unerzogen-1-2008

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unerzogen

unerzogenMitRechtunzufrieden?MenschenrechtefrKinder

Ausgabe:1/08

Deutschland: 6,90

sterreich: 7,90 Schweiz: CHF 13,50

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ISSN1865-0872

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Alan Thomas

Bildung zu HauseBildung zu HauseEine sinnvolle Alternative

Eine sinnvolle Alternativevon: Alan Thomas Titel des englischen Originals: Educating Children at Home Beschulung ist inzwischen in unserer Kultur so tief verankert, dass wir zur berzeugung gekommen sind, ohne Schule knne es keine Bildung geben. Jedoch wchst die Zahl der Kinder, deren Bildung zu Hause stattfindet, rasch. ber die Art, wie Eltern mit ihren Kindern an Bildung zu Hause herangehen, ist bisher wenig bekannt. Dieses neue Buch ist das Ergebnis einer Untersuchung, die Alan Thomas durchfhrte, um Einblicke in die Aspekte des Lehrens und Lernens zu Hause zu erlangen. An seiner Studie nahmen 100 Familien aus England und Australien teil. Diese Familien mussten feststellen, dass die formalen Strukturen, die im Klassenzimmer funktionieren, sich nicht einfach auf zu Hause bertragen lassen. Sie werden notwendigerweise zu Wegbereitern einer anderen Pdagogik, die dem Lernen zu Hause besser angepasst ist. Ihre Erfahrungen erffnen ganz andere Sichtweisen auf Bildung und Lernen und stellen viele Grundannahmen der Fachleute zu Lehren und Lernen in Frage. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist die Bedeutung des informellen Lernens. Ein grosser Teil des Buches widmet sich daher diesem Thema. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Wolfgang Hinte, geschftsfhrender Leiter des Institut fr Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universitt Duisburg-Essen.

engl. Originaltitel: Educating Children at Home

Seiten: 278 ISBN: 978-3-940596-00-0 Preis: 18,90 EUR

Respekt und Freiheitauch fr junge Menschen

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, Eine bundesweite Befragung durch die Freie Universitt Berlin zum Wissen ber die DDR brachte es zu Tage: Die Mehrheit der Schler kennt nicht den Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie. Schwebten nicht vor kurzer Zeit berall die Worte Erziehung zur Demokratie im Raum? Ja, ist denn nichts daraus geworden? Hat das etwa nichts gentzt? Strubt sich der Zgling, diktatorisch zur Demokratie gezogen zu werden? Natrlich wurde sofort ber Gegenmanahmen nachgedacht. Nicht, dass wir jetzt in Zukunft die Schler demokratisch an Schulen mitentscheiden lassen wrden. Wer lernt denn schon durch praktische Erfahrung? Wir fhren stattdessen einen Gedenktag ein zumindest, wenn es nach den CDU-Fraktionschefs der neuen Lnder geht. Nmlich den Tag der parlamentarischen Demokratie. Das teilte am 11. Januar die Vorsitzende der Thringer CDU-Landtagsfraktion, Christine Lieberknecht, in Erfurt mit. Jhrlich wrden wir dann der Demokratie am 18. Mrz gedenken. Leider kein Feiertag, der Tag sei fr Projektarbeit gedacht. So heit es denn in einer Pressemitteilung der CDU Thringen: Der Tag soll jhrlich

Anlass geben, in Schulen und in der ffentlichkeit fr den demokratischen Verfassungsstaat zu werben. Wenn ich die jngsten Entwicklungen betrachte auch in der Home Education-Szene wird es tatschlich Zeit, dass der Staat Werbung fr sich macht. Im Handumdrehen sind nmlich viele fhige Menschen ausgewandert, so wie krzlich die Familie Neubronner Deutschlands bekannteste Freilerner. Die Zahl der Familien, die sich fr Bildung zu Hause oder greifbare demokratische Bildung an entsprechenden Schulen entscheiden, wchst. Bitter wird es, wenn Deutsche darber nachdenken, in Kanada politisches Asyl zu beantragen, um es ihren Kindern zu ermglichen, sich zu Hause zu bilden. Bei allen Diskussionen ber Kinderrechte ins Grundgesetz, bei allem Bestreben, junge Menschen in unsere Gesellschaft gleichberechtigt zu integrieren wir drfen nicht vergessen, dass zur Zeit Menschen aufgrund des Schulzwangs emigrieren.

Chefredakteurin Sabine Reichelt

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Editorial Inhalt Termine Leserbriefe

Seite3 Seite4 Seite6 Seite7

Kinderrechte Seite9NeunscheinbarguteGrndefrKinderrechte... Bertrand Stern FrherfordertederAutorselbstlautunddeutlichKinderrechte. Heute ist er hinsichtlich der politischen Mglichkeitenskeptischer.EinPldoyerfreinenWandelderEinstellungimzwischengenerationellenVerhltnis. Seite9 WahlrechtohneAltersgrenze Martin Wilke DerAutorargumentiertfrdaspersnlicheWahlrechtvon Kindern und Jugendlichen - und zeigt Chancen fr eine praktischeUmsetzungauf. Seite13

Schule Seite18RegelnanDemokratischenSchulen Henning Graner Die Rechte von jungen Menschen zu schtzen, gehrt zum KerneinerDemokratischenSchule.DazubedarfesRegeln, dieeinerVersammlungabgestimmtwerden. Seite14 DieZukunftderSchulehatschonbegonnen Henrik Ebenbeck DerBundesverbandderfreienAlternativschuleninderBRD wirdzwanzigJahrealt.DerAutorblicktzurckaufdieEntstehung des Verbands und gibt Ausblicke auf zuknftige Perspektiven. Seite18 Wennichdannmalsterbe Eine Kolumne von Julia Dibbern Seite21

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ForschungGleichberechtigterUmgangmitKindern: KnigswegoderHolzweg? Patrick Schimpke Lsst sich anhand von wissenschaftlichen Studien sagen, welcheAuswirkungengleichberechtigterUmganginderFamilieaufdieBeteiligtenhat? Seite22

FamilieKonsequentflexibel DergleichberechtigteUmgangmitKindernkannvorallen Eltern mit Kleinkindern vor praktische Probleme stellen. TippsfreineJa-Umgebung. Seite28 DieKinderzeigeneinem,womanansetzenmuss unerzogensprachmitderamerikanischenUnschoolerin undElternberaterinJoyceFetteroll. Seite34 InwievielenWeltenwollenwirleben? Sonja Mechtcheriakova berdieTrennungderLebensweltenvonErwachsenenund KindernimAlltagunsererGesellschaft.WelcheProbleme birgtdasfrFamilien? Seite36 Familienurlaub Tippsfrdengemeinsamen,unerzogenenUrlaub Seite40 Buchvorstellung Summerhill and A. S. Neill Das Teenager Befreiungs Handbuch Rezension Mensch Kind InternetReview AusaktuellemAnlass Impressum Seite49 Seite50 Seite51 Seite48 Seite46

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UndwaspassiertindiesemFrhjahr?Termine

13. - 15. Februar 2008, Berlin

22./23. Februar 2008, Berlin

Schule in der Einwanderungsgesellschaft, KongressAn der Freien Universitt Berlin findet der Kongress mit dem Untertitel Internationale Perspektiven aus Forschung und Praxis statt. Deutschland will sich in seiner Bildungs- und Integrationsforschung den Erfahrungen anderer Lnder ffnen und die gewonnenen Erkenntnisse auswerten. Solch ein Vorgehen soll doch bitte Schule machen! www.gei.de

Fundraising fr Freie Schulen, SeminarDie SOCIUS Organisationsberatung gGmbH bietet ein Seminar, das sich an Mitarbeiter freier Schulen wendet. Die Seminarleiter wollen mit den Teilnehmern Wissen und Knnen fr ein erfolgreiches Fundraising miteinander verknpfen. Das Seminar findet in den Rumen der SOCIUS in Berlin-Charlottenburg statt und kostet inklusive Material 120 pro Teilnehmer. www.socius.de

derlande statt. Es ist mit einem Festival voller Musik, Vorfhrungen und Stnden gekoppelt. Als Gastredner stehen bis jetzt Christian Beck, Dagmar und Tilman Neubronner sowie Alan Thomas auf dem Plan. www.home-education.nl

09. - 12. Mai 2008, Nhe Bielefeld

3. unerzogen TreffenDas bislang stets voll ausgebuchte unerzogen Treffen fr Gro und Klein findet wieder in einem kleinen rtchen in der Nhe Bielefelds statt. Dieses Mal sollen laut Veranstalterinnen auch Zeltplatzbernachtungen mglich sein, sodass mehr Gste als zuvor (ca. 30 Personen) erwartet werden. Das Treffen ist fr alle Interessenten geffnet und dient dem Austausch ber Theorie und vor allem Praxis gleichberechtigter Eltern-Kind-Beziehungen. Da die Pltze begrenzt sind, wird zu zeitiger Anmeldung geraten. Infos und Anmeldungen bei Johanna: [email protected]

18. - 24. Februar 2008, Jena

13. - 16. Mrz 2008, Leipzig

Familien- und Jugend-TreffenDer Bundesverband Natrlich Lernen (BVNL), die Initiative fr Selbstbestimmtes Lernen und die Clonlara-Schule laden gemeinsam nach Jena in das Schullandheim Stern ein. Ein Treffen zum Austauschen und sich wieder Begegnen. Es ist Zeit fr Gesprchs- und Diskussionsrunden eingeplant. Anmeldungen bitte an Anke Heinrich ([email protected]). www.bvnl.de

Leipziger BuchmesseDas unerzogen Magazin und der tologo verlag werden mit einem Stand auf der Leipziger Buchmesse 2008 vertreten sein. Sie finden uns in Halle 2 Stand K201. Ebenso werden wir mit Veranstaltungen bei Leipzig liest! beteiligt sein, einer mit der Buchmesse verknpften Veranstaltungsreihe. Informieren Sie sich dazu bitte hier: www.tologo.de/leipziger-buchmesse/

15. Mai 2008, Bremen

Freinet-Zertifikat, Weiterbildung19. - 23. Februar 2008, Stuttgart 28. April - 07. Mai 2008, bundesweit

didacta die BildungsmesseDie didacta wird als grte Fachmesse dieser Art bezeichnet. Lehrkrfte aus ganz Europa nutzen dieses Treffen auf der Neuen Messe Stuttgart, um sich zu informieren und weiterzubilden. www.didacta-stuttgart.de

Jean Liedloff, VortragsreiseJean Liedloff, die Autorin von Auf der Suche nach dem verlorenen Glck, geht in Deutschland auf Vortragsreise. Zahlreiche Besucher werden fr die bis zu dreistndigen Vortrge erwartet. Sie wird in Mnchen, Leipzig, Berlin, Hamburg und Kln Station machen. Die genauen Veranstaltungsorte und -zeiten werden rechtzeitig verffentlicht auf: www.unerzogen.de/jean-liedloff/

Die Freinet-Kooperative bietet unter der Schirmherrschaft von Enja Riegel eine zweijhrige berufsbegleitende ZertifikatWeiterbildung zur Freinet-Pdagogik an. Diese beginnt im Oktober 2008. Am 15. Mai 2008 ist Anmeldeschluss. www.freinet-kooperative.de

Termine Sie organisieren oder wissen von Seminaren, Veranstaltungen, Filmvorfhrungen, Treffen, Workshops oder hnliches? Senden Sie uns Ihre Termine an: [email protected] Ein Anspruch auf Abdruck besteht nicht. Alle Angaben ohne Gewhr.

21. Februar 2008, Pullach

Filmvorfhrung Spitze - Schulen am Wendekreis der PdagogikWie kommt es, dass Schulen in Skandinavien gelingen? Der Film des Journalisten Reinhard Kahl beginnt um 20.00 Uhr im Brgerhaus Pullach. Die 55-mintige Dokumentation zeigt den Weg fr eine Schule in einer Wissens- und Ideengesellschaft.

23. - 25. Mai 2008, Hedel, Niederlande

3. Internationales Home Education KolloquiumDas 3. Internationale Home Education Kolloquium findet dieses Jahr in Hedel, Nie-

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Liebe ist eine seltene BlumeGesundheit, eine harmonische Partnerschaft, Erfolg - alles in unserem Leben wird bestimmt von unserem SelbstwertLiebe ist eine seltene Blume. Selten deshalb, weil ohne Wurzeln keine Flgel wachsen. Unsere Wurzel heit Selbstwert. Fr mich war das Seminar ein Aufwachen aus einem Trauma. Bisher wurde ich gelebt. Ichhabe andere geliebt, fr andere gearbeitet, fr andere gelebt, fr mich nie Zeit gehabt. Jetzt lebe ich so bewut wie noch nie in meinem Leben. Ein freundlicher Mensch war ich schon immer, aber noch nie so frei. sagt Hanneaus Berlin. Lebe Dein Leben -

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LeserbriefeZur Nullnummerunerzogen Nr. 0 ist in meinen Hnden. Auf den ersten Blick erscheint es mir jugendlich und aufmpfig. Zwei, drei Ausdrcke scheinen oft wiederzukehren, die mir nicht nur in Ihrem Heft als problematisch erscheinen: demokratisch, frei, selbst bestimmt. Vorab: die Schweiz gilt als Vorbild von Demokratie. Wir werden zusehends zu einer von Minderheiten diktierten totalitren Demokratie, falls dieser Ausdruck Sinn macht. Frei wovon? Und genauso wichtig: wozu? Selbst bestimmt als Gegensatz zu fremdbestimmt. Doch werden Kinder durch Geburt (eigentlich durch Zeugung) an Personen, Ort & Zeit gebunden. Beides, fremd- und selbst bestimmt leben, steht in Beziehung zueinander von der Wiege bis zum Grab. Es besteht Gefahr, dies aus den Augen zu verlieren. Rudolf Schmidheiny, Schweizer Elternforum, Ohringen, Schweiz Das Heft ist hier, und wir haben es verschlungen. Genau wie ich es mir gewnscht habe, die Synthese von demokratisch freien Schulen und Freilernen ganz ohne Schule. Super. Dagmar Neubronner, Bremen Heute hat mir eine Freundin die 1. unerzogen Ausgabe gegeben, und ich denke sogleich ber ein Abo nach. Es ist ein richtig gutes Magazin, und ich bin frohen Mutes, dass es viele Leser findet. Ich studiere Lehramt fr Grundschulen und freue mich ber all die Vernderungen, die sich endlich auch in diesem Lande anbahnen. Meine groe Tochter msste 2010 in die Schule, ich bin gespannt, was sich bis dahin noch tut und tun lsst!Titelbild der Nullnummer

Zum Interview mit Stefan und Heike, Heft 0/2007, ab S. 10Nachdenklich gemacht hat mich die Beobachtung des Familienvaters (im Interview), dass ihn sorge, dass unsere jungen Erwachsenen noch nicht so richtig in die Welt raus gehen. Immer wieder erzhlen uns die beiden, dass sie mit den meisten Menschen nicht vernnftig reden knnten, dass sich die Leute in der Schule fr nichts interessieren usw. Pauline besttigt das, wenn sie fragt: Was ist das richtige Leben? Sich gewissenlos die Karriereleiter hinaufprgeln und -labern? Zugespitzt knnte man daraus folgern, dass Familien, die nicht erziehen, zwar ein sehr harmonisches und angenehmes Familienleben haben, dass ihre Kinder aber leider Schwierigkeiten bekommen, spter in der Berufswelt einen Platz zu finden. (Mir selbst macht das jedenfalls manchmal Sorgen.) Andrea Teupke, Frankfurt

Leserbriefe Schreiben Sie uns Ihre Leserbriefe an: [email protected] Leserbriefe geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder. Krzungen vorbehalten.

Stefanie Elger, Halle

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KinderohneRechtGehren Kinderrechte ins Grundgesetz?

Ja, Kinderrechte gehren ins Grundgesetz lautet offensichtlich der Tenor in Deutschland. Durch diesen Schritt soll ein grerer Schutz fr den sonst wehrlosen Nachwuchs geschaffen werden. Wiederkehrende Flle von Vernachlssigung oder gar Ttung Minderjhriger durch Erwachsene beweisen scheinbar: Es muss gehandelt werden. Von dieser Seite betrachtet, ist die Forderung Kinderrechte ins Grundgesetz nachvollziehbar.

Eine ausgewogene Diskussion gibt auch anderen Blickwinkeln Raum. Wer sich mit der Thematik beschftigt, hat es ungleich schwerer, sich mit Argumenten gegen Kinderrechte im Grundgesetz auseinander zu setzen sie werden kaum publiziert. Die Frage Gehren Kinderrechte ins Grundgesetz? kann nicht auf einigen wenigen Seiten zufriedenstellend beantwortet werden. Im Folgenden soll zumindest die sonst vernachlssigte Kritik zu dieser Frage beleuchtet werden.

Bertrand Stern

NeunscheinbarguteGrndefrKinderrechte...... und dennoch pldiere ich dagegen!

Vor Jahrzehnten war auch ich einer jener seltsamen Vgel, die laut und deutlich Kinderrechte forderten in Schriftform, in Vortrgen, in Seminaren, bei Kongressen. 1984 war ich MitInitiator der Kinder-Doppelbeschlu genannten Initiative fr den Frieden zwischen den Generationen, mit welcher der Deutsche Bundestag als Legislative aufgefordert wurde, die gesetzlichen Mistnde hinsichtlich der Rechte junger Menschen zu beheben. Ein Vierteljahrhundert spter bin ich hinsichtlich der politischen Mglichkeiten etwas skeptischer: Sollten wir einen Wandel der Einstellung im zwischengenerationellen Verhltnis fr erforderlich halten, wer oder was knnte uns davon abhalten, diesen Wandel konsequent zu leben? Diesen Wandel jedoch an (grund)gesetzliche Hoffnungen zu knpfen, halte ich fr eine Illusion. Weshalb diese berzeugung? Weder die Verankerung im blichen der vermeintlichen Realitten noch die Flucht in die guten Absichten werden uns je weiter helfen, aus jenen uns plagenden Sorgen wirklich herauszukommen, welche die Normen der Normalitt einer zivilisatorischen Wohlerzogenheit widerspiegeln. Statt der politischen Schattenkmpfe ist die Dynamik des Utopischen, des Visionren Not-wendig. Die folgenden neun Ja, aber...-Thesen mgen dazu

beitragen, den Blick auf originellere Mglichkeiten zu erffnen.

1. Die Vertreter einer Gesetzesnderung, insbesondere einer Verankerung von Kinderrechten in unserem Grundgesetz,hegeneineguteAbsicht. Aber: Was geschieht, wenn ein unbestrittenes Wohlmeinen dem Wohltun entgegenwirkt? Sollte ihr Ansinnen nicht, beispielsweise durch allzu pdagogisch-erzieherische Ambitionen, pervertiert sein, befrchte ich, da ihre allzu diffuse Sorge blo kontraproduktive Effekte zeitigt.

2. Kinder sind so schwach, da sie besondersgeschtztwerdenmssen:Ist esnichtdieAufgabeeinerVerfassung, dieszugewhrleisten? Aber: Wer soll weshalb und wovor geschtzt werden? Verankert der Schutzgedanke nicht jene Vorstellung der Schwche, die geradezu jene postulierte Schwchung frdert? Klassisches Beispiel fr eine sich selbst erfllende Prophezeiung: Die bloe Annahme erschafft jene Bedingungen, die das Ergebnis zeitigen, welches dann verabsolutiert wird! Dies lt sich mustergltig daran verdeutlichen, was mit jungen Menschen geschieht, die zu Kindern gemacht werden. Da ich die Begriffe Kind und Kindheit negativ definiere, habe ich andernorts ausfhrlich dargestellt, soda ich

mich hier mit einer kurzen Wiederholung der sieben Facetten von Kindheit begnge: Auf Grund seiner Jugend wird ein Mensch zu einem Kind diskriminiert, dessen erste Eigenschaft es ist, ein Neutrum (das) zu sein. Gewi wohlmeinend wird es dann zu einem elterlichen Eigentum (mein) und alsbald zum Zgling (als einem besonderen Objekt der Erziehung); zum Werdenden (als -noch?-nicht Seienden); zum Schutzbefohlenen (in einem speziellen pdagogischen Reservat); zum Minderjhrigen (als einem gesellschaftlichen Minderwertigen); und zum Schler (als einem Abhngigen von der heiligen Institution Schule). Dies umschreibe ich gewhnlich mit der Aussage, junge Menschen werden deshalb als Kinder gehalten, weil sie fr Kinder gehalten werden. Zu den ursprnglichen Aufgaben einer freiheitlich-demokratischen Verfassung gehrte es, die Person vor den historisch tradierten Vorurteilen zu schtzen, indem ihre Freiheit und Wrde als Subjekt hervorgehoben werden. Allerdings: die Wrde des Menschen schlechthin, nicht die einer knstlich gemachten Untergattung! Die Angewiesenheit des Menschen in den ersten Lebensmonaten auf die Mutter begrndet die Annahme von Schwche nicht, da hier eher von einer wechselseitigen Liebesbeziehung gesprochen werden kann. Statt also von einer Schwche auszugehen, sollten wir auch neurophysiologisch! eher auf Eigenschaften

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Bertrand Stern bei einem schulkritischen Vortrag 2006 in Leipzig

hinweisen, die den Menschen gattungsgem adeln: Er ist von Anfang an potent und wibegierig, offen und sozial. Schwche? Schutz? Indes macht ein dichotomes Oben-Unten das ach so schwache Kind zum Objekt eines mtterlichen oder vterlichen, eines staatlichen oder gar gesetzlichen Schutzes. Weshalb? Weil der bloe Schutzgedanke das Bse auf wundersamer Weise verankert und verewigt. Bedenken wir, wie schnell der Schutz vor dem postulierten Bsen zum omniprsenten Polizeiapparat mit Kamera-berwachung und GPS-Ortung fhrt... Etwas ganz anderes ist das gemeinsame Bedrfnis nach sinnvoller Gestaltung des zwischengenerationellen Zusammenlebens auf der Grundlage eines dynamischen Gleichgewichts von Autonomie und Angewiesenheit: Davon ausgehend, da du gewi du bist sowie ich nunmal ich bin, liegt es an uns, die Bedingungen eines partnerschaftlichen Umgangs zu klren und deutlich zu bestimmen, wie wir im Zusammenleben die Ausgewogenheit von Unbedingtheit der Person und Bedingtheit der Bedingungen gestalten.

geladenen Situationen mit Vernunft reagieren zu wollen. Dennoch: Erstens: Gibt es wirklich mehr Flle oder wird blo vermehrt hierber berichtet? Vielleicht weil es zwischen den Medien und ihren Abnehmern so etwas Konspiratives gibt: eine heimliche Lust nach dem Unheimlichen, ein unbewutes Bedrfnis, sich an einem ungewhnlichen Ereignis aufzugeilen? Zweitens: Weshalb erregen diese wahrlich tragischen Flle in der ffentlichkeit solche Emprung? Aus Zorn ber die Grausamkeit von berforderten Eltern? Aus Unverstndnis ber das singulre Problem einer unwrdigen Mutter? Aus Trauer ber die tdlichen Konsequenzen? Ginge es nmlich der ffentlichkeit wirklich um das Wohlergehen des insbesondere jungen Menschen, dann wren die Schlufolgerungen keine kinderschtzerischen Manahmen, sondern das Eintreten dafr, da ein jeder Mensch grundstzlich ein freies Subjekt ist dies ist selbstverstndlich nicht folgenlos fr die Gestaltung der Zwischenmenschlichkeit. Drittens: Schwingt hinter dem Spektakulren nicht womglich auch ein zivilisatorisches Drama mit? Denn die hier gewi nicht zu rechtfertigenden oder zu entschuldigenden tragischen Ereignisse sind, nchtern gesehen, nur das Symptom fr eine viel komplexere, viel dramatischere Problematik: die gerade sichtbar gewordene Spitze eines gefhrlichen Eisbergs! Mit Gejammer ist hierbei niemandem geholfen... Viertens: Ich bin mir dessen bewut, da manche Menschen, vor allem die

mit wohlmeinenden Absichten, meine Aussagen als Grausamkeit abtun knnten: Auch wenn sie noch zustimmen sollten, da Freiheit nun mal an Risiko gebunden ist, werden sie vorbringen, dieses Risiko knne nicht soweit gehen, da Kinder deshalb umgebracht werden. Stimmt daher der Umkehrschlu: Wenn Freiheit Risiko bedingt, dann ist sie zugunsten der Devise Null-Risiko zu beschrnken? Nun, verfolgt die US-amerikanische Administration mit den von ihr getroffenen Manahmen zur Terrorismus-Abwehr nicht denselben Gedanken mit dem zweifelhaften Ergebnis: rechtfertigt die vermeintliche Sicherheit den Verlust an Freiheit? Die Ideologie von Null-Risiko ist nicht nur eine gefhrliche Illusion, sondern vor allem ein Alibi fr Behrden, immer mehr freiheitsvernichtende Manahmen zu fllen! Bedenken wir zudem, was die Erforschung von Opferidentitten aufzeigt: Opfer sind nur selten selbstbewute freie Persnlichkeiten, aber zumeist ngstliche, abhngige Objekte. Weist dies nicht zustzlich darauf hin, da legislative Schutz-Manahmen der Gefahr von dramatischen Ereignissen niemals entgegenwirken knnen, aber zustzliche Probleme schaffen? Vielleicht sogar potentielle Opfer produzieren? Fnftens: Was wrden mehr, verstrkte Manahmen bewirken? Soll jeder Mensch stndig kontrolliert werden, weil er vielleicht etwas Schlechtes tut? Dann wren Jugendamt und Schulamt und Sozialamt die Steigbgelhalter eines totalen Staates und wir lebten nicht in einer angeblichen Demokratie, sondern ganz klar in einem totalitren Machtstaat. Sechstens: Hand aufs Herz: In welcher Weise sollten eigenstndige Kinderrechte im Grundgesetz die von jungen Menschen erfahrene Gewalt verhindern knnen? Wenn wir wirklich wollen, da in unserer Gesellschaft jede Gewalt gegen junge Menschen statt gerechtfertigt deutlich verpnt werde, dann mu dies selbstverstndlich auch die subtile weil wohlmeinende Gewalt einbeziehen, welche sie diskriminiert. Ich postuliere, da das Ergebnis von Gleichberechtigung nicht mehr Gewalt gegen Kinder sein wird, sondern im Gegenteil ein vom Respekt vor der Selbstbestimmtheit und Wr-

3. Recht und gut, aber dies ist nur die Theorie, denn auch Grundrechte bekommen ihre Bedeutung, indem die Personsieanwenden,siesogareinklagenkann.AngesichtsderinletzterZeit vermehrt aufgetretenen Flle von tragischenKindes-Ttungenerscheintdie ForderungnacheinembesserenSchutz derKindervlliglogisch! Ja, diese Reaktionen sind mir nicht unbekannt und dennoch scheinen sie recht irrational, vielleicht sogar populistisch. Ich wei wie schwer es ist, in solchen auf-

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de des anderen gezeichnetes Zusammenleben. Wie hatte es Richard Farson schon in den 70er Jahren so grundlegend treffend formuliert: Wir sollten umdenken und nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schtzen! Und siebtens: Wird nun jemand entgegnen, das Gesagte sei zu theoretisch? Ich hingegen halte die Forderung nach Einfhrung von Kinderrechten im Grundgesetz nicht nur fr theoretisch, sondern fr eine oberflchliche, symptomtherapeutische, zumal illusionre Manahme. Wenn wir also der Gefahr einer inflationr wachsenden Gewalt gegen junge Menschen begegnen wollen, kommen wir nicht umhin, uns fr eine Lebens- und Kulturform einzusetzen, in der alle Menschen sich frei entfalten knnen. Wenn die Vorzeichen dieses Wandels radikal sind, ist er nicht theoretisch, sondern wirklichkeitsnahe, unaufhaltsam und absolut lebens- und menschenfrdernd.

das Leben geschenkt haben, unbestritten unsere Tchter und Shne sind: zuvrderst sind sie unabhngige, selbstndige Subjekte! Darber hinaus birgt die Aussage meine Kinder die Gefahr einer subtilen, selbstverstndlich nicht bewuten Projektion: Was oft als Liebe verbrmt daherkommt, erweist sich leider oft genug als Versuch einer emotionalen Korrumpierung: Weil ich dich liebe... Zur Verdeutlichung gengt es sich vorzustellen, was ein Ausbruch aus solcher Bedingtheit bedeutet: Aus Deiner unbedingten Autonomie heraus ist es mir eine besondere Ehre und Freude, die Du, meine Tochter, mein Sohn, mir erweisest, indem wir auch weiterhin zusammenleben mgen! Daher: Was bezwecken spezielle Kinderrechte im Grundgesetz? Sollen sie jene brgerlichen Normen der Normalitt verfestigen, wonach ein Kind ein Objekt der Familie ist? Besitzverhltnisse haben noch nie der Liebe gedient!

4. Kinderrechte sind ein gesetzlicher SchutzvonMinderjhrigenvorderAusbeutungdurchArbeit! Welch historische Ignoranz! Auf die mrderische Arbeitsausbeutung des 19. Jh. mit dem Schutzraum Schule zu antworten, ist ein Hohn! Allein wie sinnvoll ist es, Menschen schulisch weiterhin auf eine widersinnige Arbeit als Mittel zu einer knstlichen und uerlichen Identitt hin zu erziehen, da uns die Arbeit unabdingbar ausgeht? Wie absurd wre es, wenn durch Kinderrechte jene Kindheit knstlich aufrechterhalten wre, die entstanden ist als Reaktion auf jene schtige Arbeit und ihre Pendants, die Freizeit und den Konsum, von der wir uns endlich haben befreien knnen! Gipfel der Absurditt: was geschieht, wenn junge Menschen, von der Staatsmacht in das Reservat Schule gezwungen, um sie auf die knftige Arbeit einzustimmen, sich dem aus gutem Grunde verweigern? Dies mge verdeutlichen, wie skandals es wre, Kinderrechte wrden die Zwangs-Beschulung verankern! 5. Ich,guteMutter,guterVater,liebemeine Kinder und mchte daher, da es ihnen gutergehe. Aber: Knnte es sein, da meine Kinder ein unbewutes Besitzverhltnis verschleiert? Auch wenn die Menschen, denen wir

6. Durch Kinderrechte sollte die Familie endlich aufgewertet werden, denn nur sie garantiert ein optimales Aufwachsen, wohingegen die staatspdagogischenReservatedieerzieherische Vernachlssigung nicht verhindern knnen. Das Wohlergehen der Kinder ist deshalb daran gekoppelt, da die FamiliezuihremRechtkommt. O je! Wie oft wird diese religis geprgte Idylle von Familie zum Hort von subtiler oder gar offener Gewalt! Sind die spiebrgerlichen Trume von der Familie mit Einfamilienhaus im Grnen, mit Mutter am Herd und Vater bei der Arbeit, mit Hund, Katze und PS-starken Limousinen, und dem darin wohlbehtet aufwachsenenden Kind, eine heute wirklich noch ernsthafte Vorstellung? Oder sind diese verklrten Ideale nicht lngst eingeholt worden durch die Realitten vom Ein-Personen-Haushalt, der oft genug in monoparentale Lebensformen, allenfalls in Patchwork-Familien mndet? Beim Gedanken an eine Strkung der Familie denke ich unweigerlich an jene religisen Fundamentalisten: In der Auseinandersetzung mit staatlichen Behrden und Schulverwaltungen erwarten sie von Kinderrechten einen Freibrief fr ihre Vorstellungen einer familiren Beschulung, die angeblich im Namen und zum Wohl ihrer Kinder erfolgen soll. Da beim favorisierten Homeschooling eben diese Kinder oft genug zum Objekt ei-

ner beispielsweise familienbeschulenden Zwangsbeglckung, dadurch leider auch zum Spielball von anderen Interessen werden knnten, die alles anders als verfassungskonform sind, mu hier ignoriert werden. Zur Verdeutlichung die Probe durch Falsifizieren: Was wrde geschehen, der junge Mensch als Subjekt wrde mit seinen klar artikulierten Wnschen und Vorstellungen und Positionen sich der Familie verweigern? Ist dies wirklich mglich? Wohlgemerkt: Ich sage nicht, da die Familie eine Brutsttte neurotischer Impulse sei und dem jungen Menschen prinzipiell schade! Ich postuliere lediglich, da eine dynamische Gemeinschaft nur da entsteht, wo ihre Mitglieder aus dem Gefhl, darin geschtzt zu werden, sich frei zu dieser Gemeinschaft bekennen: Dies (be-)trifft nicht nur das brave und wohlerzogene Kind, sondern auch die treue Ehefrau oder die dankbaren Senioren, die stets entscheiden knnen und mssen, ob sie nur eine Rolle spielen wollen oder sich bewut als stets autonomes und selbstbestimmtes Subjekt verhalten. Welch wichtige Konsequenzen fr das Zusammenleben eine solche Entscheidung haben knne, mge das folgende Beispiel aus der Praxis zeigen: Was geschieht, wenn ein junger Mensch weshalb auch immer feststellt, seine Vorstellungen von Leben und Gemeinschaft stimmten so wenig berein mit denen der autoritren Eltern, da er sein Familienhaus zu verlassen beschliet? Wie werden Eltern und Erzieher und Schulpdagogen und das staatliche Jugendamt auf eine solche Eigenwilligkeit reagieren? Werden sie zur Aufrechterhaltung der Fata Morgana Familie den Minderjhrigen zwingen, zu seinen Frsorgeberechtigten zurckzukehren und sich brav zu fgen? Wen soll also ein (Grund-)Recht schtzen?

7. Wenn Kinderrechte grundgesetzlich geschtzt sind, knnen die Kinder sogar finanzielle Ansprche gegenber demStaatgeltendmachen. Ja ja, aber... Wollten wir die konomische Grundlage junger Menschen sichern, erweist sich der Weg ber die staatliche Gunst als Sackgasse: Kein Problem ist je dadurch gelst worden, da sich das staatliche Fllhorn ber die Bedrftigen ergossen und sie fortan wohlfahrtsstaatlich ali-

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mentiert habe! Davon abgesehen bin ich skeptisch, ob der beanspruchte staatliche Zuschu nicht eher in die Familienkasse fliet, um weitere konsumschtige Ausgaben der Eltern zu ermglichen!

8. DurchdieVerankerungvonGrundrechtenfrMinderjhrigewirdihreRechtsposition gestrkt; hierdurch mu ihre Stimme bei wichtigen politischen Entscheidungenstattignoriertnungehrt werden. Ja, auch ich habe einmal geglaubt, da eine Gesetzesinitiative einen Wandel anzeigt und sanktioniert: zugunsten der grten der bisher unterdrckten Minderheiten hierzulande... Dennoch hege ich die Befrchtung, da all jene nach auen hin als Rechte verkauften Manahmen in Wahrheit Pflichten verankern: hier beispielsweise die Pflicht zur Wohlerzogenheit. Es mu uns aber klar sein, da diese Wohlerzogenheit der im Grundgesetz postulierten Unantastbarkeit der Wrde der einzelnen Person widerspricht. Allein was geschieht, wenn es zu einem Konflikt zwischen Menschenrecht und den damit unvereinbaren Normen der pdagogischen Normalitt kommt? Eine grundstzliche Anmerkung in bezug auf Rechte und Pflichten: Jene die Person wrdigenden Grundrechte sind nach dramatischen historischen Ereignissen errungen worden, um der Person die selbstverstndliche Mglichkeit zu geben, sich zu wehren: insbesondere gegen staatliche bergriffe. Wichtig ist vor allem, da Grundrechte unbedingt und bedingungslos sind, da sie an keine Pflichten und (Vor-)Leistungen gebunden sind. Soweit die juristische Theorie! In der Praxis sehen wir leider ein Un-

terhhlen dieser Unbedingtheit und Bedingungslosigkeit: Wenn sogar die auf unsere Verfassung vereidigten Richter dem jungen Menschen seine Subjekthaftigkeit absprechen und das Kind in die Rolle des Objekts drngen, knnten sich Kinderrechte sogar als kontraproduktiv erweisen: In einer Gesellschaft, in welcher die staatliche Macht es an demokratischem Selbstverstndnis mangeln lie, knnten Kinderrechte zu Steigbgelhaltern einer Demokratur werden, bei welcher der Staat sich seine diktatorische Totalitaritt sogar scheinbar demokratisch legitimieren lt. Absurdes Ergebnis: Die Sorge um das Wohl der erziehungsbedrftigen Minderjhrigen bedingt, da sie nun vollends der pdagogischen Gewalt des Staates ausgeliefert werden! Wohlgemerkt; entweder stehen die Grundrechte jedem Menschen zu: Dies ist an kein Alter gebunden. Oder aber es werden wie wohlmeinend auch immer fr Kinder Sonderrechte gefordert. Jedes Partikularrecht zementiert eine Diskriminierung und schafft neue Abhngigkeiten. Wer an die Freiheit und Wrde der Person glaubt, mu jeden staatlichen Eingriff wirksam und radikal zurckweisen

c) Entsprechend den Kernaussagen unserer Verfassung kommt dem Staat allenfalls eine dienende, unterstzende Begleitung des Rechtssubjekts zu. Angesichts der Feststellung, der junge Mensch werde durch immer weiter verstrkte Forderungen an ihn und gegen ihn zum folgsamen Untertanen der staatlichen Macht gemacht, wodurch seine Rechtsposition als Subjekt systematisch untersplt werde, schwindet mein anfnglicher Optimismus und meine legalistische Gutglubigkeit. Auf der anderen Seite sollen zwei kontrre, aber sich bedingende Tendenzen bedacht werden: Gegen Menschen, die das zwischengenerationelle Verhltnis partnerschaftlich respektvoll gestalten, weil fr sie die Freiheit und die Wrde der Person unabdingbare Qualitten sind, scheint der Staat offensichtlich machtlos: Trotz aller Gewalt, mit der, etwa in bezug auf Schule, versucht wird, das Vertrauensverhltnis zu stren, kann der von Menschen bewirkte und getragene grundlegende Wandel staatlich weder aufgehalten noch verhindert werden. Daher: Wer sich aktiv fr eine logische und sinnvolle Gestaltung der zwischengenerationellen Beziehungen einsetzen will, sollte eher als den dornigen und kontraproduktiven (Um)Weg des Gesetzgeberischen einzuschlagen die unmittelbar wirkende Praxis der partnerschaftlichen Symmetrie und Gebundenheit whlen! Angesagt ist weniger das Verknden von wohlmeinenden Kinderrechten, die, so die leider unmittelbar lauernde Gefahr, die UnrechtsPosition des Kind-Objekts verankern und die Negativitt rechtfertigen; sondern eine Lebensform, die wir alle, du und ich und andere, konkret verwirklichen knnen. Doch wenn schon etwas Juristisches, dann bitte sehr im Sinne eines Abwehrrechts: um allem entgegenzuwirken, was den postulierten Rechten des Subjekts widerspricht. Hier konkret: Alle jene obsoleten Bedingungen, aus denen heraus junge Menschen, weshalb auch immer, zu Kindern, zu Werdenden, zu Zglingen, zu Minderjhrigen, zu Schutzbefohlenen, zu Schlern gemacht werden (sollen). Diese Verfremdung ist der eigentliche Skandal und hiergegen gilt es und lohnt es gewi, sich zu engagieren!

9. Der geforderte Wandel in der Gesetzgebung knnte Signalwirkung haben und einiges bewirken, das ohne juristische Verankerung nicht stattfnde, nichtmglichwrezumaldieffentlicheHandsichnichtverpflichtetfhlte,diesePositionzurespektieren. Dieser Meinung war ich vor drei Jahrzehnten auch! Damals uerte ich sogar die Hoffnung, ein gesetzgeberischer Wandel werde dreierlei wichtige Konsequenzen zeitigen: a) Indem der Staat gezwungen wird, seine skandals kinderdiskriminierende Position zu verndern, wird ein Wandel eingeleitet: insbesondere in bezug auf die erzieherische Gewalt, vor allem in der Familie; auf die unselige, ohnehin obsolete Schulpflicht; und auf die Kriminalisierung und Psychiatrisierung von angeblich auffllig oder straffllig gewordenen Jugendlichen. b) Durch entsprechende Weichenstellungen werden junge Menschen nicht in die vorhin beschriebenen Rollen und Funktionen eines Kindes gezwngt.

Bertrand Stern Bertrand Stern, in Siegburg lebender, freischaffender Philosoph und Publizist. Er beschftigt sich seit vielen Jahren mit Schulkritik, war Mitinitiator der Kinder-Doppelbeschlu genannten Initiative fr den Frieden zwischen den Generationen (1983/84) und daran gekoppelt des 1. Kongre der Deutschen Kinderrechtsbewegung.

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Martin Wilke

WahlrechtohneAltersgrenzeIn einem demokratischen Gemeinwesen ist das Wahlrecht eines der wichtigsten politischen Rechte. Kinder und Jugendliche bilden in Deutschland die grte Bevlkerungsgruppe, der dieses Recht nach wie vor vorenthalten wird.

Durch die im Grundgesetz (Art. 38 Abs. 2) fr Bundestagswahlen festgelegte Altersgrenze von 18 Jahren werden mehr als 13 Millionen Staatsbrger ausgeschlossen. Politiker orientieren sich zumindest in Wahlkampfzeiten und somit bei der Erstellung von Wahlprogrammen daran, was die Whler wollen.

KinderRchTsZnker (K.R..T.Z..) Die Berliner Kinderrechtsgruppe K.R..T.Z.. hat in den letzten Jahren mit verschiedenen Aktionen versucht, das Wahlrecht ohne Altersgrenze durchzusetzen oder zumindest in die ffentlichkeit zu tragen. So reichten 1995 ein 16- und ein 13-Jhriger beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde wegen Vorenthaltung des Wahlrechts ein, die allerdings aus formalen Grnden nicht zugelassen wurde. 1998 klagte ein 17-Jhriger gegen die Nichteintragung ins Whlerverzeichnis, drei Leute haben daraufhin die Bundestagswahl 1998 angefochten und sind so wieder beim Verfassungsgericht gelandet. 2002 startete K.R..T.Z.. zusammen mit anderen Jugendorganisationen die Kampagne Ich will whlen, in deren Rahmen mehr als 2000 Unter-18-Jhrige eine Petition an den Bundestag unterschrieben, in der sie ihr Wahlrecht forderten.

Schlielich wollen sie ja gewhlt werden. Wenn Kinder und Jugendliche jeden Alters whlen drften, wrden Themen wie Schulpolitik und Jugendschutz sicherlich anders diskutiert als es heute der Fall ist. Solange aber Kinder und Jugendliche kein Wahlrecht haben, laufen Politiker Gefahr, andere Whlerkreise zu verprellen, wenn sie kinderrechtliche Forderungen in ihre Wahlprogramme aufnehmen. Letztendlich geht es bei der Forderung nach dem Kinderwahlrecht darum, dass sich dann alle Parteien auf Anliegen junger Menschen zu bewegen mssen, wenn einige Millionen potentielle Whler hinzukommen. Es geht nicht darum, ob die eine oder andere Partei dadurch ein paar Prozentpunkte zulegt. Ein weiterer wichtiger Effekt des Kinderwahlrechts wre, dass sich damit der gesellschaftliche Status von Kindern ndern wrde, hnlich wie es bei Besitzlosen und Frauen war, als diese das Wahlrecht erhielten. Die Vernderung der Sichtweise von Erwachsenen auf Kinder wrde zwar nicht von einem Tag auf den anderen erfolgen, aber im Laufe der Jahre wrden immer mehr Menschen erkennen, dass Kinder gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft sind. Deshalb kann es auch nur um ein persnliches Wahlrecht fr Kinder und Jugendliche gehen und nicht darum, dass Eltern fr jedes Kind eine zustzliche Stimme abgeben knnen. Letzteres wre kein Kinderwahlrecht, sondern ein Elternwahlrecht.

Wenn von dem Wahlrecht ohne Altersgrenze die Rede ist, geht es nicht um Babys und Kleinkinder, die von Politik noch nichts mitbekommen. Es geht um jene Kinder und Jugendlichen, die sich fr politische Dinge interessieren und gern mitwhlen wrden. Praktisch lsst sich das wie folgt regeln: Wer das erste Mal in seinem Leben whlen will, geht persnlich zu seinem rtlichen Wahlamt und lsst sich dort in das Whlerverzeichnis eintragen. Dabei ist es gleichgltig, ob dies im Alter von 7, 16 oder 25 Jahren geschieht. Ab diesem Zeitpunkt kann derjenige wie jeder andere mitwhlen und bleibt auch fr die folgenden Wahlen im Whlerverzeichnis eingetragen. Das Wahlrecht ist ein Recht und keine Pflicht. Kinder, die sich nicht fr Politik interessieren, knnen der Wahl einfach fernbleiben. Andere Grundrechte gelten bereits ohne Altersgrenze, wie etwa die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Auch wenn Babys natrlich nicht in der Lage sind, zu einer Demonstration zu gehen, haben sie dennoch das Recht dazu. Nachdem es im Jahr 2004 im Bundestag bereits einen Antrag zur nderung des Artikel 38 Abs. 2 Satz 1 und zur Einfhrung eines Elternwahlrechts gab, wird es 2008 einen erneuten Anlauf geben. Wenn Sie etwas fr die Einfhrung eines echten Kinderwahlrechts (ohne Stellvertretung durch die Eltern) tun wollen, knnen Sie Ihrem Bundestagsabgeordneten schreiben, beispielsweise ber die Internetplattform www.abgeordnetenwatch.de. Wenn das Thema in den Medien auftaucht, knnen Sie der Debatte mit einem Leserbrief auf die Sprnge helfen. Martin Wilke 1980 geboren, ist Diplom-Politikwissenschaftler und lebt in Berlin. Er bersetzte zwei Bcher ber die Sudbury Valley School: Endlich frei! und Die Sudbury Valley School Eine neue Sicht auf das Lernen. Zusammen mit Henning Graner produzierte er die Videodokumentation Sudbury-Schulen. Er engagiert sich bei den KinderRchTsZnkern (K.R..T.Z..), sowie im SudburySchule Berlin-Brandenburg e.V.

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Henning Graner

RegelnanDemokratischenSchulenWarum eine Demokratische Schule nicht auf Regeln verzichten kann

Eine Gemeinschaft, die auf die Definition von Regeln verzichtet, ist eine Gemeinschaft ohne Rechte. Rechte von jungen Menschen zu schtzen, gehrt aber zum Kern einer Demokratischen Schule. Es gibt keine Gemeinschaft, die nicht ber ein Repertoire an Normen verfgt. Jede Gruppe von Menschen bildet Umgangsformen, Gewohnheiten und Rituale heraus, die bald als selbstverstndlich gelten und zu einem Teil der spezifischen Kultur einer Gruppe werden. In jeder Gemeinschaft, die eine kollektive Identitt ausbildet, wird man unausgesprochene Regeln finden. Dass uns die unausgesprochenen Regeln oft nicht bewusst sind, liegt daran, dass sie Teil der Kultur sind, in der wir uns tglich bewegen. Wie wirksam sie sind, merken wir jedoch immer dann, wenn wir unsere gewohnte Umgebung verlassen und uns in eine fremde Kultur begeben. Eine spontane Herausbildung von Normen innerhalb einer Gemeinschaft gengt allerdings nicht, um von einer Rechtsgemeinschaft sprechen zu knnen. Eine Rechtsgemeinschaft zeichnet sich durch das Vorhandensein von individuell zuschreibbaren und einklagbaren Rechten aus. Diese Rechte knnen in nichtkodifizierter Form als Gewohnheitsrechte vorliegen. In modernen Gesellschaften hat sich eine Kodifizierung von Rechten in Form von schriftlich niedergelegten Regeln jedoch weitestgehend durchgesetzt.

Wie aber kommt eine Rechtsgemeinschaft von Menschen zu eben jenen Regeln, mit welchen sie ihre Rechte kodifiziert? Wer stellt die Regeln auf, wer erlsst sie, wer hat Einfluss auf sie, wer kann sie verndern oder abschaffen? Die Idee einer Demokratie ist: Diejenigen, auf die die Regeln angewendet werden, sollen auch ber sie bestimmen knnen. Im Idealfall sollte jeder Beteiligte einen direkten Einfluss auf die nderung von Regeln haben man spricht dann von einer direkten Demokratie. Ist die Anzahl der Menschen in einer Gemeinschaft zu gro, kann es sinnvoll sein, eine Reprsentation einzufhren. Die Mitglieder der Gemeinschaft stimmen nun nicht mehr direkt ab, sondern delegieren einen Teil ihrer Gestaltungsmacht an gewhlte Vertreter. Man spricht von einer reprsentativen Demokratie.

Eine Gemeinschaft ohne Regeln ist eine Gemeinschaft ohne RechteDie Rechte von jungen Menschen zu schtzen, gehrt zum Kern einer Demokratischen Schule. Dazu Bedarf es Regeln. Verzichtet man auf die Definition von Regeln, so verzichtet man auf die Definition von Rechten. Eine Gemeinschaft ohne Regeln ist letztlich eine Gemeinschaft ohne Rechte. Demokratische Schulen funktionieren wie kleine direkte Demokratien. Je-

der Teilnehmer an der Schule hat das Recht, in einer regelgebenden Versammlung mit abzustimmen. Wer genau zu dem Teilnehmerkreis dieser Schulversammlung gehrt, ist nicht von vorneherein klar und bedarf einer Definition. blicherweise zhlen alle Mitarbeiter und alle Schler dazu, whrend Eltern keine Teilnehmer der Schulversammlung sind und ihre Interessen meist nur in der Trgerorganisation der Schule zum Ausdruck bringen knnen. Diese Konstruktion ist eine Illustration des Prinzips, dass nur diejenigen ber einen Sachverhalt abstimmen knnen sollten, die unmittelbar von der Entscheidung betroffen sind. blicherweise produzieren Demokratische Schulen eine erstaunliche Anzahl an Regeln, welche in einem Regelbuch festgehalten werden. So umfasst das Regelbuch der Sudbury Valley School 50 Seiten und enthlt etwa 400 Regeln. Dabei sind die Bestimmungen der Trgerorganisation und die Verfahrensregeln einzelner Komitees noch nicht einmal mitgezhlt. In Summerhill gibt es etwa 200 Regeln. Andere Demokratische Schulen kommen mit deutlich weniger Regeln aus, aber es gibt keine Demokratische Schule ohne Regeln.

Arten von RegelnMan kann grob gesprochen zwischen drei Arten von Regeln an Demo-

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Das Justizkomitee der Fairhaven School, einer Sudbury-Schule in Maryland, USA: Das Justzizkomitee arbeitet streng nach rechtsstaatlichen Prinzipien

kratischen Schulen unterscheiden: Erstens gibt es Regeln, die dafr da sind, die Grundrechte zu schtzen. Dazu zhlt beispielsweise eine Regel, die es verbietet, einen anderen Menschen zu stren, zu rgern, zu bedrohen oder ihm Gewalt anzutun. Zweitens gibt es Regeln, die die Gemeinschaft als Ganzes schtzen. Dazu zhlt beispielsweise eine Regel, die darauf abzielt, dass die Beteiligten innerhalb der Schule keine bergeordneten staatlichen Gesetze brechen drfen, selbst wenn dadurch die Rechte der anderen Schulbeteiligten nicht unmittelbar betroffen sein sollten. Die Gemeinschaft bringt mit solchen Regeln ihr Interesse am Fortbestand ihrer Institution zum Ausdruck. Drittens gibt es Regeln zur Definition von Nutzungsrechten. Wenn die Gemeinschaft bei begrenzten Ressourcen die Idee der Gleichberechtigung aufrechterhalten will, bedarf es Regeln, die den Zugriff auf die Ressourcen ordnen. Jede Regel, die den Verwendungszweck eines Raumes oder den Zugang zu bestimmten Gerten oder Spielsachen definiert, fllt in diese Kategorie. Schutz der Rechte des Einzelnen, Schutz der Gemeinschaft und Definition von Nutzungsrechten diese Einteilung in drei Kategorien stellt sicherlich keine vollstndige und abschlieende Beschreibung dessen dar, was es an Regeln an einer Demokratischen Schule gibt.

Aber sie hilft einem zu verstehen, dass Regeln sehr unterschiedlichen Zwecken dienen knnen.

Die Durchsetzung der RegelnWer Regeln definiert, muss sich Gedanken darber machen, wie er ihre Einhaltung sicherstellen will. Formale Regeln verlieren sehr schnell ihre Kraft, wenn sie nicht ernst genommen werden. Ernst nehmen heit dabei nicht, dass jeder einzelnen Regel zustimmt werden msste. Vielmehr geht es darum, dass sich die Gemeinschaft mit dem Prinzip der Achtung von Regeln einverstanden erklrt. Eine aus subjektiver Sicht fr unsinnig oder ungerecht erachtete Regel braucht nicht zur Ablehnung dieses Prinzips zu fhren, sondern kann schlicht der Anlass sein, sich fr die nderung oder Abschaffung eben jener Regel einzusetzen. An allen Demokratischen Schulen findet sich eine Art Justizwesen, welches bei der Missachtung von Regeln aktiv wird. Meist gibt es ein eigens eingerichtetes Justiz- oder Rechtskomitee, welches sich mehrheitlich aus Schlern unterschiedlichen Alters zusammensetzt. Jeder Schler und jeder Mitarbeiter kann sich an dieses Komitee wenden, um sich ber eine Regelverletzung zu beschweren. Die Beschwerde wird geprft, Klger und Angeklagter werden angehrt und

etwaige Zeugen befragt. Stellt das Justizkomitee eine Regelverletzung fest, kann es Sanktionen verhngen.(1) Das Justizkomitee arbeitet dabei streng nach rechtsstaatlichen Prinzipien. Dazu zhlt die Unschuldsvermutung, das Recht auf Anhrung und Verteidigung, das Rckwirkungsverbot(2), das Verhltnismigkeitsprinzip(3) und das Recht auf Berufung. Die Sanktionen mssen der Sache nach angemessen sein. Tatschlich haben Kinder und Jugendliche offensichtlich ein gutes Gespr fr das richtige Ma. Anthony Burik, Mitarbeiter an der Diablo Valley School in Kalifornien sagt: Ich denke, dass an unserer Schule die Konsequenzen, ber die dieses Komitee beschliet, wirklich gerecht sind. Und Michael Sappir, Schler der Jerusalem Democratic School konstatiert: Im Allgemeinen machen die Strafen Sinn. Sie scheinen wirklich wie eine Konsequenz fr eine Handlung. Und wenn du das Gefhl hast, dass es fr eine Handlung keine Konsequenz geben sollte, weil an der Handlung nichts falsch war, dann legst du Berufung ein.(4) Die Idee, innerhalb einer Schule gemeinsame Regeln einzufhren und bei Regelverletzungen Sanktionen durch ein Komitee verhngen zu lassen, stt immer mal wieder aus unterschiedlichen Grnden auf Befremden, wenn nicht gar auf offene Ablehnung. Manche meinen darin eine frag-

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wrdige, moralisch-pdagogisierende Haltung zu erkennen. Andere behaupten, dass schon allein durch das Aufstellen von Regeln, sptestens aber durch die Sanktionierung von Regelversten ein generelles Misstrauen gegenber Kindern zum Ausdruck komme. Einige wnschen sich, die Gemeinschaft mge Konflikte durch einen gemeinsamen Dialog lsen oder auf andere Konfliktlsungsmethoden zurckgreifen. Und schlielich wird kritisiert, dass mit diesem System eine Tter-Opfer-Zuschreibung vorgenommen werde, die so eindeutig nie zutreffend sei.

en zu tun. Regeln erleichtern das Leben auch dann, wenn zwischen den Akteuren Vertrauen herrscht. So erklrt Kelly Sappir, Schlerin an der Jerusalem Democratic School: Die Regeln sind dafr da, alles besser und sicherer zu machen. Natrlich gibt es Regeln gegen Gewalt oder gefhrliche Dinge, aber auch welche, die einfach fr eine bessere Atmosphre sorgen. Wir haben z.B. die folgende Regel: Wenn sich jemand irgendwo hingesetzt hat und seinen Sitzplatz verlsst, darf ihm fr eine bestimmte Zeit niemand den Platz wegnehmen. Solche Dinge halt, die einfach eine angenehmere, glcklichere Umgebung schaffen.

Verzicht auf pdagogische AmbitionenEs ist wichtig zu verstehen, dass das Aufstellen von Regeln und die Sanktionierung von Regelversten nicht als pdagogische Manahmen gemeint sind. Es geht hier nicht darum, in einem Akt intentionaler Erziehung auf die Einstellung der Schler und Mitarbeiter einzuwirken. Die Anwendung von Regeln hat lediglich eine Verhaltensnderung zum Ziel, keine Gesinnungsnderung. Regeln zielen darauf ab, jemanden oder etwas vor bestimmten Handlungen des Regelverletzers zu schtzen. David Schneider-Joseph, ehemaliger Schler an der Sudbury Valley School, erlutert diese Haltung, wenn er von potentiellen Regelverletzern sagt: Sie mgen glauben, dass sie gute Grnde haben, die Regeln zu brechen. Und sie haben das Recht, das zu glauben, aber ich habe auch das Recht, an der Schule zu sein und mich nicht um Leute zu kmmern, die meine Mglichkeit, hier zu sein, beeintrchtigen.

Andere KonfliktlsungsmethodenNicht alle Konflikte lassen sich sinnvoll mithilfe eines formalisierten Verfahrens lsen. Das Rechtskomitee wird ohnehin nur ttig, wenn es dazu durch eine Beschwerde aufgefordert wird. Manche Konflikte bewegen sich eher auf der Beziehungsebene und gehen nicht mit einem nachweisbaren Regelbruch einher. David Schneider-Joseph fhrt dazu aus: Ich denke, es gibt ein Missverstndnis: Viele Leute glauben, dass, nur weil es ein Justizkomitee gibt, dies die einzige Art sei, wie Probleme gelst werden. Wenn ich eine Auseinandersetzung mit jemandem habe, kann ich das Problem mit ihm auf jede beliebige Art und Weise lsen. Wir knnen es ausdiskutieren, wir knnen eine dritte Person hinzuholen, die uns hilft zu vermitteln, vielleicht knnen wir eine Abmachung treffen, vielleicht knnen wir versuchen, die Gefhle des anderen zu verstehen. Das sind alles verschiedene Mglichkeiten, die durch die Existenz eines Justizkomitees nicht ausgeschlossen werden. Und Kelly Sappir antwortet auf die Frage, ob Konflikte ausschlielich mithilfe eines Justizkomitees behandelt werden: Nein. Ganz und gar nicht. Wenn alles durch das Justizkomitee gelst wrde, htten wir Unmengen an Papierkram zu bewltigen, und htten keine Zeit mehr fr uns selbst oder um die Prozesse abzuarbeiten. Meist versuchen die Beteiligten, Probleme untereinander zu lsen, statt zum Justizkomitee zu gehen.

Regeln sind kein Ausdruck von MisstrauenDas Aufstellen von Regeln hat auch nicht notwendigerweise etwas mit Misstrau-

Henning Graner studiert Mathematik, Physik und Erziehungswissenschaften. Er setzt sich seit Jahren fr die Grndung Demokratischer Schulen ein, hlt Vortrge und verffentlicht Artikel. Zusammen mit Martin Wilke produzierte er die Videodokumentation Sudbury-Schulen

der-Joseph sagt: Ich denke, dass eine Menge Probleme ohne das Justizkomitee gelst werden knnen, vielleicht sogar die meisten. Ich denke nur einfach nicht, dass es realistisch ist, davon auszugehen, dass alle Leute immer willens sein werden, ihre Probleme selbst zu lsen, und wir haben erlebt, dass Leute einfach nicht darber sprechen wollen. In solchen Fllen ist es unerlsslich, dass ein Teilnehmer an der Schule, welcher sich in seinen Rechten verletzt sieht, Zugang zu einer Institution hat, die ihm bei der Wahrung seiner Rechte hilft und zuknftigen Rechtsverletzungen vorbeugt. Das Justikomitee existiert fr jene Flle, wenn jemand einen anderen verletzt und die Person, die verletzt wird, geschtzt werden muss. Und in dem Fall hat das Justizkomitee meiner Meinung nach das Recht und die Verantwortung, sein Mgliches zum Schutz des Opfers zu tun, erklrt David Schneider-Joseph. Es geht also tatschlich um einen wirksamen Opferschutz. Die in alternativ-pdagogischen Kreisen weit verbreitete Scheu, eine Tter-Opfer-Zuschreibung vorzunehmen, verfhrt dazu, die Grenzen zwischen Recht und Unrecht zu verwischen. Der Verzicht auf die Benennung von Unrecht kann dabei neben dem erlittenen Unrecht selbst zu einer zustzlichen Traumatisierung des Opfers fhren. Wer das Opfer einer Rechtsverletzung beispielsweise zu einer dialogischen Auseinandersetzung mit dem Tter ntigt, weil er meint, auf die Benennung von Schuld und Unschuld verzichten zu mssen, riskiert, das Opfer entgegen seinem Willen zum Therapeuten zu machen. Es ist dem Opfer aber nicht zuzumuten, sich noch zustzlich zu seiner erlittenen Verletzung mit der Biografie des Tters auseinandersetzen zu mssen. Das bedeutet zwar nicht, dass innerhalb des formalen Prozesses nicht auch die Motive des Tters zur Sprache kmen oder etwaige unterschwellige Beziehungskonflikte thematisiert wrden. Allerdings kann ein Tter sich nicht entschuldigend darauf zurckziehen. Er bleibt fr sein Handeln verantwortlich.

Der Blick auf den Tter Die Notwendigkeit des OpferschutzesDas Justizkomitee scheint allerdings nicht vollstndig ersetzbar zu sein. David SchneiAndererseits geht es gerade nicht darum, den Tter zu beschmen oder zu stigmatisieren. Im Gegenteil: Nachdem

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ein Fall abgeschlossen ist und der Tter seine Sanktion erfllt hat, geht das Leben an der Schule weiter, ohne das ihm noch irgendetwas nachgetragen wrde. Mikel Matisoo, Mitarbeiter an der Sudbury Valley School, beschreibt es folgendermaen: Ich halte es immer fr einen Weg, wieder mit der Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu kommen. Dass du zugibst, etwas getan zu haben, das du nicht httest tun sollen. Du bekommst etwas Symbolisches auferlegt, das du erfllen musst und das dich zurck in die Gemeinschaft bringen wird. Und sobald du das erfllt hast, sagst du dir: Ich habe meine Strafe verbt. Es ist vorbei. Ich bin kein bses Kind, ich bin kein Bsewicht, ich bin kein Unruhestifter. Ich habe etwas getan, was gegen die Regeln war, und ich habe meine Strafe gehabt. Alles erledigt!

wei, dass das Justizkomitee eine ernsthafte Angelegenheit ist: Das Justizkomitee trifft Entscheidungen ber Leute, die gegen die Regeln verstoen. Wenn jemand eine Regel bricht, wei er, dass das Justizkomitee ihn dafr kriegen wird. Er kann nicht einfach machen, was er will. Deshalb halten wir das Justizkomitee fr absolut notwendig. Wir knnten darauf nicht einfach verzichten. Und Anthony Burik betont: Ich denke, es ist gut, dass es einen formalen Prozess gibt und dass Kinder verstehen, dass es um Freiheit und um Verantwortlichkeit geht. Wenn du mchtest, dass die Schler fr ihr Verhalten verantwortlich sind, dann wirst du wohl eine Art formalen Prozess brauchen.

Sachbcher

Alan Thomas

Bildung zu HauseEine sinnvolle Alternative

FazitWer es ernst meint mit der Forderung nach der Achtung der Rechte der Kinder innerhalb der Schule, wird auf die Definition von Regeln nicht verzichten knnen. Und er wird sich berlegen mssen, wie er den Regeln Geltung verschaffen will. Eine Demokratische Schule wird die Schler an der Definition der Regeln und an der berwachung ihrer Einhaltung umfassend beteiligen. Die Aufmerksamkeit, die an Demokratischen Schulen dem Umgang mit Regeln und Konflikten entgegengebracht wird, scheint konstitutiv zu sein fr die dort vorherrschende Atmosphre des Friedens und der geistigen Freiheit. (1) Es sei hier ausdrcklich betont, dass sich Mitarbeiter in gleicher Weise fr Regelverletzungen zu verantworten haben wie Schler. (2) Das Rckwirkungsverbot besagt, dass eine neue Regel nicht auf vergangene Sachverhalte angewendet werden darf. (3) Das Verhltnismigkeitsprinzip bedeutet in diesem Zusammenhang, dass durch eine Sanktionierung von Regelversten nicht unangemessen stark in Grundrechte eingegriffen werden darf. (4) Diese und alle folgenden Zitate stammen von der DVD: Sudbury-Schulen. Interviews mit Schlern, Mitarbeitern, Eltern und Absolventen. erhltlich beim tologo verlag, Leipzig.

Die Bedeutung eines formalen VerfahrensAuch wenn es sich bisher so angehrt haben mag: Die Existenz eines formalen Verfahrens bedeutet nicht, dass Konfliktflle versimplifizierend nach einem Tter-Opfer-Schema abgearbeitet werden. Gerade der Formalismus eines rechtsstaatlichen Verfahrens verhindert vorschnelle Schuldzuschreibungen. Wird jemand einer Regelverletzung bezichtigt, gilt er bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig. Und schuldig kann er nur in dem Sinne sein, dass er eine existierende Regel verletzt hat. Ein Beziehungskonflikt, der keine Regelverletzung beinhaltet, kann nicht zu einem Schuldspruch seitens des Justizkomitees fhren. Gerade der Formalismus eines Rechtsverfahrens verhindert also, dass vorschnell pdagogisch-moralisierende Urteile ber das Verhalten oder noch schlimmer die Gesinnung eines Menschen gefllt werden. Ein formales Rechtsverfahren zum Umgang mit Regelverletzungen mag umstndlich erscheinen, aber nur durch einen fairen und formalisierten Prozess lsst sich Willkr vermeiden. Michael Sappir bemerkt mit einiger Leidenschaft: Das Justizkomitee, das wir Komitee fr die Rechte des Einzelnen nennen, ist meiner Meinung nach das Herz der Schule. Es ist das Heiligste in unserer Schule, weil das Justizkomitee das ist, was uns vom Chaos trennt. Und er betont: Jeder

engl. Originaltitel: Educating Children at Home

Halle 2 Stand K201 Wir freuen uns auf Ihren Besuch

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Henrik Ebenbeck

DieZukunftderSchulehatschonbegonnenDer Bundesverband der Freien Alternativschulen wird zwanzig

Vom 27. bis 30. September 2007 trafen sich etwa 150 Lehrer zum jhrlichen Bundestreffen der Freien Alternativschulen in der Freien Schule Marburg. Groes Hallo und Umarmungen bei vielen, die sich offenbar schon lange kennen, freundliches Nicken und neugieriges Umherschauen bei Neulingen. Bchertische, Infownde und ein voll gepackter Workshop-Plan. Dieser offeriert, angefangen bei einem Vortrag von Zo Readhead aus Summerhill, ber Entdeckendes Lernen, Wahrnehmungsstrungen im schulischen Alltag bis zu Freien Schulen in Korea ein so breites Angebot, dass die Auswahl nicht leicht fllt. Die Stimmung ist offen und freundlich, whrend der vier Tage gibt es berall angeregte Gesprche zwischen den Teilnehmern. Wer sind diese Menschen und was fhrt sie im Bundesverband der Freien Alternativschulen zusammen? Die Tradition dieser Treffen ist lter als der Bundesverband selber. Erstmals kamen 1978 Freie Alternativschulen und Grndungsinitiativen zu einem Bundestreffen zusammen. Damals gab es gerade eine Handvoll Freier Alternativschulen. Als ersten Versuch kann das so genannte Rdelheimer Projekt betrachtet werden. Seit dem Ende der 60er Jahre wurden in Deutschland Kinderlden gegrndet (kleine selbstverwaltete Kindergrten, oft in ehemaligen Ladengeschften unterge-

bracht), in denen die Kinder zwar von Erwachsenen begleitet und gefrdert, jedoch selbstbestimmt aufwachsen sollten. Eine ganze Kinderladengruppe in Frankfurt/ Main wurde 1970 in eine staatliche Grundschule eingeschult. Die Lehrerin versuchte, in dieser Klasse nach den gleichen Grundstzen zu arbeiten, wie in einem Kinderladen, jedoch konnte sich der Versuch nicht etablieren und wurde wieder abgebrochen. Mehr Erfolg hatte ein Projekt, das 1971 von Eltern, Lehrern und Wissenschaftlern in Hannover ins Leben gerufen wurde. Bereits 1972 wurde die Glocksee-Schule als staatlicher Modellversuch mit hundertprozentiger Finanzierung genehmigt. Die Glocksee-Schule kann durchaus als erste Alternativschule betrachtet werden, aber eben mit der Besonderheit, dass sie sich im Gegensatz zu fast allen weiteren, spter gegrndeten Alternativschulen, nicht in freier sondern in staatlicher Trgerschaft befindet. Weitere Grndungsinitiativen fr Freie Alternativschulen hatten weniger Glck als die Glocksee-Schule und mussten teilweise jahrelang vor Gerichten um ihre Genehmigung kmpfen. Andere Schulen, die in dieser Zeit gegrndet worden, sind: die Freie Schule Frankfurt, die Freie Schule Kreuzberg (Berlin), die UFA-Schule (Berlin), die Kinderschule Bremen und die Freie Schule Bochum. Im Jahr 1988 wurde der Bundesverband der Freien Alternativschulen in der BRD, der BFAS, gegrndet. Dieser Grn-

dung waren heftige kontroverse Debatten auf den Bundestreffen vorausgegangen. Whrend einige Vertreter meinten, dass die Alternativschulen nur in dieser organisierten Form berhaupt politisch wirksam werden knnten, sahen andere in der geplanten Grndung des Alternativschulverbandes einen Ausverkauf der Idee an genau jene Strukturen, die man doch gerade kritisch hinterfragen wollte. Der Prozess um die Genehmigung der Freien Schule Kreuzberg durch alle Instanzen bildete letztlich den konkreten Anlass zur Grndung des Bundesverbandes. Den endgltigen Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht konnte die Freie Schule Kreuzberg brigens nicht mehr feiern, da sie unter dem massiven Druck der Behrden den Betrieb vorher hatte aufgeben mssen. Die ersten zwanzig Jahre der Alternativschulbewegung waren also geprgt von gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Genehmigung Freier Alternativschulen. Einige Schulen berstanden dabei einen unglaublichen Prozessmarathon

Mehr zum Thema im Internet BFAS e.V.: http://www.freie-alternativschulen.de Netzwerk der Aktiven Schulen: http://www.aktive-schulen.de

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von mehr als 10 Jahren durch die Instanzen (z.B. Freie Schule Frankfurt, Freie Schule Kreuzberg), viele weitere Schulen (u.a. Wrzburg, Wuppertal, Offenburg und Stuttgart) arbeiteten ebenfalls jahrelang ohne Genehmigung und ohne staatliche Finanzierung stndig bedroht von Schlieungsverfgungen, Bugeldbescheiden wegen Schulpflichtverletzung gegen die Eltern und weiteren Repressionen. Zu welch drastischen Manahmen die Schulbehrden dabei griffen, zeigt das Beispiel der Freien Schule Kassel. Ihr war 1986 von der rot-grnen Landesregierung eine Genehmigung zugesagt worden, unter der Bedingung, dass der Verein geeignete Rume fr den Schulbetrieb nachweisen kann. Geeignete Schulrume hatte der Verein 1987 gefunden, jedoch war es inzwischen zu einem Machtwechsel in Hessen gekommen, und die CDU stellte die neue Regierung. Diese fhlte sich nicht an die Genehmigungszusage der vorherigen Regierung gebunden, sondern verfgte zustzlich die Schlieung der Schule und lie Bugeldbescheide gegen die Eltern verhngen. Es kam sogar zur gerichtlichen Verfolgung einer Lehrerin, sowie zu Hausdurchsuchungen bei Vorstandsmitgliedern. Mit der Wiedervereinigung kam es in den 90er Jahren zu einem Aufschwung der Alternativschulbewegung durch zahlreiche Neugrndungen von Schulen in der ehemaligen DDR. Der Freien Schule Leipzig gelang in den offenen und teilweise chaotischen Wendeverhltnissen sogar das Kunststck, die erste und einzige Alternativschule der DDR zu grnden. Weitere Schulgrndungen folgten in den nchsten Jahren in Erfurt, Dresden, Potsdam, Thale und Taschenberg. Ende der 90er und Anfang der 2000er wurden zahlreiche Schulen gegrndet, die sich am Konzept von Maria Montessori orientierten und besonders an den Ideen von Rebeca und Mauricio Wild, die in ihrer Experimental-Schule Pesta in Ecuador Montessoris Anstze weiterentwickelt hatten. Eine zentrale Idee des Wildschen Modells ist die nicht-direktive Begleitung. Durch eine sorgsam vorbereitete Umgebung werden die Schler zu selbststndigem Arbeiten angeregt. Viele dieser Schulen mit Montessori-Wild-Orientierung nennen sich Aktive Schulen und bilden innerhalb des Bundesverbandes ein eigenes aktives Netzwerk. Als aktuelle Tendenz wird die Aufnahme von Sudbury-Schulen in den Bun-

Die 8 Punkte der Wuppertaler Erklrung von 1986 1. Die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und Zukunft (kologie, Kriege, Armut usw.) sind auf demokratische Weise nur von Menschen zu lsen, die Eigenverantwortung und Demokratie leben knnen. Alternativschulen versuchen, Kindern, Lehrern und Eltern die Mglichkeit zu bieten, Selbstregulierung und Demokratie im Alltag immer wieder zu erproben. Das ist die wichtigste politische Dimension der Alternativschulen. 2. Alternativschulen sind Schulen, in denen Kindheit als eigenstndige Lebensphase mit Recht auf Selbstbestimmung, Glck und Zufriedenheit verstanden wird, nicht etwa nur als Trainingsphase frs Erwachsensein. 3. Alternativschulen schaffen einen Raum, in dem Kinder ihre Bedrfnisse, wie Bewegungsfreiheit, spontane uerungen, eigene Zeiteinteilung, Eingehen intensiver Freundschaften entfalten knnen. 4. Alternativschulen verzichten auf Zwangsmittel zur Disziplinierung von Kindern; Konflikte sowohl unter Kindern als auch Kindern und Erwachsenen schaffen Regeln und Grenzen, die vernderbar bleiben. 5. Lerninhalte bestimmen sich aus den Erfahrungen der Kinder und werden mit den Lehrern zusammen festgelegt. Die Auswahl der Lerngegenstnde ist ein Prozess, in den der Erfahrungshintergrund von Kindern und Lehrern immer wieder eingeht. Der Komplexitt des Lernens wird durch vielfltige und flexible Lernformen, die Spiel, Schulalltag und das soziale Umfeld der Schule einbeziehen, Rechnung getragen. 6. Alternativschulen wollen ber die Aneignung von Wissen hinaus emanzipatorische Lernprozesse untersttzen, die fr alle Beteiligten neue und ungewohnte Erkenntniswege erffnen. Sie helfen so, Voraussetzungen zur Lsung gegenwrtiger und zuknftiger gesellschaftlicher Probleme zu schaffen. 7. Alternativschulen sind selbstverwaltete Schulen. Die Gestaltung der Selbstverwaltung ist fr Eltern, Lehrer und Schler prgende Erfahrung im demokratischen Umgang miteinander. 8. Alternativschulen sind fr alle Beteiligten ein Raum, in dem Haltungen und Lebenseinstellungen als vernderbar und offen begriffen werden knnen. Sie bieten so die Mglichkeit, Abenteuer zu erleben, Leben zu erlernen.

desverband bewertet. Sudbury-Schulen orientieren sich am Modell der 1968 in Framingham, Massachusetts gegrndeten Sudbury-Valley-Schule. Dort gibt es keine Klassen oder Gruppen, die Schler knnen absolut selbststndig ber ihre Zeit verfgen. Die Schule wird demokratisch verwaltet, die Schulversammlung, in der jeder Schler und jeder Mitarbeiter gleichberechtigt jeweils eine Stimme hat, entscheidet ber alle Schulangelegenheiten. Unterricht im herkmmlichen Sinne gibt es nicht, es sei denn, Schler wnschen ihn ausdrcklich. Obwohl bis zum Sommer 2007 keine einzige Sudbury-Schule in Deutschland eine Genehmigung zum Schulbetrieb erhalten hatte, waren die Grndungsinitiativen und ungenehmigten Schulen in einem aktiven Netzwerk organisiert und betrieben eine intensive ffentlichkeitsarbeit. Aktuell hat eine Sudbury-orientierte-Schule die staatliche Genehmigung erhalten.

Dies ist die Neue Schule Hamburg (auch als Nena-Schule bekannt, da sich die Sngerin aktiv an der Grndung beteiligte). Was ist die verbindende Idee, die Philosophie der Freien Alternativschulen? Anders als bei Waldorf-, Montessori- oder Jenaplanschulen gab es hier keine Grnderfigur, die ein in sich geschlossenes Konzept entwickelt hat, das in allen Schulen heute gleichermaen umgesetzt wird. Und im Gegensatz zu den drei genannten Schulformen haben Freie Alternativschulen auch keine eigene Lehrerausbildung. Freie Alternativschulen haben ihre Wurzeln in der Reformschulbewegung der 1920er Jahre, in der Kinderladenbewegung der 68er und in der amerikanischen Free-School-Bewegung. Sie haben jeweils verschiedene Elemente dieser Wurzeln aufgegriffen und weiterentwickelt. Aus diesem Grund findet man unter den Freien Alternativschulen ein sehr breites Spektrum an unterschiedlichen

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Im September 2007 wurde von den Mitgliedern des BFAS e.V. ein neuer Vorstand gewhlt, zudem wurden neue Mitglieder aufgenommen.

Schulen. Trotz dieser Vielfalt beziehen sich alle Schulen auf gemeinsame Leitideen. Bereits zwei Jahre vor der Grndung des Bundesverbandes, also 1986, wurde auf dem 16. Bundestreffen in Wuppertal eine acht Punkte umfassende Grundsatzerklrung verabschiedet, die die Leitideen der Freien Alternativschulen umreit. Ins Zentrum gestellt wurden dabei die Selbstbestimmung der Kinder, insbesondere beim Lernen, gelebte Demokratie im Alltag und die Selbstverwaltung der Schulen. Schulen, die Mitglied im Bundesverband der Freien Alternativschulen werden wollen, mssen in ihrem Aufnahmeantrag diesen acht Punkten der Wuppertaler Erklrung ausdrcklich zustimmen. Im Schulkonzept mssen die Punkte umgesetzt werden, zumindest darf das Konzept ihnen nicht widersprechen. Dadurch bleibt ein weiter Spielraum fr Interpretationen. Wenn es zum Beispiel heit: Alternativschulen schaffen einen Raum, in dem Kinder ihre Bedrfnisse, wie Bewegungsfreiheit, spontane uerungen, eigene Zeiteinteilung, Eingehen intensiver Freundschaften, entfalten knnen. kann dieser Freiraum von Schule zu Schule sehr unterschiedlich aussehen. Das Spektrum reicht von vlliger Selbstbestimmung bis zu einigen wenigen Wahlmglichkeiten innerhalb eines ansonsten stark durchstrukturierten Schulalltags. Regelmig gibt es unter den Mitglie-

Henrik Ebenbeck 1961 geboren und Vater von zwei erwachsenen Tchtern, lebt in Leipzig. Er studierte ev. Theologie, Soziologie, Geschichte und Erziehungswissenschaft. Seit 1994 ist er Lehrer an der Freien Schule Leipzig. Er engagiert sich seit 2003 im Vorstand des BFAS e.V.

dern im Bundesverband Diskussionen, ob der Verband denn nicht die Definition, was eine Alternativschule ausmacht, klarer formulieren und dadurch sein Profil schrfen sollte. Kritiker dieser Idee weisen dabei jedoch unter anderem auf das Problem von Standards oder Kriterien hin, die dann notwendig wren, um zu entscheiden, wer zum Bundesverband gehrt und welche Schule eben keine Freie Alternativschule ist. Wer legt diese Standards fest und wer legitimiert diejenigen, die die Standards festlegen? Wer berwacht die Einhaltung dieser Standards und wie? Zudem bergen solche Kriterien die Gefahr in sich, irgendwann zur reinen Lehre zu erstarren, die dann argwhnisch behtet wird das Ende von Entwicklung. Legt man einen bestimmten Standard fest, dann msste der Verband auch eine Lehrerausbildung anbieten, die sicherstellt, dass diese Standards eingehalten werden. Nur wer eine solche Lehrerausbildung absolviert htte, knnte dann an einer Freien Alternativschule arbeiten. Seit Jahren beschftigt sich eine Gruppe erfahrener Lehrer an Alternativschulen mit diesem Thema. Im Verlauf der Diskussion innerhalb dieser Gruppe wurde deutlich, dass grundlegende Voraussetzungen fr die Arbeit als Alternativschullehrer wie Respekt gegenber Kindern, Offenheit, Einfhlungsvermgen, Geduld, geistige Beweglichkeit und Kreativitt sich kaum in Workshops oder Seminaren vermitteln lassen. Solche Fhigkeiten sind Ergebnisse eines individuellen Wachstums- und Entwicklungsprozesses und einer kritischen Selbstreflexion. Jemand kann eine zweijhrige Ausbildung zum Alternativschullehrer absolvieren und danach dennoch vllig ungeeignet dafr sein, wenn eben genau die Offenheit und Bereitschaft fr einen eigenen Entwicklungsprozess fehlen. Seit diesem

Jahr bietet der Bundesverband eine Fortbildungsreihe fr Lehrer an Freien Alternativschulen an, die sich schwerpunktmig mit dem Thema Beziehung beschftigt und genau diese individuellen Entwicklungsprozesse anstoen und untersttzen will. Wohin wird sich der Bundesverband in den nchsten Jahren entwickeln? Bisher lag der Schwerpunkt der Arbeit des BFAS auf der Beratung fr Grndungsinitiativen und auf Weiterbildungen fr die Mitglieder. Der Verband hatte dadurch eher den Charakter einer kleinen Schutz- und Selbsthilfegemeinschaft. Durch die stark gestiegenen Mitgliederzahlen in den letzten Jahren (1988: 18 Mitglieder, 1998: 36, 2007: 102) kann sich der BFAS jetzt zu einer modernen Organisation entwickeln, die die innovativsten Schulen in Deutschland vertritt und deren Stimme innerhalb der Bildungsdebatte nicht einfach berhrt werden kann. Neue Schwerpunkte fr den BFAS sind deshalb eine intensivere ffentlichkeitsarbeit sowie die Vernetzung mit anderen Freien Schulen und verwandten Organisationen auf nationaler und internationaler Ebene. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die European Democratic Education Conference (EUDEC 2008), die der BFAS im nchsten Sommer in Leipzig gemeinsam mit der Freien Schule Leipzig und weiteren Partnern ausrichtet. Der BFAS steht vor einer groen Herausforderung. In den jahrzehntelangen reformpdagogischen Erfahrungen der Freien Alternativschulen liegt ein enormes Potenzial fr den notwendigen Vernderungsprozess im Bildungswesen. Freie Alternativschulen knnen hierfr wichtige Denkanste und Praxismodelle liefern. Das muss in der ffentlichkeit bekannt gemacht und diskutiert werden und darin liegt auch eine groe Chance.

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WennichdannmalsterbeKolumnevonJuliaDibbern

Ich mchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefhrte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genieen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen, ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich [...] sind wir alle nur sterblich. (Jean-Luc Picard, Star Trek VII) Sterben hat urschlich auch mit dem Leben zu tun, und auerdem bringen Gedanken ans Sterben einen leichter dazu, ber den Tellerrand zu gucken und die grere Perspektive zu bekommen oder zu behalten. Was ich mir neulich so berlegt habe: Wenn ich mal sterbe, eines Tages jetzt noch nicht, ich hab noch was vor also, sagen wir, wenn ich dann kurz davor bin zu sterben und so auf mein irdisches Leben zurckblicke, dann mchte ich nicht feststellen mssen, dass ich mich unterwegs verloren habe in ueren Werten und Bewertungen, ngsten und Zwngen. Meine Idealvorstellung oder das, was ihr am nchsten kommt ist, dass ich mich entspannt unter einen Baum setze und zufrieden bin, weil ich mein Leben gelebt habe, das, was mir wichtig war. Ich mchte wissen, dass mein Leben sinnvoll war. Und vor allem mchte ich in dem Wissen sterben, dass ich so glcklich wie mglich gewesen bin und dass ich... ja, dass ich so viel geliebt habe wie mglich. Und dann werde ich meine Augen schlieen und sterben. Was aber macht ein Leben gut und sinnvoll und erfllt und glcklich? Wann ist man berhaupt glcklich? Meiner Beobachtung nach hngen Glcksfhigkeit und Urvertrauen eng zusammen. Ich behaupte, es ist eine einfache Grundsatzentscheidung: Vertrauen oder Angst? In allen Bereichen des Lebens, vor allem denn darum gehts hier im Familienleben. Manchen wurde dieses Urvertrauen von Anfang an mit auf den Weg gegeben, andere lernen es Schritt

Julia Dibbern

fr Schritt (Neuronenverbindung fr Neuronenverbindung) erst wieder neu. In jedem Fall zieht die bewusste Entscheidung fr das bedingungslose Vertrauen in das Kind, in das Leben, in das Sein einen ganz groartigen Rattenschwanz an Glck und Freude hinter sich her. Das, was die Hirnforschung Konstruktivismus nennt, beschrieb die Schriftstellerin Anas Nin so: Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie wir sind. Sie meinte damit, dass unser Gehirn nicht nur Fakten, sondern hauptschlich und vor allem Zustnde lernt. Noch spannender: Es reproduziert Zustnde, wieder und wieder. Glck, Zufriedenheit, Angst. Es ist ein fantastisches Instrument und es spielt immer wieder die Melodie, die es gelernt hat. Gerade in den frhen Jahren wird es konditioniert auf den Zustand den Blick auf die Welt den es danach wieder und wieder erzeugt. Ich finde, wenn man das wei, bekommt Schule als wichtiger Ort kindlicher Prgung doch gleich noch mal eine ganz andere Dimension. Ich sage es ganz offen: Ich mchte nicht, dass das Gehirn meines Sohnes Langeweile, Angst und Widerwillen lernt. Er zeigt uns mehr als deutlich, dass er fr derlei Qualitten wenig Verwendung hat, und ich werde mich ihm da nicht in den Weg stellen. Ich mchte auch nicht, dass er lernen muss, fr irgendwann zu lernen

und die ganze Zeit im von auen bestimmten Dann zu leben anstatt das Jetzt zu genieen. Wenn du das gut eingepaukt hast, dann wirst du eine gute Zensur bekommen, und dann wirst du einen tollen Abschluss machen, und dann wirst du einen guten Job bekommen. Und dann dann wirst du endlich glcklich sein. Trugschluss. Wird er nicht. Denn bis dahin wird sein Gehirn verlernt haben, was Glck ist. Sehr viel attraktiver finde ich die Vorstellung, dass sein Gehirn von vornherein so verkabelt sein wird, dass er diese Welt als etwas Schnes wahrnimmt, etwas, das gut zu ihm ist und wo er Freude hat etwas, das erhaltenswert, schtzenswert und liebenswert ist. Whrend ich mich hier in Gedanken meinem Tod hingebe und allem, wozu mich dieses Gedankenspiel fhrt, lacht sich mein Sohn gerade kaputt. Er hat das Spiel erfunden, ein und denselben Quatschlaut immer wieder in unterschiedlichen Sprachen hervorzubringen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele verschiedene Dialekte zum Beispiel das Englische haben kann. Das ist wohl Afrikanisch, Mama. Groartig. Er ist total glcklich. Er lebt vollkommen im Augenblick. Und whrend seine Stimmbnder Laute formen, feuern in seinem Gehirn die Neuronen. Er lernt. Nicht nur Sprachverstndnis. Vor allem lernt er Glck. Julia Dibbern 1971 geboren, lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nhe von Hamburg. Sie hat den Anahita-Verlag gegrndet und dort ihr Buch Geborgene Babys verffentlicht. Sie ist als Verlegerin, Autorin und bersetzerin ttig. Nebenbei engagiert sie sich fr die Grndung einer demokratischen Schule.

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GleichberechtigterUmgangmitKindern: KnigswegoderHolzweg?Verschiedene Autoren, Schulgrnder/innen und andere fordern, dass Kinder und Erwachsene gleichberechtigt sein sollen. Viele pdagogisch Interessierte und Kinderrechtler/-innen finden ihre Argumente berzeugend und haben sich der Forderung angeschlossen. Doch auch die berzeugendste Theorie kann sich als Irrtum entpuppen selbst dann, wenn es aussieht, als wrden die eigenen Erfahrungen sie bestens besttigen. In zwlf Monaten Arbeit habe ich deshalb mglichst alle wissenschaftlichen Studien zusammengetragen, die Hinweise darauf geben, welche Auswirkungen gleichberechtigtes Zusammenleben auf Kinder und Erwachsene hat. Hier eine Zusammenfassung meiner Ergebnisse.

Am lautesten ertnt der Ruf nach Gleichberechtigung aus den Kehlen engagierter Gruppen, die sich z. B. gegen Erziehung, fr Demokratische Schulen oder allgemein fr umfassende Kinderrechte einsetzen. Fr sie sind gleiche Rechte fr Kinder eine menschenrechtliche Selbstverstndlichkeit, da Rechte ja gerade dafr da seien, Schwchere vor dem sonst herrschenden Recht des Strkeren zu schtzen. Deshalb sei es widersinnig, Kindern ausgerechnet mit dem Verweis auf ihre geringeren Kompetenzen eingeschrnkte Rechte zuzusprechen. Vielmehr htten sie Rechte umso ntiger, um nicht der Willkr strkerer Menschen ausgeliefert zu sein. Auch einige Psychologen sprechen sich fr einen gleichberechtigten Umgang mit Kindern aus. An erster Stelle sind hier Reinhard und Anne-Marie Tausch zu nennen. In ihrem klassischen, humanistisch orientierten Lehrbuch Erziehungspsychologie befrworten sie, dass ein Kind als eine Person von grundstzlich gleichem Recht wahrgenommen und behandelt wird (S. 123). Auch in die Grundsatzprogramme des Deutschen Kinderschutzbundes(1) und des Deutschen Kinderhilfswerks(2) (nicht zu verwechseln mit UNICEF) hat das Wort Gleichberechtigung Eingang gefunden .

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beide Partner grundstzlich nach denselben Spielregeln miteinander umgehen, die auch in Beziehungen zwischen Erwachsenen blich sind. Daraus abgeleitet ergeben sich vier verschiedene Regeln, die aus meiner Sicht zu einer funktionierenden gleichberechtigten Beziehung gehren. Sie werden im Folgenden erklrt. REGEL NR. 1: Selbstbestimmung eigener Angelegenheiten. Entscheidungen, die nur fr eine Person (sei es das Kind oder der Erwachsene) und fr niemanden sonst Konsequenzen haben und die dieser Partner selbst treffen mchte, stehen auch diesem Partner zu. REGEL NR. 2: Mitbestimmung gemeinsamer Angelegenheiten. Entscheidungen, die sich auf mehrere Personen auswirken, werden auch von diesen Personen gemeinsam getroffen, soweit sie sich an diesem Prozess beteiligen mchten. Diese beiden Regeln sind nicht vllig dogmatisch zu verstehen, sondern im Sinne einer hohen Prioritt. Ohne Frage sind Ausnahmen mglich, wenn anderenfalls groe Schden drohen. Das gilt aber zwischen Erwachsenen nicht weniger: Wenn eine erwachsene Freundin im Kokainrausch einen folgenschweren Kaufvertrag unterschreiben will, wird Fremdbestimmung als ebenso legitim empfunden, wie wenn ein Kind hinter seinem Ball her

Gleichberechtigter Umgang: Wie kann er aussehen?Wie soll das aber praktisch aussehen, mit Kindern gleichberechtigt umzugehen? Was ist denn, wenn das Schulkind pltzlich keine Hausaufgaben mehr macht und sich von elterlichen Interventionen mit der Begrndung unbeeindruckt zeigt: Ihr wrdet euch ja von mir auch nicht vorschreiben lassen, was ihr tun und lassen sollt! Oder wenn es die meiste Zeit mit Spielen vor dem Bildschirm verbringt? Und was ist mit Kleinkindern und Babys? Sollen die pltzlich gleichberechtigt mitentscheiden, ob das neue Auto ein gerumiger Kombi werden soll oder ob vielleicht doch ein Klima schonenderes Modell ausreicht? Natrlich ist das nicht die Absicht. Auch den Frsprechern eines gleichberechtigten Umgangs mit Kindern werden diese Vorstellungen bertrieben vorkommen. In der Tat ist jedoch die Definition gleichberechtigter Beziehungen, die ich als Grundlage meiner Recherchen erarbeitet habe, dass in ihnen:

auf eine befahrene Strae luft. Andererseits wrde niemand seiner Freundin vorschreiben, wie aufgerumt ihre Wohnung zu sein habe oder wann sie ins Bett gehen msse, damit sie am nchsten Tag ausgeschlafen zur Arbeit gehen kann. Es sei denn, sie bittet darin um Untersttzung. Natrlich gibt es Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern. Natrlich schtzen Kinder manche Gefahren nicht richtig ein und mssen auch sonst noch viele grundlegende Dinge lernen. Aus Sicht der Gleichberechtigung hemmt es jedoch die Entwicklung, die Selbstund Mitbestimmung dort einzuschrnken, wo sich die Risiken durchaus im Rahmen halten. So ist es aus dieser Perspektive z. B. unntig, Kinder, etwa im Vorschulalter, von jedem Umgang mit Feuer, scharfen Messern und hnlichem abzuhalten. Stattdessen wrde ein gleichberechtigt eingestellter Erwachsener das Kind warnen, ihm Tipps geben, ihm evtl. etwas zeigen. Fremdbestimmung, so die Annahme, ist fr sich genommen immer entwicklungshemmend. Unangenehme, aber nicht langfristig gefhrliche Folgen eigener Handlungen sind demgegenber nicht nur unangenehm, sondern auch ein Moment hocheffizienten Lernens. Die Selbstbestimmung hat in gleichberechtigten Beziehungen, wie in freiheitlich verfassten Gesellschaften insgesamt, da ihre Grenze, wo sie die Selbstbestimmung anderer unverhltnismig einschrnkt. Kollidieren z. B. der Wunsch

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Natrlich spielt auch nach dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Bedrfnisse stets deren Wichtigkeit eine groe Rolle. Was fr Kinder tatschlich wichtiger ist als fr Erwachsene (z. B. Freizeit, schadstoffarmes Essen), steht im Zweifel selbstverstndlich auch eher den Kindern zu. Umgekehrt wird der Ruhewunsch des Vaters aus dem obigen Beispiel umso mehr Gewicht bekommen, je wichtiger die Ttigkeit (z. B. fr seine Zukunft) ist, auf die er sich gerade konzentrieren mchte. REGEL NR. 4: Vertrauensvorschuss. Beide Partner unterstellen dem anderen ein Interesse an einer befriedigenden Beziehung. Entsprechend gehen sie davon aus, dass er/sie die Absicht hat, die Bedrfnisse des Gegenbers angemessen zu bercksichtigen und sich kooperativ zu verhalten. Die Partner begegnen sich mit diesem positiven Vorurteil, das erst bei gegenteiligen Erfahrungen themenspezifisch, und meist auch nur zeitweise, vom Einzelnen auer Kraft gesetzt wird. Wenn sich beispielsweise jemand gestrt fhlt, reicht es oft vllig aus, dies dem Anderen mitzuteilen, ohne Vorwurf. Hufig wird daraufhin eine Lsung gefunden, ohne dem Anderen einseitig etwas vorschreiben oder verbieten zu mssen. Das frdert, so die Annahme, die Zufriedenheit und die gesamte Entwicklung aller Beteiligten, im Gegensatz zu Vorwrfen oder einseitigen Verboten. Das fllt aber viel leichter, wenn jeder seinem Gegenber grundstzlich einen guten Willen unterstellt, ihm also einen Vertrauensvorschuss gibt. Wie wrde in gleichberechtigten Beziehungen gehandelt werden, wenn das Kind keine Hausaufgaben mehr machen will, dafr aber die meiste Zeit mit Spielen vor der Playstation verbringt? Im Prinzip stehen alle Handlungsmglich-

Patrick Schimpke: Gleichberechtigte Eltern-KindBeziehungen. VDM Verlag Dr. Mller 2007 ISBN: 978-3836451390, 59,00 Euro

eines Teenagers nach lauter Musik mit dem Wunsch seines Vaters nach ruhiger Arbeitsatmosphre, dann wird daraus eine gemeinsame Angelegenheit, von der die zweite Regel handelt. Die Entscheidung des Jungen, laute Musik zu hren, hat auch fr seinen Vater Konsequenzen. Also muss auch gemeinsam eine Lsung gesucht werden. Dann kommt die dritte Regel zum Tragen. REGEL NR. 3: Gleichwertigkeit der Bedrfnisse. Im Prozess der Entscheidung ber gemeinsame Angelegenheiten wird Bedrfnissen nicht bereits deshalb mehr oder weniger Bedeutung beigemessen, weil sie beim Kind oder beim Erwachsenen liegen. Alle Bedrfnisse sind erst einmal gleich wichtig, egal, wer sie uert. Erwachsene sind nicht Servicepersonal fr Kinder, sondern Mitmenschen, denen das Wohl der Kinder am Herzen liegt, die aber auch ihre eigenen Bedrfnisse respektieren. So ist es leichter, selbst zufrieden und ausgeglichen zu bleiben. Auerdem lernen Kinder so die Grenzen kennen, die es tatschlich in der Welt gibt (Erwachsener: Ich bin mde und brauche jetzt Ruhe) anstelle von Grenzen, die extra fr Kinder erdacht wurden (um 8 Uhr ist Schlafenszeit). Letztere Art von Grenzen bietet kaum Gelegenheit, etwas ber die (auerpdagogische) Realitt zu erfahren.

keiten offen, die einem auch bei einem gleichaltrigen Freund in den Sinn kommen: authentisch und emotional die eigenen Sorgen um den anderen artikulieren; ihm zugewandt sein, fragen und zuhren, um seine Sicht, seine Gefhle und seine Grnde fr das Verhalten verstehen zu knnen; davon ausgehend nach Lsungen suchen und Lsungsideen vorschlagen; ber die Risiken aufklren, aber auch selbstkritisch die eigene Bewertung seines Verhaltens hinterfragen. Wenn keine Lsung gefunden wird, mit der alle Beteiligten leben knnen, wrden diese noch einmal in sich gehen und kritisch die Risiken eines fremdbestimmenden Eingreifens und die des Abwartens gegeneinander abwgen. Am Ende steht eine Entscheidung, die dem eigenen Gewissen entspricht. berraschend oft gelingt es jedoch, ohne Ausbung von Macht eine einvernehmliche Lsung zu finden, wenn die den vier Regeln entsprechende Haltung verinnerlicht wurde. Das zeigen auch die Erfahrungen mit der familiren Konfliktlsung nach Thomas Gordon (Familienkonferenz) und mit der Gesprchs-Psychotherapie. Beide Konzepte leben von hnlichen Haltungen und Idealen wie gleichberechtigte Beziehungen.

Und wo ist der Haken?Wohl wollend knnte jeder, der selbst mit der Idee sympathisiert, diese Parallelen sowie eventuelle eigene (gute) Erfahrungen als hinreichenden Beweis dafr akzeptieren, dass Gleichberechtigung der Knigsweg im Umgang mit Kindern ist. Weniger wohl wollend und mehr kritisch gedacht, drngen sich dagegen einige Einwnde auf. Erstens vermittelt das Konzept von Thomas Gordon Eltern konkrete soziale Kompetenzen, whrend der Gedanke der Gleichberechtigung sich zunchst nur auf wenige Prinzipien beschrnkt. Angenommen, diese Prinzipien wrden auf eine andere Weise als die von Gordon empfohlene in die Tat umgesetzt: Wren sie dann immer noch frderlich fr das Kind und die Eltern-Kind-Beziehung? Zweitens ist es ein