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Unschuldig?

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Konfliktroman von Bruno Woda - Leseprobe

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Unschuldig?Bruno Woda

Roman

edition oberkassel 2016

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Alle Rechte vorbehalten. Verlag: edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 DüsseldorfHerstellung: SOWA Sp. z.o.o, WarzszawaUmschlaggestaltung: im Verlag unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/DkartLektorat: Klaus Söhnelgesetzt mit Adobe InDesign

© Bruno Woda© edition oberkassel, 2016

[email protected]

Das Werk inklusive aller Abbildungen ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheber-rechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und der Auto-ren unzulässig und strafbar.

1. Auflage 2016Printed in Europe

ISBN(Print): 978-3-95813-0456ISBN(Ebook): 978-3-95813-0463

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da-ten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Ist sich der Weise auch selbst genug,so wünscht er sich doch Freunde.

(Seneca: Briefe an Lucilius)

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Es begann mit einer Lüge. Einer aus ihrer Clique, Mark, wurde zu sieben Jahren

Haft verurteilt. Monate her, fast vergessen.

Wolfgang traf Helen bei einem Stadtbummel. Sie stand vor dem Schaufenster einer Boutique. Ging zur Ladentür, kam zu-rück zum Fenster, drehte sich um, schaute zum Zebrastreifen, auf die andere Straßenseite.

»Kauf es, wenn es dir gefällt!«»Hallo, Wolfgang!« Sie lächelte verlegen. »Bist du auch

shoppen?« Helens Frage klang nach Verteidigung. Vielleicht fielen ihr die fünfzig Euro ein, die sie ihm schuldete. Wolfgang hatte nicht vor, es anzusprechen. Auf Helen konnte man sich verlassen. Wenn sie sich mal was borgte, hatte sie das Geld stets pünktlich zurückgegeben. Obwohl sie immer knapp bei Kasse schien.

»Komm, ich lad dich zu einem Kaffee ein.«Wolfgang warf noch einen Blick auf das Kleid im Schaufens-

ter. Es würde mit ihrem hellen Teint und den kastanienbrau-nen Haaren gut harmonieren.

»Mein Trick: Ich trinke erst einen Espresso, bevor ich mich für was entscheide, was ich unbedingt möchte, aber eigentlich nicht brauche.«

»Danke Wolfgang«, sie lächelte, »eine gute Idee!«

Damit sie das Kleid in der Boutique im Auge behalten konnte, wählte Wolfgang einen Platz am Fenster.

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»Du bist lange nicht mehr in unserer Stammkneipe gewe-sen. Warst du krank, Helen?«

Sie schaute erstaunt: »Ich hatte in der letzten Zeit viele Vorstellungsgespräche. Da muss ich morgens ausgeschlafen und gut vorbereitet sein. Ich dachte, du weißt es: Mein Ausbil-dungsvertrag war abgelaufen.«

»Und warum hat dich dein Chef nicht übernommen?«»Die suchen eine Apothekerin für Teilzeit«, erklärte Helen

enttäuscht. »Mark riet mir, nach dem Abitur gleich an die Uni zu gehen. Ich entschied mich für die PTA-Schule, wollte schnell Geld verdienen, meinen Eltern nicht so lange auf der Tasche liegen. Pharmazeutisch-Technische Angestellte braucht man immer.«

»Du hättest auf ihn hören sollen – er ist doch vom Fach.«»Es ist schon okay so, vielleicht studier ich später noch.«Helen rührte abwesend in ihrem Kaffee, schien bedrückt,

mit ihren Gedanken woanders.»Ich war gestern bei Mark im Gefängnis.«»Mein Gott, Helen, erzähl!«»Er ist schon so lange dort. Keiner von uns hat ihn bisher

besucht – Du etwa?«Helens Stimme klang eher traurig als vorwurfsvoll.Beschämt fragte Wolfgang: »Wie geht es ihm? Was hat er

gesagt?«»Eigentlich sagte er nur, es wäre nicht so gewesen, er sei

unschuldig.«»Im Freundeskreis hat er doch nie was über sich preisgegeben,

deswegen machten wir uns ja keine Gedanken. Und Mark recht-fertigte sich nicht, wenn er angegriffen wurde, erzählte nie Nä-heres über sein Verhältnis zu Frauen, zu dir oder gar zu Janine.«

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»Du weißt, dass ich mit ihm zusammen war, bevor er Janine kennenlernte?« Helen erwartete keine Antwort und fuhr fort: »Er ließ sich kaum noch blicken, seit er sich mit ihr eingelas-sen hatte.«

»Stimmt, ich hab ihn damals ein-, zweimal zum Schachspiel eingeladen. Es kam aber nicht dazu. Du solltest doch mehr über ihn und Janine wissen.«

Helen starrte wieder ins Leere.»Janine ist eigentlich nicht Marks Umgang. Sie verführte ihn

zu Dingen, die er bestimmt nicht wollte. Er war ihr hörig, er konnte nicht mehr von ihr lassen. Das wurde sein Verhängnis. Vergewaltigt hat er sie nicht. Das passt nicht zu ihm.«

Wolfgang war baff, das wusste er alles nicht.»Es ist schlimm, man trifft sich seit Jahren, man trinkt zu-

sammen, lacht über die guten wie über die fiesen Witze und kennt sich kaum.«

Helen nickte.»Mark ist eher der Typ, der zuhört, nicht der Wortführer. Er

kann den üblichen Small Talk nicht ausstehen.«»Und dann war er offensichtlich mit seiner eigenen Bezie-

hungskiste ausreichend beschäftigt, wenn ich dich richtig ver-stehe.«

»Du bist doch auch davon überzeugt, dass Mark unschuldig ist?«

»Natürlich!«Wolfgang erschrak über seine trotzige Erwiderung.Helen sah auf ihre Armbanduhr.»Oh, ich muss weiter.«Hastig stürzte sie den letzten Schluck Kaffee hinunter. Ein

Küsschen auf Wolfgangs Wange und weg war sie. Er sah ihr

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nach, zum Schaufenster gegenüber. Ob sie noch einen Blick für das Kleid übrig hatte? Sie ging in die andere Richtung.

Bis eben war Marks Schicksal in Wolfgangs Gedächtnis chronologisch sortiert, Monate tief unten – nun ordnete es sich ganz oben ein. Ihm wurde klar: Er hätte ihn längst besu-chen sollen.

Seine weiteren Einkäufe erledigte er im Gedanken bei Mark.

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Zu Hause stellte Wolfgang fest, dass er die Hälfte dessen, was er besorgen wollte, vergessen hatte. Im Bad wusch

er sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um auf andere Gedan-ken zu kommen. In seinen Kopf hatte sich eine Gefängniszelle eingeblendet. Mark saß darin in einer Ecke auf einem Stuhl. Das Bild spiegelte sich vor seinen Augen. Wolfgang erschrak darüber, was er sah. Er ging ins Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa, drückte sich so tief in die Kissen, dass ihm kein Fenster, keine spiegelnde Fläche mehr vor die Augen kam. Die trüben Gedanken ließen sich nicht verdrängen.

Er sah ein, dass er längst mit Mark hätte Kontakt aufnehmen müssen. Wenn Freunde aus der Clique im Krankenhaus lagen, hatte er sie immer besucht und ein Buch, Blumen oder Prali-nen mitgebracht – selbst wenn ihr Aufenthalt dort nur weni-ge Tage dauerte. Er wollte ihnen zeigen, wie er mit ihnen litt, dass er auf ein baldiges Wiedersehen im Stammlokal hoffte und dass man auf Freundschaft zählen konnte.

Mark hatte sieben Jahre abzusitzen.In den letzten Monaten gab es genug Gelegenheiten, ihn

zu besuchen. Wolfgang überlegte, womit Mark aufzuheitern wäre.

Was haben die in der Gefängnisbibliothek für Bücher? Kri-mis? In der Zelle die Bibel – wie früher im Hotel?

Wolfgang war überrascht gewesen, als Mark sich am Stammtisch einmal ungewohnt heftig über die Verfehlungen Geistlicher gegenüber ihren Schutzbefohlenen – Messdienern oder Schülern – ereiferte. Es stimme schon, dass die Kirche

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viel zu lange die Täter aus ihren Reihen in Schutz genommen habe. Er und Mark – sie standen dabei im Widerspruch mit fast allen anderen Freunden am Tresen – waren sich einig da-rin, dass ein Christ den Täter nicht verstoßen dürfe. Natürlich schulde man dem Opfer Fürsorge und Wiedergutmachung. Aber beide hätten Anspruch auf eine Gerechtigkeit, die mehr bieten muss, als die Rechtsprechung eines Gerichtes zu geben vermag.

Mark ging Martin damals ungewohnt vehement an. »Ihr Rechtsverdreher seid doch froh, dass Justitia blind ist, dass eure Hände an Paragrafen gebunden sind!« Dabei stellte er sein Bierglas so heftig auf die Theke, dass es zersprang. Alle erschraken – Mark selbst am meisten.

Jeder meinte, sich einmischen oder beschwichtigen zu müs-sen. Fast wäre es zum Streit gekommen, aber eine Freirunde des Wirtes löschte die bereits lodernde Stimmung. Sie hatten das Thema am Stammtisch nie wieder angesprochen.

Mark war also überzeugter und bekennender Christ. Einer Bemerkung zum Ablauf der Ohrenbeichte entnahm Wolfgang, dass Mark in seiner Jugend jeden Sonntag zur Messe ging und an der Kommunion teilnahm. Später suchte er Kirchen oft allein wegen des Orgelspiels auf, wie er Wolfgang gestand, als sie sich zufällig beim Besuch der Marktmusik trafen. Der Kantor ihrer Gemeinde lud jeden Samstag zu einem kleinen Konzert ein, wenn um den Kirchplatz Wochenmarkt gehal-ten wurde. Damals nahmen sie sich anschließend die Zeit auf einen Espresso im Café nebenan. Mark zeigte sich begeistert von Petrocellis Versetti per il Gloria und darüber, wie kraftvoll der Organist das Allegro intonierte. Wolfgang liebte Orgelmu-

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sik ebenso. Beim zweiten Espresso wechselten sie zum The-ma Kirche und Gesellschaft und ereiferten sich dann trefflich, mit welcher Gier Berichte von Verfehlungen kirchlicher Wür-denträger oder Lehrer hochgeputscht wurden. »Am unappe-titlichsten sind mir die Pharisäer«, beendete Mark die Diskus-sion. Das war über ein Jahr her.

Ein engerer Kontakt zu Mark, das Bekenntnis einer Seelen-verwandtschaft, gar eine feste Freundschaft ergab sich daraus nicht. Einmal trafen sich beide noch zufällig beim Orgelkon-zert. Mark zog danach gleich weiter, Wolfgang hatte nur seine Firma im Kopf. Beruflich war er damals hart gefordert und froh, die regelmäßigen Treffen am Stammtisch vor allem zur oberflächlichen Entspannung nach getaner Arbeit zu genie-ßen. Mark war, wie Helen ihm jetzt klargemacht hatte, in die-se schicksalhafte Beziehung zu Janine verstrickt. Keiner der Freunde fragte ernsthaft nach. Nur aus Helens gelegentlichen Bemerkungen war vielleicht eine tiefere Tragik zu erahnen. Niemand aus der Clique ging darauf ein. Und Mark war nicht der Mensch, der um Hilfe flehte. Er fügte sich in sein Schicksal, erhoffte wohl Gerechtigkeit allein von Gott.

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In dieser Nacht fand Wolfgang kaum Schlaf. Er wälzte sich auf die eine Seite, dann auf die andere und zurück. Mark

ging ihm nicht aus dem Kopf. Die Traumszenen wechselten sprunghaft. Einmal stand Wolfgang zaudernd vor dem Ge-fängnis, ein Wächter kam auf ihn zu und führte ihn ab. Dann sah er Mark in heftigem Streit mit den Freunden, wie er sich über die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an Jugendlichen ereiferte. Eine Zornesfalte durchfurchte seine hohe Stirn. »Es geht doch nur um die Befriedigung der Sensationsgier, nicht um das Schicksal der Opfer!«, schrie Mark.

Gleich darauf sah er ihn Arm in Arm mit Janine, wie sie eine Straße überquerten. Ihr aufreizender Gang ließ ihre Hüften tanzen, spannte die aufgenähten Gesäßtaschen ihrer Jeans im Wechselschritt ihrer schlanken Beine. Wolfgangs Puls raste, sein Blutdruck stieg, sodass er erregt aufwachte. Verständ-lich, dass Männer auf Janine hereinfielen. Weshalb gerade Mark, könnte Helen am besten erklären. Sie war seine engste Freundin, bis er Janine kennenlernte. Was Wolfgang im Traum schon bewegte, musste Mark total aus seinem braven Leben geweckt haben. Er war eben zu schwach, Janines Verführung zu widerstehen. Helen dagegen war ein unaufdringlicher, stil-ler Typ. Sie reizte nicht, sie nahm für sich ein, wenn man sich mit ihr ernsthaft unterhielt. Und sprach das Mark nicht eher an?

Schätzte Wolfgang beide falsch ein, oder alle drei? Helen meinte er gut zu kennen. Mit ihr hatte er im Freundeskreis die meisten Gespräche geführt. Zumindest die sinnvolleren, wenn

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man den Quatsch, die Sprüche und die Witze am Tresen in der Clique abzog.

Also musste Wolfgang zuallererst mit Helen sprechen. Vom Vortag war noch einiges in seiner Wohnung zu erledigen ge-blieben. Seit er Marks Schicksal bewusst vor Augen hatte, wollte ihm keine Arbeit mehr so recht von der Hand gehen. Briefe und E-Mails mussten beantwortet, das Geschirr in der Küche gespült werden. Er wollte diesen Samstag ohne Mit-tagspause tapfer durchmachen. Lange hielt er es nicht aus, dann wählte er Helens Nummer. Ihr Anrufbeantworter mel-dete sich. Wolfgang bat um einen Rückruf. Kurz darauf läutete das Telefon.

»Ich bin nicht gleich rangegangen; wollte erst sehen, wer angerufen hat. Hab grad keine Lust, nur zu quatschen.«

Wolfgang fühlte sich geschmeichelt.»Helen, ich denke Tag und Nacht an Mark.«»Mir geht es genauso, seit ich ihn besucht habe.«»Ich muss dich einiges fragen. Du kennst ihn besser als ich.

Können wir uns mal über ihn unterhalten? Seit unserem Ge-spräch neulich plagt mich mein Gewissen.«

»Gleich? Oder wann, denkst du, Wolfgang?«»Du weißt, wo das Café Solo ist?«»Ich hab mir gerade einen Tee gemacht. Wenn du sofort los-

läufst, ist er noch warm.«

Helen wohnte nur fünf Gehminuten von Wolfgangs Wohnung entfernt. Wie praktisch, um eine Freundschaft aufleben zu lassen, die sich bald bewähren sollte. Als sie die Tür öffnete, bedrängte ihn der Duft einer Jasminblüte, die den grünen Tee in ihrer Tasse krönte. Eine zweite Tasse wartete bereits auf

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den Gast. Helen schien in nachdenklicher Stimmung zu sein. Wolfgang trank Tee lieber unparfümiert und fischte die Blüte aus seiner Tasse. Das ganze Wohnzimmer roch nach Medita-tionstempel. Die Behausung einer rational denkenden jungen Frau, die in einer modernen Apotheke arbeitete, stellte sich Wolfgang anders vor – ohne den Duft von Jasmin und Räu-cherstäbchen.

Helen trug eine Art Haremshose aus gemustertem, seidig glänzendem Stoff. Ihre Füße steckten in spitz zulaufenden Pantöffelchen im gleichen blauen Ton, mit goldfarbenen Sti-ckereien durchwirkt. Ihre sonst hochgesteckten Haare fielen lose über die Schultern. Die Bluse hielt sie bis oben zuge-knöpft.

Wolfgang war sich nicht sicher, ob sie Trost oder Ausspra-che im Sinn hatte.

»Setz dich!«Ihre Stimme klang sanft, ihr Finger wies auf den Stuhl ge-

genüber dem Sofa. Der Platz deutete auf Aussprache.Noch verlegen begannen sie das Gespräch darüber, welche

der verschiedenen Grünteesorten jeder bevorzugte. Wolfgang schwärmte vom zarten Farbton des Gyokuro, Helen lobte den früh geernteten Sencha. Wenn sie in ihrer Jasminblütenstim-mung war, gestand sie ihm, würde ein preiswerterer Bancha ausreichen.

Für Wolfgang war das Thema damit ausgelaugt. Er kam zum Anliegen seines Besuches: »Du kennst doch Mark am besten – darf ich dich etwas fragen?«

Und ohne die Antwort abzuwarten: »Wie war er so als Lieb-haber?«

»Was willst du wissen?«

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»Ich meine, war er mehr zurückhaltend oder eher der Draufgänger?«

Wolfgang hatte es nicht als Wortspiel gedacht. Wenn Helen sich in der Clique in Diskussionen oder Blödeleien über Sex einschaltete, äußerte sie sich stets nüchtern und emotionslos.

Sie antwortete: »Wir verstanden uns auch ohne Sex sehr gut.«

Für Helen schien damit alles dazu gesagt. Wolfgang wollte nicht weiterbohren. Er wechselte das Thema und kam auf Marks Verständnis christlicher Nächstenliebe zu sprechen:

»Wir hatten einmal sehr intensiv darüber diskutiert, wie man sich als Christ gegenüber Frevlern und Sündern, ja Fein-den zu verhalten habe. Mark forderte, ein Christ dürfe nie-mandem die Tür für immer verschließen, keinen abschreiben, nur weil er nach weltlichem Recht, nach Sitte oder Ehrenko-dex verurteilt ist. Ich stimmte ihm zu.«

Helen schwieg.»Niemand ist aus Gottes Reich für ewig verstoßen. Wir fol-

gerten, dass der Schutz der Täter durch die Kirche richtig ist. Wann und wie deren Strafverfolgung durch die Organe des Staates stattzufinden hat, muss natürlich zwischen Kirche und Staat vereinbart und geregelt sein.«

Helen wollte diese Rekonstruktion früherer Diskussionen zwischen Mark und Wolfgang nicht aufgreifen. Sie schien mehr vom Duft der Jasminblüte animiert zu sein. Vielleicht reizte das Räucherstäbchen ihre Nase, die sich jetzt keck in den Raum richtete. Ihre Bluse spannte sich, markierte ihren Busen deutlich. Wolfgangs Blut nährte noch die Gedanken an Mark.

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Er stand auf, nötigte Helen zur Stellungnahme: »Bist du dir sicher, dass Mark gänzlich unschuldig ist?«

»Ja!«Eindeutiger und zurechtweisender konnte ihre Antwort

nicht sein. Und doch hatte sich Wolfgang einen unstrittigen Beleg, etwas mehr Rechtfertigung erhofft.

Helens Smartphone schrillte auf.»Ich lass dich kurz mal allein!«Sie verschwand in die Küche und zog die Türe hinter sich

zu. Es dauerte länger als »kurz mal«. Wolfgang stand gelang-weilt auf und spähte durch die Balkontür auf die Häuserwand gegenüber. Hinter keinem der Fenster wurde Unterhaltung geboten, keine zankende Familie, kein liebendes Pärchen. Er drehte sich zurück zur Regalwand hinter der Sitzgruppe. Dort versammelte sich alles, was Helen schätzte oder zu ih-rem täglichen Leben benötigte. Bunte Trinkgläser, Teetassen, einige Kännchen aus Porzellan, sogar ein eisernes. Mehrere geschlossene Döschen, teils mit verlockenden Motiven, wa-ren in Blickrichtung platziert, als sollten sie dazu verführen hineinzugucken – einige aus Speckstein, andere aus Ebenholz mit geschnitzten Ornamenten, andere aus Messing mit fern-östlichen Gravuren. Wolfgang widerstand dem Drang, sie zu öffnen.

In einem Fach im Regal an der offenen Wandfläche hing ein Kreuz mit der Figur des dornengekrönten Jesus. Wolfgang hatte eher einen meditierenden Buddha oder einen Krishna mit Flöte erwartet. Vor dem Kreuz lagen ein Kirchenlieder-buch und eine Bibel, beide recht abgegriffen, und ein Vorrat an verschiedenen Räucherstäbchen. Auf einer Konsole am rechten Ende des Regals stand der passende Halter dazu, von

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wo sich soeben eine schwebende Rauchschleife mit dem Duft von Sandelholz über das Sofa ins Nirwana verabschiedete.

In mehreren Fächern der Regalwand lagerten Bücher ver-tikal und horizontal. Ein schräg stehender Bildband, der eine Lücke überbrückte, stach in Wolfgangs Auge: Tantra – Massa-ge für Anfänger.

Als er es neugierig herauszog, kippte das links daneben ste-hende Buch auf den Rücken. Kamasutra, die Kunst der Liebe.

Das hatte er in Helens Bücherschatz nicht vermutet. Er fischte beides heraus und warf ein paar Blicke hinein. Für Kamasutra gönnte er sich etwas mehr Zeit. So etwas hatte er bisher nie gesehen. Wie einfallslos kam ihm jetzt sein Liebes-leben vor. Er fragte sich, ob er solchen Stellungen überhaupt gewachsen sei? Und er staunte über die Fantasienamen der abgebildeten Positionen – The Pearl, Reverse Spoon, Deep Dish.

Die Akteure auf den Fotos gewannen die Gesichter von Mark und Helen. Hatte er sie bisher falsch eingeschätzt?

Er bemerkte nicht, dass Helen aus der Küche zurückkam. Die Bilder fesselten seinen Blick und blockierten alle anderen Sinne.

»Hast du dir inzwischen was zum Lesen genommen?«Helen blickte beim Herankommen noch auf das Display ih-

res Smartphones und tippte einen letzten Befehl ein. Dann sah sie Wolfgang an: »Du scheinst dich amüsiert zu haben – was hältst du da - wie eine Trophäe?«

»Kamasutra!«»Ach so, die Bücher von Mark.«

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Auf Wolfgangs Heimweg lauerte eine Eckkneipe. Sie wurde von den Gästen gerne als letzte Chance zur Umstimmung

von der Arbeit zum Feierabend genutzt – wie auch von ihm gelegentlich. Wolfgang gefielen die unterschiedlichen Typen im Lokal, Menschen, mit denen er sonst im Beruf oder bei sei-nen Freizeitaktivitäten kaum zu tun hatte. Hier wurde jeder akzeptiert, wie und wer er war. Die gelegentlich dazukom-menden weiblichen Gäste wurden um diese Zeit nicht ange-macht. Die Stimmung war entspannt, tolerant und noch sehr nüchtern. Wenn ab 21 Uhr dann Publikum und Stimmung wechselten, mied Wolfgang die Kneipe.

»Ein kleines Jever!«Der Wirt schätzte klare Ansagen, ohne lange Vorreden, ohne

nachfragen zu müssen. Er hatte bis zur Frühpensionierung das Vaterland verteidigt. Zuletzt aus Gesundheitsgründen in der Kantine einer Kaserne der Bundeswehr. Seine jetzige Frau hatte er kurz vorher kennengelernt. Ihr gehörte die Kneipe, sie hatte sie von ihrem Vater geerbt. Sie half in der kleinen Küche, je nach Laune wechselten sich beide ab. Soviel hatte ihm die Wirtin in einem ruhigen Moment, als kaum Gäste da waren, preisgegeben. Seitdem wurde Wolfgang als Stammgast behandelt. Das dritte Bier zapfte Frau Wirtin selber. Wolfgang bemerkte es erst, als sie es mit einem herzlichen Dein Jever servierte. Mit dem dritten Pils schraubten sich die Gedanken um Mark und Helen in seinem Kopf in immer verwegenere Fantasien. Die wenigen Bilder, die Wolfgang in Helens Woh-nung aus dem Kamasutra-Buch speichern konnte, zeigten nun

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alle die Gesichter von Mark und Helen – als hätten sie für das Buch Modell gestanden. Ob die beiden wirklich so gelenkig sind? Er hätte es Mark und Helen nie zugetraut. Wolfgang ver-suchte, die Gedanken und Bilder aus seinem Kopf zu schütteln.

»Is was mit dem Bier?«Die Wirtin war etwas gesprächiger, vielleicht neugieriger.

Sogar Wolfgangs Thekennachbar schien ihn erwartungsvoll anzustarren.

»Ärger gehabt?«Um das Kamasutra nicht ganz aus den Augen zu verlieren,

erwiderte er nur: »Jo!« Was als ausreichend und eindeutig ak-zeptiert wurde.

Wenn Mark einer Frau solche Bücher schenkt oder leiht, dann kann ihm das Thema nicht fremd, nicht peinlich sein.

Wolfgang bezahlte seine Zeche. Weitere Gedanken wollte er sich besser zu Hause machen.

Der Hopfengehalt der drei Jever bescherte ihm eine uner-wartet geruhsame und entspannte Nacht.

Am nächsten Morgen, es war Sonntag, dachte er als Erstes an seine Kamasutra-Darsteller. Ob er es mit Mark aufnehmen könnte? Ob er Helen zufriedenstellen würde? Bisher wäre ihm eine solche Frage nie eingefallen. Mark hatte er ebenfalls nie als Lustgesellen gesehen. Janine war alles zuzutrauen. Die Bettdecke entspannte sich, je rationaler Wolfgang seine Ge-danken entwickelte. Er stand auf, duschte, rasierte sich und holte noch im Bademantel die Sonntagszeitung herein.

Schon wieder bekannte jemand, als Kind missbraucht wor-den zu sein. Lange hatten sie ihre Scham zurückgehalten – jetzt fanden die inzwischen erwachsenen Opfer den Mut, sich

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zu offenbaren, ihre Anklagen formulieren zu lassen. Die unap-petitlichen Nachrichten häuften sich zu einer Lawine, die den Glauben an Schule, Kirche und Gesellschaft begrub. Die Presse recherchierte fleißig und präsentierte Einzelschicksale bis tief in die Intimsphäre.

Wolfgang fiel die Kritik des Augsburger Militärdekans Ti-schinger ein: Es muss jetzt endlich von den Opfern her gedacht und gehandelt werden. Neben Reue und Umkehr erwarten wir eine Entschuldigung sowie behutsames seelsorgerisches Bemü-hen um die verletzten Seelen der Opfer.

So ließe sich an die Diskussion damals im Freundeskreis am Stammtisch anknüpfen. Mark würde vielleicht aus sich her-ausgehen und über sich selbst sprechen.

Dann erinnerte er sich an die Vorwürfe gegen Walter Mixa in einer früheren Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung mit dem Aufreißer Ein Gespür fürs Schöne und Teure. Den Ar-tikel hatte er aufgehoben. Mark war in Mixas Kirchengemein-de aufgewachsen. Das würde beim Besuch in der Strafanstalt vermutlich ein unverfänglicheres Gesprächsthema sein.

Wolfgang musste Mark zu verstehen geben, dass er an sei-ne Unschuld glaubte, glauben wolle. Dass sich aber in seinem Kopf so viele Gedanken um ihn, Janine und Helen drängten, auf die er bisher nie gekommen wäre, die ausgesprochen wer-den mussten. Weil er ihm doch helfen möchte, seine Unschuld zu beweisen. Weil er sonst keine Ruhe mehr finden würde. Was tiefer schmerzte, wusste er selbst noch nicht.

Ob die damaligen Verfehlungen der Kirche wirklich ein gu-ter Einstieg zum Gespräch mit Mark sein würden?

Bischof Mixa hatte Schuld auf sich geladen, wenn auch nicht die, nach der manche gierten, um ihre Argumente zu stützen.

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Immer wieder hatte er seine Schuld abgewiesen. Und seine Strafe hatte er erfahren. Die ganze Wahrheit, das Maß seiner Schuld und die Rechtfertigung seiner Strafe kannten nur er und Gott.

Mark wurde vom weltlichen Gericht eine drastische Frei-heitsstrafe zugewiesen. Ergab sich die Beweislage so nach-teilig für ihn, dass sieben Jahre Freiheitsentzug zu rechtfer-tigen waren? Wolfgang musste die eine Sicht der Wahrheit kennenlernen. Die Sicht seines Freundes Mark. Hatte Justitia, die Jungfrau mit den verbundenen Augen, über Mark ohne An-sehen der Person richten lassen? Vermochten ihre menschli-chen Vertreter das überhaupt? Ein hartes Urteil hatten sie ge-sprochen, aber gerecht? Wie konnte dieses Urteil ausgewogen sein?

Janine wurde als Betroffene, als Opfer und Zeuge angeblich gründlich und umfänglich vernommen. Es wurden keine Zeu-gen benannt, die Mark hätten entlasten können. Mark hatte den Sex mit Janine zugegeben, sich zu Einzelheiten aber sehr einsilbig gezeigt. Die Anklage berief sich vorrangig auf den Nachweis von Marks DNA. Sein Anwalt sah in diesem Fall wohl keine Chance zur Profilierung. Vielleicht war es auch einfach seine Inkompetenz, die Beweisführung der Staatsan-waltschaft anzugreifen und entlastende Argumente und Be-weise beizubringen. Letztlich hatte er eher zu diesem harten Urteil mit beigetragen.

Aber selbst wenn Marks Schuld das Urteil begründen könn-te – Wolfgang wollte ihm seine Freundschaft nicht versagen. Er wollte ihn ab jetzt auf seinem Weg des Strafvollzuges be-gleiten. Nur das Verlangen nach Mitwissen, letztendlich nach Gewissheit bohrte in ihm, ließ ihn keine Ruhe finden.

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Wolfgang musste Mark bewegen, mehr zu sagen als nur Ich bin unschuldig.

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Fast hätte Wolfgang das Schild Justizvollzugsanstalt über-sehen. Manchmal war er hier schon vorbeigefahren, zu

Fuß war er den Weg aber noch nie gegangen. Vom Parkplatz zum Gefängnis führten nur wenige Schritte entlang einer etwa kniehohen Backsteinmauer, deren Mörtel stückweise heraus-gebröckelt war. Dahinter befand sich ein Streifen sich selbst überlassener Wiese und dahinter noch eine Mauer, gut drei Meter hoch, oben mit Stacheldraht bewehrt. Der Tristesse dieser Anlage konnte man sich nur entziehen, wenn man den Weg flotten Schrittes hinter sich ließ oder ein Auge für die Flora hatte, die sich mit der Kargheit des Geländes begnügte. Wolfgang nahm sich Zeit, sie zu ergründen, vielleicht nur, um seinen Besuch im Gefängnis etwas hinauszuzögern. Das tapfe-re Ausharren der kleinen Mauerpflanzen und der feingliedri-gen Farne an diesem Platz machte ihm Mut. Selbst in diesem desolaten Lebensraum fand sich geselliges Leben, eingebettet in Moos und geschützt in Mörtelritzen. Den Streifen Wiese bis zur Gefängnismauer säumte karges Gestrüpp. Der Weg wurde wohl für gelegentliche Sanierungsarbeiten an der Mauer oder zu Kontrollgängen genutzt. Blassviolett lugten die Blüten des Zimbelkrautes über den Rand des Mauersimses zum Fußweg. Die Pflanze sah kaum Sonne, das Grün ihrer Blätter hatte die Farbe des Schattens angenommen, hatte sich mit dem Mauer-blümchendasein abgefunden. Ein durchdringend trüber Tag.

Wolfgangs Antrag zum Besuch in der JVA war schnell statt-gegeben worden. Sein Vorhaben jetzt mutig anzugehen, das war er Mark schuldig.

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Nach der Anmeldung an der Pforte wurde die Tür zum Empfangsraum freigegeben. Wolfgang wiederholte artig sei-nen Besuchswunsch an den Justizvollzugsbeamten hinter der dicken Glasscheibe. Dieser forderte ihn auf, Personalausweis und Smartphone in die Schublade vor ihm zu legen. Im Ge-genzug erhielt er eine Besucherplakette und den Hinweis, im Warteraum für Besucher gegenüber Platz zu nehmen. Er würde gleich abgeholt. Kurz darauf führte ihn ein freundlicher Beamter in einen Vorraum, wo er Mantel und Tasche in ein Schließfach abzulegen hatte. Daneben stand ein Automat für Süßigkeiten und Getränke.

»Sie können gerne was zum Naschen aus dem Automat ziehen und in den Besucherraum mitnehmen. Selber Mitge-brachtes ist aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt.« Er sagte es in einem Ton, als wolle er sich dafür entschuldigen. Er hat-te sicher im Gespür, dass dieser Besucher zum ersten Mal in ein Gefängnis kam. Er geleitete Wolfgang durch einen Türrah-men, wie er ihn von den Flughafenkontrollen zur Detektion verborgener Waffen kannte. Jetzt durfte er in ein Zimmer mit vier kargen Tischen und Stühlen eintreten und an einem da-von Platz nehmen. Ein bulliger Vollzugsbeamter führte Mark herein. Marks Gang war zögerlich, seine Haltung gebeugt, sein Gesicht bleich. Er blickte Wolfgang müde an. Weder Freude noch Vorwurf waren auszumachen. Er setzte sich. Der Beamte nahm Platz an dem Tisch am Eingang.

Wolfgang hatte um das Gespräch angefragt. Mark hatte es nicht abgelehnt. Also war er offen für ein Wiedersehen, viel-leicht auch neugierig. Darauf baute Wolfgang. Da er ihn nicht mit konstruierten Erklärungen für seinen so lange hinausge-zögerten Besuch verstimmen wollte – in Wahrheit hatte er ihn

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fast vergessen –, legte er einfach mit dem Bericht über Bischof Mixa los.

»Erinnerst du dich an die Geschichte?«Mark sah nur kurz auf und schüttelte den Kopf.»Wir hatten mit den Freunden darüber gestritten!«Mark antwortete nicht.»Wir forderten beides: Gerechtigkeit für die Opfer und Tä-

terschutz.«Als wieder keine Reaktion kam, log Wolfgang: »Helen und

ich waren mit dir gleicher Meinung.«Er hoffte, Mark würde auf Helens Besuch bei ihm im Gefäng-

nis eingehen. Mark schien nachzudenken. Er sah ihn strafend an, so als wollte er sagen: »Ich hab dich durchschaut.«

Wolfgang sprach rasch weiter: »Ich finde es nicht so tragisch, wenn Mixa seinen Heimkindern damals die eine oder andere Ohrfeige gegeben hat. Mein Gott, früher hat Eltern und Erziehern die Hand halt lockerer gesessen.« Sollte ein zustim-mendes Schmunzeln in Marks Gesicht zu erkennen sein? Auf dieser Gemütsregung musste er aufsetzen, um Mark nicht wieder in seine apathische Grundstimmung zu verlieren.

Er fuhr fort: »Mixa hatte immerhin zugegeben, dass er in seiner Zeit als Lehrer und Stadtpfarrer die eine oder andere Handgreiflichkeit im Umgang mit den vielen Jugendlichen nicht ausschließen kann.«

Und weil Mark nicht darauf einging, ergänzte er: »Die Süd-deutsche hatte damals geschrieben, dass inzwischen acht ehemalige Heimkinder Mixa vorwarfen, er habe sie mit Faust, Stock oder Teppichklopfer geschlagen.«

Bei Teppichklopfer glaubte er, ein Zucken in Marks Gesichts-zügen zu erkennen.

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»Sie würden ihre Aussagen auch vor Gericht unter Eid be-zeugen.«

Bevor Wolfgang es zu Ende gesprochen hatte, war ihm klar, der Hinweis auf das Gericht war keine gute Bemerkung. Marks Gesicht erstarrte. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Wolfgang versuchte auf die andere Seite der Beschuldigun-gen abzulenken: »Mixa soll Antiquitäten und Schmuck aus Fi-nanzmitteln eines Kinderheimes beziehungsweise der katho-lischen Waisenhausstiftung angeschafft haben.«

Marks Gesichtsausdruck signalisierte weder Aufhören noch Geh endlich. Er schien in anderen Gedanken gefangen. Wolf-gang hoffte, das Groteske an der Geschichte würde Mark auf-heitern.

»Den Kauf einer Marienikone, eines womöglich sogar ge-fälschten Stiches und eines Leuchters mit Engelchen für da-mals mehr als einhunderttausend D-Mark begründete Mixa angeblich damit, die Kinder und Jugendlichen sollten durch entsprechende Ausgestaltung des Hauses ein Gespür für Kunstwerke und das Schöne entwickeln.«

Mark zog die Augenbrauen ein wenig hoch und schaute, als wollte er sagen: Na, und?

Wolfgang fasste wieder Mut. »Ein Gespür für das Schöne und Teure hat die Kirche immer noch. In Limburg, in Rom, ei-gentlich überall.«

Auch an diesem Thema schien Mark nichts gelegen. Er starr-te wieder auf die Tischplatte. Der Wächter auf seinem Stuhl in der Ecke des Raumes blickte auf die Armbanduhr, stand auf und ging an der Wand zum Gefängnisflur nach links und zurück bis zur Wanduhr über der Tür. Zeigte mit dem Finger darauf.

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Wolfgang sah, dass ihm die Zeit davonlief. Doch er war nicht gänzlich entmutigt. Mark hatte ihm immerhin zugehört. Meistens jedenfalls, machte er sich glauben. Er hätte eben-so zurück in die Zelle gehen können. Mark spürte wohl, wie schwer es Wolfgang fiel, nach vertaner Zeit ihre Freundschaft neu aufleben zu lassen, gar Gefühle oder Befindlichkeit zu of-fenbaren. Und was drängte, geklärt zu werden, musste einem nächsten Besuch vorbehalten bleiben. Mark schien ihm nicht nachzutragen, dass er ihn erst jetzt besuchte.

Wolfgang fasste sich ein Herz: »Darf ich wiederkommen?«Mark nickte, sah ihm nur kurz in die Augen und stand auf.

Der Vollzugsbeamte hatte die Tür zum Gefängnisflur bereits geöffnet. Mark drehte sich noch einmal zu Wolfgang um und sprach leise, aber mit fester Stimme: »Ich bin unschuldig!«

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Conny, schieb ne Runde Schampus rüber, und danke für eure Glückwünsche!«

»Hast du im Lotto gewonnen?«»Nein, nur nen krummen Geburtstag.« Martin zögerte.

»Dreiunddreißig.«»Da kann man nichts machen!«»Hoffentlich wirst du noch so alt, wie du aussiehst!«An die Theke gelehnt warteten die Freunde geduldig auf die

Freirunde, luden immer weitere für solche Anlässe im Kopf gespeicherte Sprüche hoch.

Heiner, er erwähnte gerne sein Freizeitstudium der Philoso-phie, hoffte auf Applaus mit: »Thirty-three, c’est la vie!«

Wolfgang wollte nichts draufsetzen. Helen zeigte ein un-glückliches Gesicht. Die gemischte Stimmung wurde durch das Einschreiten des Wirtes erlöst: »Eine Runde Pommery!«

Das Klirren der Gläser klang in erneuten Glückwünschen und wohlgemeinten Ratschlägen für die bedrohliche Zeit des Älterwerdens aus.

»Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde!«, revan-chierte sich Martin für die Kalauer und Anspielungen.

Je nach Resonanz speicherte dann jeder seinen Spruch für den nächsten Einsatz wieder im Gehirn.

Die Gespräche ebbten ab. In einer Pause meldete sich Helen zögerlich, ohne Anklage, gerade wie es ihr in den Sinn kam.

»Mark ist letzte Woche auch dreiunddreißig geworden. Ich hab ihn im Gefängnis besucht.«

Es wurde still am Tresen, die Stimmen der wenigen anderen

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Gäste im Umkreis der Geburtstagsrunde verstummten eben-falls. Alle schauten auf Helen.

»Ich bin unschuldig, das war alles, was er sagte.«Die Freunde wollten jetzt mehr wissen.»Bei meinem letzten Besuch hab ihm von uns erzählt. Was

wir so machen. Dass wir uns weiter bei Conny treffen. Offen-sichtlich hat ihn noch niemand von euch besucht. Seit er dort ist – seit Monaten.«

Die letzten Kohlendioxidperlen in den Gläsern verflüchtig-ten sich. Aufschäumende Freude war nicht mehr zu erwarten. Nur Betroffenheit. Der Wirt drehte die Hintergrundmusik et-was leiser.

»Sitzt der immer noch in Untersuchungshaft? War das nicht schon Mitte letzten Jahres?«, fragte Heiner.

Martin antwortete: »Er ist seit sechs Monaten rechtskräftig verurteilt.«

Marlis stellte ihr Glas weg. »Aber wenn er unschuldig ist?«»Das Gericht hat ihn für schuldig befunden. Und die Revisi-

on wurde abgewiesen«, sagte Martin.»Der tut doch keiner Fliege was zuleide«, bekräftigte Johan-

nes.Christian wollte die Stimmung auflockern: »Und keiner Bie-

ne.«Martin blickte strafend über den oberen Rand seiner Lese-

brille.»Er war halt noch nicht lange bei uns, kam selten zum

Stammtisch. Aber wir hätten doch alle für ihn ausgesagt.« Hei-ner blickte in die Runde.

»Ich bin nicht angesprochen worden.«»Du hast ja mit ihm kaum Kontakt gehabt, Marlis – oder?«

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»Was hätte ich sagen sollen? Dass ich Mark das nicht zu-traue?«

Timo mischte sich ein. »Mein Motto ist: Traue keinem, dann bist du nicht enttäuscht, wenn einer deinem Vertrauen nicht gerecht wird.«

Heiner versuchte die Freunde zu beruhigen: »Wir konnten eben zum Tathergang nichts sagen. Keiner von uns war da-bei.«

»Aber wir hätten alle ausgesagt, dass wir uns das nicht vor-stellen können. Dass wir Mark für unschuldig halten.« Heiner blickte um sich.

»Die Aussage dieser Janine war eindeutig. Die haben ihr mehr geglaubt.«

»Nur Mark und Gott kennen die volle Wahrheit!«, sprach Wolfgang.

Martin unterbrach: »Vergiss Janine nicht. Sie war natürlich als Betroffene und Zeugin für die Anklage entscheidend.«

Sabine spöttisch: »Und Gott kannst du vergessen. Der hält sich doch aus so was raus!« Sie kramte einen Stift aus der Handtasche und zog sich die Konturen ihrer Lippen nach.

Der Wirt und Martin leisteten sich ein scheues Lächeln.»Wir können ihm da nicht helfen.«Marlis strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn: »Wenn ich

ihm nur helfen könnte.«»Aber wir sind doch überzeugt, dass Mark unschuldig ist?«Diese Frage blieb in der Runde hängen, bis Heiner sein Phi-

losophiewissen parat hatte – er nahm gerade Seneca durch.»Wenn du einen für deinen Freund hältst, dem du nicht

eben so viel vertraust als dir selbst, so irrst du gewaltig und kennst das Wesen der wahren Freundschaft nicht!«

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Er schien enttäuscht, dass niemand darauf einging. Weil ihn die Freunde ratlos anblickten, setzte er noch einen Satz von Seneca dazu: »Ein Schwarm von Freunden umlagert die Glücklichen; um die Gestürzten herrscht Einsamkeit.«

Die Ratlosigkeit, die sich in die Runde geschlichen hatte, wechselte zu Betroffenheit.

Helen fasste sich als Erste: »Vielleicht besucht ihn mal einer von euch.«

Es klang allen wie eine Aufforderung, sich auf den Weg zu machen.

Wolfgang verließ die Stammkneipe mit Helen und begleite-te sie nach Hause. Er dachte: Was für ein Leben, mit dreiund-dreißig im Gefängnis, für sieben Jahre!

An ihrem Haus angekommen, erwähnte Wolfgang noch, dass er Mark in der JVA besucht hatte.

»Das verrätst du erst jetzt? Das musst du mir erzählen, gleich!«

Hinter den meisten Fenstern ihres Hauses schien Licht, als seien alle neugierig, was Wolfgang preiszugeben hatte.

»Okay, aber nur eine halbe Stunde und keinen Jasmintee!«Helen stellte ein kühlschrankkaltes Jever auf den Tisch.»Leider nicht frisch gezapft, wie unten an der Ecke.«

Wolfgang berichtete von seiner Idee, das Gespräch über eine ältere Pressenotiz zu Bischof Mixa anzuregen, und wie ihm das misslang. Helen erwähnte, dass Mark in Mixas Kirchenge-meinde aufgewachsen sei und dort das Gymnasium besucht habe. Vielleicht hatte er ihn damals noch als Stadtpfarrer und Chef des Kuratoriums der Katholischen Waisenhausstif-tung persönlich kennengelernt. Immerhin war er in seiner

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Gemeindekirche Messdiener gewesen. Nach Trennung und Umzug der Eltern sei er in ein von Jesuiten geführtes Internat gewechselt. »Er schien stolz, dort aufgenommen worden zu sein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn man heute darüber nachdenkt, kommen einem die schlimmsten Befürchtungen auf – man hört doch dauernd Andeutungen, Verdächtigungen, unterschwellige Anklagen. Dann das späte Mea culpa, mea maxima culpa der Kirche.«

Helen hatte sich offensichtlich mit dem Thema beschäftigt.»Meinst du, Mark hat Schlimmes erlebt? Wurde gar sexuell

missbraucht?«, fragte Wolfgang.Sie zuckte mit den Schultern. Er wusste, Helen spekulierte

nicht. Das war nicht ihre Art.Wolfgang trank sein Jever aus, stand auf, gab Helen einen

freundschaftlichen Gutenachtkuss und machte sich auf den Weg in seine Junggesellenbude.

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