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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1812 Schweizer Soldaten in Russland Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte ......Bajonettangriff trotz des Feuers der russischen Infanterie und Artillerie in blutigem Handgemenge die Feinde einige

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Page 1: Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte ......Bajonettangriff trotz des Feuers der russischen Infanterie und Artillerie in blutigem Handgemenge die Feinde einige

Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1812

Schweizer Soldaten in Russland

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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1812 Schweizer Soldaten in Russland Albert Maag in Maag Albert: Der Schweizer Soldat in der Kriegsgeschichte, Bern 1931

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93. Die Schweizer Grenadiere auf dem Friedhof zu Ropna.

17. Oktober 1812.

S. 274: Die nachfolgende Orientierung über die allgemeine Lage gilt auch für

sämtliche folgende Darstellungen aus dem Feldzug ııı Russland, Nr. 93-97.

Während Napoleon im Jahre 1812 mit der Hauptmacht seiner «Grossen

Armee» von der Düna aus über Smolensk nach Moskau marschıerte, hatte

General Wittgenstein, der Führer der russischen Streitkräfte zwischen Riga,

Petersburg und Polozk an der Düna die Aufgabe, Petersburg zu decken und

zugleich im geeigneten Zeitpunkt gegen die linke Flanke Napoleons zu

operieren. Diese deckte Marschall Oudinot mit dem 2. Armeekorps, in

welchem die 4 Schweizerregimenter den 3 Brigaden (Amey, Candras und

Contard) der Division Merle zugeteilt waren.

Oudinot beschränkte sich, den Gegner beobachtend, auf die Verteidigung von

Polozk. Dieses, am rechten Ufer der Düna, war damals eine Stadt von 3000

Einwohnern und etwa 350 Häusern, die mit Ausnahme des Jesuitenkollegiums,

des Generalquartiers Oudinots, alle aus Holz gebaut waren. Um die

Nordwestseite der Stadt zieht sich eine tiefe Schlucht, durch welche das

Flüsschen Polota fliesst, um in die der Südseite der Stadt entlang fliessende

Düna zu münden. Auf der Ostseite dehnte sich eine weite Fläche aus, wo

Marschall Oudinot eine Anzahl Schanzen hatte anlegen lassen, sie dienten zur

Sicherung vor Ueberraschung durch feindliche Kavallerie und zur

Erleichterung der Verteidigung der Stadt und ihrer Umgebung bei einem

allenfalls nötigen Rückzug über die Düna.

In Polozk stiess zum 2. Armeekorps noch das bayrische Korps unter General

Gouvion St. Cyr, beide, deren Gesamtstärke am Niemen noch 64'000 Mann

betragen hatte, zählten jetzt bloss noch 33'000 Mann. Am 17. und 18. August

griff Wittgenstein Polozk an, wurde aber abgewiesen. In dieser ersten Schlacht

bei Polozk wurde die Division Merle als Reserve verwendet, St. Cyr, der am

18. August zum Marschall befördert wurde und das Kommando an Stelle des

verwundeten Oudinot übernahm, blieb bei dieser Verwendung. Die Schweizer

beklagten sich, dass sie im Kampfe nicht auf den Ehrenposten gestellt würden,

sie betrachteten die Anordnung des französischen Führers als Misstrauen in

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ihre Tüchtigkeit. Als einige Generäle St. Cyr bemerkten, es sei Zeit, die

Schweizer auch einmal in die erste Linie zu stellen, entgegnete er: «Ich kenne

die Schweizer, denn ich hatte solche unter meinem Befehl bei Castelfranco,

zum Angriff sind die Franzosen rascher, aber sollte es zum Rückzug kommen,

so könnten wir uns auf die Kaltblütigkeit und den Mut der Schweizer sicher

verlassen, und aus diesem Grunde müssen wir sie heute noch in Reserve

halten.

Einstweilen war Wittgenstein nicht in der Lage, seinen Angriff zu erneuern. So

standen Russen und Franzosen einander acht Wochen lang gegenüber. In

dieser Zeit erfüllte sich das Schicksal des Kaisers. Moskau, in dem er dem

Feind hatte den Frieden diktieren wollen, ging in Flammen auf, und so musste

er am 19. Oktober, bei Anbruch des Winters, den Rückzug antreten.

Wittgenstein war vom schlimmen Zustand der Armee Napoleons

benachrichtigt worden. Daher entschloss er sich, dem Feind Polozk zu

entreissen, nachdem Verstärkungen durch das finnländische Korps des

Generals Steinheil bei ihm eingetroffen waren und sein Heer damit auf 35-

40'000 Mann gebracht

S. 275: hatten. Die Streitkräfte des Marschalls St. Cyr zählten höchstens noch 22'000

Mann, die Schweizerregimenter 4000 Mann Kombattante, wobei die aus den

Depots bis zum 17. Oktober eingetroffenen Verstärkungen mitgerechnet sind.

Am 17. Oktober erteilte Wittgenstein dem Prinzen Jachwyl den Befehl, die

französischen Detachemente, welche von Polozk aus auf der Strasse nach

Petersburg vorgeschoben worden waren, zurückzudrängen. Seine Vorhut griff

gegen 4 Uhr nachmittags bei der Kapelle von Ropna, eine starke Stunde vor

Polozk, Kreuzungspunkt der Strassen nach Petersburg und nach Riga, die

Vorposten der Division Merle an, welche eine Kompagnie des 1.

Schweizerregiments dorthin vorgeschoben hatte. Sie leistete gegenüber

dreifacher Übermacht tapferen Widerstand, musste aber, da sie sich

verschossen hatte, die Kapelle den Russen überlassen. Gegen Abend führte

Hauptmann Gilly von Luzern ein Bataillon Grenadiere des 1.

Schweizerregiments und die Kompagnie, nachdem sie wieder Munition gefasst

hatte, von neuem heran und nahm nach dem Bericht des Marschalls St. Cyr

«après une charge brillante» die Kapelle den Russen wieder ab. Hauptmann

Gilly blieb mit 100 Mann auf dem Posten zurück. Nach Einbruch der Nacht

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gelang es aber dem 23. und 24. russischen Jägerregiment, von einem Wald

gedeckt und von der Dunkelheit begünstigt, das schweizerische Detachement

zu überraschen. Hinter den fünf Fuss hohen Mauern des Friedhofs von Ropna

erwarteten die Schweizer die in dichten Massen anrückenden Russen. Nach

dem Bericht des Obersten Affry an den Landammann der Schweiz gaben die

Schweizer nicht 10 Schuss auf den Mann ab, sondern setzten sich mit dem

Bajonett zur Wehr. Erst als der tapfere Kommandant, Hauptmann Gilly, und

die Hälfte der Verteidiger gefallen war, wurde nach mehrstündigem Kampf der

Rückzug angetreten. (Dieser Kampf wird in der Armee viel besprochen und

hat Freund und Feind in Erstaunen gesetzt. In diesem blutigen Ringen schlug

man sich mit dem Kolben, dem Säbel. Es war so stockfinster, dass man sich

ergreifen und erkennen musste, ehe man einander totschlug). Die Grenadiere

schlugen sich durch und zogen sich auf der nach dem französischen Lager

führenden Strasse zurück. Neben dem tapfern Hauptmann Gilly verloren die

Schweizer noch den Hauptmann Druey von Faoug (Waadt), der erst des Tags

zuvor mit einer Verstärkung von 191 Mann zu Polozk angekommen war,

verwundet wurden die Leutnants Pfander von Belp (Bern) und Hunziker

(Aargau). Die Grenadiere trugen ihren gefallenen Hauptmann nach dem Lager

zurück, wo sie um 11 Uhr eintrafen.

S. 276: Dieses Gefecht war nur das Vorspiel zur entscheidenden zweiten Schlacht bei

Polozk am 18. Oktober.

Maag, Die Schicksale der Schweizerregimente in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812. Hellmüller, Die roten Schweizer 1812.

94. Die Schweizerregimenter in der Schlacht bei Polozk.

18. Oktober 1812.

Zum Angriff auf die Stadt Polozk rückte General Wittgenstein auf beiden

Ufern der Polota vor. Da die russischen Streitkräfte durch die Schlucht der

Polota voneinander getrennt wurden, traf Marschall St. Cyr die entsprechenden

Massnahmen, um die Teile des Gegners einzeln zu schlagen. Als die Kunde

vom Schicksal der Schweizer des 1. Regiments zu Ropna im Lager eintraf,

wurden alle Vorbereitungen für den entscheidenden Kampf getroffen. Die vor

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der Stadt Polozk lagernden Truppen waren die Nacht hindurch unter Waffen,

alle noch nicht genügend gekräftigten Rekonvaleszenten wurden nach dem

linken Dünaufer gebracht, ebenso die Bagage.

Nach den Anordnungen des Marschalls St. Cyr wurde die Verteidigung der

Stadt Polozk selbst dem 4. Schweizerregiment unter Oberst Affry von Freiburg

anvertraut. Die Bayern unter General Wrede hatten die vor der Stadt gelegenen

Schanzen zu verteidigen. Die Divisionen Legrand und Maison1, Zentrum und

rechter Flügel, nahmen Stellung auf dem linken Ufer der Polota, zwischen der

Stadt und den Feldschanzen Nr. 7 und 9, Front Nordwesten.2 Nordöstlich von

Polozk marschierte die Division Merle als linker Flügel auf, links der nach

Petersburg führenden Strasse, rechts rückwärts der Division befanden sich die

beiden Feldschanzen Nr. 4 und 5. Die Division Merle hatte lediglich

hinhaltend zu kämpfen, die beiden andern Divisionen sollten die Russen

zurückwerfen. Dieser Befehl galt also auch dem 1. und 2. Schweizerregiment

und dem dritten Kroatenregiment der Brigade Candras als Teilen der

S. 277: Division Merle, das 3. Schweizerregiment von der Brigade Coutard war bei

Eröffnung des russischen Angriffs nach Cotiani auf den äussersten rechten

Flügel des 2. Armeekorps detachiert. Nach heftigen Kämpfen war es erst

nachmittags 3 Uhr des 18. Oktober bei der Brustwehr der Stadt Polozk

eingetroffen, wo es sofort Stellung bezog. Noch um 6 Uhr morgens wurde dem

General Merle der Befehl ausdrücklich wiederholt, sich auf die beiden

genannten Feldschanzen zurückzuziehen, sowie die Russen (Prinz Jachwyl)

aus dem Wald debouchieren würden, sich also in keinen ernstlichen Kampf

einzulassen.

Im Morgengrauen des 18. Oktober fielen bei den Vorposten der Schweizer die

ersten Schüsse, und bald knatterte dort ein lebhaftes Flintenfeuer, denn ein

russisches Detachement unter dem Befehl des Oberstleutnants Stolipin war am

Saum des Waldes erschienen, der die Bewegungen der in sumpfigem Gelände

mühsam vorrückenden Russen bis dahin verdeckt hatte. Zwischen 10 und 11

Uhr trat die Vorhut des Prinzen Jachwyl aus dem Wald, und die schwere

Artillerie der Russen fuhr auf. Die Voltigeurs der beiden Schweizerregimenter

1 Bei der Division Maison stand im 11. Schützenregiment das Walliser Bataillon. 2 Vergl. die Karte zur zweiten Schlacht bei Polozk bei Maag, Die Schicksale der Schweizerregimenter in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812.

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eröffneten das Gefecht mit den russischen Jägern, schossen sich mit ihnen

herum bis 3 Uhr nachmittags und zogen sich dann befehlsgemäss auf ihre

Bataillone zurück. Prinz Jachwyl entschloss sich zum eigentlichen Angriff

gegen die Division Merle. Zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags rückten die

Russen in Massen aus dem Wald und entwickelten ihre Angriffskolonnen,

15'000 Mann gegen die 4'000 der Division Merle.

Die Voltigeurs und Grenadiere der beiden Schweizerregimenter formierten

sich sofort zur kräftigen Abwehr. Vergessen war jetzt der Befehl des

Marschalls St. Cyr, sich zurückzuziehen. Dass sie vor russischen Bataillonen,

die eben zum Angriff auf die Schweizer schreiten wollten, den Rückzug

antreten sollten, das schien zu viel verlangt. Umsonst sprengte Hauptmann von

Schaller von Freiburg, Adjutant des Generals Merle, mitten durch das

Gewehrfeuer mit verhängten Zügeln zu Brigadegeneral Candras, um den

Befehl zum Rückzug zu wiederholen. Der Befehl kam zu spät, schon hatten

sich beide Schweizerregimenter in Linie entwickelt und das Pelotonfeuer

eröffnet. So brachte Hauptmann von Schaller dem 3. und 4. Schweizerregiment

den Befehl, auf den Schanzen von Polozk Stellung zu nehmen und von da aus

den Rückzug ihrer Landsleute vom 1. und 2. Schweizerregiment zu decken.

Diese warfen nochmals in kräftigem Angriff die Russen zurück. Erst als der

Feind Verstärkungen erhalten hatte, gingen sie, von der Übermacht bedrängt,

zurück, bald aber machen sie wieder Kehrt, erstellen

S. 278: die Front von neuem und eröffnen ein mörderisches Feuer auf die

nachstürmenden Russen, die dadurch zum Rückzug genötigt werden. Dieses

Manöver wiederholen sie mehrere Male mit einer Ruhe und Gemessenheit

ihrer Bewegung, als ob es sich um eine Parade auf dem Exerzierplatz

gehandelt hätte. Voll Staunen riefen französische Offiziere, die Augenzeugen

der tapferen Haltung der Schweizer waren, aus: «Haben denn die Kerls den

Teufel im Leib? Sie exerzieren, als ob die Geschichte nur Spass wäre!»

Nachdem der Kampf in der eben beschriebenen Weise eine Zeitlang hin und

her gewogt hatte, gelang es den beiden Schweizerregimentern, mit einem

Bajonettangriff trotz des Feuers der russischen Infanterie und Artillerie in

blutigem Handgemenge die Feinde einige hundert Schritt zurückzuwerfen.

Eine Gefechtspause entsteht. Da greift russische Kavallerie, Husaren und

Kosaken an. Die schweizerischen Bataillone finden gerade noch Zeit, die

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Carrées zu formieren. Ruhig erwarten sie den Anprall der neuen Gegner, wie

sie aber auf etwa 70 Schritt ihren Bajonetten nahe gekommen sind, empfängt

sie eine so wohlgezielte Salve, dass alles auseinanderstiebt. Die Schweizer

setzen den Rückmarsch fort. Sie legen kaum 150 Schritt zurück, als von neuem

russische Kavallerie auf sie lossprengt, wiederum werden sie auf kurze

Entfernung von dem Feuer der Schweizer empfangen und mit schweren

Verlusten abgewiesen. Aber auch die Schweizer hatten manchen Mann

verloren. Schon vorher hatte man die zweiten Bataillone der

Schweizerregimenter mit den ersten vereinigen müssen, nun musste man jetzt

aus dem 2. Schweizerregiment mit dem 1. ein Regiment bilden.

Ihre Lage wurde bedenklich, als sich der Feind zum dritten Angriff ordnete,

der von den schmucken «Kaiserin-Dragonern» ausgeführt wurde. Von den

Schweizern wurden sie empfangen wie zuvor. Aber bereits schienen die Kräfte

der Schweizer zu erlahmen, die Reihen zu wanken, als sie sich der Schlucht

der Polota näherten. Hier bemühten sich die Russen zum letzten Mal, ihre

Ordnung im starken Angriff in der Front und von allen Seiten zu durchbrechen.

Durch den kräftigen Zuruf des greisen Obersten Ragettly, Chef des 1.

Schweizerregiments, ermuntert, rafften die Schweizer die letzten Kräfte

zusammen und passierten mit der ganzen Division Merle die Schlucht, in die

zu ihrer Linken die Russen bereits hinabgestiegen waren. Hier entspann sich

ein letzter verzweifelter Kampf, da die Russen die jenseitige Höhe zu

erklimmen und die Stadt vor ihren Feinden zu erreichen und zu erstürmen

trachteten. Ihr Vorhaben scheiterte, als das 3. und das

S. 279: 4. Schweizerregiment nebst dem Kroatenregiment zur Unterstützung

herbeieilten. Die tapfere Haltung dieser Regimenter, sagt Marschall St. Cyr

selbst in seinem Bericht, zwang die Russen endgültig, dieses Vorhaben

aufzugeben. Vom Dunkel der Nacht begünstigt, zogen sie sich in den

nämlichen Wald zurück, von dem aus am Morgen der erste Angriff

unternommen worden war.

Auch auf dem linken Ufer der Polota war es den Russen nicht möglich

geworden, einen Erfolg zu erringen. Ein mörderischer Kampf hatte sich

zwischen den Divisionen Legrand und Maison und mehreren russischen

Infanterieregimentern entwickelt. Hier hatte sich das Walliser Bataillon

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ausgezeichnet. Um 4 Uhr nachmittags zog Wittgenstein Seine Hauptmacht

zurück und brach den Kampf ab. Der Schlachttag von Polozk hatte auf beiden

Seiten grosse Verluste gekostet. Die Walstatt war mit Toten und Verwundeten

so übersät, dass Grenadierhauptmann Abraham Rösselet von Twann vom 1.

Schweizerregiment, der vielerfahrene Kriegsmann, erklärte, ein solches

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Schlachtfeld noch nie gesehen zu haben. Nach der Schätzung des Obersten

Affry hätten die Russen mehr als 1500 Tote allein am Fusse der

Verschanzungen zurückgelassen. Von den 50 Offizieren des 2.

Schweizerregiments waren 8 tot, 25 verwundet, an Unteroffizieren und

Soldaten tot ungefähr 250, verwundet 380, das erste Schweizerregiment hatte

allein an Unteroffizieren und Soldaten etwa 200 Mann tot, 300 verwundet.

Am Abend unternahmen es über 200 Freiwillige aus den einzelnen

Schweizerregimentern, schwerverwundete Kameraden vor den

Misshandlungen der Kosaken zu retten, welche das Schlachtfeld absuchten und

jene als gute Beute für Raub und Plünderung betrachteten. Unter eigener

Gefahr gelang es den braven Schweizern, etwa 250 Schwerverwundete in

Sicherheit zu bringen und nach der Ambulanz zu schaffen.

Die Tapferkeit der Schweizer fand ihre volle Anerkennung von Seiten ihrer

Vorgesetzten. Die erste Auszeichnung erlangten sie vom General Merle, im

nämlichen Augenblick, als die russische Kavallerie zum letztenmal

zurückweichen musste, erschien dessen Adjutant, um den Schweizern die

Komplimente des Generals für den glänzenden Empfang des Feindes

auszusprechen. Marschall St. Cyr äusserte hernach in Gegenwart seines ganzen

Generalstabs bezüglich des 1. und 2. Schweizerregiments, es sei unmöglich,

tapferer zu sein und den schweizerischen Waffenruhm besser zu behaupten, er

werde ihr schönes Betragen dem Kaiser bekanntmachen. Er, wie General

Merle, heben das Verhalten der Schweizer

S. 280: im Tagesbefehl rühmend hervor. Oberst Affry gedenkt auch im Bericht an den

Landammann der Schweiz der Ehre, die ihm Marschall St. Cyr erwiesen,

indem er über die zu grosse Tapferkeit der Schweizer geklagt habe.

Maag, Die Schicksale der Schweizerregimenter in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812. Hellmüller, Die roten Schweizer 1812.

95. Die Hauptleute Louis Bégos (Aubonne) und

Leonhard Müller (Thurgau) bei Polozk.

18. Oktober 1812.

Während der Angriffe des 1. und 2. Schweizerregiments auf die russischen

Truppen des Generals Wittgenstein (vergl. 94) ward der Fahnenträger des 2.

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Regiments verwundet. Mit seinem Feldzeichen sank er nieder, als sich eben

der Zusammenstoss erneuern sollte. Hauptmann Louis Bégos von Aubonne

(Waadt) eilte herzu, die Fahne zu retten. Er wollte sie den Händen seines

Bruders anvertrauen, als der Thurgauer Hauptmann Leonhard Müller von den

Grenadieren, der sich vor kurzem mit ihm entzweit hatte, zum Kameraden mit

dem Rufe herantrat: «Geben Sie, Hauptmann, geben Sie! Ich will Ihnen

beweisen, dass ich das nicht bin, was Sie von mir gedacht haben, und dass ich

meine Pflicht zu tun weiss!» Sprach's und bemächtigte sich des Adlers, hob ihn

hoch und rief, über die Front hinausschreitend, mit lauter Stimme: «Vorwärts,

das zweite Regiment! » Bei seiner überragenden Körpergestalt musste der

Träger des Feldzeichens alsbald den Flinten der Russen zum Zielpunkt dienen.

Er fiel, von ihren Kugeln getroffen, mit seinem Adler.

Der Adler stand in Gefahr, den Russen in die Hände zu fallen. Im Bewusstsein

seiner Pflicht, zur Rettung der Fahne alles einzusetzen, kroch Hauptmann

Bégos während des Kugelregens nach der Stelle, wo der tapfere Kamerad auf

seinem Feldzeichen lag. Unversehrt erreichte er ihn, während Flinten- und

Kanonenkugeln über ihn dahinsausten, allein «es galt die Ehre des

Regiments». Es gelang ihm, das Feldzeichen unter dem gefallenen Kameraden

wegzuziehen und es zum Regiment zurückzubringen. In der Schlucht der

Polota geriet der Adler beim Rückzug neuerdings in Gefahr. Der Glarner

Leutnant Legler bemerkte dem Träger desselben, er habe keine Fahnenwache

bei sich. (Die Wacht ist tot»,

S. 281: antwortete dieser, «und auch ich habe im rechten Schenkel eine Wunde».

Legler geleitete den Mann mit zwei Unteroffizieren durch die Polota. Während

sie die jenseitige Höhe erklommen, schlugen links und rechts neben ihn die

Flintenkugeln in die Erde, unversehrt kam Legler mit seinen Leuten auf der

Höhe an. Der Adler fand mit denjenigen der andern Schweizerregimentern den

Weg durch die weiteren Schrecknisse Russlands auf französischen Boden

zurück. Maag, Die Schicksale der Schweizerregimente:

in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812.

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96. Verteidigung der Stadt Polozk.

20. Oktober 1812.

General Wittgenstein verschob nach dem Misserfolg am 18. Oktober (vergl.

94) den erneuten Angriff auf die Stadt Polozk bis zum 20. Oktober. So verfloss

die Nacht auf den 19. Oktober auf russischer und französischer Seite ruhig,

und auch am nächsten Morgen blieben die Truppen beidseits in ihren

Stellungen. Diese Zeit benützte Marschall St. Cyr dazu, rechtzeitig alles

Gepäck, die Munitions- und Lebensmittelvorräte nach dem linken Ufer der

Düna zu schaffen, auch die Verwundeten wurden, soweit es ihr Zustand

gestattete, in zwei Kolonnen Richtung Uschatz-Borisow an der Beresina und

Glubokoje-Wilna abtransportiert. Im Lauf des 19. Oktober erhielt Marschall

St. Cyr die Meldung von dem Vorgehen des Korps Steinheil von Disna her. Da

dadurch seine Verbindung mit der Hauptarmee des von Moskau abziehenden

Kriegsherrn bedroht war, ordnete er die Räumung von Polozk und den

Rückzug über die Düna an, der in der nächsten Nacht vollzogen werden sollte.

Dichter Nebel begünstigte das Unternehmen. Die Räumung der Stadt begann

mit der mühsamen Wegführung der Artillerie aus den Schanzen, 140

Geschütze. Den Rückzug der Divisionen Legrand und Maison hatte die

Division Merle zu decken, die Verteidigung der Stadt übernahmen die

Schweizer vom 3. und 4. Regiment. Die Mannschaft der Division Legrand

wollte ihre Baracken dem Feind nicht in die Hände liefern und steckte sie

daher in Brand, der im Nu auf das ganze Lager übergriff, und damit war der

Abzug des französischen Heeres dem Feinde verraten. Schon

S. 282: um 8 Uhr abends begann die allgemeine Beschiessung der Stadt aus 60

Geschützen grossen Kalibers, und nach kurzem stand die Stadt in Flammen, so

dass man sich «auf der ganzen Linie wie am hellen Tage schlug››. Gleichzeitig

setzten sich die Sturmkolonnen gegen die Stadt von allen Seiten in Bewegung.

Hinter ihren Palisaden liessen die Schweizer die russischen Sturmkolonnen

nahe herankommen und wiesen sie durch wohlgezielte Salven ab. Dreimal

erneuerten die Russen ihren Sturmangriff mit neuen Truppen, aber immer

wieder scheiterten ihre Bemühungen an der festen Haltung der Schweizer.

Nicht zufrieden damit, die Russen stehenden Fusses abzuweisen, machte

Oberst Affry mit seinem ganzen 4. Regiment gegen Mitternacht einen Ausfall

nach der Polotabrücke. Mit gefälltem Bajonett stürzten sich hier die Schweizer

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auf die Russen. Diese leisteten verzweifelten Widerstand, 1½ Stunden lang

dauerte das Ringen um den Besitz der Brücke. Die Russen waren dicht an der

Brücke, so erzählt Hauptmann Landolt von Zürich den Hergang, und im

Begriffe zu stürmen. Die Grenadierkompagnie Bleuler verteidigte die Brücke

hinter einem spanischen Reiter und liess den Feind mehrere Male so nahe

kommen, dass kein Schuss fehlte und die Russen immer mit grossem Verlust

zurückweichen mussten. Ein Teil unseres Regiments war auf dem rechten

Flügel der Grenadierkompagnie und meiner auf dem linken Flügel derselben,

alle längs der Polota, deren Ufer sehr hoch waren. In dieser Stellung wurde bis

½ 2 Uhr unaufhörlich gefeuert, und wir hatten auch schon ziemlich viele Tote

und Verwundete... Endlich erhielten wir den Befehl zum Rückzug, da die

Russen in unserem Rücken in die Stadt gedrungen waren.

General Wittgenstein hatte nämlich in der Nacht einen neuen allgemeinen

Sturmangriff von Westen und von Osten auf die Stadt Polozk angeordnet, von

der einen Seite drang Oberst Wlastow, von der andern Oberst Rüdiger in die

Stadt ein. Um 3 Uhr war der Übergang der Franzosen über die Düna beendigt.

Die Division Merle hatte Befehl, sich ebenfalls über die Düna zurückzuziehen,

das 4. Schweizerregiment hatte den Rückzug der Division gegen die in die

Stadt gedrungenen Feinde zu decken. Das Regiment verliess die Stadt in bester

Ordnung. Ein von Hauptmann Bernhard Siegrist von Schaffhausen geführtes

Detachement, das bis dahin im Jesuitenkollegium postiert gewesen war, um

dessen Plünderung zu vereiteln, trat den Rückzug erst an, als General Merle

dazu mündlich Befehl erteilte, und überschritt nun den Platz vor dem Gebäude

unter dem heftigen Feuer der Russen. Hauptmann Landolt hatte die Aufgabe,

den Rückzug des eigenen Regiment

S. 283: mit seinen Voltigeurs zu decken. Der Rückzug aus der brennenden Stadt

erfolgte in stetem Kampf mit den Russen, doch nur Schritt für Schritt, von

Strasse zu Strasse, gingen die Schweizer zurück, bis die Stadt geräumt war.

In einem späteren Bericht erzählt Hauptmann Landolt, wie er sich der

andringenden Russen erwehrte: Ich behielt die Kompagnie beisammen und zog

durch die brennenden Gassen der Brücke zu, indem ich ganz einfach das

Gassenfeuer (feu de chaussée) machen liess, gerade so, ihr Herren, wie wir es

hier (in Zürich) im Schützenplatz beim Exerzieren machen. So hielt ich mir die

Russen vom Leib und zog über die Schiffbrücke ab, welche gleich hinter uns

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abgebrochen wurde. Es war die höchste Zeit, den Rückzug anzutreten. Schon

waren die beiden oberhalb über die Düna geschlagenen Schiffbrücken

abgebrochen oder zerschossen, so dass die schwimmenden Trümmer die letzte

zu zerreissen drohten, bereits musste die Kompagnie Landolt über die

Gerüstbalken das linke Dünaufer gewinnen. Die vollständige Zerstörung der

Brücke ordnete Bataillonschef Salomon Bleuler von Zürich an, erst als der

letzte Mann hinüber war, stürzte er sich, da kein anderer Weg mehr übrig

blieb, in die Düna und erreichte, vom Feuer des Feindes verfolgt, schwimmend

die Seinigen, sein Pferd wurde ihm unter dem Leib erschossen. Der Verlust des

4. Schweizerregiments als Folge dieser letzten Kämpfe wurde auf 35 Offiziere

und 400 Mann geschätzt. Allgemein war die Anerkennung der Tapferkeit der

Schweizer. Sie hatte dem Feind Eindruck gemacht. Als Wittgenstein im

Jesuitenkollegium zu Polozk, das allein den Flammen entgangen war, ein

Bankett veranstaltete, sprach er sich über die wackere Haltung St. Cyrs und der

Schweizer im besonderen höchst lobend aus, am nächsten Tag liess er sogar

durch einen Parlamentär für die mutige Verteidigung von Polozk seine

Bewunderung ausdrücken. Der Rückzug von Polozk nach der Beresina begann.

Maag, Die Schicksale der Schweizerregimenter in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812.

97. Die Schweizer an der Beresina.

28. November 1812.

Auf den Flanken und im Rücken verfolgt, erreichten die Überreste der ehemals

«Grossen Armee» Napoleons I. auf dem

S. 284: Rückzug aus dem Innern Russlands die Beresina. In Gefahr, gefangen

genommen zu werden, betrieb der Kaiser den Bau von Schiffbrücken. Das 2.

Armeekorps unter Marschall Oudinot überschritt die knapp fertiggestellte

Brücke zuerst, mit ihr die vier Schweizerregimenter von den Divisionen Merle,

deren Überreste jetzt noch etwa 300 Mann von jedem Regiment betrugen.1

Am Morgen des 28. November standen die Marschälle Oudinot (2.

Armeekorps, noch 9'300 Mann) und Ney (3. Armeekorps, noch 5'400 Mann)

mit ihren Truppen, wovon höchstens noch 10'000 Mann kampffähig waren,

1 Die Überreste des 4. Schweizerregiments wurden im Bataillon Imthurn vereinigt. Amey übernahm das Kommando der 3. Brigade (bisher Coutard).

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zwischen Stakow und Brili mit vorgeschobenen Gefechtsvorposten gegen

Stakow.

Das 2. Armeekorps bildete das erste Treffen der Schlachtstellung gegen

Stakow, auf dem linken Flügel die 9. Division Merle, bestehend aus der 2.

Brigade Candras, dabei das 1. und 2. Schweizerregiment, oberhalb der

Dammstrasse Stakow-Brili, die 3. Brigade Amey hinter der 2. Brigade, ein

Kroatenregiment als Deckung der Artillerie (Batterie von 9 Geschützen auf

einer kleinen Anhöhe, Schuss gegen Stakow), 6. und 8. Division gestaffelt auf

dem rechten Flügel, leichte Kavallerie zur Bedeckung der rechten Flanke und

Bewachung der Strasse nach Zembin, Kavalleriedivision Doumerc als Reserve.

Das Armeekorps Ney bildete das zweite Treffen. Bei Brili stand die alte und

die junge Garde als Generalreserve, die aber keine Verwendung fand. Das

russische Korps Tschitschagow hatte die Beresina schon vor Marschall

Oudinot überschritten. Von Stakow aus gab er den Befehl zum allgemeinen

Angriff. Die erste Kolonne der russischen Division Tschapliz, kommandiert

von General Rudsewitsch, hatte die französischen Vorposten zurückzudrängen,

zwei andere Kolonnen unter den Generälen Kornilow und Metscherinow

dienten der ersten als Unterstützung, und mit einer vierten rückte Oberst

Krasowsky zur Rechten der übrigen Truppen, am Ufer der Beresina vor. Das

ganze Schlachtfeld war ein weitausgedehntes, durch zahlreiche Lichtungen

unterbrochenes Revier von dichten Wäldern, die vielfach durch Gräben

zerschnitten und sumpfig waren, so dass die Verwendung von Kavallerie von

Seiten des Feindes viele Schwierigkeiten darbot, während Artillerie ausserhalb

des Strassenkörpers überhaupt nicht verwendbar war. So durfte das 2.

Armeekorps in seiner Stellung damit rechnen, dass fast ausschliesslich

feindliche Infanterie und auch diese nur frontal zum Angriff angesetzt werden

S. 285: weiter die Russen gegen Brili vorrückten, um so hartnäckiger war der

Widerstand, dem sie begegneten. Gleich zu Beginn des Kampfes wurde

Marschall Oudinot schwer verwundet und im Kommando durch Ney ersetzt.

Schon die Nacht vom 26. auf den 27. November hatten die Schweizer in der

misslichsten Lage verbracht, ebenso die folgende. In dieser Nacht gab es im

Walde von Stakow keinen Schlaf. Es war so grimmig kalt, dass man kaum die

Gewehrläufe zu berühren vermochte und mancher Mann sich nur mit Mühe

aufrecht halten konnte. Das Thermometer fiel auf -12° R., es schneite am

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Schlachttag in so dichten Flocken, dass man zeitweise keine dreissig Schritt

weit sah. Da lagerten die Schweizer im Wald auf schneebedeckter Erde. Keine

Lebensmittel konnten ausgeteilt werden, alle litten Hunger und Durst, sie

ersehnten den Morgen, den Augenblick, mit dem Feind handgemein zu

werden, sie waren sich bewusst, dass ihnen mit der Deckung des Rückzuges

der französischen Armee ein Ehrenposten anvertraut war. Durchdrungen vom

Ernst der Lage, jeden Augenblick des harten Kampfes gewärtig, stand am

frühen Morgen eine Gruppe von Offizieren im Wald beisammen. Auf der

Strasse auf- und abgehend, erinnerte der neue Chef des 1. Schweizerregiments,

Franz Blattmann von Oberägeri, gleichsam vom Gedanken an die nahe

Todesstunde ergriffen, seinen Kameraden, Leutnant Thomas Legler (von

Dornhaus, Glarus), an das Lieblingslied, das dieser oft zu Hause gesungen

hatte, und bat ihn, es noch einmal zu singen. Während der Kanonendonner auf

beiden Seiten der Beresina rollt, ertönt auf Russlands Schneefeldern, viele

hundert Stunden weit vom Vaterland, der Sang der Schweizeroffiziere auf den

«Lebensmut»1

Unser Leben gleicht der Reise

Eines Pilgers in der Nacht.

Jeder hat auf seinem Gleise

Vieles, was ihm Kummer macht.

Aber unerwartet schwindet

Vor uns Nacht und Dunkelheit,

Und der Schwergedrückte findet

Linderung in seinem Leid.

Darum lasst uns weiter gehen!

Weichet nicht verzagt zurück!

Hinter jenen fernen Höhen

Wartet unser noch ein Glück.

S. 286: Mutig, mutig, liebe Brüder!

Gebt die bangen Sorgen auf!

Morgen geht die Sonn schon wieder

Freundlich an dem Himmel auf.

1 Melodie des Liedes bei Maag, Die Schicksale der Schweizerregimenter in Napoleons I. Feldzug nach Russland 1812 (s. die Quellen), S. 247.

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9 Uhr war es, als plötzlich «mit teuflischem Geräusch», sagt Leutnant Legler

in seinen «Denkwürdigkeiten», eine Kanonenkugel dicht über ihren Köpfen

hinflog, Kleingewehrfeuer vom Kampf mit der ersten russischen Kolonne

Rudsewitsch, die eben die französischen Vorposten angegriffen hatte, kam

immer näher. Napoleon, der mit seinem Stab eben zur Rekognoszierung

vorgeritten und dabei bei den Vorposten des 4. Schweizerregiments erschienen

war, kam ziemlich eilig zurück und erteilte vorbeireitend dem General Merle

den Befehl zum Angriff. Jetzt gaben sich Offiziere, Unteroffiziere und

Soldaten, im Begriff aufzubrechen, das Versprechen, tapfer zu kämpfen, wie es

der Altvorderen Brauch gewesen, angesichts ihrer geringen Zahl ward

vereinbart, dass kein Unverletzter das Glied verlassen dürfe. Leichtverwundete

sollten, wenn sie zum Verbandplatz gehen müssten, den Schwerverwundeten

helfen. Nun ging es zum Kampf einer gegen zehn, und zwar gegen

achtungswerte Gegner, denn in der Armee Tschitschagows waren viele

vortreffliche Schützen aus Sibirien und vom Uralgebirge.

Das an der Spitze, rechts von der Strasse marschierende Bataillon Blattmann

(1. Regiment) hatte sich kaum einige hundert Schritte vorwärts bewegt, als es

bereits auf seiner rechten Flanke eine russische Kolonne vorrücken sah. Sofort

überschritt das Bataillon die Strasse, entwickelte Tirailleurs und eröffnete das

Feuer auf die russische Kolonne, gleichzeitig verlängerte das Bataillon

Vonderweid (2. Regiment) die Feuerlinie. Schon in der ersten Viertelstunde

hatten die Schweizer Tote und Verwundete, empfindlich war der Verlust an

Offizieren, auf die es die russischen Schützen namentlich abgesehen hatten. So

fielen Brigadegeneral Candras und Kommandant Blattmann, dem ein Schuss

durch den Kopf den Tod brachte.

Noch musste sich auf dem linken Ufer der Beresina das etwa 10800 Mann

starke 9. Armeekorps des Marschalls Victor starker russischer Angriffe

erwehren, es galt, diesem Armeekorps den Übergang über die Beresina zu

sichern. Die Russen Tschitschagows machten grosse Anstrengungen, den

Uferwechsel des 9. Korps zu verhindern, aber die Schweizer deckten ihn.

Endlich traf Verstärkung ein: die Weichsellegion unter Poniatowskys

Kommando erschien auf dem Kampfplatz mit frischer, wohlausgerüsteter

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S. 287: Mannschaft. Mittlerweile hatte Tschitschagow dem Generalmajor Tschapliz

Teile der 9. und 18. Division unter der Führung seines Stabschefs, des

Generals Sabaniew, zu Hilfe gesandt.

Die Lage der Schweizer ward bedenklich, denn immer mehr stieg die Zahl der

Leute, welche sich im lebhaften Feuergefecht verschossen hatten. Als sich

Leutnant Legler an diese Leute wandte, um sie zu fragen, warum sie nicht

mehr feuerten, erhielt er von allen Seiten nur die eine verzweifelte Antwort:

«Gebt uns Patronen!» «Ich blickte unruhig umher», so erzählt Leutnant Legler,

«endlich sahen meine Augen den Divisionsgeneral Merle. Ich lief auf ihn zu,

der 200 Schritte rückwärts zu Pferd hielt, und meldete demselben: «Mein

General, Sie sehen hier vor sich hinter der Front 300 Mann, die keine Patronen

mehr haben, der Feind benützt diesen Umstand, indem er sich uns nähert,

sollen wir ihn unterdessen mit dem Bajonett angreifen?» «Gut so, mein

Freund» antwortete General Merle, «laufen Sie und geben Sie in meinem

Namen den Befehl, das Feuer einzustellen und mit dem Bajonett anzugreifen.

Unterdessen werde ich für Patronen sorgen». Sofort eilt Leutnant Legler zu

seinem nach Blattmanns Tod vom Hauptmann Karl Zingg (Aargau) geführten

Bataillon (1. Regiment) und ruft: «Befehl des Divisionärs! Bajonettangriff!

Tambour, Sturmmarsch schlagen» Der Befehl ward umgehend wiederholt, der

Sturmmarsch geschlagen. So schritten zuerst die Bataillone Zingg und

Vonderweid zum Angriff.

General Merle sandte den nämlichen Befehl durch seinen Ordonnanzoffizier,

Hauptmann Jean de Schaller (Freiburg), auch an seine übrigen Truppen. Der

kühne Bajonettangriff verblüffte die Russen derart, dass sie sich trotz ihrer

Überzahl zur Flucht wandten, sie wurden mit Unterstützung der Lanciers

verfolgt. Bald kamen diese flüchtend zurück. Das russische Dragonerregiment

Pawlograd brauste heran und brachte die Verfolger zum Stehen. Sofort wurden

Massen formiert, eine Anzahl wohlgezielter Schüsse zwang die Dragoner, sich

auf respektvolle Entfernung zurückzuziehen, und diesem Beispiel folgte die

russische Infanterie. Inzwischen sorgte Leutnant Legler mit Hilfe einer Anzahl

Grenadiere für die Herbeischaffung von Munition. Eine halbe Stunde weit

musste zurückgegangen werden, bis ein Pulverwagen angetroffen wurde. Hier

füllten die Leute ihre Kapüte mit Feuersteinen und Patronen, so viel sie zu

tragen vermochten, und kehrten damit auf den Kampfplatz zurück. Wie es

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scheint, genügten die Munitionsvorräte immer noch nicht, um ein wirksames

Feuer zu unterhalten, und so musste wiederholt neuerdings zum Bajonett

S. 288: gegriffen werden, während für weiteren Munitionsersatz gesorgt wurde.

Da rückte eine russische Kolonne 300 Schritte links von der Strasse, zwischen

dieser und der Beresina vor, so dass der linke Flügel der Division Merle in

grosse Gefahr geriet, umgangen zu werden. Sofort setzte daher General Merle

die 600 Kürassiere des Generals Doumerc zur Attacke an, diese ritten nach

links zwischen den grossen Bäumen durch den Wald und fassten die russische

Kolonne in ihrer rechten Flanke. Gleichzeitig wandte sich auch die Infanterie

Merles gegen den neuen Feind. Mit dem Ruf: «Es leben die Braven von

Polozk! » drangen die Schweizer mit den Bajonetten vor. Ein ganzes

russisches Regiment musste die Waffen strecken, gegen 2500 Mann, zum

grossen Teil Verwundete, wurden gefangen genommen.

Nach diesen Kampfszenen trat eine kurze Pause ein, während die Franzosen

und, Russen das zweite Treffen in die Schlachtlinie vorrücken liessen. Die

Polen vom 5. Armeekorps wurden vom Marschall Ney ins erste Treffen

gesandt, inzwischen erhielten die Bataillone des Generals Merle neue

Munition. Aber inzwischen hatte Admiral Tschitschagow dem Generalmajor

Tschapliz auf sein dringendes Gesuch Schützenregimenter der 9. und 18.

Division zur Untenstützung gesandt. Nach kurzem Kampf hatten die

russischen Schützenlinien die Polen auf die Division Merle zurückgeworfen,

und nun mussten sich die schweizerischen Schützen mit dem neuen Gegner

messen. Die Verluste der Schweizer mehrten sich, der beschneite Boden war

von roten Waffenröcken bedeckt und vom Blut der Schweizer und Polen

gerötet. «Wie erstaunten wir››, erzählt Leutnant Legler, «über die feindlichen,

wohlangebrachten Schüsse! Hätten wir Scharfschützen gegenüber gehabt, sie

hätten uns nicht mehr schaden können». Wacker kämpften mit den Schweizern

zu ihrer Rechten die Divisionen Legrand und Maison. Wo ihnen die

angreifenden Russen näher an den Leib rückten, schafften sie sich in sieben

Bajonettangriffen wieder Luft und schlugen die Feinde zurück.

Unerschütterlich hielten alle bis in die tiefe Nacht hinein stand, der Feind

stellte seine Angriffe ein.

Schwer waren die Verluste. Von den höhern Führern blieben nur Ney und

Merle unverwundet, ebenso des letztern Ordonnanzoffizier, Jean de Schaller.

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Der grösste Teil der Schweizeroffiziere war tot oder schwer verwundet. Als

Appell gemacht wurde, standen von allen Schweizern der ehemaligen vier

Regimenter noch 300 Mann in Reih und Glied, wovon 100 verwundet waren,

die Überlebenden des 1. Regimentes fanden an sechs Wachtfeuern

S. 289: Platz. General Merle trat zu den Schweizern mit den Worten: «Tapfere

Schweizer, jeder von Euch hat das Kreuz der Ehrenlegion verdient! Ich Werde

dem Kaiser meinen Rapport machen». Gleich darauf machte er dem Kaiser, als

er ihn bei Brili bei der Garde traf, Meldung. Napoleon belohnte die Schweizer,

indem er noch auf dem Schlachtfeld den vier Schweizerregimentern 62 Kreuze

der Ehrenlegion zuerkannte, wovon 16 für Unteroffiziere und Soldaten

bestimmt wurden. Ihrer Aufopferung verdankte Napoleon den Übergang der

ihm noch gebliebenen Truppen über die Beresina und die Behauptung der

Verbindungsstrasse nach Wilna, wohin der Rückzug am 29. November

fortgesetzt wurde. Dort hörte der letzte Korpsverband, auf, jeder Offizier und

Soldat ging von da an vereinzelt seines Weges, soweit er sich noch auf den

Füssen zu erhalten vermochte. Seiner tapfern Schweizer gedachte Napoleon

noch in der Verbannung auf St. Helena, denn ihm werden in den «Souvenirs de

Sainte-Hélène» die folgenden Worte eines Monologs beigelegt:

Les Russes décimaient mes troupes abímées,

Dès la Bérésina je n'avais plus d'armée.

Les Suisses, toujours fiers de servir l'empereur,

Succombaient vaillamment pour leur aigle et l'honneur.

Maag, Die Schicksale der Schweizerregimenter in Napoleons I.

Feldzug nach Russland 1812. Hellmüller, Die roten Schweizer 1812.

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 01/2013 - - - - - - - -