigenen Leben etwas verdeckt wird.Hölderlin: das ist nicht nur Klage, Schwermut und lauern-

10 Vorwort

de Verzweiflung. Hölderlin: das ist auch Glück, Erfüllung,ist die hingerissene Erfahrung einer vollkommenen Welt.Hölderlin: das sind Verse und Strophen, bei denen sich un-sere Brust zu weiten scheint, die Beklemmungen fallen ab,als umströmten uns leichte Lüfte, und ein Licht ist da, wieman es sonst nur in den Bergen sieht oder am Meer. Allesist im Lot, alles ist richtig und gerecht. Als wäre man mitjedem Baum befreundet, vertraut mit jedem grünen Hügelund mit dem ziehenden Fluß. Als wäre man zu Hause undfür immer. Wie kann ihn die Freude erfüllen, wenn er dar-an denkt, daß es das Inselmeer der Griechen immer nochgibt, tatsächlich, nicht als Traum und Vision, sondern glei-ßend hingestreckt wie in den ältesten Zeiten, immer jungund gegenwärtig. Und aus dem vollen Glück dieses Wis-sens heraus spricht er es an, in breiten, leuchtenden Versen:

Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinenUfern wieder die Schiffe den Lauf? umatmen erwünschteLüfte dir die beruhigte Flut, und sonnet der Delphin,Aus der Tiefe gelockt, am neuen Lichte den Rücken?Blüht Ionien? ists die Zeit? denn immer im Frühling,Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die ersteLiebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten

Erinnrung,Komm’ ich zu dir und grüß’ in deiner Stille dich, Alter!

Dieser Alte, der so herzlich angesprochen wird, ist der Ar-chipelagus, das Griechenmeer. Der Zuruf des letzten Ver-ses bezeugt Hölderlins Behaustsein in der großen Natur,bezeugt das Glück solcher Stunden. Daß wir es nachvoll-ziehen können, ist die Leistung der Literatur. Ihr verdan-ken wir ja die Teilhabe an den Gefühlen der Menschheit

11Vorwort

seit Jahrtausenden. Auch wenn uns die Natur heute nichtmehr das Unzerstörbare und Ewige schlechthin ist, wirdsie es uns wieder im Klang von Hölderlins Versen, im Auf-strahlen seiner Bilder.Wer Hölderlin nur tragisch sieht, verpaßt ihn ganz. DieFinsternis, in der sein Leben endete, ist nicht zu verstehenohne die Ekstasen des Lichts, die er erlebt und gefeiert hat.Die Klagen, die uns ins Herz schneiden, begreift man nurdann richtig, wenn man auch sein Lob der Welt im Ohrhat, das Rühmen und Preisen ihrer Schönheit, ihrer wir-kenden Gewalt, ihrer möglichen Neugeburt.Es ist die weltgeschichtliche Hoffnung, die in der Mittevon Hölderlins Werk pocht wie ein Herz. Die Umgestal-tung aller menschlichen Verhältnisse war die vitale Erwar-tung seiner Generation. Schiller, der schwäbische Lands-mann, hatte sie formuliert. Der siebzehnjährige Hölderlinlas die schmetternden Parolen im »Don Carlos«, der 1787,elf Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklä-rung und zwei Jahre vor der Französischen Revolution, er-schien. Ein unerhörter Frühling wollte ausbrechen. »Undneu erschaffen wird die Erde«, ruft Marquis Posa aus, DonCarlos’ Freund, der den spanischen Kronprinzen zum Ge-burtshelfer des kommenden Paradieses machen will.Alles schien möglich. Nach dem Erfolg in Amerika würdeEuropa nachziehen, und bevor Hölderlin zwanzig war,geschah es tatsächlich in Paris. Die Bastille, das Symbol derUnterdrückung, wurde gestürmt. Die Idee der Republiksetzte sich durch. Alle sollen König sein, lautete der Wahl-spruch. Das seltsame Paradox scheint die Generation umHölderlin berauscht zu haben. »Werden Sie von MillionenKönigen ein König«, fordert Marquis Posa den spanischenHerrscher auf, ohne genauer zu erklären, warum denn,

12 Vorwort

wenn der König zum Bürger wird, alle Bürger auch schonKönige sein sollen.Hölderlin wird den Ruf aufgreifen. In dem herrlichen Ge-dicht »Die Eichbäume« erscheint die Gemeinschaft derBaumriesen als Verkörperung der republikanischen Visi-on. Nicht nur lauter Könige sind sie, sondern, wörtlich,»jeder ein Gott«:

Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des HimmelsLebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.

Der freie Bund bezeugt die politische Pointe des Gedichts.Der Vergleich dieser Vereinigung selbstbestimmter Wesenmit den Sternbildern am Himmel unterstreicht die unter-schwellige Botschaft, daß die neue Ordnung auf der Erdedem Willen der ganzen Natur entspricht. Gewitter, Erdbe-ben, vulkanische Eruptionen, gefrorene Flüsse, die ihrenPanzer brechen, sind bei Hölderlin nicht einfach Meta-phern für die Neugestaltung der Welt, nicht rhetorischeDekoration, sondern Aussagen über die reale Naturver-flochtenheit der menschlichen Dinge.Das mutet merkwürdig an, fremd. Politik so zu sehen mageinem heute wohl abstrus vorkommen. Wir können aberHölderlin nicht begreifen und erleben, ohne eine Ahnungzu haben davon, was ihm die Natur war. Alle Eigenschaf-ten des alten Vatergottes, der als Richter und Lenker au-ßerhalb der Welt gethront hatte, waren für Hölderlin undseine Generation in die Natur gefahren. Sie war nun dasobjektiv Göttliche, und außer ihr gab es kein solches. Des-halb erschienen ihm die Kräfte der Natur zunehmend alstatsächliche Götter. Die Sonne war ein Teil des All-Einen;wie konnte er das anders sagen, als indem er zurückgriff

13Vorwort

auf Helios, den Sonnengott der Griechen. Mit den antikenGötternamen gab er der namenlosen Transzendenz, diedem Naturganzen innewohnte, ein Gesicht, viele Gesichter,wie sich die geistdurchwirkte Natur dem Menschen ja auchin vielen Formen eröffnete.Der Aether, der allumfassende, war der Vater, war Zeus, wiedie Sonne Apollon sein konnte, ein göttlicher Jüngling, unddas tobende Meer der auftauchende Poseidon. Diese Na-men zu nennen, war das Amt des Dichters. Er verglich diemächtigen Elemente nicht einfach mit den griechischenGöttern, er sprach sie an als wahrhaftig göttliche Gewalten,und das konnte er nicht anders als mit diesen alten, in derglücklichsten Zeit der Menschheit entstandenen Namen.Hölderlin haßte die Dichter, welche die Götter als Bil-dungszitate in ihre Strophen einfügten, als musealen Plun-der und Gipsfiguren. Grimmig hob er gegen »die schein-heiligen Dichter« an:

Ihr kalten Heuchler, sprecht von den Göttern nicht!Ihr habt Verstand! ihr glaubt nicht an Helios,

Noch an den Donnerer und Meergott;Tot ist die Erde, wer mag ihr danken? –

»Tot ist die Erde« heißt hier: Für euch, die Heuchler, ist so-gar die Erde tot, die göttliche Mutter. Deshalb könnt ihrnicht wissen, wie man ihr begegnen muß, und denkt nichtdaran, ihr zu danken. Eine Art Gegenstrophe zu diesenstrafenden Versen steht im Gedicht »Der Wanderer«. Hierspricht Hölderlin seinen Glauben einfach und genau aus:

Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken,Vater des Vaterlands! mächtiger Aether! und du

14 Vorwort

Erd und Licht! ihr einigen drei, die walten und lieben,Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie.

Wer Hölderlin nur tragisch sieht, dem bleibt verschlossen,wie heftig, wie überwältigend er die gegenwärtige Naturerfuhr. Wie stark das Glück dieser Götterbegegnung war.Gewiß, dem Maßlosen solcher Erfahrungen entspricht dasMaßlose der Verfinsterung, der er vom dreiunddreißigstenLebensjahr an zunehmend ausgeliefert war. Aber eines stehtda gegen das andere, und keines hebt das andere auf. Ge-nau so steht in seinem berühmtesten Gedicht, »Hälfte desLebens«, die erlöste Welt der erstorbenen gegenüber:

Mit gelben Birnen hängetUnd voll mit wilden RosenDas Land in den See,Ihr holden Schwäne,Und trunken von Küssen,Tunkt ihr das HauptIns heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wennEs Winter ist, die Blumen, und woDen Sonnenschein,Und Schatten der Erde?Die Mauern stehnSprachlos und kalt, im WindeKlirren die Fahnen.

Man darf nicht übersehen, daß die erste Strophe Gegen-wart ist, keine verlorene Vergangenheit, keine erhoffte Zu-kunft, sondern ein Jetzt und Hier. Hölderlin hat die Erde

15Vorwort

als Ort schuldloser Vollkommenheit erlebt. Von der unge-heuren Freude, die ihn dabei erfüllte, nähren sich noch sei-ne dunkelsten Zeilen. Auch in diesem Fall: Was wäre diezweite Strophe ohne die erste?So auch in der Liebe. Die Trennung von Susette Gontard hatihn gebrochen. Seine seelische Zerrüttung fiel zusammenmit ihrem frühen Tod. Aber die Zeit mit ihr, die zweieinhalbJahre des täglichen Umgangs mit der geliebten Frau, warendas gelebte irdische Glück. Man darf das in der ersten Stro-phe von »Hälfte des Lebens« gespiegelt sehen. Die Liebeund die Götterbegegnung machten ihn sprachfähig. IhrVerlust nahm ihm langsam auch die Rede.Gegen Schluß des Romans »Hyperion« heißt es: »Wie ichjetzt bin, hab ich keinen Namen für die Dinge.« Der Satzist von entsetzlicher Einfachheit. Hölderlins letzte Frag-mente bezeugen den verzweifelten Versuch, sich die Na-men der Dinge zu erhalten. Dabei entstehen Klänge, wie essie vorher noch nie gegeben hat in der deutschen Sprache.Die Orakel der alten Sibyllen mögen so anzuhören gewe-sen sein.Später dann, in den langen Jahren der Zerrüttung, schreibter noch diese leisen, schmerzlich schlichten Gedichte. Siebewegen sich rührend zwischen Sinn und Unsinn. Gerneunterzeichnet er sie mit »Scardanelli«. Er hat jetzt auch kei-nen Namen für sich selber mehr.

Peter von Matt

17

die eichbäume

Aus den Gärten komm’ ich zu euch, ihr Söhne des Berges!Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen

zusammen.Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von TitanenIn der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem

Himmel,Der euch nährt’ und erzog und der Erde, die euch geboren.Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen

gegangen,Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen

Wurzel,Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die WolkenIst euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des HimmelsLebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.Könnt’ ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete

nimmerDiesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd’ ich unter euch

wohnen!

18 Ulla Hahn

ulla hahnder anspruch auf ein selbstbestimmtes,

unbedingtes leben

Geschrieben 1796, Hölderlin hatte die Stelle des Hausleh-rers bei der Frankfurter Bankiersfamilie Gontard angetre-ten, verlockt das Gedicht zu einer biographischen Deu-tung. Im Sommer nähern sich die Franzosen der Stadt,Gontard schickt Frau und Kinder mit Hölderlin und eini-gen Familienmitgliedern nach Kassel und Bad Driburg.Für Susette Gontard ist Hölderlin von Anbeginn der ge-schätzte Dichter des »Hyperion«. Sie verlieben sich. »Nureinen Sommer . . . / lebt ich wie Götter, und mehr bedarfsnicht«, schreibt Hölderlin ein Jahr später »An die Parzen«.Wie »die Sterne des Himmels«, die »Eichbäume«, sind dieLiebenden, jenseits aller gesellschaftlichen Verpflichtun-gen und Rangordnungen, »in freiem Bunde« sich selbstgenug. Anfang Oktober findet die Idylle ihr Ende. Zurückin Frankfurt wird Hölderlin die Ausweglosigkeit seinerLiebe klar, wird ihm seine »Knechtschaft« quälend be-wußt: Personal ist er wie Köchin oder Gärtner. »Immerhab ich die Memme gespielt, um dich zu schonen . . . alswär ich so recht zum Spielball der Menschen und Umstän-de gemacht . . .«, schreibt er Susette später.Doch nicht nur der Hauslehrer erduldete den geselligenUmgang um seiner Liebe willen, auch das Herz des Dich-ters ließ nicht von dieser »Fessel« ans »gesellige Leben«,und erst aus dieser Perspektive gewinnt das Gedicht seineTiefe, wird persönliches Schicksal zur Metapher für die

19Die Eichbäume

prinzipielle Spannung eines Dichters zwischen gesell-schaftlicher Bindung und Freiheit der Berufung.In den ersten drei Zeilen erfährt Hölderlin die Natur imEinklang mit den Menschen. »Aber« – ein Lieblingswortfür sein Denken in Widersprüchen – der Dichter begibtsich aus der Befriedung der Gärten in die Freiheit des Ei-chenwaldes. In diese »Eichbäume« projiziert Hölderlinsein Bild des Dichters, er redet sie nicht nur an, er redet sichin sie hinein; sieht die Dichter als ein »Volk von Titanen«,als Kinder von Himmel und Erde, Geschöpfe aus Mythosund Natur, niemandem verpflichtet als sich selbst.Nach dem kräftigen Bild der Eichbäume – auch die weit-ausschwingenden Hexameter und die reimlosen Verse wir-ken gegenüber den früheren Gedichten wie ein Ausbruchin festliche Freiheit – wechselt der Dichter in der viertletz-ten Zeile in den Konjunktiv, der eine ähnliche Funktion hatwie das »aber« in der vierten Zeile: ein Gegensatz wirdmarkiert. Die den Eichbäumen gewidmeten Zeilen werdenso von den übrigen abgegrenzt, stehen für sich, bilden eineGruppe, einen »freien Bund«, ganz wie die, welche sie be-schreiben: die selbstbewußten »Titanen«, aller gesellschaft-lichen Bindungen ledig.Das freundliche Bild des Gartens nimmt Hölderlin nichtwieder auf. Jetzt nennt er den Gegensatz beim Namen:Dem hohen Selbstwertgefühl des Dichters, seinem inne-ren Anspruch auf ein selbstbestimmtes, unbedingtes Lebensteht die Wirklichkeit des Lebens, stehen die äußeren An-forderungen und Umstände entgegen. Umstände, die weitüber die »Knechtschaft« im Hause Gontard hinaus in dengesellschaftlichen Raum reichen. Vor diesen Anforderun-gen zu fliehen ist Verlockung: »wie gern würd’ ich untereuch wohnen«. Und noch schärfer drei Jahre später: »wie

20 Ulla Hahn

gerne würd ich zum Eichbaum«, sich selbst genug und frei,frei von »Knechtschaft«, ein »Gott«. Dies aber hieße auch:frei von »Liebe«, frei von Bindung, kein Mensch. »Liebe«,das meint mehr als die Neigung zu einer Frau; meint Men-schenliebe, Verpflichtung, Verantwortung.Das Streben nach radikaler Freiheit und die Bindung an dieGesellschaft, die Menschen: beides macht den Dichter aus.Beide Pole müssen in Balance gehalten werden, eine le-benslange Anstrengung für jeden, der seine Berufung zumBeruf gemacht hat. Die Achse zwischen den beiden Polenist »die Liebe«. Hölderlin selbst skizziert diese Deutung,wenn er später die vier letzten Zeilen um einen Entwurf er-gänzt: »O daß mir nie nicht altere, daß der Freuden, daßder Gedanken unter den Menschen, der Lebenszeichen kei-nes mir unwert wurde, daß ich seiner mich schämte, dennalle brauchet das Herz, damit es Unaussprechliches nenne.«Damit er »Unaussprechliches nenne«, braucht der Dichterdie Sprache der Menschen und muß ihnen in Zuneigungnahe bleiben. Hölderlin ist diese Balance nur wenige Jahregelungen. Als Dichter wollte er einen Platz in der Gesell-schaft haben wie sein Vorbild Schiller, der in HölderlinsAugen Familienleben, gesellschaftliche Stellung und Dich-terruhm in seiner Person vereinte. Doch allem Strebenzum Trotz wurde im Leben Hölderlins wie in seiner Dich-tung die Distanz zu den Menschen, dem »geselligen Le-ben« immer größer, bis er sich im Turm zu Tübingen fürimmer von ihnen schied und seine Sache formelhaft erstarr-te. Und doch: was ihm am Ende »die Parzen«, die Schick-salsgöttinnen, gönnten, war mehr als »nur einen Sommer«:»Eichbaum« war er geworden und ist es geblieben.