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GEGEN DEN KAHLSCHLAG Wie der Regenwald aufgeforstet werden könnte HERAUSGEPUTZT Peter Schnyder würdigt das Komma ALTERNATIVE THERAPIEN Was nützt die Komplementärmedizin? UNIMAGAZIN DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 18. JAHRGANG NUMMER 2 MAI 2009 KINDER Was sie fürs Leben brauchen

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GeGen den KahlschlaG Wie der Regenwald aufgeforstet werden knnteherausGeputzt Peter Schnyder wrdigt das Kommaalternative therapien Was ntzt die Komplementrmedizin?

uniMaGazindie zeitschrift der universitt zrich 18. Jahrgang nummer 2 mai 2009

KinderWas sie frs Leben brauchen

Guggenheim, Wein und Pintxos die Wiedergeburt des Bask enlands

CULTIMO h 1.9.4.9.2009

Highlights

h Besuch von Max-Havelaar-Projekten in Ecuadorh Cotopaxi Nationalparkh Weltkulturerbe Cuenca

Rosenplantagen und Wahl der Bananen-knigin eine Rundreise durch Ecuador

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Eingeschlossene Leistungen Hinflug nach Quito und Rckflug ab Guayaquil inkl. Flughafenta-xen und Treibstoffzuschlge Fr. 700. sowie Beitrag fr das Klima-projekt von Kuoni und myclimate Fr. 150., Transfers und Rund-reise in bequemem Reisebus, 11 bernachtungen inkl. Frhstck, alle im Programm erwhnten Mahlzeiten, alle ausgeschriebenen Besichtigungen, Ausflge inklusive Eintritte und Reiseleitung. Die Besichtigungen in den verschiedenen Blumen- und Bananenfar-men werden von Fachpersonen vor Ort begleitet.

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Highlights

h Guggenheim-Museumh Die lteste Hngebrcke der Welth Bodega marqus de riscalh Museum Chillida-Leku

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GlcKlich GrOss WerdenDie Erforschung der Kindheit hat Konjunktur. Wie wachsen Kinder in der Schweiz auf? Und was braucht es, damit sie sich gut entwickeln und glcklich sind? Mit solchen Fragen beschf-tigen sich Forscherinnen und Forscher der Uni-versitt Zrich im Rahmen verschiedener gros-ser Projekte wie der COCON-Studie des Jacobs Center for Productive Youth Development, der Zrcher Longitudinalstudien ber die kindli-che Entwicklung oder z-proso. Auf nationaler Ebene widmete sich das abgeschlossene Nati-onale Forschungsprogramm 52 dem Thema Kindheit, Jugend und Generationenbeziehun-gen. Die verschiedenen Projekte untersuchen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Kin-der und ihr familires und gesellschaftliches Umfeld, wie die Beitrge in unserem Dossier zeigen: Sie beleuchten die Frage, wie Kinder ihre Sozialkompetenz entwickeln welche Fak-toren zum Gelingen beitragen und wie Pro-bleme entstehen knnen. Oder sie geben Ant-worten darauf, welcher Erziehungsstil die Ent-wicklung von Kindern am besten frdert. Eine wichtige Rolle spielen die familiren Verhlt-nisse die Konfliktkultur der Eltern etwa oder das Engagement der Grosseltern. Beein-flusst wird der familire Alltag auch durch die familienpolitischen Rahmenbedingungen, die in Europa sehr unterschiedlich sind.

Weiter in diesem Heft: Am 17. Mai stimmen wir darber ab, ob die Komplementrmedizin einen festen Platz im Gesundheitssystem erhlt. Im Interview ussert sich Naturheilkunde-Pro-fessor Reinhard Saller zu Chancen und Proble-men der Alternativmedizin. Darwin und Fou-cault: Der Historiker Philipp Sarasin analysiert in seinem neuen Buch die geistige Verwandt-schaft des britischen Evolutionstheoretikers und des franzsischen Philosophen. Das Sandmnn-chen des Immunsystems: Der Immunologe Adri-ano Fontana erforscht, weshalb chronisch kranke Menschen oft mde sind und wie diese Mattheit bekmpft werden knnte. Wir wn-schen eine anregende Lektre, Ihre unimaga-zin-Redaktion. Thomas Gull, Roger Nickl

editorial dossier Kinder

Merlin & Basil Die Fotografin Caroline Minjolle portrtiert ihre beiden Shne Merlin (13) und Basil (10) seit ihrer Geburt jeden Monat einmal.

26 eMOtiOnal KOMpetent Kinder, die sich um das Wohlergehen der anderen kmmern, haben es selber leichter. Von Thomas Gull

30 GeWaltBereit Das problematische Verhalten von Kindern hat seine Wurzeln oft in der frhen Kindheit. Von Paula Lanfranconi

32 Fit Frs leBen Kinder entwickeln sich am besten, wenn ihre Anlagen im Einklang mit der Umwelt sind, sagt Kinderarzt Oskar Jenni im Interview.

37 OppOsitiOnsGeist Das Buch Schlerjahre ist Remo Largos Pldoyer fr eine kindergerechte Schule. Von Katja Rauch

38 enGe Bande Die Beziehungen zwischen Grosseltern und ihren Enkelkindern sind so gut wie nie zuvor. Von Roger Nickl

40 erFOlGreich streiten Eltern knnen lernen, ihre Konflikte konstruktiv zu lsen. Das kommt auch den Kindern zugute. Von Marita Fuchs

44 raBenMtter Die Familienpolitik in europischen Lndern spiegelt jeweils die Grundwerte der Gesellschaft. Von Lukas Kistler

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titelbild/bild oben: Caroline Minjolle, www.minjollefoto.ch

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Teppiche vom Dachder Welt

unimagazin_3-09_korr.qxp 21.04.09 19:03 Uhr Seite 1

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antiKe First ladiesDie alten Rmerinnen und die Macht

13 erFOlGreich auFFOrstenRezepte zur Rettung des Regenwalds

16 die innere uhrWeshalb chronisch Kranke mde sind

18 Wechselspiel der atOMeWie Molekle miteinander reagieren

20 intelleKtuelle GyMnastiKDie Cahiers von Paul Valry

WirKsaMer, als Man denKt Reinhard Saller zur Alternativmedizin

6 sMalltalK/leute

7 standpunKt

9 KunststcK/rcKspieGel

48 essay Peter Schnyder ber das Komma

50 pOrtrt Fabrizio Zilibotti analysiert China

56 Bcher

58 schlusspunKt

herausgeberinUniversittsleitung der Universitt Zrich durch die Abteilung Kommunikation

redaKtionThomas Gull, [email protected] Nickl, [email protected]

autorinnen und autoren dieser ausgabe Marita Fuchs, [email protected] | Dr. Susanne Haller-Brem, ds.haller-brem@vtx mail.ch | Maurus Immoos, maurus.immoos@blue win.ch | Lukas Kistler, [email protected] | Ruth Jahn, [email protected] | Paula Lanfran-coni, [email protected] | Katja Rauch, [email protected] | Adrian Ritter, adrian.ritter@ kommunikation.uzh.ch | Simona Ryser, [email protected] | Daniela Schwegler, presse@ hispeed.ch | Prof. Philip Ursprung, [email protected] | David Werner, david.werner@kommuni kation.uzh.ch | Dr. Tanja Wirz, [email protected] | Dr. Felix Wrsten, [email protected]

fotografinnen und fotografenHeike Grasser, [email protected] | Ursula Meisser, [email protected] | Meinrad Schade, mein [email protected] | Jos Schmid, [email protected] | Gerda Tobler (Illustration), gerda.tobler@ zhdk.ch

gestaltung/dtPHinderSchlatterFeuz, [email protected]

KorreKtorat, drucK und lithosNZZ Fretz AG, Schlieren

adresseUniversitt ZrichKommunikation, Redaktion unimagazinRmistrasse 42, CH-8001 Zrich Tel. 044 634 44 30 Fax 044 634 43 [email protected]

inserateKretz AG, General Wille-Strasse 147, CH-8706 Feldmeilen Tel. 044 925 50 60 Fax 044 925 50 [email protected]

auflage22 000 Exemplare. Erscheint viermal jhrlich

abonnentenDas unimagazin kann kostenlos abonniert werden unter [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Arti keln mit Genehmigung der Redaktion

imPressum forschung rubriKen

Website www.kommunikation.uzh.ch/unimagazin

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zahnschMelz der zuKunFt

Thimios Mitsiadis ist Professor am Institut fr Orale Biologie.

Herr Mitsiadis, Sie haben das Gen gefunden, das fr die Bildung von Zahnschmelz verantwortlich ist. Was bedeutet diese Erkenntnis?Wenn wir den genetischen Code verstehen, der die Entwicklung und Reparatur der Zhne kontrolliert, ermglicht uns das, neue Produkte oder Ersatzgewebe zu entwickeln, mit denen verletzte oder ungesunde Zhne wieder hergestellt werden knnen.

Wie wird dieses Ersatzgewebe hergestellt?Das Ersatzgewebe soll durch Manipulation von Stammzellen gewonnen werden, die wir dazu bringen wollen, Zahnschmelz zu bil-den. Dieser natrlich gewonnene Zahn-schmelz wrde dann die bisher eingesetzten Materialien wie Amalgam oder Porzellan ersetzen.

Wann werden Produkte auf dem Markt sein, die auf Ihrer Forschung basieren?Das ist schwer zu sagen. Die vereinzelten Ent-deckungen auf diesem Gebiet haben bisher noch zu keiner wirksamen Therapie gefhrt, weil diese Art von Zahnreparatur oder Zahn-ersatz sehr komplex ist. Zahnschmelz ist ein hoch mineralisiertes Gewebe, zu dessen Bil-dung zwei verschiedene Zellarten interagie-ren mssen. Um weitere Fortschritte zu machen, werden wir deshalb mit der medi-zinischen Forschung zusammenarbeiten, die heute bereits erfolgreich mit Stammzellen zur Herstellung von Gewebe arbeitet. Interview Thomas Gull

KontaKt [email protected]

Welt am Asien-Afrika-Institut der Universitt Hamburg. Sie hat mit Schwerpunkt Nordafrika zum islamischen Familienrecht, zu Frauen- und Menschenrechtsbewegungen und zu Reformprozessen im Zeitalter des europi-schen Kolonialismus geforscht. Daran wird sie auch in Zrich anknpfen. Marita Fuchs

d as Fremde fasziniert Sven Trakulhun. Seit dem letzten Sommer ist er als Assistenz-professor fr neuere Geschichte Asiens am Uni-versitren Forschungsschwerpunkt Asien und Europa ttig und untersucht, wie Fremdheit wahrgenommen und dargestellt wird. Dabei hat er sich auf die Lnder Sdostasiens speziali-siert. In seiner Habilitation zeichnet er derzeit nach, wie die grossen politischen Umbrche auf dem asiatischen Kontinent im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben wurden. Insbesondere hat sich der Historiker mit der Geschichte Thailands beschftigt. Kein Zufall, denn Trakulhun hat selber Wurzeln dort sein Vater war in den spten 1950er-Jahren als Stu-dent nach Deutschland ausgewandert. Vor allem aber ist Thailand ein interessantes Beispiel fr historische Forschung. Die fehlende koloniale Vergangenheit und die enge Zusammenarbeit mit westlichen Lndern nach dem Zweiten

Weltkrieg machen das Land in Sdostasien ein-zigartig. Dass Asien an der Universitt Zrich als Forschungsthema prominent vertreten ist, war fr ihn einer der Hauptgrnde, die neue Stelle anzutreten. Nicht immer hatte er sich so eingebunden gefhlt: Ein Historiker, der sich mit Asien beschftigt? Das wurde von deutschen Historikern bislang schlicht als Karrierekiller betrachtet. Mit der fortschreitenden Globali-sierung ndert sich das langsam. Fr Trakul-hun ist es lngst eine Selbstverstndlichkeit,

smalltalK mit Thimios Mitsiadis leute

s eit dem ersten Mrz 2009 ist Bettina Den-nerlein Ordinaria fr Gender Studies und Islamwissenschaft an der Universitt Zrich. Die ungewhnliche Kombination von Arbeits-schwerpunkten unter dem Dach einer Profes-sur war fr die Islamwissenschaftlerin eine einmalige Chance. Die Verbindung eines so genannten kleinen Faches wie Islamwissen-schaft mit dem theoretisch und wissenschafts-politisch hoch innovativen Feld der Gender Studies im deutschsprachigen Raum ist neu, anspruchsvoll und interessant, sagt Denner-lein. Bisher gab es an der Universitt Zrich keine Professur fr Gender Studies. Ein Kom-petenzzentrum vernetzte seit 1998 die Aktivi-tten und Lehrangebote zu Gender-Themen und trieb deren Institutionalisierung an der Universitt Zrich voran. Ohne einen ent-sprechenden Lehrstuhl war es allerdings nicht

mglich, Geschlechterforschung auf einem international anschlussfhigen Niveau zu betreiben, sagt Monika Gsell von der Abtei-lung Gleichstellung der UZH, die bisher die Fachstelle betreut hat. Bettina Dennerleins vorrangige Aufgabe besteht nun darin, das interdisziplinre Masterprogramm Gender Studies mit seinem spezifischen Zrcher Pro-fil weiterzuentwickeln und mit den Ebenen der Graduiertenausbildung und der Forschung enger zu verknpfen. Zudem mchte sie die Gender Studies strker mit dem Zrcher Uni-versitren Forschungsschwerpunkt Asien und Europa vernetzen. Die Bremerin stu-dierte Islamwissenschaft und absolvierte For-schungsaufenthalte am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Van Leer Jerusalem Institute und an der Maison des Sciences de lHomme in Paris. Seit 2007 war sie Professorin fr Kul-tur und Geschichte der modernen arabischen

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Sven Trakulhun

Bettina Dennerlein

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standPunKt von Otfried Jarren

Wissenschaftliche Bildung bedarf der uni-versitren Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden heisst es im Leitbild unserer Uni-versitt. Wissenschaftliche Bildung ist ein inter-aktiver Prozess, der auf der Forschung der Lehrenden basiert und die Studierenden in die Forschung einfhren und sie zu selbstndiger Forschung qualifizieren soll. Das muss stu-fengerecht, vom Bachelor- bis zum Dokto-ratsprogramm, umgesetzt und zudem in unter-schiedlichsten Lehrgefssen erreicht werden. Studierende sind keine Schler mehr, sie sind mitbeteiligte Expertinnen und Experten, die es systematisch zu frdern wie aber auch zu fordern gilt. Stufengerecht frdern und fordern das muss berlegt, in jedem Programm gut konzipiert und dann evaluiert werden.

Die Universitt Zrich (UZH) begreift sich als Forschungsuniversitt, in der Forschung und Lehre gleichrangig betrieben werden, um wissenschaftliche Bildung zu ermglichen. Studierende sind Mitbeteiligte, keine zahlen-den Kunden einer Dienstleistung. Dennoch werben wir um Studierende, wollen wir die Besten fr unsere Universitt gewinnen. Zuknftige Innovationen in der Forschung verdanken wir jenen, die wir heute durch ber-

zeugende Studienprogramme, attraktive Lehr-veranstaltungen sowie nicht zu vergessen motivierte Lehrende gewinnen. Qualifizierte und engagierte Lehrende sind unser Kapital. Deshalb offerieren wir den jungen Assistie-renden wie den Ordinarien hochschuldidak-tische Weiterbildung, ermglichen fr ganze Studiengnge pdagogische Beratung oder hel-fen bei der Ausbildung von Tutorinnen und Tutoren.

Gute Lehre ist das Ergebnis einer gelunge-nen Interaktion zwischen Lernenden und Leh-renden. Sie weist damit immer hchst spezi-fische, individuelle Merkmale auf. Lehrqua-litt ist nicht ohne weiteres messbar, nicht immer knnen Wirkungen sogleich benannt werden. Die UZH will gute Lehre frdern und zum stndigen Dialog ber die Lehre anregen. Deshalb werden Absolventinnen und Absol-venten befragt, was sie aus dem Studium mit-genommen haben, wie sie die Lehre beurtei-len. In vielen Studiengngen werden zudem jedes Semester Lehrveranstaltungen evalu-iert. Dieser Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden wird nun durch die systematische Lehrevaluation der UZH auf Dauer gestellt: Regelmssig werden die Studierenden um ihr Votum gebeten. Die Dozierenden werden die Ergebnisse mit den Studierenden sowie mit den fr die Lehre an der UZH Verantwortli-chen besprechen. In dieser gemeinsam geteil-ten Lehrkultur ist kein Platz fr Rankings oder ffentliches Getse. Wohl aber bedarf es ver-strkter Anstrengungen zur Erreichung des gemeinsamen Ziels, durch gute Lehre die aka-demische Gemeinschaft zu frdern.

Otfried Jarren ist Professor fr Publizistikwissen-schaft und Prorektor Geistes- und Sozialwissen-schaften der Universitt Zrich.

Gute lehre aBer sicher!dass wir mehr wissen sollten ber das Verhlt-nis zwischen Asien und Europa und dass es wichtig ist, mit Vorurteilen aufzurumen und das Verbindende zu suchen. Adrian Ritter

M ichael Elsener, der nette Junge von nebenan knnte man meinen. Doch der blonde Lockenkopf hat es faustdick hinter den Ohren. Mit 23 gehrt er schon zu den Grossen in der Kabarettszene. Den kleinen Prix Walo hat er bereits in der Tasche und sein Debt im Schweizer Fernsehen sorgte fr Furore. Dabei ist Elsener eigentlich noch Student an der Uni-versitt Zrich, also einer unter vielen. Ein Umstand, der ihm ganz gelegen kommt, bietet ihm der Campus doch die Mglichkeit, relativ ungestrt Leute zu beobachten und neue Ideen fr seine Parodien auszuhecken. Angefangen hat alles rein zufllig: Mit einem Freund aus der Kantonsschule bannte er die ersten Sket-

ches auf VHS-Kassette und begeisterte damit seine Schulkameraden. Die positiven Reak-tionen veranlassten ihn, mit einer Stand-up-Show am Talentwettbewerb seines Gymnasi-ums teilzunehmen, wo er prompt den Jury- und den Publikumspreis gewann. Ganz auf die Komikerschiene wollte sich Michael Elsener nach der Matura jedoch nicht begeben. So ent-schied er sich fr ein Studium der Politik- und Publizistikwissenschaft, nicht weil er sich nach gut schweizerischer Manier ein sicheres Standbein schaffen wollte, sondern aus purer Neugier an der Sache und dem Durst nach einem vertieften Allgemeinwissen. Gerade hat Elsener mit seiner Lizentiatsarbeit begonnen, die, wie knnte es anders sein, sich mit Comedy beschftigt. Gleichzeitig tourt er mit seinem zweiten Programm Copy & Paste durch die Schweiz. Maurus Immoos

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Studierende sind keine Schler mehr, sie sind mitbeteiligte

Expertinnen und Experten.

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Michael Elsener

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iM KarzerAuf dem Karzer lebt sichs frei, besagt eine alte Studentenweisheit. Was paradox erschei-nen mag, war der Karzer doch das Gefng-nis der Universitt. Spartanisch ausgestat-tet, mit einer Pritsche, bestehend aus einem Bettgestell und einer harten Matratze war der Karzer kein Ort der Gemtlichkeit. Als Inkarcerirter genoss man jedoch wesent-liche Vorteile gegenber dem zivil- und straf-rechtlichen Arrest.

Wurde im 19. Jahrhundert ein Studiosus, der ber seinen Durst getrunken und die nchtliche Ruhe gestrt hatte, von der Poli-zei angehalten, brauchte er bloss seine Legi-timationskarte zu zcken, sofern er dazu noch in der Lage war, und die Sache war erledigt. Denn fr die Ahndung solcher klei-nerer Vergehen zustndig waren damals die akademischen Behrden. Diese fackelten nicht lange und sperrten Strenfriede zur Ausnchterung in den Karzer. Dort ging das Zechen aber oftmals weiter. Hatte der Inhaftierte doch die Mglichkeit, Besuch in seiner bescheidenen Zelle zu empfangen. Manch einer der Kommilitonen war dazu bereit, eine Flasche Wein hereinzuschmug-geln. Zwar stand dem Inkarcerirten laut Zrcher Karzerordnung tglich ein halbes Mass Wein oder ein Mass Bier zu, das er auf eigene Kosten beim Pedellen, der fr die Aufsicht des Karzers zustndig war, bestel-len durfte. Das reichte anscheinend oft nicht. Um der Trunksucht Einhalt zu gebieten, beschloss der Senat schliesslich 1865, die Karzerordnung zu verschrfen bei Miss-brauch, so die neue Regelung, wurden die Besuche gestrichen.

Auch fr interne Vergehen mussten Stu-dierende frher in den Karzer. So etwa der Studiosus der Philosophie Gustav Metzger von Mahlberg, der wegen Nichtbelegen von Collegien eine Carcerstrafe von 12 Stunden abzusitzen hatte. Der Zrcher Karzer war im Sdflgel des Polytechnikums unterge-bracht, wo die Universitt bis zum Neubau des Hauptgebudes 1914 gastrecht besass. Mit dem Neubau wurde er abgeschafft. Auch studentische Proteste konnten seine Aufhe-bung nicht verhindern. Maurus Immoos

rcKsPiegel

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KunststcK von Philip Ursprung

Heidi Bucher, Rettung der Haut ozeanisch

Die ehemalige, mehrfach umgebaute Augen-klinik, in der sich heute das archologische und das kunsthistorische Institut befinden, hat eine symmetrische Treppenanlage, die noch weit-gehend original erhalten ist. Die Tritte sind eine Spur zu steil, wie es sich fr protestanti-sche Bauten gehrt. Das heisst, man ist ange-halten, die Treppe eher hastig und in kleinen Schritten zu nehmen als gemchlich und mit Wrde. Weil ich immer denselben Weg ber die Treppe whle, also beim Eingang links, dann im ersten Stock berkreuz nach rechts hinauf zur Bibliothek und dann den umgekehr-ten Weg wieder abwrts so als wrde ich eine Acht beschreiben bleibt eine Nische, die sich im ersten Stock rechts befindet, zwangslufig in einem toten Winkel. Krzlich, als ich die Treppe fr einmal anders nahm, fiel mir in dieser Nische ein Relief der Zrcher Knstlerin Heidi Bucher auf. Rettung der Haut ozeanisch aus dem Jahre 1981 ist ein leicht fallender, die

Vorlage etwas verzerrender Latexabdruck eines architektonischen Details eines Innenraums. Wahrscheinlich stammt das Interieur aus der-selben Zeit, dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in dem auch die Augenklinik gebaut wurde.

Wie hatte ich es so lange bersehen knnen? Als ich 2005 meine Stelle am Institut antrat, war das Kunstwerk wegen eines Vandalenak-tes jemand hatte die Latexhaut mit einem Messer zerschnitten in Restauration. Und als es wieder hing, hatte ich anscheinend bereits meinen Trampelpfad gefunden und nicht mehr hingesehen. Im selben Jahr brachte eine Aus-stellung im Migros Museum Heidi Bucher, die nach ihrem Tod 1993 in Vergessenheit geraten war, wieder ins Bewusstsein. Seither wchst das Interesse an ihrem uvre stetig.

Rettung der Haut ozeanisch gehrt zu einer Reihe von Abdrcken, die Bucher Anfang der 1980er-Jahre aus den Innenrumen ihres Elternhauses und eines weiteren Familienhau-ses, des Ahnenhauses in Winterthur, machte. Sie goss die Zimmer Stck fr Stck ab, als wollte sie die Interieurs ihrer Kindheit gleichzeitig fixieren und aus ihrem starren Korsett heraus-lsen, die Erinnerung an die Familie gleich-zeitig mitnehmen und berwinden. Sie nherte sich den Gegenstnden wie eine Archologin. Aber sie begngte sich nicht damit, Spuren zu fixieren, sondern bemalte sie mit Perlmuttpig-menten. Deren Glanz macht Perlen so wertvoll, weil er auf feinsten Ablagerungen beruht und den Lauf der Zeit verkrpert. Eine irisierende Schicht berzieht auch Buchers Kunstwerke, die weder ein Spiegelbild zurckwerfen noch das Licht absorbieren. Sie rckt die Gegenstnde auf Distanz und entzieht sie der Vereinnahmung. Der Vergleich mit den Abgssen antiker Skulp-turen im Haus drngt sich auf. Und so wie wir heute manche Kopien hher schtzen als die Originale, gerade weil uns die Materialitt der Gipsabgsse mit ihrer Patina vor Augen fhrt, wie fragil der Prozess des Kopierens ist, so dreht sich auch Buchers Arbeit um die Brchigkeit des Abdrucks, der Erinnerung, ja der geschicht-lichen Tradition berhaupt. Sie machen die feine Textur des Gespinstes Geschichte fr einen kurzen Moment fassbar.

Philip Ursprung ist Professor fr Moderne und zeit-genssische Kunst.

Gespinst der Geschichte

bild Marita Fuchs

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Kolb meint dazu: Es gibt Quellen, die darauf hindeuten, dass diese Praxis mit der Zeit an Bedeutung verlor und mglicherweise nur noch pro forma eingehalten wurde.

Dennoch: Obwohl Mtter, die drei oder mehr Kinder hatten, beispielsweise eine etwas bes-sere Stellung erhielten und freier ber ihr Ver-mgen verfgen konnten, war an die Ausbung offizieller politischer mter unter den Vorzei-chen einer solchen Geschlechterordnung nicht zu denken. Dies galt auch fr jene Frauen, die durch Herkunft oder Besitz zu den fhrenden Schichten gehrten. Bloss an der Peripherie des Rmischen Reiches gab es Ausnahmen: In Kleinasien kam es gelegentlich vor, dass man-gels mnnlicher Nachkommen ein politisches Amt von einer Tochter oder Ehefrau ausgebt wurde. Und die gypter sahen gerne eine Kni-gin an der Seite ihres Pharaos und verehrten die beiden nach ihrem Tod als gleichgestellte und aufeinander angewiesene Gottheiten. Doch in Rom, im Zentrum des Reiches, galt: Eine gute Frau hatte sittsam, bescheiden und vor allem zurckhaltend zu sein.

erhabene frauen

Nun sind in der Literatur jedoch zahlreiche Beispiele von starken Frauen berliefert, die sich mit der Rolle des braven Heimchens am Herde nicht zufriedengaben. Da ist zum Bei-spiel Agrippina, die handfest dafr sorgte, dass ihr Sohn Nero Kaiser wurde. Oder Berenike aus Juda, die ihrem Geliebten, dem Thron-folger Titus, weniger konservative Sitten bei-gebracht haben soll. Anne Kolb wurde in ihren Lehrveranstaltungen oft auf solche Frauen angesprochen und gefragt, wie gross ihr Ein-fluss denn nun wirklich gewesen sei. Am Fall-beispiel der so genannten Augustae wurde diese Frage auch an einer Tagung in Zrich im letzten Herbst behandelt.

Zu seinen besten Zeiten war das Rmische Reich fast so gross wie die EU und hatte zwischen 50 und 80 Millionen Einwohner. Die Fhigkeit der Rmer, ein derart grosses Gebiet ber viele Jahrhunderte zu beherrschen, hat schon Gene-rationen von Forscherinnen und Forschern fasziniert. So auch Anne Kolb, Professorin fr Alte Geschichte an der Universitt Zrich. Die Herrschaftsstrukturen und die Herrschaftspra-xis der antiken Staaten sind ihr Spezialgebiet. Wie hielten die Rmer ihr Riesenreich unter Kontrolle, und warum funktionierte das so gut? Anne Kolb untersucht diese Frage anhand von ganz konkreten Dingen, etwa am Beispiel der zahlreichen Strassen, die die Rmer bauten, um darauf ihre Heere durch den ganzen Mit-telmeerraum marschieren zu lassen. Eine wich-tige Erkenntnis der neueren Forschung zur rmischen Herrschaft war, dass man sich die Brokratisierung der antiken Staaten bisher viel zu stark ausgebaut vorgestellt hat. Heute geht man davon aus, dass die Rmer ihre Unter-worfenen gar nicht so systematisch kontrollie-ren konnten und dass diese eher lockere Art der Kontrolle mit ein Grund fr die grosse Akzeptanz war, auf die die Rmerherrschaft vielerorts stiess.

Politische Herrschaft galt in der rmischen Antike als Mnnerdomne. Dennoch ist von einer Reihe von Frauen des rmischen Kaiser-hauses bekannt, dass sie erhebliche Einfluss-mglichkeiten besassen. Frauen hatten im anti-ken Rom eigentlich keinen eigenen rechtlichen Status. Sie galten als Anhngsel ihrer Vter, Ehemnner oder Brder und standen unter deren Vormundschaft. Wollten sie Geschfte ttigen, Handel treiben oder vor Gericht auf-treten, brauchten sie stets einen Tutor, ihren Vormund, der das fr sie erledigte. Alles, was als ffentlich betrachtet wurde, lag in den Hn-den der Mnner. Zumindest theoretisch. Anne

antiKe First ladies

Wie hielten es die alten Rmerinnen mit der Macht? Die Historikerin Anne Kolb mchte wissen, was das Rmische Reich im Innersten zusammenhielt, und machte sich auf die Spuren der Frauen des rmischen Kaiserhauses. Von Tanja Wirz

forschung

Machtbewusste Rmerin: Agrippina der Jngeren

bild Ursula MeisserWebsite www.hist.uzh.ch

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war jedes Mittel Recht, um ihren Sohn Nero auf den Thron zu bringen. (Gipsabguss in der Sammlung des Archologischen Instituts)

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lig eigenem Willen aufgekreuzt. Etwas spter empfand Nero die Machtflle seiner Mutter offenbar als derart bedrohlich, dass er sie um-bringen liess. Nicht gerade mit dem Tod, son-dern bloss mit lebenslnglicher Missachtung musste Agrippinas Mutter fr einen ffentli-chen Auftritt bezahlen. Sie, Agrippina die ltere, war die Ehefrau des Feldherrn Germanicus gewesen. 15 n. Chr. brach unter den Legionen am Rhein eine Meuterei aus. Weil Germanicus nicht vor Ort war, verhandelte Agrippina an seiner Stelle mit dem Heer und brachte es fer-tig, die Situation zu beruhigen. Als Kaiser Ti-berius davon erfuhr, reagierte er sehr gehssig, erzhlt Anne Kolb. Dass die Dame sogar noch Erfolg gehabt hatte mit ihrem ffentlichen Auf-tritt, war offenbar zu viel.

zur Wurzel allen bels stilisiert

Wer sich mit den einflussreichen Frauen des alten Roms befasst, sieht sich vor dem Problem, dass konkrete Zeugnisse mit Fakten aus ihrem Leben rar sind. Eher noch gibt es moralisch gefrbte Urteile von zeitgenssischen Beob-achtern oder von Autoren, die die Geschichten dieser Frauen als abschreckende Beispiele erwhnen. Nur zu oft wurden Frauengestalten zur Wurzel allen bels stilisiert, wie zum Bei-spiel Kleopatra, die als Schuldige dafr her-halten muss, dass ein einstmals aufrechter Rmer wie Antonius politisch pltzlich nicht mehr nach dem Geschmack der herrschenden Elite war. Politischer Einfluss von Frauen wurde in allen bisher bekannten rmischen Quellen als usserst problematisch eingestuft. Doch wer weiss: Bis heute werden jedes Jahr Tau-sende von noch unbekannten antiken Inschrif-ten entdeckt, sagt Anne Kolb. Die Geschichte der einflussreichen Rmerinnen ist also nach wie vor nicht endgltig in Stein gemeisselt.

KontaKt Prof. Anne Kolb, Historisches Seminar der Universitt Zrich, [email protected]

finanzierung Universitt Zrich

Augusta war ein Ehrentitel, den zahlreiche Ehefrauen, Schwestern und Mtter von rmi-schen Kaisern trugen. Livia, die Frau des ers-ten rmischen Kaisers Augustus, war die erste. Ihr Gatte, ein Grossneffe und Adoptivsohn Julius Csars, hatte sich in den Brgerkriegs-Wirren, die auf Csars Tod gefolgt waren, als allein herrschender Kaiser durchgesetzt und ein neues Regierungssystem etabliert. Der Senat behielt allerdings eine wichtige Rolle und verlieh dem bisher Oktavian genannten neuen Machthaber den Namen Augustus (= der Erhabene). Er regierte 44 Jahre lang sehr erfolgreich und wollte seine Position schliesslich an einen Nach-folger aus der Familie weitergeben und somit eine Dynastie begrnden. Dummerweise hatte er keine direkten mnnlichen Nachkommen und musste deshalb Tiberius, einen Sohn sei-ner Frau aus erster Ehe, adoptieren. Das war ein ziemlich kritischer bergang, erklrt Anne Kolb, denn der Gedanke an eine dynastische Thronfolge war damals ja neu und noch nicht selbstverstndlich. Vielleicht wollte Augustus seine Dynastie deshalb auch ber seine Frau absichern. Jedenfalls vermachte er Livia in seinem Testament den Titel Augusta. Es war kein offizielles politisches oder religises Amt damit verbunden, sondern es handelte sich einfach um eine Auszeichnung fr diejenigen Rmerinnen mit der hchsten sozialen Stel-lung: den Garantinnen der jeweiligen Kaiser-dynastie also.

informell macht ausben

Eigentlich htte diese Position ganz gut zum gngigen rmischen Weiblichkeitsideal gepasst: die Frau als Hterin der Familie. Doch nicht alle Rmerinnen wollten sich mit der speziel-len Auszeichnung schmcken davon zeugen die Schriften des Senators Plinius. Er berichtet etwa, wie die Ehefrau und die Schwester von Kaiser Traian im Jahr 100 zu Augustae htten ernannt werden sollen. Die beiden Frauen lehn-ten den Titel jedoch ab. Plinius lobte die bei-den Damen fr dieses usserst bescheidene Verhalten ber den grnen Klee, sagt Anne Kolb und fgt spitzbbisch hinzu: Ein paar Jahre spter haben sie den Titel dann natrlich trotzdem angenommen. Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, heute berhaupt etwas ber

diese Frauen zu erfahren. Denn was von ihnen berliefert ist, stammt aus mnnlicher Feder und ist gefrbt von der damals herrschenden Ideologie. Eine der wenigen Quellen ist ein Brief, mit dem eine politische Interessensgruppe um 213 n. Chr. extra an Iulia Domna, die Mutter des Kaisers Caracalla, gelangte und sie darum bat, ihren Einfluss beim Kaiser geltend zu machen. Sie wollte dies offenbar jedoch nicht und antwortete freundlich, aber unbestimmt. Vermutlich, weil es sich fr eine Frau nicht gehrte, sich in politische Entscheide einzu-mischen, so Anne Kolb. Wollten die Kaiser-gattinnen oder Kaisermtter Macht ausben, so mussten sie dies immer auf informellem Weg tun. Diejenigen, die es demonstrativ machten, wurden alle abgestraft.

Ein berhmtes Beispiel dafr ist Agrippina die Jngere, die Mutter von Kaiser Nero. Anne Kolb zeigt das Bild einer Mnze, auf welcher Nero und Agrippina abgebildet sind: Agrippina hatte ja massgeblich und wenig zimperlich dafr gesorgt, dass ihr Sohn auf den Thron kam, indem sie ihren eigenen Mann, Kaiser Claudius, kurzerhand vergiften liess. Die Mnze stammt aus der Zeit, als Nero gerade Kaiser geworden war, erklrt Kolb. Offenbar gelang es Agrippina, durchzusetzen, dass sie zusam-men mit ihm auf der Vorderseite der Mnze abgebildet wurde. Dies ist usserst ungewhn-lich, denn normalerweise gehrte die Vorder-seite von Mnzen ganz allein dem Kaiser. Dass eine Frau noch zu ihren Lebzeiten in gleich-berechtigter Pose darauf zu sehen war, kam im konservativen Umfeld des Kaisers denn auch nicht gut an, und die Mnzen mit Agrippina verschwanden bald wieder.

Eine vom rmischen Historiker und Senator Tacitus berlieferte Anekdote belegt ebenfalls, dass sich Agrippina zum Schrecken der mnn-lichen ffentlichkeit wenig um damalige Frauenideale scherte und politisch mitreden wollte: In der Anfangszeit von Neros Regent-schaft soll sie uneingeladen zu einer Bespre-chung mit auslndischen Gesandten erschie-nen sein. Dieser ffentliche Auftritt wurde als derart problematisch eingestuft, dass Nero ge-raten wurde, er solle seiner Mutter schnell entgegengehen und sie begrssen, damit es zumindest so aussehe, als sei sie nicht aus vl-

unimagazin 2/09 13bilder Philippe SanerWebsite www.uwinst.uzh.ch

auch auf Borneo der Regenwald schonungslos abgeholzt, kommentiert Andrew Hector, Pro-fessor am Institut fr Umweltwissenschaften der Universitt Zrich. Fast alle gefllten Bume gehren zur Familie der Flgelfruchtgewchse, in der Fachsprache Dipterocarpaceae genannt. Natrliche Flgelfruchtgewchs-Wlder geh-

Ein grsserer Kontrast ist kaum vorstellbar. Erst Bilder vom intakten Regenwald mit bis zu 80 Meter hohen Bumen, die die oberste Kro-nenschicht des Urwaldes bilden dann abge-sgte Baumstmpfe und tiefe schlammige Schleifspuren, die vom Abtransport der Stmme zeugen. Wie vielerorts in Sdostasien wurde

BedrOhte urWaldriesen

Dem Kahlschlag entgegenwirken: Mit einem Biodiversittsexperiment erforscht der Zrcher kologe Andrew Hector auf Borneo, wie man den Regenwald am erfolgreichsten wiederaufforsten kann. Von Susanne Haller-Brem

forschung

ren zu den artenreichsten Landkosystemen Sdostasiens, doch sie sind stark bedroht. Dies einerseits, weil die Baumriesen begehrtes Hart-holz liefern und andererseits einen speziellen Lebenszyklus haben.

Wie bestimmte andere Baum-Familien bil-den Flgelfruchtgewchs-Bume nur ungefhr alle zehn Jahre grosse Mengen Samen. Man spricht dann von einem Mastjahr. Die Samen berdauern aber nicht im Boden wie bei Bu-men in unseren Breitengraden, sondern keimen in wenigen Tagen aus und verharren als Schss-linge im Schatten der Urwaldriesen. Dort kn-nen sie bis zu Jahrzehnten warten, bis eine Lcke im Bltterdach entsteht und sie selber zu Baumriesen heranwachsen knnen. Der

Raubbau an der Natur: Der Regenwald auf Borneo wird schonungslos abgeholzt.

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intensive Holzschlag verhindert die natrliche Regeneration der Flgelfruchtgewchse, weil die fruchttragenden Baumriesen entfernt wer-den und die schweren Holzernte-Fahrzeuge die Schsslinge zerstren, sagt Andrew Hector.

langzeitexPeriment im regenWald

Der junge kologieprofessor leitet in Sabah, dem malaysischen Teil Borneos, eines der welt-weit grssten Langzeitexperimente im Regen-wald. Dabei arbeitet das Institut fr Umwelt-wissenschaften der Universitt Zrich mit eu-ropischen und sdostasiatischen Institutionen zusammen. Auf dem Versuchsgelnde, das der staatlichen Sabah Foundation gehrt, bilden Schlingpflanzen und Jungbume ein unweg-sames Dickicht. Die charakteristischen Fl-gelfruchtbume, die natrlicherweise das Laub-dach bilden wrden, sind auch hier Anfang der 1980er-Jahre vollstndig abgeholzt worden. Mit dem Sabah-Biodiversittsexperiment wol-len wir untersuchen, ob das Wiederaufforsten mit verschiedenen Baumarten tatschlich er-folgreicher ist als wie bisher blich mit einer Monokultur, erklrt Andrew Hector. In dem auf 60 Jahre angelegten Experiment messen die Forscher regelmssig die produzierte Holz-menge, den aufgenommenen Kohlenstoff und andere kologische Funktionen. Einheimische Frster wissen inzwischen, wie man den be-drohten Flgelfruchtgewchsen nachhelfen kann. In Regionen, wo es die Baumriesen noch gibt, sammeln sie nach einem Mastjahr Samen und ziehen diese in Baumschulen auf. Die Setz-linge werden dann in Streifen, die vom Unter-holz befreit worden sind, in den Wald gepflanzt. Mit dieser Technik, dem so genannten En-richment-Planting, stocken sie den Wald ge-zielt fr eine sptere Nutzung auf.

Auch die Zrcher Forscher pflanzten die Setzlinge auf diese Weise in den Wald, denn schliesslich soll der Langzeitversuch mit ande-ren Wiederaufforstungsprojekten in der Region vergleichbar sein. Inzwischen gibt es verschie-dene Industrien und private Investoren, die das Enrichment-Planting in dieser Region finanziell untersttzen. Doch bei diesen Pro-jekten steht der Naturschutzgedanke im Vor-dergrund, das Sammeln von wissenschaftli-che Daten ist hufig nicht so wichtig. Dies soll Liefern begehrtes Hartholz: Die Bume aus der Familie der Flgelfruchtgewchse auf Borneo.

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sich nun mit dem Sabah-Biodiversittsprojekt ndern. Damit das Experiment statistisch aus-sagekrftig wird, wurde das Areal in 124 gleich grosse Versuchsflchen eingeteilt. Jede dieser Flchen ist 200 Meter lang und 200 Meter breit. In Baumschulen wurden Setzlinge von 16 ver-schiedenen Arten von Flgelfruchtgewchsen angezogen.

Unter schwarzen Netzen, die die Dunkelheit des Urwaldbodens simulieren, warteten die Baumschsslinge, bis sie schliesslich in den Urwald gepflanzt wurden. Seit 2001 haben For-scher und Freiwillige auf jeder Versuchspar-zelle mittlerweile rund 1300 Setzlinge platziert, insgesamt also mehr als 150 000 Jungbume. Diese siedelten sie entweder in Monokulturen oder in verschiedenen Kombinationen von vier oder allen 16 Arten der Flgelfruchtgewchse an. Bis allerdings dieses Grossexperiment im Regenwald gesicherte Aussagen zulsst, wer-den noch Jahrzehnte vergehen und unzhlige Doktoranden und Postdoktoranden Forschungs-resultate fr das gigantische Puzzle zusam-mentragen. Dabei werden sie in regelmssigen Abstnden die gebildete Holzmasse und den fixierten Kohlenstoff der Flgelfruchtgewchs-Bumen bestimmen. Dazu mssen die Pflan-zen vermessen und Holzproben entnommen werden. Zudem mchten die Wissenschaftler die kologie der enorm vielfltigen Flgel-fruchtgewchse besser erforschen und deren Einfluss auf Vgel, Sugetiere und Insekten bestimmen.

biodiversitt strKt Kosystem

Der kologe Andrew Hector ist fr das Lang-zeitexperiment im Regenwald von Borneo bes-tens qualifiziert. Vor seiner Zeit am Institut fr Umweltwissenschaften der Universitt Zrich war er Koordinator eines EU-Projektes, das den Einfluss der Artenvielfalt bei europi-schen Wiesengemeinschaften untersucht hat. Diese Ergebnisse hat Hector im Rahmen sei-ner Dissertation am Imperial College in Lon-don ausgewertet. Ein zentrales Resultat war, dass der Verlust an Biodiversitt generell mit einem Rckgang der Produktivitt und Wider-standsfhigkeit der kosysteme einhergeht, erzhlt er. So waren beispielsweise Flchen mit weniger Arten strker von Schdlingen

befallen als artenreiche Areale. Um die Expe-rimente aus acht europischen Lndern aus-zuwerten, musste Hector neue theoretische Anstze entwickeln, die nun auch im Sabah-Biodiversittsprojekt angewendet werden. Da einzelne Studien nur beschrnkt aussagekrf-tig sind, plant Hector seine Forschung in ein Netzwerk hnlicher Projekte einzubinden, bei denen Wlder in anderen Erdteilen unterschied-lich vielfltig aufgeforstet werden.

In den letzten Jahren hat die verstrkte Nach-frage nach Biotreibstoffen den Druck auf die Regenwlder noch erhht. Auch auf Borneo werden zunehmend bereits abgeholzte Wlder nicht wieder aufgeforstet, sondern in lpalm-plantagen umgewandelt. Eine gigantische Artenvielfalt wird dem schnellen Profit geop-fert, obwohl wir bis heute nur wenig darber wissen, welche Auswirkungen die schwindende Biodiversitt hat, sagt Hector. Wie viel darf beispielsweise verloren gehen, bis ein kosys-tem seine Funktion nicht mehr erfllen kann? Die meisten bisherigen Untersuchungen sind in Wiesengemeinschaften durchgefhrt wor-den, doch zu hoch komplexen Systemen wie Regenwldern existieren kaum Studien. Die Beantwortung dieser Fragen ist auch angesichts des Klimawandels relevant. Denn Regenwl-der helfen den steigenden Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphre zu senken. Doch leider sind im Kyoto-Protokoll bis jetzt keine derartigen Projekte fr Waldwiederaufforstung vorgese-hen. Andrew Hector hofft aber, dass sich dies in den kommenden Jahren ndern wird.

KontaKt Prof. Andrew Hector, Institut fr Umwelt-wissenschaften, Universitt Zrich, [email protected]

zusammenarbeit The NERC Centre for Popula-tion Biology at Imperial College London; The Royal Society, The University of Oxford; University Malay-sia Sabah (UMS); Yayasan Sabah (The Sabah Foun-dation)

finanzierung Universitt Zrich; The NERC Cen-tre for Population Biology at Imperial College Lon-don; Earthwatch; Hong Kong Shanghai Banking Cor-poration (HSBC); ASEAN Centre for Biodiversity (ACB); WWF-Malaysia

16 unimagazin 2/09

nach der Verabreichung des Zytokin-Blockers interessanterweise zunchst oft nur wenig nach. Hingegen berichten die Patienten von einer schnellen psychischen Erholung: Von einem Tag auf den andern fhlen sie sich wach und krftig, die Mdigkeit ist wie weg-geblasen.

Bekannt ist auch, dass bei chronischer Poly-arthritis, Morbus Bechterew, Schuppenflechte und anderen Autoimmunkrankheiten vermehrt Zytokine im menschlichen Immunsystem gebil-det werden. Und, dass Krebspatienten whrend einer Immuntherapie mit dem Tumor-Nekrose-Faktor alfa (TNF alpha) ber schwere Erschp-fungszustnde klagen. TNF alpha ist ein Zyto-kin und fr die bertragung von Information zwischen Zellen, die an Entzndungsprozes-sen beteiligt sind, verantwortlich. Adriano Fon-tana sieht dieses Eiweiss als den aussichts-reichsten Kandidaten, der das sickness beha-viour syndrome vermittelt.

eiWeiss frdert Passivitt

An Versuchen mit Musen hat Adriano Fontanas vierkpfiges Forscherteam den Botenstoff TNF alpha eingehend untersucht. Unter anderem gemeinsam mit Irene Tobler vom Institut fr Pharmakologie und Toxikologie der Universitt Zrich: Muse, denen die Forscher ber Tage kontinuierlich das Eiweiss verabreichten, be-nutzten ihr Laufrad deutlich weniger und liefen seltener in ihren Kfigen umher als solche ohne Behandlung mit dem Botenstoff. Auffllig ist auch, dass sich die Schlafarchitektur von TNF alpha behandelten Musen verndert, erlutert der Neuroimmunologe Fontana, so wird unter TNF alpha etwa die REM-Schlafphase verkrzt. In der REM-Schlafphase trumen Muse und andere Sugetiere besonders viel, das Herz hat eine charakteristische Aktivitt und die Augen bewegen sich dabei rasch hin und her (REM engl. fr Rapid Eye Movement).

Die Forscher untersuchten auch gentech-nisch vernderte Muse, denen jeweils eine bestimmte Sorte von Zytokin-Rezeptoren fehl-ten, so genannte Knock-out-Muse. Die Wis-senschaftler spritzten hierzu den Knock-out-Musen bestimmte Eiweisse, die das Immun-system zur Bildung von Zytokinen anregen. Anschliessend beobachteten sie das Verhalten

men ihrer Krankheit. Lange gingen Mediziner und Psychologen davon aus, dass diese Antriebs-losigkeit bei Autoimmunerkrankungen oder chronischen Infektionskrankheiten ein reak-tiver Effekt ist. Sprich, als psychische Folge des Krankseins auftritt. Doch diese Sicht ist unterdessen korrigiert worden, sagt Adriano Fontana: Heute diskutieren Forscher viel eher darber, ob die Mdigkeit nicht auf pathophy-siologischen Vorgngen im Krper beruht.

Ins Visier genommen hat Adriano Fontana, der zu den 100 weltweit am hufigsten zitier-ten Immunologen zhlt, insbesondere krper-eigene entzndungsmodulierende Botenstoffe. Diese so genannten Zytokine werden von Immunzellen ausgeschttet. Sie beeinflussen etwa bei Morbus Crohn, bei Arthritis oder bei MS das krankheitsspezifische entzndliche Geschehen im Darm, in den Gelenken oder im Gehirn. Bei Polyarthritis etwa bringen die Botenstoffe andere krpereigene Eiweisse (so genannte Proteasen) dazu, den Gelenkknorpel zu schdigen. Aber nicht nur das, so ist Adri-ano Fontana berzeugt: Bei Polyarthritis und anderen Autoimmunerkrankungen wirken die Zytokine wahrscheinlich auch auf Nervenzel-len und verndern so das Befinden und das Verhalten der Erkrankten.

Gesttzt wird dies auch durch die Beobach-tung, dass sich Polyarthritiskranke, die mit einem Zytokin-Blocker behandelt werden, bald weniger erschpft und mde fhlen. Zytokin-Blocker vereiteln, dass Zytokine an Rezeptoren auf Zielzellen binden. Die Blocker hindern die pro-entzndlichen Botenstoffe also daran, ihre Botschaft weiterzutragen, und unterbrechen somit nachgeschaltete molekulare Reaktionen im Krper. Adriano Fontana: Die Gelenk-schmerzen von Polyarthritispatienten lassen

Knnte unser Immunsystem sprechen, wrde es uns, wenn wir krank sind, strikte Bettruhe verordnen. Aber auch ohne solch explizite An-weisung sorgt unser Krper dafr, dass wir uns als Kranke und Rekonvaleszente nicht ber die Massen verausgaben: Nicht Viren, Bakte-rien und Co nmlich, sondern unser eigenes Immunsystem fesselt uns an kranken Tagen ans Bett und macht uns mde und schlapp. Das macht evolutionsbiologisch durchaus Sinn. Nicht nur der Schonung wegen wie etwa El-tern gegenber ihrem fiebernden Kind oder die Hausrztin gegenber dem grippekranken Manager argumentieren. Ein zweiter Grund fr Bett- beziehungsweise Nestruhe: Ein kran-kes und somit womglich kampfunfhiges Tier, das sich zurckzieht, ist vor Feinden besser geschtzt. Drittens ntzt der Rckzug auch der Population als Ganzes: Ein krankes Indivi-duum, das sich aus eigenem Antrieb in eine Art Quarantne begibt, schtzt so seine Art-genossen vor einer weiteren Verbreitung des mglicherweise lebensbedrohlichen Krank-heitserregers.

mdigKeit Wie Weggeblasen

Was bei akuten Krankheiten sinnvoll ist und fr krzere Zeit auch gut auszuhalten ist, macht Menschen mit chronischer Polyarthritis, mit Multipler Sklerose (MS) oder entzndlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn unter Umstnden schwer zu schaffen: Wer an einer chronischen Autoimmunkrankheit leidet, krankt oft an Tagesmdigkeit, fhlt sich ent-krftet, hat keinen Appetit, weiss der Neuroim-munologe Adriano Fontana. Zum Teil leiden die Betroffenen unter diesem so genannten sickness behaviour syndrome sogar mehr als an den eigentlichen krperlichen Sympto-

sandMnnchen des iMMunsysteMs

Chronisch Kranke fhlen sich oft mde. Adriano Fontana von der Klinik fr Immunologie ist diesem Phnomen auf der Spur. Seine Hypothese: Entzndungs-mediatoren schrubeln an der inneren Uhr der Betroffenen. Von Ruth Jahn

forschung

bild Heike GrasserWebsite www.klimm.unispital.ch

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der Tiere. Auffallend war, dass besondere Knock-out-Muse, die keinen TNF-alpha-Rezep-tor besitzen, trotz des aktivierten Immunsys-tems unbeirrt ihre Kilometer im Laufrad mach-ten, so Adriano Fontana. Die Ausschttung von TNF alpha bleibt bei diesen Kock-out-Mu-sen wirkungslos, da die entsprechenden Rezep-toren fehlen die Muse blieben aktiv. Ganz anders die Knock-out-Muse, denen ein ande-rer Rezeptortyp fehlte: Diese reagierten auf die Immunstimulation mit Passivitt hchst-wahrscheinlich durch TNF alpha vermittelt.

Das Sandmnnchen des Immunsystems knnte demnach TNF alpha heissen. Aber wie gelingt es dem kleinen Eiweiss, Muse und Menschen mde zu machen? In seinem Alltag als Arzt in der Klinik fr Immunologie spricht Adriano Fontana tglich mit Menschen, die an einer Autoimmunkrankheit leiden: Viele sagen, ihr Schlaf sei seltsam und am Morgen fhlen sie sich wie gerdert. Das hat mich auf die zn-dende Idee gebracht: TNF alpha und andere Zytokine schrubeln womglich an der inne-ren Uhr und bringen so den circadianen Rhyth-mus der Erkrankten durcheinander. Tatsch-lich haben Thomas Birchler aus Fontanas Team und seine Forscherkolleginnen und -kollegen anhand von Tierexperimenten und in Zellkul-turen herausgefunden: Der Botenstoff TNF alpha dmpft die Aktivitt der Gene in den Zel-len der inneren Uhr des Organismus. So sind einzelne dieser so genannten Clock Gene in der Leber von Musen, die mit TNF alpha behan-delt werden, deutlich weniger aktiv. Und in Zellkulturen mit Bindegewebszellen (Fibro-blasten) werden genau dieselben Clock Gene weniger hufig abgelesen.

taKtgeber des organismus

Clock Gene sind die Taktgeber des Organis-mus. Sie steuern den Tagesrhythmus von der Krpertemperatur ber den Schlaf-Wachrhyth-mus bis zu den diversen metabolischen Vor-gngen wie etwa der Freisetzung von Hormo-nen. Clock Gene sind im Gehirn (genauer im suprachiasmatischen Nukleus, kurz SCN), aber auch in allen anderen mglichen Geweben und Organen aktiv. Die Clock Gene des SCN haben unter anderem die Aufgabe, die verschiedenen inneren Uhren des Krpers zu synchronisie-Der Botenstoff TNF alpha macht Menschen mde. Adriano Fontana will wissen, weshalb.

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weise sehr subtile Dispersionseffekte berck-sichtigen, die in den Elektronenwolken der Atome entstehen.

WechselsPiel der atome

Kim Baldridges wichtigstes Arbeitswerkzeug ist das Softwarepacket General Atomic and Molecular Electronic Structure System (GAMESS). Dieses basiert auf den Gesetzms-sigkeiten der Quantenmechanik und ermg-licht so, tief in das Wechselspiel der Atome ein-zudringen und die Vorgnge detailgetreu nach-zubilden. Die ltesten Teile von GAMESS stt-zen sich auf Algorithmen, die bereits vor etli-chen Jahren entwickelt wurden. Heute umfasst der Quelltext des Softwarepackets fast eine Million Zeilen. Die Programme kontinuierlich weiterzuentwickeln, ist denn auch ein wichti-ger Teil von Baldridges Forschungsttigkeit.

Seit sie in den 1980er-Jahren angefangen hat, chemische Verbindungen mit rechneri-schen Modellen zu untersuchen, hat sich die Computertechnik rasant weiterentwickelt. Da-mals rechneten die Wissenschaftler noch mit Vektorcomputern. Diese wurden in den neun-ziger Jahren von Parallelrechnern abgelst, und heute arbeiten die Wissenschaftler mit globalen Netzwerken von leistungsfhigen Re-chenmaschinen. Die Entwicklung der Hard-ware erforderte einen aufwndigen Umbau der Software, damit sie auch auf den neuen Platt-formen optimal funktioniert. Chemische Mo-dellrechnungen sind sehr zeitraubend und kostspielig, deshalb ist es wichtig, dass die Al-gorithmen mglichst effizient arbeiten, erklrt Kim Baldridge. Effizienz ist jedoch nur ein Kriterium, das die Programme erfllen ms-sen. Gleichzeitig sollen sie auch gengend tief ins Detail gehen, damit die anstehenden Fra-

Wenn chemische Substanzen miteinander rea-gieren, sieht das auf den ersten Blick nach einem relativ einfachen Vorgang aus: Die Molekle treten ber ihre Elektronenhlle in eine Wech-selwirkung, und dadurch verndern sich die bestehenden Bindungen zwischen den Atomen alte Substanzen lsen sich auf, neue Produkte entstehen, Reaktionen zwischen anderen Stof-fen werden in Gang gesetzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dieses Bild viel zu simpel ist: Wenn zwei Molekle miteinander reagieren, wird zwischen den einzelnen Ato-men eine regelrechte Kaskade von Prozessen ausgelst. Insbesondere in biologischen Syste-men, wo unzhlige grosse, schwer berschau-bare Molekle miteinander reagieren, ist es fr Chemiker und Biologen hufig sehr schwie-rig, die Ablufe im Detail zu verstehen. Genau dies wre jedoch wichtig, wenn diese Reakti-onskaskaden gezielt manipuliert werden sollen zum Beispiel um neue therapeutische Anstze fr Krankheiten zu entwickeln oder die Wir-kung von Medikamenten zu verbessern.

Neben ausgeklgelten Laborversuchen set-zen Biologen und Chemiker immer hufiger auch Computersimulationen ein, um die Funk-tionsweise von Moleklen zu studieren. Die computergesttzte Chemie liefert heute als eigenstndige Forschungsdisziplin denn auch wichtige Beitrge zum Verstndnis von che-misch-biologischen Prozessen. Mit unseren Modellen knnen wir die Struktur von Mole-klen mit hoher Przision berechnen, und das ermglicht neue Einblicke, wie sie mit anderen Substanzen reagieren, erklrt Kim Baldridge, Professorin fr computergesttzte Chemie am Organisch-chemischen Institut der Universitt Zrich. Um zu begreifen, wie sich Molekle in Lsungen verhalten, muss man beispiels-

das innenleBen der MOleKle

Was spielt sich bei chemischen Reaktionen zwischen den Moleklen genau ab? Die Chemikerin Kim Baldridge erforscht diese Frage bis ins kleinste Detail mit Hilfe von hochkomplexen Computermodellen. Von Felix Wrsten

forschung

ren. Sie werden von Nervenbahnen, die vom Auge her kommen, ber die Tageszeit (hell dunkel) informiert.

Die Ergebnisse der bisherigen Experi-mente von Fontanas Gruppe deuten darauf hin, dass TNF alpha vor allem gegenseitige Wechselwirkungen von Clock Genen strt und dadurch den Aktivittsdruck auf den Organismus drosselt. In ihrer zuknftigen Forschung will sich Fontanas Gruppe inten-siv mit der Wirkung von Zytokinen auf die verschiedenen Clock Gene im SCN beschf-tigen. Und die Wissenschaftler mchten auch den Zusammenhang zwischen der Vern-derung der Bildung von Clock Genen im Gehirn und dem verminderten Aktivitts-druck der Tiere weiter ergrnden.

Darber hinaus haben sie auch im Sinn, Muse kognitiven Tests zu unterziehen zum Beispiel zur Merk- und Lernfhigkeit. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, so Adriano Fontana, aber mglicherweise wirkt sich der Zytokin-Boost bei chroni-schen Infektionskrankheiten und Auto-immun krankheiten kontraproduktiv auf das Lernen und das Gedchtnis aus, so der Neu-roimmunologe. Ganz hnlich wie gewisse Hormone (zum Beispiel Cortisol und Adre-nalin) bei Stress. Forschung heisst fr mich, meiner Neugierde und meinen Phantasien freien Lauf zu lassen, sagt Adriano Fontana. Nur in Kategorien von Standard-Experi-menten und gesichertem Wissen zu denken, wrde mich und meine Mitarbeiter weniger antreiben und wrde unsere Forschung wohl auch nicht so erfolgreich machen.

KontaKt Prof. Adriano Fontana, Klinik fr Im munologie, Universittsspital Zrich, [email protected]

finanzierung Kanton Zrich, Schweizerischer Nationalfonds, Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft, Gianni Rubatto Stiftung

zusammenarbeit Prof. Irene Tobler, Institut fr Pharmakologie und Toxikologie, Universitt Zrich; PD Dr. Elisabeth Eppler und Prof. David Wolfer, Anatomisches Institut, Universitt Zrich; Prof. Burkhard Becher, Institut fr Experimen-telle Immunologie, Universitt Zrich; Prof. Urs Albrecht, Universitt Freiburg

Website www.oci.uzh.chunimagazin 2/09

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gen mit der wissenschaftlich geforderten Ge-nauigkeit untersucht werden knnen. Bei der Entwicklung der Algorithmen gilt es daher immer wieder eine Balance zwischen Rechen-geschwindigkeit und Genauigkeit zu finden. Gerade bei grossen Moleklen stsst man dabei schnell einmal an Grenzen. Der quantenme-chanische Ansatz von GAMESS ermglicht zwar eine grosse Detailgenauigkeit, erfordert jedoch auch einen beachtlichen Rechenaufwand. Bei grossen Proteinen wenden die Forschenden daher so genannte Hybridmodelle an. Diese kombinieren verschiedene Modellanstze, die mit unterschiedlicher Genauigkeit arbeiten.

Grundstzlich stellt Kim Baldridges Grup-pe ihre Software auch anderen Arbeitsgrup-pen zur Verfgung. Bevor wir einen Pro-grammteil verffentlichen, mssen wir jedoch sicherstellen, dass er auch wirklich korrekt arbeitet. Deshalb vergleichen wir unsere Resul-

tate immer wieder auch mit Ergebnissen, die andere Gruppen mit anderen Anstzen ermit-telt haben, berichtet die Forscherin.

Wege aus der sacKgasse

So sehr die Entwicklung von neuen Algorith-men die Chemieprofessorin fasziniert: Ohne den Bezug zu konkreten chemischen und bio-logischen Problemen fnde sie ihre Ttigkeit langweilig. Zum Glck kennen wir viele Grup-pen, die interessante Forschungsprobleme ein-bringen, die wir dann mit unseren Modellen hinterfragen und auflsen. Ein grosser Teil dieser Fragestellungen dreht sich um Reakti-onsprozesse in Lsungen. Kim Baldridge ver-sucht, Schritt fr Schritt nachzuvollziehen, wie sich Substanzen in Lsungen verhalten und wie sie mit anderen Stoffen reagieren. Sie will auf diese Weise beispielsweise besser verste-hen, warum gewisse Verbindungen fluores-

zieren. Hin und wieder gelingt es gar, mit den Modellen neue Strukturen vorauszusagen, die dann von den experimentellen Forschern in ihren Labors besttigt werden, meint sie. Auch bei konkreten pharmazeutischen Problemen wird ihre Gruppe immer wieder zugezogen. So hat sie beispielsweise eine vielversprechende Substanz fr die Behandlung von Krebs unter-sucht. Den experimentellen Forschern gelang es nicht, aus der anfnglichen Verbindung eine therapeutisch aussichtsreiche Substanz zu ent-wickeln. Dank unserer Berechnungen fanden wir dann heraus, wie die entsprechende Ver-bindung verbessert werden knnte.

Wenn Baldridge ein neues Thema in Angriff nimmt, will sie nicht einfach nur eine Ant-wort auf die Fragestellung der Praktiker fin-den, sondern sie versucht gezielt, die Pro-gramme so weit auszureizen, dass sie fehler-hafte Resultate liefern oder die gestellten Pro-

bild Meinrad Schade

Untersucht das Funktionieren von Moleklen anhand von computergenerierten Modellen: die Chemikerin Kim Baldridge.

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Bnde erschienen, in diesem Jahr erscheint Band Nummer XI und bis 2012 soll die erste kritische, 13 Bnde umfassende Edition abge-schlossen sein. Das monumentale Projekt braucht einen langen Atem, der erste Band der Cahiers erschien 1987. Dabei wird jedoch nur ein Teil herausgegeben, jene von 1894 bis 1914. Diese Jahre gelten als die Zeit von Valrys silence, whrend der er nur wenig publizierte und seinen Lebensunterhalt als Redakteur im Kriegsministerium oder als Privatsekretr ver-diente. Bevor er zur Arbeit ging, schrieb er jeden Morgen in seine Cahiers.

Bisher gab es eine Faksimile-Ausgabe der Cahiers, die von 1957 bis 1961 in 29 Bnden erschien. Ein nur schwer zugngliches Text-Labyrinth, ohne wissenschaftliche Aufarbei-tung und mit einigen Fehlern behaftet. Erst-mals ins Bewusstsein der breiten ffentlichkeit gelangten Teile der Cahiers durch die von Judith Robinson-Valry herausgegebene zwei-bndige Anthologie (19731974). Das hat ein-geschlagen, bilanziert Christina Vogel, bis zu diesem Zeitpunkt galt Valry vor allem als grosser Dichter. Nun wurde er als vielfltig interessierter Denker sichtbar, bei dem man sich auch fr den Eigenbedarf bedienen konnte: Die Cahiers wurden zur Fundgrube fr all jene, die treffende Aphorismen suchten. Aus wissenschaftlicher Sicht war diese Pliade Edi-tion jedoch problematisch, weil Valrys Beob-achtungen und berlegungen nach Themen geordnet wurden, was Zusammenhnge sug-gerierte, die es im ursprnglichen Werk nicht gab. Als seriser wissenschaftlicher Ausweg blieb da nur eine saubere Transkription und exakte Datierung der Manuskripte, eine mg-lichst getreue grafische Gestaltung der Notizen und Skizzen, ergnzt durch einen kritischen Anmerkungsapparat, Indices und Kommen-tierungen.

Am Anfang stand ein Ende: In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1892 erlebte der damals 21-jhrige Paul Valry in Genua eine existen-zielle Krise, die als Nuit de Gnes in die Lite-raturgeschichte einging. Valry, der bereits einige Gedichte verffentlicht hatte, beschloss in dieser Nacht, den Gtzen der Literatur abzu-schwren und keine Lyrik mehr zu schreiben. Stattdessen wollte er sich knftig der vie de lesprit widmen, wie er es nannte. Das vorlu-fige Ende seiner Karriere als Dichter markiert den Beginn seines Lebenswerks, den Cahiers. Bis zu seinem Tod 1945 arbeitete Valry prak-tisch tglich an seinem Hauptwerk, das aus Gedankensplittern, Reflexionen, Berechnun-gen und Zeichnungen besteht, die er in Sch-lerheften notierte. Es war eine Form von intel-lektueller Gymnastik, erklrt die Romanistin Christina Vogel, Valry erprobte jeden Morgen unterschiedliche Sichtweisen und Denkstile, um sich die Welt fhlend und denkend neu zu erobern. Entstanden ist ein gewaltiges litera-risch-philosophisches Werk, dessen Umfang und Komplexitt die Literaturwissenschaft bis heute fasziniert und beschftigt.

ProduKtives schWeigen

Christina Vogel, Titularprofessorin fr Roma-nische Literaturwissenschaft an der Univer-sitt Zrich, gehrt seit 16 Jahren zum inneren Kreis der Valry-Spezialisten, die sich wissen-schaftlich mit den Cahiers auseinandersetzen. Als sie 1993 mit ihrer Habilitation ber die Cahiers begann, war sie in der Schweiz allein mit ihrem Interesse. Doch sie hatte Glck, zur selben Zeit fand in Frankreich ein grosser Kon-gress ber Valry statt. Vogel reiste hin und wurde nicht nur sofort in den Kreis der Valry-Adepten aufgenommen, sondern auch einge-laden, bei der Herausgabe der Cahiers mitzu-machen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren vier

valrys eisBerG

Paul Valry ist nicht einfach einzuordnen: Er war Lyriker, Essayist, Philosoph eine intellektuelle Institution Frankreichs. Dabei war sein Hauptwerk zu Lebzeiten gar noch nicht in seiner ganzen Flle bekannt: die Cahiers. Von Thomas Gull

forschung

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bleme gar nicht mehr bewltigen knnen. Genau dann wird es spannend, erklrt sie. Wir mssen dann schauen, welche An nah-men wir getroffen haben und welche Faktoren wir mglicherweise zu wenig be rcksichtigt haben. Genau dies hilft uns, chemische Pro-zesse besser zu verstehen.

moleKulare ParKettbden

Bisher hat Kim Baldridge mit ihrem Team vorwiegend biologisch orientierte Fragen bearbeitet. Doch seit kurzem hat sie sich auf ein neues Ttigkeitsfeld vorgewagt: Zusam-men mit Wissenschaftlern der EMPA Dben-dorf und der Universitt Barcelona fhrt sie nun auch materialwissenschaftliche Studien durch. Ziel der Forschungen ist es, ein Mate-rial zu entwickeln, dessen Verhalten sich je nach Umgebungsbedingungen verndert. Konkret untersuchen die Wissenschaftler, wie sich Corannulen-Molekle auf Metall-oberflchen verhalten. Diese Molekle wei-sen eine schalenfrmige Struktur auf und bilden auf der Metalloberflche eine Art Parkettboden aus lauter Fnfecken. Bal-dridge versucht nun, fluoreszierende Coran-nulen so zu beeinflussen, dass es durch bestimmte chemische Substanzen an- und abgeschaltet werden kann. Dies knnte fr den Bau von chemischen Nachweisgerten interessante Perspektiven erffnen. Je nach-dem, ob die gesuchte Zielsubstanz vorhan-den ist, wrde das beschichtete Metall auf-leuchten oder nicht.

Fr sie als Chemikerin sei die Zusam-menarbeit mit den Materialwissenschaftlern nicht nur interessant, weil sie mit neuen Forschungsthemen in Kontakt komme, meint Kim Baldridge. Ich sehe dabei auch, mit welchen Anstzen Physiker und Material-wissenschaftler ihre Modelle betreiben, und das wiederum gibt mir ganz neue Impulse fr die Weiterentwicklung meiner eigenen Programme.

KontaKt Prof. Kim Baldridge, Institut fr Orga-nische Chemie, Universitt Zrich, [email protected]

unimagazin 2/09

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Die Cahiers zeigen den Dichterfrsten Paul Valry als Denker, der sich und seine Arbeit immer wieder in Zweifel zieht.

bild Jos Schmid

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Abschriften zu machen und fast obsessiv Ord-nung zu schaffen. Valry scheiterte im Ver-such, seine auf Hunderte von losen Blttern kopierten Reflexionen und Definitionen zu sys-tematisieren, wie Vogel rckblickend feststellt. Sie hat allerdings doch noch etwas ausgemacht, das die verstreuten Gedanken der Cahiers zusammenhlt eine abstrakte Instanz, die Valry als moi zro oder moi pur bezeichnet: Dieses moi ist eine Leerstelle, aber gleichzei-tig das Erkenntnisziel, welches Valrys Schrei-ben immer neu ent- und verwirft.

das rtsel valry

Obwohl er zu Lebzeiten nur Fragmente aus den Cahiers publizierte, war sich Valry be-wusst, dass sie sein eigentliches Lebenswerk waren. Whrend beider Weltkriege rettete er nur seine Hefte und sorgte dafr, dass sie an einem sicheren Ort aufbewahrt wurden. Die Cahiers machen es nun den Nachgeborenen mglich, einen ganz neuen Blick auf den Den-ker Paul Valry zu werfen: Was da zum Vorschein kommt, lsst sich als im Vergleich zum publi-zierten Werk gigantischer Eisberg beschreiben, der whrend Jahrzehnten unter Wasser lag und nun sichtbar wird. Eine Tatsache, die den For-schenden zu denken gibt: Die Cahiers haben die Rezeption von Valrys Werk stark beeinflusst und verndert. Man versucht auch seine Lyrik neu zu lesen, resmiert Vogel. Schlussendlich bleibt Valry aber wohl doch ein Rtsel, eine multiple Persnlichkeit mit verschiedenen Rollen und Facetten, die man schwerlich zu-sammenbringt.

KontaKt Prof. Christina Vogel, Romanisches Semi-nar, Universitt Zrich, [email protected].

zusammenarbeit Institut des Textes et Manuscrits Modernes (I.T.E.M.), cole Normale Suprieure (E.N.S) und Centre National de la Recherche Scien-tifique (C.N.R.S.)

finanzierung Centre national du livre, I.T.E.M.

literatur Cahiers 18941914, d. Nicole Celeyrette-Pietri, Judith Robinson-Valry, Robert Pickering, Paris, Gallimard, seit 1987 sind 10 Bd. erschienen.

Christina Vogel, Les Cahiers de Paul Valry. To go to the last point. Celui au-del duquel tout sera chang, Paris, LHarmattan, 1997. (Habilitation)

1943), die aus dem unendlichen Gedanken-reichtum der Cahiers schpften.

Die Auseinandersetzung mit den Cahiers hat auch Christina Vogel dazu gebracht, ihre eigenen theoretischen berzeugungen und methodologischen Fragestellungen zu hinter-fragen. Als ich mit meiner Arbeit begann, wollte ich zeigen, dass die Cahiers viel einheitlicher sind, als damals in der Forschungsliteratur be-hauptet wurde. Rckblickend wrde ich das als eine Form von Hybris bezeichnen, erzhlt Vogel und lacht. In den 70er- und 80er-Jahren wurde vor allem der fragmentarische Charak-ter der Cahiers betont. Der inflationre Ge-brauch des Wortes Fragment provozierte die Semiotikerin Vogel, und sie machte sich auf die Suche nach Kohrenzstrategien, die den Cahiers zugrunde liegen. Die wissenschaftli-che Auseinandersetzung mit Valrys Werk wurde fr sie dann zu einem Lernprozess, in dessen Verlauf sie ihr von der Semiotik geprg-tes Werkverstndnis hinterfragen und weiter-entwickeln musste. Die Cahiers lassen sich eben nicht mit Romanen wie etwa jenen von Zola vergleichen.

Whrend sich bei Zola eine relativ lineare Entwicklung von der Skizze bis zum fertigen Roman verfolgen lsst, sind die Cahiers von ihrer Natur her unfeste, unabgeschlossene Werke. Dasselbe gilt fr Valrys Essays, wie die von Christina Vogel geleitete Forschung zu Intro-duction la mthode de Lonard de Vinci gezeigt hat. Vogel kam deshalb zum Schluss: Valrys Art zu schreiben macht sowohl die Vorstellung eines Bedeutungsganzen wie auch jene einer teleologisch erklrbaren Entstehung des Textes obsolet. Es wird deshalb fragwrdig, die Ein-tragungen der Cahiers, die so unterschiedliche Bereiche wie Traum, Gedchtnis, Eros, Mathe-matik, Sprache, sthetik und Geschichte betref-fen, in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und als Werkganzes zu interpretieren. Diese Erkenntnis habe sie dazu gebracht, sich nicht nur fr das publizierte Werk, sondern auch fr dessen Genese zu interessieren.

Christina Vogel war nicht die Erste, die erfolg-los versuchte, den Cahiers so etwas wie eine innere Ordnung abzuringen. Wie sie feststellte, hat das Valry eine Zeitlang selber getan, indem er um 1907 begann, frhere Cahiers zu lesen,

Doch weshalb beschftigt man sich ber eine so lange Zeit mit einem Autor und seinem Werk? Mich fasziniert Valry als Autor der Cahiers, der sich markant vom offiziellen Valry, dem Lyriker und Salonintellektuellen, unterschei-det, als den man ihn zu kennen glaubte, erklrt Christina Vogel. In der Tat ermglichen die Cahiers nichts weniger als die Neuentdeckung Paul Valrys als aus heutiger Sicht modernen Schriftsteller.

letzter dichterfrst

Berhmt gemacht haben Valry nach dem Ers-ten Weltkrieg seine grossen Gedichte La Jeune Parque, mit dem er 1917 sein selbstauferlegtes dichterisches Schweigen brach, und Le Cime-tire marin (1920), das auch Teil der Samm-lung Charme (1922) ist. Valrys Comeback als Dichter lste allerdings nicht nur Begeis-terung aus, progressive Zeitgenossen wie der junge Andr Breton wunderten sich darber, dass Valry, der einst mit grosser Geste ver-kndet hatte, er schreibe keine Gedichte mehr, nun mit klassischen Alexandriner-Versen an die ffentlichkeit trat. Valrys Erfolg schade-ten solche Unkenrufe in keiner Weise: Er wurde zur nationalen Berhmtheit, zum letzten Dich-terfrsten Frankreichs, der 1927 in die Acad-mie Franaise aufgenommen wurde und nun von seinen Publikationen und Vortrgen, die ihn auch nach Zrich fhrten, leben konnte.

Ich verstehe die Reaktion Bretons, sagt Christina Vogel mit einem Lcheln, auf dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs war Val-rys Streben nach reiner Poesie und sprachli-cher Vollkommenheit doch eher konventionell und anachronistisch. Die Cahiers zeigen einen ganz anderen Paul Valry nicht den Dichter, der in Versen redet, sondern einen Denker, der sich und seine Arbeit immer wieder in Zweifel zieht, der ber alles nachdenkt, alles hinter-fragt und einen hchst modernen Werkbegriff hat: Valry hatte ein dynamisches Werkver-stndnis, ihn interessierte der prozesshafte Vollzug von Sprache und Literatur, das work in progress knnte man sagen, erklrt Chris-tina Vogel, zwischen verffentlichtem und unverffentlichtem Werk sind die Grenzen fliessend. Das zeige sich bei Publikationen wie Varit I-V (19241944) oder Tel Quel (1941

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merlin & basil JuNi 2005

25

Kinder

Kinder beschftigen nicht nur Eltern und Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch die Wissenschaft. An der Universitt Zrich widmen sich verschiedene grosse Projekte wie die COCON-Studie des Jacobs Center for Productive Youth Development, die Zrcher Longitudinalstudien am Kinderspital oder z-proso der Frage, wie sich Kinder entwickeln und wie sie kompetent und glcklich werden. Fr dieses Dossier haben wir aus dieser Flle von interessanten Forschungsthemen einige ausgewhlt. Die Fotografin Caroline Minjolle portrtiert ihre beiden Shne Merlin (13) und Basil (10) seit ihrer Geburt jeden Monat einmal. Ihre verspielten Inszenierungen begleiten dieses Dossier.

26 Audrey uNd der KlAsseNbully wie Kinder sozial kompetent werden

30 WeshAlb KiNder zuschlAgeN Gewaltprvention sollte mglichst frh beginnen

32 Autoritr zu erzieheN, ist fAlsch Interview mit dem Kinderarzt Oskar Jenni

37 eiNe schule fr KiNder Remo Largos neues Buch Schlerjahre

38 die NeueN grossvter Die Bande zwischen Grosseltern und Enkeln sind eng wie nie zuvor

40 die fetzeN fliegeN lAsseN die Konflikte der Eltern und das Leiden der Kinder

44 Mit PAPA iM sANdKAsteN was Familienpolitik bewirkt

unimagazin 2/09

26 unimagazin 2/09

Audrey ist eine aufgeweckte Drittklsslerin, die gerne Freundinnen zu sich nach Hause ein-ldt. Wenn es darum geht zu entscheiden, was gespielt wird, diskutieren die Mdchen, bis sie sich auf etwas geeinigt haben, das allen Spass macht. So werden Konflikte vermieden oder gemeinsam gelst, am Ende des Nachmittags gehen alle zufrieden nach Hause und kommen auch gerne ein andermal wieder zu Besuch. Was Audrey und ihre Kameradinnen durch-spielen, bezeichnet die Sozialwissenschaften als prosoziales Verhalten ein Verhalten, das die Wnsche und das Wohlergehen anderer erkennt und bercksichtigt.

Audrey ist ein reales Mdchen mit einem anderen Namen. Ihr Gegenstck, der Klassen-bully Peter, ist eine fiktionale Figur, die es im richtigen Leben allerdings auch geben knnte. Peter geht in die gleiche Klasse wie Audrey. Aber er tickt ganz anders: Konflikte mit Kame-raden lst er vorzugsweise mit Krpereinsatz. Eine Strategie, die sich meist auszahlt, denn Peter ist einer der grssten und strksten Buben in der Klasse. Sein Durchsetzungsvermgen verschafft ihm manchmal Respekt und eine gewisse Bewunderung.

Weniger stress in der schule

Wer fhrt nun besser Peter mit seinen phy-sischen Konfliktlsungsstrategien oder Audrey mit ihrer ausgeprgten Sozialkompetenz? Kurzfristig kann die Strategie Peters erfolg-reich sein, rumt Soziologieprofessorin Mar-lis Buchmann ein, die das Jacobs Center for Productive Youth Development an der Univer-sitt Zrich leitet, doch langfristig haben sol-che Kinder grosse Nachteile. Denn Bullies wie Peter sind eigentlich Kinder mit eingeschrnk-ter sozialer Handlungsfhigkeit, die ihre eige-nen Interessen mit Gewalt durchsetzen, weil sie nicht anders knnen. Vorbergehend ver-

schaffen sie sich damit mglicherweise Respekt, doch sie machen sich auch unbeliebt: Der Klas-senbully wird von den anderen Kindern oft abgelehnt, erklrt Tina Malti, wissenschaft-liche Mitarbeiterin am Jacobs Center, die zusammen mit Buchmann das soziale Verhal-ten von Kindern untersucht. Was Peter fehlt, ist die Fhigkeit, sich in andere einfhlen zu knnen. Deshalb ist er nicht in der Lage, ange-messen zu reagieren und seine Interessen zu vertreten, ohne anderen zu schaden und sie gegen sich aufzubringen. Mitgefhl hilft, die Perspektive anderer zu verstehen, erklrt Tina

Malti, eine grundlegende Voraussetzung, um sich in eine Gruppe zu integrieren. Wer das nicht kann, wer nicht in der Lage ist, die Balance zu finden zwischen den eigenen Interessen und jenen der anderen, hat es schwer in der Schule und spter im Leben.

Sozial kompetente Kinder haben es einfa-cher, konstatiert die Kinder- und Jugendfor-schung: Sie bewltigen den Schuleintritt bes-ser, werden von den Lehrpersonen positiver bewertet und haben bessere Freundschaften. Das gilt auch fr Audrey, die bei ihren Klas-senkameraden sehr beliebt ist. Das ermglicht ihr etwa, bei Streitereien schlichtend einzu-greifen.

Fr Kinder wre es demnach wichtig, Mit-gefhl und prosoziales Verhalten zu entwickeln. Doch wie entstehen diese Fhigkeiten? Welche Einflsse wirken sich positiv darauf aus und welche negativ? Antworten auf diese Fragen liefert die von Buchmann geleitete COCON-Studie, eine gross angelegte Befragung von

mehr als 1200 Kindern und Jugendlichen, die vom Jacobs Center vor drei Jahren gestartet wurde. Befragt wurden ursprnglich 6-, 15- und 21-Jhrige. Die Befragungen werden alle paar Jahre wiederholt. Die ursprnglich Sechs-jhrigen, zu denen auch Audrey gehrt, wer-den bis zum 21. Altersjahr begleitet. Die COCON-Studie soll Aufschluss darber geben, wie sich Jugendliche entwickeln und welche Faktoren zu einer gelungenen Entwicklung beitragen. Das ist ganz im Sinne des Stifters des Jacobs Centers, Claus Jacobs, der den Fokus auf die positive Entwicklung von Kindern und Jugend-lichen legte.

Besonders interessant sind die bergnge im Lebenslauf, etwa vom Kindergarten in die Schule oder von der Schule in die Arbeitswelt.

An diesen biografischen Meilensteinen wer-den die Kinder und Jugendlichen jeweils befragt: Wir interessieren uns dafr, wie die Kinder diese bergnge meistern und wie sich das auf ihre weitere Entwicklung auswirkt, erklrt Buchmann. Audrey wurde bereits drei-mal interviewt mit sechs, sieben und jetzt mit neun Jahren. Wie ihre Mutter Barbara K. festgestellt hat, hat sich das Kind in den drei Jahren enorm entwickelt: Sie ist selbstbewuss-ter und selbstndiger geworden und bernimmt mehr Verantwortung. So kann die Mutter auch einmal kurz einkaufen gehen, whrend Audrey auf ihren zweijhrigen Bruder aufpasst.

emotionale zuWendung zhlt

Audreys Sozialkompetenz kommt nicht von ungefhr, wie Buchmann und Malti herausge-funden haben: Das Verhalten von Kindern wird durch das familire Umfeld geprgt. Besonders wichtig ist das Verhltnis zu den Eltern: Eine gute Eltern-Kind-Beziehung wirkt sich positiv

audrey und der KlassenBully

dossier Kinder

Kinder, die sich um das Wohlergehen der anderen kmmern, haben es selber leichter. Am Jacobs Center der Universitt Zrich wird erforscht, was das soziale Verhalten von Kindern beeinflusst. Von Thomas Gull

Mitgefhl hilft, die Perspektive anderer zu verstehen. Eine Voraussetzung, um sich in einer Gruppe zu integrieren. Tina Malti, Soziologin

Website www.jacobscenter.uzh.ch

merlin & basil Mrz 2001

merlin & basil Mrz 2003

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auf das Sozialverhalten aus. Die Forscherinnen haben bei ihren Untersuchungen unterschie-den zwischen der kognitiven und der emotio-nalen Qualitt der Eltern-Kind-Beziehung. Bei der kognitiven Komponente geht es etwa darum, wie viel mit dem Kind gesprochen wird und ob es in Diskussionen einbezogen wird: Dabei lernt das Kind, seine eigene Meinung einzu-bringen, aber auch andere Meinungen zu akzep-tieren, erlutert Buchmann. Noch wichtiger ist jedoch die emotionale Zuwendung, wie Tina Malti festhlt: Die emotionale Zuwendung kann die kognitive bis zu einem gewissen Grad kom-pensieren, umgekehrt ist das nicht der Fall.

Es gibt noch weitere Faktoren, die das Ver-halten beeinflussen. Dazu gehren die Zahl der Kinder und die Beziehung zwischen den Eltern. Die Elternbeziehung wirkt sich allerdings nur indirekt auf das Kind aus. Das heisst,Eltern, die eine harmonische Beziehung haben, ver-halten sich dem Kind gegenber anders als sol-che mit Beziehungsproblemen. Die Zahl der Geschwister wirkt sich positiv aus, weil meh-rere Geschwister zu einer strkeren Interak-tion fhren, etwa wenn es darum geht, gemein-same Entscheide auszuhandeln. Dafr haben die Eltern weniger Zeit, sich dem einzelnen Kind zuzuwenden. Negativ wirkt sich aus, dass die Zahl der Kinder und der soziokonomische Status der Eltern korrelieren. Das heisst, je mehr Kinder eine Familie hat, desto rmer ist sie dran, zumindest finanziell. Finanzielle Probleme wie-derum knnen sich nachteilig auf die Bezie-hung zwischen Eltern und Kindern auswirken, etwa weil die Eltern mehr arbeiten mssen und deshalb weniger Zeit fr die Kinder und ihre Beziehung haben oder weil finanzielle Engpsse zu Spannungen fhren.

Weshalb unterscheiden die Forscherinnen bei der Analyse der Eltern-Kind-Beziehung zwischen der kognitiven und der emotionalen Ebene? Einerseits, erklrt Buchmann, mache diese Unterscheidung Sinn, weil jede soziale Situation eine kognitive und eine emotionale Komponente habe: Man muss verstehen, was der andere meint, gleichzeitig muss man emo-tional nachvollziehen knnen, welche Gefhle der andere damit verbindet. Wie die Forschung zeigt, sind die beiden Aspekte unterschiedlich beeinflussbar: Die Intelligenz der Kinder ist

viel strker determiniert als die emotionale Komponente, bei welcher der Einfluss der Umwelt eine grssere Rolle spielt.

Kinder Knnen mitentscheiden

Die Schlsselrolle kommt dabei den Eltern zu. Sie gestalten die Beziehung zu ihren Kindern, und sie sind fr ihre Erziehung verantwort-lich. In Peters Familie herrschen klare Ver-hltnisse: Papa ist der Chef, unntige Diskus-sionen werden vermieden. Wenn einer der bei-den Shne rebelliert, wird kurzer Prozess gemacht. Wie mit den vermummten Chaoten, die am 1. Mai jeweils Zrich unsicher machen, erklrt Peters (fiktiver) Papa, der bei einer pri-vaten Sicherheitsfirma arbeitet. Im Klartext heisst das wer aufmuckt, kriegt eins auf die Kappe. Der Erfolg ist durchschlagend: Am Mit-tagstisch herrscht Ruhe und Ordnung und abends kann Papa ungestrt vor dem Fernse-her sitzen und sein Bier trinken. Wenn Peter schlechte Noten nach Hause bringt oder sich

die Lehrerin ber sein rpelhaftes Benehmen beklagt, hat das schmerzhafte Konsequenzen. Diese ndern allerdings weder etwas an den Noten noch an Peters Verhalten.

Die drei Kinder der Familie K. werden anders behandelt. Audreys Mutter skizziert ihren Erzie-hungsstil: Wir setzen Grenzen. Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind wie etwa das Auf-gabenmachen oder die Bettzeit. Bei anderen Fragen wie dem Ferienort oder dem Ausflug am Wochenende suchen wir in der Regel nach Kompromissen, mit denen alle einverstanden sein knnen. Eine gute Mischung, wie die Wis-senschaft besttigen wrde: Dieser partizipa-tive Erziehungsstil wirkt sich nicht nur auf die Sozialkompetenz aus, sondern auch auf die schulischen Leistungen. Er kann sogar den Effekt des soziokulturellen Niveaus ausglei-chen. Das heisst: Weniger gut situierte Fami-lien, die einen partizipativen Erziehungsstil pflegen, der darauf basiert, die Kinder in Ent-scheidungen einzubeziehen und sie zu unter-

sttzen statt sie zu bestrafen, verbessern damit die Chancen der Kinder, in der Schule erfolg-reich zu sein.

Doch was passiert mit Klassenbully Peter? Hat er berhaupt eine Chance in der Schule und dann im Leben? Diese Frage knnen Buch-mann und Malti noch nicht beantworten, die COCON-Langzeitstudie soll jedoch Antworten liefern: Wir wollen beispielsweise wissen, ob Kinder, die bereits im Kindergarten negativ auffallen, auf dieser Schiene bleiben, oder ob sie es schaffen, sich positiv zu entwickeln, sagt Tina Malti. In beiden Fllen wird es darum gehen, herauszufinden, weshalb die Entwick-lung der Kinder so verluft und ob sie sich beein-flussen lsst. Daraus knnten dann Schlsse fr Prventions- und Interventionsprogramme gezogen werden. Sozial vertrgliches Verhal-ten kann durchaus gelernt werden wenn nicht zu Hause, dann in der Schule oder im Sport-unterricht. Es muss nicht so sein, dass alles, was im Kindsalter schiefgeht, zu irreparablen

Schden fhrt. Die Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von Resilienz, der Fhigkeit sich positiv zu entwickeln trotz schwieriger Lebensumstnde und Probleme.

Audrey gehrt nicht zu den Kindern, die eine schlechte Prognose fr ihre weitere Entwick-lung haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie sehr behtet aufwchst, konstatiert ihre Mutter, die sich ganz der Erziehung der drei Kinder widmet, etwa wenn Audrey im Rah-men der COCON-Studie gefragt wird, ob sie mehrere Stunden pro Tag alleine zu Hause sei. Bei Peter kommt das fter vor. Trotzdem muss er nicht unbedingt ein hoffnungsloser Fall sein. Und wer weiss, vielleicht werden Audrey und er eines Tages Freunde.

KontaKt Prof. Marlis Buchmann, buchmann@jacobs center.uzh.ch, Dr. Tina Malti, [email protected]

Die Intelligenz der Kinder ist viel strker determiniert als die emotionale Komponente. Marlis Buchmann, Soziologin

30 unimagazin 2/09

Der Tag, an dem unser Gesprch stattfand, war ein schwarzer Tag. Eine gute Stunde zuvor hatte im sddeutschen Winnenden ein 17-Jh-riger an seiner frheren Schule zwlf Men-schen erschossen und befand sich nun auf der Flucht. Deutschland stand unter Schock. Doch davon wussten wir noch nichts, als wir uns um elf Uhr zum Gesprch trafen. Manuel Eis-ner war am Tag zuvor aus Cambridge ange-reist, wo er, neben seiner Dozententtigkeit an der Universitt Zrich, soziologische Krimi-nologie lehrt. Ich war, bekennt er, schon als Bub ziemlich risikofreudig und habe gerne Neues ausprobiert. Spter, als Student, lebte Eisner in einer WG mit Strafentlassenen. Seit-her hat ihn die Kriminologie, die Lehre vom Verbrechen, nicht mehr losgelassen. Besonders seine Forschung zur Jugendgewalt ist sehr gefragt. 1999 hatte er im Kanton Zrich zusam-men mit dem Kriminologen Denis Ribeaud 2700 Jugendliche befragt. Jeder sechste Befragte gab an, in den vorangegangenen zwlf Mona-ten mindestens einmal Opfer von krperlicher Gewalt geworden zu sein.

Wie WirKsam ist Prvention?

Eisners Studie lag damals druckfrisch auf dem Tisch, als er einen Anruf von Monika Weber erhielt. Die damalige Stadtzrcher Schulvor-steherin wollte vorwrtsmachen mit der Ge-waltprvention und fragte Eisner um Rat. Denn es gab Hunderte von Prventionsprogrammen, aber kaum gesichertes Wissen ber deren Wirk-samkeit. Wir sassen zusammen, sagt Eisner, und kamen zum Schluss, dass die Zusammen-arbeit zwischen Stadt und Universitt Sinn macht, wenn wir evidenzbasiert untersuchen, welche Programme tatschlich etwas bewir-ken. Eisner hatte neben dieser Prventions-forschung noch ein zweites Ziel: Er wollte in einer Lngsschnittstudie mit rund 1000 Stadt-

zrcher Primarschlern untersuchen, wie sie sich entwickeln und wie sie die kritische ber-gangsphase ins Er wachsenenleben meistern. Ziel dieser Langzeituntersuchung sollte sein, mglichst breit alle Aspekte im Blick zu haben, die problematisches Verhalten und Delinquenz beeinflussen knnen. Fr diesen weiten Fokus sollten ausser den Kindern auch ihre Eltern und die Lehrpersonen befragt werden ein ehrgeiziges Projekt und in dieser Kombination eine europische Premiere.

Zielgruppe der so genannten z-proso-Stu-die sind 1675 Kinder, die im Jahr 2004 in die erste Klasse von reprsentativ ausgewhlten 56 Stadtzrcher Grundschulen eingetreten waren. Anhand von zunchst vier zeitlich

gestaffelten Befragungen wollen die Forscher nachweisen, ob Prventionsprogramme wie das Erziehungshilfetraining Triple P (Positive Parenting Programme) und das Sozialkompe-tenztraining PFAD (Programm zur Frderung Alternativer Denkstrategien) tatschlich etwas bewirken. Dazu teilten die Forscher die Schu-len wie bei medizinischen Studien nach Zufallsprinzip drei Versuchs- und einer Kon-trollgruppe zu. Wichtig ist ihnen auch, den multikulturellen Hintergrund der Kinder zu bercksichtigen. Deren Eltern stammen aus ber 80 Lndern, ber die Hlfte ist im Aus-land geboren. Im Klartext hiess das: Alle Unter-lagen mussten in neun Sprachen bersetzt und muttersprachliche Interviewerinnen ausge-bildet werden. Doch die Mhe lohnte sich: In der ersten Befragung im Jahr 2004 machten 1366 der 1675 anvisierten Kinder mit, und

immerhin 1240 Eltern stellten sich fr ein Inter-view zur Verfgung. Eine der grssten Her-ausforderungen, sagt Manuel