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38 Untersuchungen zum Sophokleischen 'Philoktet' Aufführung so weit als möglich zu rekonstruieren, da sich darüber Aufschlüsse filr die Interpretation des Verhaltens der Personen ergeben können. Wie die Bestandsaufnahme im ersten Abschnitt (I.) gezeigt hat, haben offen- sichtlich weder alle Figuren der Tragödie dieselbe Vorstellung vom Helenos-Ora- kel noch versteht unbedingt eine jede Person in jeder Szene das Orakel in dersel- ben Weise. Daher darf das Orakel-Verständnis einer anderen Person oder auch das Orakel-Verständnis derselben Person in einer anderen Szene nicht ohne weiteres übertragen werden, sondern es muß für jede Szene und jede Person einzeln und immer wieder aufs neue untersucht werden, welches Orakel-Verständnis vorliegt. IV. Konkrete Fragestellung und Aufbau dieser Arbeit Diese Arbeit geht aus von fünf Beobachtungen: 1. Das Orakel wird an keiner Stelle absichtsfrei von einer objektiven Person 112 vorgestellt - etwa in einem exponierenden Prolog 113 - , sondern es ist stets nur in den (direkten und indirekten) Äußerungen und Reaktionen der vom Orakel betrof- fenen Personen faßbar. Auch Herakles zitiert den Wortlaut des Orakels nicht, und auch er verfolgt mit seinen Darlegungen einen bestimmten Zweck; denn er will Philoktet damit zur Fahrt nach Troia veranlassen. Mithin muß eine Untersuchung zum Helenos-Orakel im Philoktet bei der Rezeption des Orakels durch die Perso- nen des Stückes ansetzen. 2. Zum Helenos-Orakel nehmen zwei grundsätzlich verschiedene Perso- nen(gruppen) Stellung: Im Verlauf des Stückes setzen sich die Menschen damit auseinander, und am Ende der Tragödie erscheint der Gott Herakles, um das Ora- kel gegen das Ergebnis des Geschehens, wie es sich zwischen den Menschen ent- wickelt hat, durchzusetzen. Für den Aufbau der Arbeit ergibt sich damit folgende Zweiteilung: der erste Abschnitt des Hauptteils (B) wird sich mit der Rezeption des Helenos-Orakels durch die Menschen (I.), der zweite mit der durch Herakles (Π.) befassen. 3. Das Helenos-Orakel rezipieren von grundsätzlich verschiedener Warte aus zwei Personen(gruppen) unter den Menschen des Philoktet. Einerseits versuchen 112 Vgl. Altegre (1905) 114: "on ne trouvera pas dans la pifcce une situation qui n'ait pas son engi- ne dans les caractires." Anders Hösle (1984), nach dessen Auffassung der Emporos objektiv ist. Zu dieser Deutung HOsles s. ausführlich S. 68 Fn. 53. 113 Vgl. den Prolog des Euripideischen Philoktet, wie dieser sich in der 59. Rede des Dion Chry- sostomos präsentiert, insbesondere Dio, or. 59,2. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/5/13 3:57 PM

Untersuchungen zum Sophokleischen Philoktet (Das auslösende Ereignis in der Stückgestaltung) || IV. Konkrete Fragestellung und Aufbau dieser Arbeit

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38 Untersuchungen zum Sophokleischen 'Philoktet'

Aufführung so weit als möglich zu rekonstruieren, da sich darüber Aufschlüsse filr die Interpretation des Verhaltens der Personen ergeben können.

Wie die Bestandsaufnahme im ersten Abschnitt (I.) gezeigt hat, haben offen-sichtlich weder alle Figuren der Tragödie dieselbe Vorstellung vom Helenos-Ora-kel noch versteht unbedingt eine jede Person in jeder Szene das Orakel in dersel-ben Weise. Daher darf das Orakel-Verständnis einer anderen Person oder auch das Orakel-Verständnis derselben Person in einer anderen Szene nicht ohne weiteres übertragen werden, sondern es muß für jede Szene und jede Person einzeln und immer wieder aufs neue untersucht werden, welches Orakel-Verständnis vorliegt.

IV. Konkrete Fragestellung und Aufbau dieser Arbeit

Diese Arbeit geht aus von fünf Beobachtungen: 1. Das Orakel wird an keiner Stelle absichtsfrei von einer objektiven Person112

vorgestellt - etwa in einem exponierenden Prolog113 - , sondern es ist stets nur in den (direkten und indirekten) Äußerungen und Reaktionen der vom Orakel betrof-fenen Personen faßbar. Auch Herakles zitiert den Wortlaut des Orakels nicht, und auch er verfolgt mit seinen Darlegungen einen bestimmten Zweck; denn er will Philoktet damit zur Fahrt nach Troia veranlassen. Mithin muß eine Untersuchung zum Helenos-Orakel im Philoktet bei der Rezeption des Orakels durch die Perso-nen des Stückes ansetzen.

2. Zum Helenos-Orakel nehmen zwei grundsätzlich verschiedene Perso-nen(gruppen) Stellung: Im Verlauf des Stückes setzen sich die Menschen damit auseinander, und am Ende der Tragödie erscheint der Gott Herakles, um das Ora-kel gegen das Ergebnis des Geschehens, wie es sich zwischen den Menschen ent-wickelt hat, durchzusetzen. Für den Aufbau der Arbeit ergibt sich damit folgende Zweiteilung: der erste Abschnitt des Hauptteils (B) wird sich mit der Rezeption des Helenos-Orakels durch die Menschen (I.), der zweite mit der durch Herakles (Π.) befassen.

3. Das Helenos-Orakel rezipieren von grundsätzlich verschiedener Warte aus zwei Personen(gruppen) unter den Menschen des Philoktet. Einerseits versuchen

112 Vgl. Altegre (1905) 114: "on ne trouvera pas dans la pifcce une situation qui n'ait pas son engi-ne dans les caractires." Anders Hösle (1984), nach dessen Auffassung der Emporos objektiv ist. Zu dieser Deutung HOsles s. ausführlich S. 68 Fn. 53.

113 Vgl. den Prolog des Euripideischen Philoktet, wie dieser sich in der 59. Rede des Dion Chry-sostomos präsentiert, insbesondere Dio, or. 59,2.

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Α. Einleitung 39

Odysseus, Neoptolemos und der Chor, das Orakel zu erfüllen, indem sie sich be-mühen, Philoktet und/oder seinen Bogen nach Troia zu schaffen. Andererseits sieht sich auch Philoktet mit dem Orakel konfrontiert, weil dieses auf irgendeine Weise die Eroberung Troias in seine Hand gibt. Daraus resultiert für den ersten Abschnitt des Hauptteils (Β I.) wiederum eine Zweiteilung: Der erste Teil wird sich mit der Rezeption des Orakels durch Odysseus, Neoptolemos und den Chor zu befassen haben (1.), der zweite Teil (2.) wird sich Philoktet und seiner Reakti-on auf das Orakel widmen.

4. Die Personen 'Odysseus', 'Neoptolemos' und 'Chor' haben nicht nur unterein-ander immer wieder verschiedene Orakel-Auffassungen, es vermischen sich z.T. auch bei den Äußerungen der einzelnen Figuren zum Orakel Intentionen, die in Zusammenhang mit diesem stehen oder zumindest stehen könnten, mit anderen Motiven. Unter diesen komplizierten Gegebenheiten kann Klarheit nur erbracht werden, wenn die Orakel-Auffassungen der verschiedenen Personen jeweils unab-hängig voneinander untersucht werden.

5. Der Handlungsablauf des Sophokleischen Philoktet läßt sich nach den äuße-ren Gegebenheiten, unter denen die Personen des Stückes mit dem Orakel kon-frontiert werden, in drei Phasen einteilen:114 In der ersten Phase der Orakelrezep-tion bilden Mann und Bogen eine Einheit (V. 1-729). Diese Einheit zerbricht durch die Übergabe des Bogens in der zentralen zweiten Phase (V. 730-1216) und wird dann in der dritten Phase durch die Rückerstattung des Bogens wiederherge-stellt (V. 1217-1471).

Bei diesem Aufbau lassen sich gewisse Doppelungen in der Darstellung nicht vermeiden. So wird z.B. der Prolog sowohl im Odysseus- als auch im Neoptole-mos-Abschnitt besprochen werden. Wie sich jedoch zeigen wird, führt die Be-trachtung unter unterschiedlichen Perspektiven zu größerer Klarheit über die Po-sitionen, die die betreffenden Personen einnehmen. Die jeweils zweite Betrach-tung einer Passage kann dabei, was die generelle Gesprächsführung betrifft, auf der ersten aufbauen; deswegen werden in der zweiten jeweils nur die Aspekte, die für die betreffende Person von Relevanz sind, knapp betrachtet.

Zusätzlich zur eigentlichen Interpretation wird an den für das Orakelproblem zentralen Stellen jeweils im Petit gesondert auf die Implikationen und Probleme der πείθειν-Klausel-Deutung eingegangen, da diese Interpretationsrichtung die moderne iVii/ofaef-Forschung beherrscht.

114 Vgl. Winnington-Ingram (1980) 281; von einer Dreiteüung gehen auch Knox (1964) 119; Gar-vie (1972) passim aus, allerdings teilen sie das Stück nach den Methoden ein, die angewandt werden: List, Gewalt, Überredung.

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40 Untersuchungen zum Sophokleischen 'Philoktet'

Auf Querverweise zwischen den Untersuchungen derselben Textpartie in den einzelnen Abschnitten wird verzichtet, um eine Überfrachtung des Fußnotenappa-rates zu vermeiden. Das Stück ist in den einzelnen Abschnitten jeweils konsequent rezeptionsorientiert nach dem Verlauf behandelt worden, daher ist die jeweils vor-angehende oder folgende Behandlung leicht aufzufinden und ein besonderer Hin-weis nicht nötig. Verwiesen wird zwischen den einzelnen Unterabteilungen aber dann, wenn es um spezielle Fragestellungen geht.

Der Arbeit liegt der Text von Lloyd-Jones und Wilson (1990) - auch in der Schreibweise des griechischen Textes - zugrunde, der Bezeichnung der einzelnen lyrischen Partien die Arbeit von Pohlsander (1964). Die Sekundärliteratur zu So-phokles und speziell zum Philoktet ist, soweit relevant und soweit zugänglich, konsequent115 seit dem Sophokles-Buch von Tycho von Wilamowitz-Moellen-dorfF (1917) berücksichtigt, in dem die Widersprüche im Werk des Sophokles in das Zentrum der Analyse gestellt worden sind (die jüngste, kenntnisreiche Arbeit zum Philoktet von Müller [1997] konnte allerdings nicht mehr in der ihr gebüh-renden Weise berücksichtigt werden); frühere Literatur ist nur eingearbeitet, wenn sie sich auf irgendeine Weise mit dem Helenos-Orakel-Problem befaßt. Um Ver-zerrungen und Fehlinterpretationen zu vermeiden, wird dabei versucht, die Auto-ren so weit wie möglich mit ihrem Originalwortlaut zu Worte kommen zu lassen.

Das Abkürzungsverzeichnis enthält (neben allgemeinen Nachschlagewerken) nur die Philoktet- und, soweit sie auf den Sophokleischen Philoktet eingeht, die Sophokles-Literatur, die von besonderer Bedeutung ist und mehrfach zitiert wird; Literatur zu spezielleren Themen findet sich ausschließlich in den Fußnoten.

115 In der jüngeren Sophokles-Literatur wird immer wieder - und zu Recht - bedauert, daß kaum oder nicht in ausreichendem Ausmaß auf die Sekundärliteratur eingegangen wird, z.B. Steidle (1968) 184 Fn. 62. Es werden auch - ohne Verweise auf die ältere Literatur - Diskussionen ge-führt, die in derselben Form bereits im letzten Jahrhundert geführt worden sind. So findet sich z.B. bei Muff (1877) 228-231 eine ausführliche Auseinandersetzung mit alterer (!) Forschung zu der Frage, wann der Chor die Bühne betritt (ob mit Odysseus und Neoptolemos in V. 1 oder erst zur Parodos), eine Frage, die zur Zeit mit denselben Argumenten gerade wieder geführt wird, ohne daß auf diese altere Forschung eingegangen würde.

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