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Unverkäufliche Leseprobe aus - · PDF fileSian Pooley und Chris Wickham. Beim S.Fischer Verlag hatte ich den großen Vorzug, mit Tanja Hom-men, die das Lektorat besorgte,

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Nicholas StargardtDer deutsche Krieg1939–1945

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auchauszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheber-rechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfälti-gung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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I n h a l t

Vorwort 7

Dramatis personae 12

Einleitung 14

I Die Rechtfertigung des Angriffs

1 Unwillkommener Krieg 41

2 Schulterschluss 75

3 Extreme Maßnahmen 96

II Die Herren Europas

4 Ausbruch 121

5 Gewinner und Verlierer 159

III Der Schatten von 1812

6 Der deutsche Kreuzzug 197

7 Die erste Niederlage 247

I V Patt

8 Ein offenes Geheimnis 285

9 Durch ganz Europa 324

10 An die Toten schreiben 366

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V Der Krieg erreicht die Heimat

11 Bomben und Vergeltung 411

12 »Durchhalten« 456

13 Gezählte Tage 498

V I Totale Niederlage

14 Verschanzen 533

15 Zusammenbruch 571

16 Endkampf 616

Epilog: Jenseits des Abgrunds 643

Anhang

Anmerkungen 675

Bibliographie 763

Abkürzungen 809

Kartenverzeichnis 811

Abbildungsnachweise 812

Register 814

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Vo rwo r t

Vorwor t

Dieses Buch ist das Ergebnis eines mehr als 20 Jahre währenden Ver-suchs, das Erleben der Menschen in Deutschland und den von Deutschenbesetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Es istein Buch, das ich ursprünglich gar nicht geplant hatte. Nachdem ich 2005

die Arbeit an »Kinder in Hitlers Krieg« beendet hatte, versprach ich mirund allen, die es hören wollten, dass ich nie wieder über Kinder, den Ho-locaust oder Deutschland während des Nationalsozialismus schreibenwürde. Was als kurzes Essay über die Frage begann, wofür Deutsche da-mals kämpften – etwas, was nach meinem Dafürhalten noch gesagt wer-den musste, bevor ich mich anderen Dingen zuwenden konnte –, nahm2006/2007 während eines Forschungsaufenthalts an der Freien Univer-sität Berlin erheblich umfangreichere Formen an.

Zwischen beiden Büchern gibt es manche Kontinuität, vor allem meinInteresse, die subjektiven Dimensionen der Gesellschaftsgeschichte an-hand zeitgenössischer Dokumente zu erforschen, um herauszufinden,wie Menschen Ereignisse beurteilten und verstanden, während diese ge-schahen und noch bevor sie deren Ausgang kannten. Es gibt jedoch aucheindeutige Unterschiede. In »Kinder in Hitlers Krieg« wollte ich mich inerster Linie mit Kindern als eigenständigen gesellschaftlichen Akteurenbefassen und die unvereinbaren Sichtweisen von Kindern gegenüberstel-len, die durch Krieg und rassistische Verfolgung in Sieger und Besiegtegespalten waren. Das vorliegende Buch widmet sich einem anderen Pro-blem: Es will Ängste und Hoffnungen der breiten Gesellschaft aufde-cken, um zu verstehen, wie Deutsche diesen Krieg vor sich selbst recht-fertigten. Zur Beantwortung dieser Frage habe ich mich sowohl um einegewisse Breite als auch um Tiefe bemüht: Für Breite sorgen »Makro«-Mei-nungsbilder, erstellt von Berichterstattern, die für das nationalsozialisti-sche Regime Gespräche in der Öffentlichkeit belauschten, und von Zen-

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Vo rwo r t

soren, die Feldpostbriefe in Stichproben untersuchten; für Tiefe sorgenzeitgenössische Dokumente einzelner Personen unterschiedlicher Her-kunft, anhand deren sich nachvollziehen lässt, wie die persönlichenHoffnungen und Pläne mit den wechselnden Kriegserlebnissen verfloch-ten waren. Durch diese Herangehensweise stehen die Stimmen der Opferzwar weniger im Vordergrund als in »Kinder in Hitlers Krieg«, fehlen abernie: Ohne ihre kontrastierende Deutung wüssten wir nicht, wie unter-schiedlich – und häufig ichzentriert – Deutsche ihre Wahrnehmung desKrieges formten.

Ein wesentlicher Bestandteil dieses Buches sind Sammlungen vonBriefen, die Liebespaare, enge Freunde, Eltern und Kinder sowie Eheleuteeinander schrieben. Viele Historiker haben solche Quellen genutzt, aller-dings häufig zu anderen Zwecken. So besitzt die Bibliothek für Zeitge-schichte in Stuttgart eine berühmte Sammlung von 25 000 Briefen, dievon Reinhold Sterz zusammengetragen wurden. Leider sind diese Doku-mente chronologisch und nicht nach Verfasser katalogisiert, so dass sichnicht ohne weiteres überprüfen lässt, ob die Briefschreiber über längereZeit an ihren Überzeugungen festgehalten haben. Meine Auswahl warvom umgekehrten Prinzip bestimmt: Ich wollte Briefsammlungen lesen,in denen beide Seiten der Korrespondenz erhalten geblieben sind unddie sich mindestens über einige Jahre erstreckten, um nachvollziehen zukönnen, wie sich die persönlichen Beziehungen zwischen den Brief-schreibern – ihre Hauptgründe, überhaupt zu schreiben – im Laufe desKrieges entwickelt und verändert hatten. Denn das ermöglicht es, die pri-vaten Prismen genauer zu rekonstruieren, durch die sich die individuelleWahrnehmung größerer Ereignisse jeweils brach. Über die Anwendungdieser Forschungsmethode, die Historiker in Bezug auf den Ersten Welt-krieg seit den neunziger Jahren entwickelt haben, konnte ich viel vonChrista Hämmerle lernen.

Ich hatte das besondere Glück, Einblick in Walter Kempowskis Privat-archiv zu bekommen, als er noch lebte, und denke gern an die Groß-zügigkeit zurück, mit der Walter und Hildegard Kempowski mich beisich in Natum willkommen geheißen haben. Heute befindet sich das Ar-chiv in der Akademie der Künste in Berlin. Beim Deutschen Tagebuch-archiv in Emmendingen zeigte sich Gerhard Seitz ebenso hilfsbereit wieIrina Renz in der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart. Zugang zuQuellen von unschätzbarem Wert ermöglichten mir Andreas Michaelis

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im Deutschen Historischen Museum in Berlin, Veit Didczuneit und Tho-mas Jander im Feldpostarchiv des Museums für Kommunikation Berlinund im Bundesarchiv sowie Christiane Botzet im Bundesarchiv-Militär-archiv in Freiburg. Klaus Baum und Konrad Schulz stellten mir im Archivvon »Jehovas Zeugen in Deutschland« in Selters im Taunus Kopien derletzten Briefe zur Verfügung, die Glaubensbrüder vor ihrer Hinrichtungwegen Kriegsdienstverweigerung geschrieben hatten. Alexander vonPlato vom Institut für Geschichte und Biographie in Lüdenscheid machtemir eine große Sammlung mit Kriegserinnerungen von Schulkindernzugänglich, die Anfang der fünfziger Jahre entstanden und im Wilhelm-Roeßler-Archiv aufbewahrt werden. Zu danken habe ich auch Li Gerhalterund Günter Müller, die mir Material aus der Dokumentation lebensge-schichtlicher Aufzeichnungen und der Sammlung Frauennachlässe derUniversität Wien zur Verfügung stellten. Mein besonderer Dank giltJacques Schuhmacher für seine unermüdliche Bereitschaft, mir in vielenStadien dieser Recherchen nach Kräften zu helfen. Für die finanzielle Un-terstützung dieser Forschungen danke ich der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Leverhulme Trust.

Ein Name verleiht seinem Träger eine menschliche Identität, und dasUnmenschliche im Zweiten Weltkrieg beginnt oft mit dem Verlust deseigenen Namens. Leider können in diesem Buch die Namen nicht immergenannt werden. Manche Personen, von denen berichtet wird, werdennur in offiziellen Archivakten erwähnt – wie etwa die Jugendlichen, diesich in den Erziehungsheimen oder den Tötungsanstalten der Psychiatriebefanden. In solchen Fällen habe ich die Personen anonymisiert, indemich die Nachnamen abgekürzt habe. Einige wenige Personen werden miteinem Pseudonym bezeichnet, da ihre Geschichten sich durch das ge-samte Buch ziehen und es für den Leser leichter ist, diesen Geschichtenzu folgen, wenn die Menschen einen vollständigen Namen erhalten. Nurin den Anmerkungen sind diese Namen abgekürzt, um deutlich zu ma-chen, dass der im Text verwendete Name ein Pseudonym ist.

Während des Nationalsozialismus wurden viele Begriffe geprägt, dieman heute nur noch in Anführungszeichen verwendet, um sich vonderen damaliger Bedeutung zu distanzieren. Das gilt vor allem für seiner-zeit gängige herabsetzende, diskriminierende, rassistische und antisemi-tische Begriffe, aber auch für sonstige ideologisch besetzte Bezeichnun-gen wie das »Dritte Reich« bzw. das »Altreich« oder den »Führer«. Da diese

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und andere Begriffe im Text sehr häufig vorkommen, werden hier diedistanzierenden Anführungszeichen nur bei der Erstnennung gesetzt,nicht nur um den Lesefluss zu erhalten, sondern auch um die damaligenDenkmuster der Deutschen möglichst präsent werden zu lassen. Orte inden besetzten osteuropäischen Ländern, aber auch im Elsass und ande-ren zeitweilig zu Deutschland gehörigen oder annektierten Gebietenwerden mit den in Deutschland damals verwendeten Namen bezeichnet.Es gibt einige Ausnahmen, so Łódz, da der 1940 eingeführte deutscheName Litzmannstadt sehr ungebräuchlich ist. Orte wie etwa Sankt Peters-burg (von 1924 bis 1991 Leningrad) in der damaligen Sowjetunion, derenNamen inzwischen zurückgeändert wurden, werden mit dem währenddes Zweiten Weltkriegs geltenden Namen genannt. Im Register findensich für alle Orte auch die heute üblichen Namen.

Die intellektuelle Dankesschuld, die ich in der langen Zeit des Arbei-tens an diesem Buch bei vielen Menschen angehäuft habe, ist zu groß,als dass ich ihr an dieser Stelle gerecht werden könnte. In den Jahren2006/2007 war mir Jürgen Kocka in Berlin ein wunderbarer Gastge-ber, und viele andere haben dazu beigetragen, dass mein Aufenthaltin Deutschland eine denkwürdige und fruchtbare Zeit war. ZahlreicheFreunde und Kollegen haben mich auf meinem Weg ermutigt, mich anihren Ideen und Forschungsergebnissen teilhaben lassen und mir den äu-ßerst lebendigen Eindruck vermittelt, dass Geschichtsschreibung einkollektives Bestreben ist. Unter meinen wunderbaren Kollegen im Fach-bereich Geschichte und am Magdalen College in Oxford danke ich beson-ders Paul Betts, Laurence Brockliss, Jane Caplan, Martin Conway, RobertGildea, Ruth Harris, Matt Houlbrook, Jane Humphries, John Nightingale,Sian Pooley und Chris Wickham.

Beim S. Fischer Verlag hatte ich den großen Vorzug, mit Tanja Hom-men, die das Lektorat besorgte, und mit Nina und Peter Sillem zusam-menzuarbeiten. Ulrike Bischoff schaffte es bei der Übersetzung, Sorgfaltund Genauigkeit mit Schnelligkeit zu vereinbaren. Ihnen allen danke ichfür die erfreuliche Zusammenarbeit. Clare Alexander und Sally Riley beiAitken-Alexander waren durchgängig die guten Feen, die ihren Rat undihr Wissen mit mir immer wieder geteilt haben. Es war für mich ein gro-ßes Glück.

Ohne die großzügige geistige und praktische Unterstützung vielerFreunde wäre dieses Buch vermutlich gar nicht zustande gekommen.

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Paul Betts, Tom Brodie, Stefan Ludwig Hoffmann, Ian Kershaw, MarkRoseman, Jacques Schuhmacher, Jon Waterlow und Bernd Weisbrodunterbrachen ihre eigene Arbeit, um das gesamte Manuskript für michzu lesen. Jedem von ihnen gilt mein Dank, weil sie mir wertvolle An-regungen gegeben, mir ihre eigenen Forschungsergebnisse zugänglichgemacht und mich – zumindest vor einigen – historischen Schnitzern be-wahrt haben. Ruth Harris und Lyndal Roper lasen das gesamte Manu-skript zweimal und haben ihm somit ihren unauslöschlichen Stempelaufgedrückt. In jedem Stadium dieses Buchprojekts hat Lyndal dieSchlüsselideen, die ich zu formulieren versuchte, mit mir diskutiert. Da-für kann ich ihr gar nicht genug danken.

Oxford, 3. Juni 2015

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E i n l e i t u n g

E in le i tung

Der Zweite Weltkrieg war mehr als jeder andere ein deutscher Krieg.Das nationalsozialistische Regime machte aus dem von ihm begonnenenKonflikt den grauenvollsten Krieg der europäischen Geschichte und griffbereits lange bevor es im besetzten Polen die ersten Gaskammern errich-tete, zu Methoden des Völkermords. Einzigartig war das »Dritte Reich«auch insofern, als es 1945 seine eigene »totale Niederlage« betrieb und da-bei die gesamten moralischen und physischen Reserven der deutschenGesellschaft komplett erschöpfte. Selbst die Japaner kämpften nicht bisan die Tore des Kaiserpalastes in Tokio, während die Deutschen sogarnoch die Reichskanzlei in Berlin verteidigten. Um einen Krieg diesesAusmaßes zu führen, mussten die Nationalsozialisten in einem Maße dieGesellschaft mobilisieren und den Einzelnen einbinden, das weitaus tie-fer reichte als alles, was sie in der Vorkriegszeit zu erreichen versuchthatten. Aber 70 Jahre nach dem Ende des Krieges wissen wir noch immernicht – trotz ganzer Bibliotheken voller Bücher über seine Entstehung,Verlauf und Gräuel –, wofür die Deutschen zu kämpfen glaubten undwie sie es schafften, diesen Krieg bis zum bitteren Ende fortzuführen. Indiesem Buch geht es darum, wie die deutsche Bevölkerung diesen Kriegerlebte, aushielt und mittrug.1

Mit dem allmählichen Aussterben der Zeitzeugen verliert der ZweiteWeltkrieg nicht etwa an Bedeutung, sondern beschäftigt die Öffentlich-keit mehr denn je. Das gilt nirgendwo mehr als in Deutschland, wo esin den vergangenen 15 Jahren eine Flut von Filmen, Dokumentationen,Ausstellungen und Büchern gegeben hat. Sowohl in wissenschaftlichenals auch in populären Darstellungen herrscht jedoch tendenziell einegrundlegende Spaltung in der Wahrnehmung dieses Konflikts: Sie se-hen die Deutschen entweder als Opfer oder als Täter. In den vergangenenzehn Jahren stand vor allem die Opfererzählung im Vordergrund, da In-

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terviewer sich darauf konzentrierten, die verschütteten Erinnerungen vonZivilisten auszugraben, welche die Flächenbombardements deutscherStädte durch die Royal Airforce und die United States Army Airforces, diemassenhafte Flucht vor der Roten Armee und die so häufig folgendenMorde und Vergewaltigungen miterlebt hatten. Viele der älteren Deut-schen, die von ihren schmerzlichsten Erlebnissen erzählten, wollten ein-fach nur gehört werden und ihre Erinnerungen hinterlassen. Die Medienrückten das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während des Kriegesin den Mittelpunkt des heutigen Interesses und konzentrierten sich aufSchlafentzug, Angstattacken und wiederkehrende Albträume. Es bilde-ten sich Gruppen selbsternannter »Kriegskinder«, und überall ordnetenKommentatoren solche Erlebnisse unter den Oberbegriff »Trauma« oder»Kollektivtrauma« ein. Aber der Traumabegriff betont tendenziell diePassivität und Unschuld der Opfer und hat einen stark moralischen Bei-klang: In den achtziger und neunziger Jahren fasste man unter demBegriff »Kollektivtrauma« die Erinnerungen von Holocaust-Überleben-den zusammen und verband damit das Versprechen, die Opfer durch po-litische Anerkennung zu »stärken«.2

Nur am rechtsextremen politischen Rand, der jedes Jahr im Februarzum Gedenken an die Bombardierung Dresdens 1945 mit Plakaten gegenden »Bomben-Holocaust« demonstriert, gibt es Leute, die das Leid deut-scher Zivilisten mit dem der Opfer nationalsozialistischer Vernichtungs-politik gleichsetzen. Und selbst diese Provokation ist weit entfernt vomunverbesserlichen Nationalismus im Westdeutschland der fünfzigerJahre, das deutsche Soldaten für ihr heldenhaftes »Opfer« in Ehren hielt,während es für die deutschen »Gräueltaten« eine Handvoll eingefleisch-ter Nationalsozialisten, insbesondere SS-Leute, verantwortlich machte.Diese bequeme Kalter-Krieg-Ausrede von der »guten« Wehrmacht undder »bösen« SS – mit der die Wiederaufrüstung Westdeutschlands alsVollmitglied der NATO Mitte der fünfziger Jahre untermauert wurde –war Mitte der neunziger Jahre nicht länger haltbar. Einen nicht uner-heblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die Wanderausstellung»Verbrechen der Wehrmacht«, die von einfachen Soldaten aufgenom-mene Fotografien öffentlicher Hinrichtungen und Massenerschießun-gen zeigte. Mindestens seit den achtziger Jahren hatte auch die Wissen-schaft zur Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für diese finstereGeschichte beigetragen, indem sie die Beteiligung der breiten Bevölke-

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rung an deutschen Kriegsverbrechen immer eingehender erforschte.Die öffentliche Ausstellung privater Aufnahmen, die Soldaten nebenden Bildern ihrer Kinder und Ehefrauen in ihren Uniformtaschen beisich getragen hatten, löste starke Reaktionen aus, besonders in Öster-reich und in den neuen Bundesländern, wo man bis in die neunzigerJahre offene Debatten über solche Themen weitgehend vermiedenhatte. Daraufhin kam es wiederum zu Gegenreaktionen, und als sich dieAufmerksamkeit auf deutsche Frauen und Kinder als Opfer britischerund amerikanischer Bombardierungen oder Vergewaltigungen durchsowjetische Soldaten richtete, fürchteten manche Kommentatoren einWiederaufleben der Konkurrenz um nationales Leid, wie sie in den fünf-ziger Jahren geherrscht hatte.3

Stattdessen entwickelten sich die beiden emotional stark besetztenKriegserzählungen weiter parallel und völlig separat voneinander. Trotzdes gemeinsamen moralischen Bewusstseins, das in der Entscheidungzutage trat, im heutigen Zentrum Berlins ein großes Holocaust-Mahnmalzu errichten, besteht in der Erörterung dieser Zeit bis heute eine tiefeSpaltung: Deutsche gelten weiterhin entweder als Opfer oder als Täter.Als ich die öffentliche Gewissenserforschung verfolgte, die den 60. Jah-restag des Kriegsendes 2005 in Deutschland begleitete, fiel mir auf, dassWissenschaftler und Medien angesichts der Notwendigkeit, heute dierichtigen Lehren aus dieser Vergangenheit zu ziehen und politische Pro-zesse und Strukturdefizite zu untersuchen, eine der wichtigsten Aufga-ben historischer Forschung vernachlässigt hatten: nämlich zuerst undvor allem die Vergangenheit zu verstehen. Insbesondere haben Historikernicht gefragt, wie Deutsche damals über ihre Rolle redeten und dachten.Inwieweit sprachen sie beispielsweise darüber, dass sie mit ihrem Kriegs-einsatz und dem Tragen der Kriegslasten ein Regime unterstützten, dasVölkermord beging? Und wie veränderten die Schlussfolgerungen, dieMenschen damals zogen, ihre Einstellung zum Krieg insgesamt?

Man könnte meinen, dass solche Gespräche während des Krieges ineinem Polizeistaat unmöglich gewesen wären. Aber tatsächlich began-nen Deutsche im Sommer und Herbst 1943, unverblümt in der Öffent-lichkeit über den Mord an den Juden zu sprechen und ihn mit den Bom-benangriffen der Alliierten auf deutsche Zivilisten in Zusammenhang zubringen. In Hamburg war festzustellen, »daß das einfache Volk, der Mit-telstand und die übrigen Kreise von sich aus wiederholt Äußerungen un-

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ter vier Augen und selbst in größerem Kreise machten, die die Angriffeals Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns bezeichne-ten«. In Schweinfurt war ebenfalls weithin die Meinung zu hören, »daßdie Terrorangriffe eine Auswirkung der durchgeführten Maßnahmen ge-gen die Juden sind«. Nach dem zweiten amerikanischen Bombenangriffauf die Stadt im Oktober 1943 blieb die Stimmung niedergedrückt, undmanche beklagten sich unverhohlen, »daß wenn wir die Juden nicht soschlecht behandelt hätten, wir unter den Terrorangriffen nicht so leidenmüßten«. Solche Ansichten wurden dem Reichssicherheitshauptamt undder Partei-Kanzlei damals nicht nur aus allen größeren deutschen Städ-ten gemeldet, sondern selbst aus Rothenburg ob der Tauber im ruhigenfränkischen Hinterland. Äußerungen über Bombardierungen und deut-sche »Maßnahmen gegen die Juden« hatten sich also bis in Teile des Deut-schen Reichs ausgebreitet, die keine oder nur wenige Bombenangriffe er-lebt hatten.4

Als ich das erfuhr, war ich erstaunt. Ich wusste bereits, dass die in derNachkriegszeit verbreitete Behauptung, nichts gewusst und getan zu ha-ben, eine bequeme Ausrede war. Neuere Forschungen zeigten, dass wäh-rend des Krieges in Deutschland zahlreiche Informationen über den Völ-kermord kursierten. Sie sickerten auf vielfältigen Wegen durch: überBriefe und Fotos von der Front, durch Gespräche von Soldaten auf Bahn-fahrten und im Heimaturlaub, durch die Familien von SS-Leuten, durchBahnbeschäftigte und andere Augenzeugen wie auch über die deutsch-sprachigen BBC-Sendungen und die Presse des neutralen Auslandes.Aber ich hatte ebenso wie andere Historiker angenommen, solches Wis-sen sei diskret im engsten Familien- und Freundeskreis weitergegebenworden und nur in Form anonymer Gerüchte darüber hinausgedrungen.Wie hätte der Holocaust zum Gegenstand öffentlicher Erörterung wer-den können? Schließlich wurden solche Gespräche von derselben Ge-heimpolizei überwacht und analysiert, die in den vorangegangenen bei-den Jahren die Deportation und Ermordung der Juden organisiert hatte.Noch seltsamer ist, dass Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS undChef der deutschen Polizei, noch zwei Monate nach dem Eintreffen sol-cher Berichte gegenüber SS-Offizieren behaupten konnte, nur sie seienin die Vernichtung der europäischen Juden eingeweiht und sollten »dasGeheimnis mit ins Grab« nehmen. Wie war dieses angebliche Geheimnisalso gelüftet worden? In den vergangenen 25 Jahren hat der Holocaust in

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unserem Denken über die nationalsozialistische Diktatur und den Zwei-ten Weltkrieg eine zentrale Stellung eingenommen. Das ist jedoch einerelativ junge Entwicklung, die uns nichts darüber sagt, wie die Deutschendamals über ihre eigene Rolle dachten.5

Am 18. November 1943 notierte Hauptmann August Töpperwien in sei-nem Tagebuch, er habe »furchtbare angeblich authentische Einzelheitendarüber gehört, wie wir in Litauen die Juden (vom Säugling bis zum Greis)ausgerottet haben!«. Schon 1939 und 1940 hatte er Gerüchte über Mas-saker erwähnt, die allerdings kein solches Ausmaß hatten. Diesmal ver-suchte Töpperwien die grauenhaften Tatsachen moralisch einzuordnenund fragte sich: »Wer darf in einem Kriege nach gesittetem Denken ge-tötet werden?« Feindliche Soldaten, hinter den deutschen Linien kämp-fende Partisanen und »in grundsätzlich eng begrenztem Umfang dernicht kämpfende Zivilist im Vergeltungsakt« konnten nach seinem Emp-finden mit einer gewissen rechtlichen Legitimation getötet werden. Abervier Tage später, am 22. November, gestand er sich ein, dass das Vorge-hen gegen die Juden in eine ganz andere Kategorie fiel: »Wir vernichtennicht bloß den gegen uns kämpfenden Juden, wir wollen dieses Volk alssolches buchstäblich ausrotten!«6

Von Anfang an hatte der gläubige Protestant und konservative Studien-rat Dr. August Töpperwien Bedenken gegen Hitlers brutale Kriegführunggehegt. Offenbar stand er für eine moralische und politische Entfrem-dung vom Nationalsozialismus, die sich nicht nach außen in Widerstandäußerte, sondern in einem gewissen Maß an Nonkonformität und einem»inneren« Rückzug von den Appellen und Anforderungen des Regimes.Aber existierte ein solcher sicherer geistiger Hafen überhaupt? Sind alleZweifel, die in Briefen an Familienmitglieder und in Tagebüchern geäu-ßert wurden, Zeichen innerer Opposition, oder zeugen sie bloß von deneigenen Unsicherheiten und Nöten des Schreibers? Tatsächlich dienteAugust Töpperwien bis in die letzten Kriegstage loyal in der Wehrmacht.Persönliche Tagebücher wie seines ermöglichen uns auszuloten, welcheunabhängigen geistigen Ressourcen Deutsche für die Einschätzung ihrerLage und als Orientierung für ihre Reaktion auf die laufenden Ereignissebesaßen. Nachdem Töpperwien sich eingestanden hatte, »wir wollen die-ses Volk als solches buchstäblich ausrotten«, verstummte er. Dieses ge-wichtige Eingeständnis konnte er nicht mit seinem Nationalismus undmit seiner Überzeugung in Einklang bringen, dass Deutschland im Osten

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eine zivilisatorische Mission erfüllte und Europa gegen den Bolschewis-mus verteidigte. Er kam in seinem Tagebuch nicht wieder auf die Ermor-dung der Juden zurück, bis er im März 1945 schließlich – erstmals – zubegreifen begann, dass Deutschland vor der unabwendbaren totalen Nie-derlage stand: »So führt eine Menschheit Krieg, die gottlos gewordenist. Die russischen Bestialitäten im deutschen Osten – die Terrorangriffeder Angloamerikaner – unser Kampf gegen die Juden (Sterilisierung dergesunden Frauen, Erschießung vom Säugling bis zur Greisin, Vergasungjüdischer Transportzüge)!« Auch wenn ihm die bevorstehende Nieder-lage nun als eine Art göttlicher Strafe für das erschien, was die Deut-schen den Juden angetan hatten, fand Töpperwien doch eindeutig, dassdiese Taten nicht schlimmer waren als das, was die Alliierten den Deut-schen antaten.7

Im Sommer und Herbst 1943 veranlasste ein drohender Untergang an-derer Art Zivilisten an der Heimatfront, so unverhohlen über die deut-sche Verantwortung für die Ermordung der Juden zu reden. Vom 25. Julibis zum 2. August 1943 war Hamburg einer Serie von Bombardierungenausgesetzt, die einen gewaltigen Feuersturm auslösten. Die Hälfte derStadt wurde zerstört, und 34 000 Menschen starben. Viele Deutsche emp-fanden dieses Ereignis als Apokalypse. Das »Gefühl der Sicherheit« sei we-gen der nachweislichen Bedrohung größerer Städte in ganz Deutschland»urplötzlich zusammengesackt« und großer Bestürzung gewichen, be-richtete der SS-Sicherheitsdienst. Am ersten Tag des Feuersturms, dem25. Juli, kam es weiter entfernt zu einem anderen wichtigen Einschnitt:Der italienische Diktator Benito Mussolini wurde nach einundzwanzig-jähriger Herrschaft in einem unblutigen Putsch gestürzt. Schon baldbrachten Deutsche diese beiden Ereignisse miteinander in Verbindung.In den folgenden fünf Wochen gab es, Meldungen zufolge, unverblümteöffentliche Diskussionen, dass es vielleicht die »beste« oder sogar »letzte«Möglichkeit zu einem »Separatfrieden« mit den westlichen Alliiertensei, wenn man dem italienischen Beispiel folgen und das nationalsozia-listische Regime durch eine Militärdiktatur ersetzen würde. Für die NS-Führung deuteten solche Meldungen offenbar darauf hin, dass dieKampfmoral in der Zivilbevölkerung erneut zusammenbrechen und dieKapitulation und Revolution vom November 1918 sich wiederholen könn-ten. Tatsächlich dauerte die Krise aber nur kurze Zeit. Anfang September1943 war sie bereits vorüber, als das Regime in die Zivilverteidigung in-

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vestierte und Massenevakuierungen aus den Städten organisierte. Mitder Besetzung großer Teile Italiens stabilisierte sich auch die militärischeLage der Wehrmacht, und schließlich setzte die Gestapo durch, dass ge-gen solches »defätistisches« Gerede selektiv hart durchgegriffen wurde.

Diese öffentlichen Äußerungen über die deutsche Verantwortung fürdie Ermordung der Juden erwuchsen ebenso wie Töpperwiens privateÜberlegungen aus einem tiefgreifenden moralischen und körperlichenUnbehagen, das sich einstellte, als die unablässigen britischen Luftan-griffe weit über die tatsächlich bombardierten Städte hinaus für ein Ge-fühl der Wehrlosigkeit sorgten. Obwohl die von den BombardierungenHamburgs ausgelöste politische Krise nur kurz währte, hatte sie dochlangfristige Auswirkungen. Denn sie brachte tiefsitzende Ängste zumVorschein und gab für spätere Krisensituationen bestimmte Muster deröffentlichen Auseinandersetzung und Interpretation vor, in denen Deut-sche das Eingeständnis ihrer Schuld und die Angst vor Vergeltung mitdem Empfinden verquickten, selbst Opfer zu sein.8

Bei deutschen Juden bestimmte der fortschreitende Holocaust un-weigerlich die Wahrnehmung des Krieges. Bei nichtjüdischen Deutschenwar es genau umgekehrt: Sie beschäftigte in erster Linie der Krieg, undihre jeweilige Sicht dieses Krieges lieferte die Folie für ihre Einordnungdes Völkermordes. Aus dem extremen Ungleichgewicht, das zwischender Macht und den Entscheidungsmöglichkeiten von Juden und Nicht-juden in Deutschland herrschte, erwuchsen also gegensätzliche Deutun-gen derselben Ereignisse, die sich in grundlegend unterschiedlichenHoffnungen und Ängsten äußerten. Dieses Problem hat meine Herange-hensweise an eine Darstellung der Geschichte Deutschlands im ZweitenWeltkrieg bestimmt. Während andere Historiker die Maschinerie desMassenmordes beleuchtet und erörtert haben, wie oder warum der Ho-locaust stattfand, befasse ich mich stärker mit dem Phänomen, wie diedeutsche Gesellschaft das Wissen um den Holocaust als vollendete Tatsa-che begriff und hinnahm. Wie wirkte sich die allmählich durchdrin-gende Erkenntnis, dass die Deutschen einen völkermörderischen Kriegführten, auf sie aus? Oder umgekehrt gefragt: Wie prägte der Krieg ihreWahrnehmung des Genozids?

Äußerungen, die die Bombenangriffe im Juli und August 1943 ver-standen als eine Bestrafung durch die Alliierten oder als »jüdische Ver-geltung« für das, »was wir den Juden angetan haben«, belegen, dass die

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Bevölkerung die unablässige Propaganda, die diese Bombardierungen– besonders im ersten Halbjahr 1943 – als »jüdische Terrorangriffe« hin-stellte, allgemein akzeptiert hatte. Zum Entsetzen von Goebbels undanderen führenden Nationalsozialisten ließen solche Überlegungen zu-gleich jedoch merkwürdige Anflüge von Selbstvorwürfen erkennen. Ausden Erklärungsmustern sprach unterschwellig der Wunsch, diesen fürbeide Seiten zerstörerischen Kreislauf zu durchbrechen, da nun deutscheStädte dem Erdboden gleichgemacht wurden. Aber die »durchgeführtenMaßnahmen gegen die Juden«, wie die Berichterstatter des Sicherheits-dienstes sie beschönigend nannten, lagen bereits in der Vergangenheit:Die europaweite Deportation der Juden hatte im vorangegangenen Jahrstattgefunden. Unter dem Eindruck des Feuersturms von Hamburg stell-ten sich Deutsche aller Schichten die Frage, ob es ein Fehler war, die Ju-den ermordet zu haben. Eine solche Krise hatte ganz reale und bleibendepsychische Auswirkungen.

Manichäische Metaphern wie »entweder/oder«, »Sein oder Nichtsein«,»alles oder nichts«, »Sieg oder Untergang« entsprangen im Deutschlandeiner langen rhetorischen Tradition. Seit der Niederlage 1918 hatten sie inHitlers Ideen eine zentrale Rolle gespielt und vorher bereits im Anschlussan Kaiser Wilhelms »Erklärung an das deutsche Volk« vom 6. August 1914

einen Grundpfeiler der Erster-Weltkriegs-Propaganda gebildet. Aber die-ser apokalyptische Ausblick war keineswegs das, was Hitlers Herrschaftin den dreißiger Jahren oder selbst in den ersten Kriegsjahren populär ge-macht hatte. Erst ab Mitte des Zweiten Weltkriegs wurde die deutscheGesellschaft für eine solche Denkweise empfänglicher. Als sich das Blattfür Deutschland wendete, entsprach die extremistische Rhetorik miteinem Mal anscheinend dem gesunden Menschenverstand. Nach den»Terrorangriffen« der Alliierten erlangte die grundlegende Existenzbe-drohung von »Sein oder Nichtsein« eine beunruhigende Realität. Was imSommer 1943 die Krisenstimmung schürte, war eine weitverbreiteteAngst, dass die Deutschen den Konsequenzen eines rücksichtslosen ras-sistischen Krieges, den sie selbst angefangen hatten, nicht entgehenkonnten. Um diese Krise zu überwinden, mussten sie nicht nur ihre frü-heren Erwartungen und Prognosen über den Krieg aufgeben, sondernauch traditionelle moralische Hemmungen über Bord werfen und sichüber bestehende Vorstellungen von Anstand und Scham hinwegsetzen.Deutsche brauchten keine Nationalsozialisten zu sein, um für ihr Land

Page 17: Unverkäufliche Leseprobe aus -   · PDF fileSian Pooley und Chris Wickham. Beim S.Fischer Verlag hatte ich den großen Vorzug, mit Tanja Hom-men, die das Lektorat besorgte,

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zu kämpfen, mussten aber wohl oder übel erkennen, dass es unmöglichwar, von der Skrupellosigkeit dieses Krieges und der apokalyptischenStimmung, die er erzeugte, unberührt zu bleiben.9

Die Erkenntnis, dass Krisen während eines Krieges zu einer Umwäl-zung und Radikalisierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen führenkönnen, hat grundlegende Auswirkungen auf unser Verständnis der Be-ziehung zwischen dem nationalsozialistischen Regime und der deutschenGesellschaft. In den vergangenen 30 Jahren sind die meisten Historikervon der Annahme ausgegangen, Krisen, wie sie nach dem Feuersturmvon Hamburg oder einige Monate zuvor nach der Niederlage der 6. Ar-mee bei Stalingrad auftraten, hätten die Stimmung in der deutschen Ge-sellschaft unwiderruflich in Defätismus kippen lassen: Die Mehrheit derBevölkerung habe sich zunehmend von allem abgewandt, wofür das na-tionalsozialistische Regime stand, und habe sich nur noch durch Terrorbei der Stange halten lassen. Tatsächlich gibt es keine Kennzahlen, dieeinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen sinkender Zustimmungund zunehmender Repression in der Mitte des Krieges belegen würden:Die Zahl der von Gerichten verhängten Todesurteile stieg zwar von 1941

bis 1942 drastisch von 1292 auf 4457 – aber das war bereits vor der Nie-derlage von Stalingrad. Deutsche Richter reagierten damit nicht etwaauf wachsende Opposition und Unzufriedenheit in der Bevölkerung, son-dern auf Druck von oben, besonders von Hitler, härter gegen Wiederho-lungstäter vorzugehen, was gewöhnlich Kleinkriminelle traf. Dabei han-delte es sich zugleich um Rassenjustiz, da polnische und tschechischeZwangsarbeiter in Deutschland einen überproportional hohen Anteil anden zum Tode Verurteilten und Hingerichteten ausmachten. Erst imHerbst 1944, als die alliierten Truppen vor den deutschen Grenzen stan-den, waren »gewöhnliche Deutsche« einer wachsenden Welle von Re-pressionen ausgesetzt, wobei sich die schlimmsten Terrorexzesse auf dieEndphase der Kämpfe im März, April und in der ersten Maiwoche 1945

beschränkten. Selbst in diesen letzten Zuckungen der Diktatur konntedie massenhafte Gewalt die deutsche Gesellschaft nicht unterkriegenund zum Schweigen bringen: im Gegenteil – viele Deutsche empfandensich weiterhin als loyale Patrioten, die aber gerade deshalb auch dasRecht hatten, Fehler der Nationalsozialisten öffentlich zu kritisieren,denn in ihren Augen hatte ihre Treue einiges Gewicht, und zwar bis zumbitteren Ende des Krieges.10