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Ursprünge der griechischen Sternbilder Auf geschickte Weise interpretiert, verraten antike Schriftquel- len, wann und wo die klassischen Sternbilder entstanden. Außerdem erfahren wir daraus, wie sich im Altertum der Blick auf den Nachthimmel wandelte. Von Bradley E. Schaefer A Is ich ein kleiner Junge war, erklärte mir mein Großvater den Sternhimmel, wobei er mit dem Großer Bären be- gann. Allein mit einem alten Feldste- cher ausgerüstet, begann ich anschlie- ßend, im dunklen, weiten Himmel über Colorado andere Sternbilder aufzusu- chen — und neue zu erfinden. Damals machte ich mir keine Gedanken über das Alter der überlieferten Sternbilder. Doch heute weiß ich, dass sich hinter dem Ursprung dieser seltsamen Forma- tionen am Himmel ein faszinierendes wissenschaftliches Rätsel verbirgt. Als die Internationale Astronomische Union im Jahr 1922 offiziell die Namen und Grenzen der 88 Sternbilder des Himmels festlegte, bezog sie sich in den meisten Fällen auf den »Almagest«, das um das Jahr 128 n. Chr. verfasste astro- nomische Hauptwerk des Klaudios Pto- lemaios (auch Claudius Ptolemäus). Die- ser griechische Gelehrte führte darin die in seinem Kulturraum populären Stern- bilder auf, wobei wiederum die »Phaino- mena« des Aratos von Soli seine wich- tigste Quelle war, ein astronomisch-me- teorologisches Lehrgedicht aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Als der große Astro- nom Hipparch um das Jahr 147 n. Chr. einen Kommentar zu diesem Werk schrieb, behauptete er darin, Aratos hät- te vieles in seinem Gedicht aus einem bereits in der Antike verschollenen Werk des Astronomen Eudoxos übernommen. Projizierte Fantasien Auch wenn die »Phainomena« die älteste überlieferte griechische Darstellung des Sternhimmels ist, bleibt zu vermuten, dass viele der erwähnten Sternbilder lan- ge vor der klassischen Zeit des grie- chischen Altertums entstanden waren. Wann war das? Und woher kommen sie? Bevor die Lichtverschmutzung un- seren Nachthimmel eintrübte, gehörte es zum Alltag vieler Menschen, die Sterne zu betrachten. In Zufallsmustern Struk- turen zu erkennen liegt in der Natur der menschlichen Wahrnehmung, und so verwundert es nicht, dass die Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten ei- gene Sternbilder erfanden. Blicken wir zum nördlichen Sternhimmel, fällt beson- ders der Großen Bär auf, wissenschaft- liche Bezeichnung: Ursa Major. (Dieser weiblichen Form des lateinischen Na- mens zufolge müssten wir genau genom- men von der Großen Bärin sprechen.) Die Gestalt der sieben mittelhellen Sterne wurde unter verschiedenen Na- men bekannt, unter anderem als Großer Schöpflöffel (Big Dipper), Kürbisflasche, Großer Wagen und Pflug. Aratos be- zeichnete die Gruppe sowohl als Bär als auch als Wagen. Letztere Bezeichnung kann natürlich erst nach der Erfindung des Rads entstanden sein, ungefähr im 4. vorchristlichen Jahrtausend; der Name Bär dagegen ist sicherlich viel älter. Über- all in Eurasien kannten frühe Gesell- schaften den Großen Bären sowie dazu- gehörige Mythen. Populär war etwa, sich unter den vier Kastensternen den Bären vorzustellen,

Ursprünge der griechischen Sternbilder · oft schon kurz nach ihrem ersten Kon-takt mit den ... offenbar war es ein Lehrbuch ... schriften stammen aus der Zeit zwischen 687 und dem

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Ursprünge dergriechischen SternbilderAuf geschickte Weise interpretiert, verraten antike Schriftquel-len, wann und wo die klassischen Sternbilder entstanden.Außerdem erfahren wir daraus, wie sich im Altertum der Blickauf den Nachthimmel wandelte.

Von Bradley E. Schaefer

AIs ich ein kleiner Junge war,erklärte mir mein Großvaterden Sternhimmel, wobei ermit dem Großer Bären be-

gann. Allein mit einem alten Feldste-cher ausgerüstet, begann ich anschlie-ßend, im dunklen, weiten Himmel überColorado andere Sternbilder aufzusu-chen — und neue zu erfinden. Damalsmachte ich mir keine Gedanken überdas Alter der überlieferten Sternbilder.Doch heute weiß ich, dass sich hinterdem Ursprung dieser seltsamen Forma-tionen am Himmel ein faszinierendeswissenschaftliches Rätsel verbirgt.

Als die Internationale AstronomischeUnion im Jahr 1922 offiziell die Namenund Grenzen der 88 Sternbilder desHimmels festlegte, bezog sie sich in denmeisten Fällen auf den »Almagest«, dasum das Jahr 128 n. Chr. verfasste astro-nomische Hauptwerk des Klaudios Pto-lemaios (auch Claudius Ptolemäus). Die-ser griechische Gelehrte führte darin die

in seinem Kulturraum populären Stern-bilder auf, wobei wiederum die »Phaino-mena« des Aratos von Soli seine wich-tigste Quelle war, ein astronomisch-me-teorologisches Lehrgedicht aus dem 4.Jahrhundert v. Chr. Als der große Astro-nom Hipparch um das Jahr 147 n. Chr.einen Kommentar zu diesem Werkschrieb, behauptete er darin, Aratos hät-te vieles in seinem Gedicht aus einembereits in der Antike verschollenen Werkdes Astronomen Eudoxos übernommen.

Projizierte FantasienAuch wenn die »Phainomena« die ältesteüberlieferte griechische Darstellung desSternhimmels ist, bleibt zu vermuten,dass viele der erwähnten Sternbilder lan-ge vor der klassischen Zeit des grie-chischen Altertums entstanden waren.Wann war das? Und woher kommen sie?

Bevor die Lichtverschmutzung un-seren Nachthimmel eintrübte, gehörte eszum Alltag vieler Menschen, die Sternezu betrachten. In Zufallsmustern Struk-turen zu erkennen liegt in der Natur der

menschlichen Wahrnehmung, und soverwundert es nicht, dass die Menschenin allen Kulturen und zu allen Zeiten ei-gene Sternbilder erfanden. Blicken wirzum nördlichen Sternhimmel, fällt beson-ders der Großen Bär auf, wissenschaft-liche Bezeichnung: Ursa Major. (Dieserweiblichen Form des lateinischen Na-mens zufolge müssten wir genau genom-men von der Großen Bärin sprechen.)

Die Gestalt der sieben mittelhellenSterne wurde unter verschiedenen Na-men bekannt, unter anderem als GroßerSchöpflöffel (Big Dipper), Kürbisflasche,Großer Wagen und Pflug. Aratos be-zeichnete die Gruppe sowohl als Bär alsauch als Wagen. Letztere Bezeichnungkann natürlich erst nach der Erfindungdes Rads entstanden sein, ungefähr im 4.vorchristlichen Jahrtausend; der NameBär dagegen ist sicherlich viel älter. Über-all in Eurasien kannten frühe Gesell-schaften den Großen Bären sowie dazu-gehörige Mythen.

Populär war etwa, sich unter den vierKastensternen den Bären vorzustellen,

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Der Große Bär, hier in einer Darstel-lung von Alexander Jamieson aus dem

Jahr 1822, ist eines der bekanntesten Stern-bilder. Die drei Sterne im Schwanz des Bärenwurden häufig als die drei Jäger bezeichnet.

den drei Jäger verfolgen – die Sterne desHandgriffs. Doch nicht nur Griechen,Basken, Hebräer sowie Angehörige meh-rerer Kulturen in Sibirien überliefertendiese Kombination aus sichtbaren Ster-nen und Deutung; auch in Nordamerikaist sie verbreitet. Mit gewissen Variati-onen benannten die Indianer der neuenWelt – darunter die Cherokee, Algon-quin, Zuni, Tlingit und Irokesen – einenBären, dem drei Jäger folgen.

Wie können wir diese enge Überein-stimmung von Traditionen der Altenund Neuen Welt erklären? Es ist wenigwahrscheinlich, dass die Menschen un-abhängig voneinander über eine so großeRegion hinweg im Trapez vier hellerSterne einen Bär erkannten. Ausschlie-ßen können wir außerdem, dass die In-

dianer das Sternbild von Missionarenoder europäischen Siedlern übernahmen,bevor Ethnologen ihr Vorkommen do-kumentierten. Diese Forscher zeichnetenoft schon kurz nach ihrem ersten Kon-takt mit den Indianern deren Erzäh-lungen auf; die Mythen weichen jedochdurchaus in Details von den Versionender europäischen Siedler ab.

Plausibler ist es, dass die ersten Sied-ler den Mythos in die Neue Welt mit-brachten, als sie vor etwa 14 000 Jahrendie Beringstraße überquerten. Altstein-zeitliche Jäger und Sammler wandertendamals über eine Landbrücke, die in derletzten Eiszeit bei niedrigem Meeresspie-gel entstanden war und Sibirien mitAmerika verband. Ihre Gedanken lebtenin ihren Nachfahren weiter, als diese denKontinent besiedelten. Man kann sichleicht eine Kette vieler Generationen vor-stellen, die vom steinzeitlichen Sibirienbis in die Berge und Ebenen der NeuenWelt und schließlich in das moderne Co-lorado der 1950er Jahre reicht – undvom Bären am Himmel erzählt.

Das Bären-Sternbild könnte langevor dieser Völkerwanderung entstan-den sein. Europäische Höhlenmalereien,Kunstwerke und Ansammlungen derSchädel von – heute ausgestorbenen –Höhlenbären reichen mehr als 30 000Jahre zurück und legen nahe, dass dieseTiere besonders verehrt wurden. Viel-leicht spiegelt das Motiv die Praxis zeit-genössischer Rituale wider. Bleibt dieszwar eine Spekulation, so ist doch sehrwahrscheinlich, dass der Große Bär eineder ältesten überlieferten Erfindungender Menschheit ist.

Assyrische AnfängeDie frühesten direkten Beweise für dieExistenz der Sternbilder stammen vonInschriften auf Steinen sowie Schriftta-feln aus Ton, die in Mesopotamien, demGebiet des heutigen Irak, entdeckt wur-den. Das »Gebet an die Götter derNacht«, ein Text aus dem alten Babylonder Zeit um 1700 v. Chr., erwähnt dieNamen von vier Sterngruppen, darunterden Wagen, drei helle Einzelsterne sowie >

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Die Position der Sternbilder am Himmelverschiebt sich allmählich gegenüberdem Äquator und den Äquinoktialkolu-ren – das sind die beiden Großkreise amHimmel, die gleichzeitig durch die Him-melspole sowie durch den Frühlings- undHerbstpunkt verlaufen. Aus der Verschie-bung gegenüber früheren Beobachtun-gen lässt sich auf die Länge des verstri-chenen Zeitintervalls schließen. Aus derLage des Widders auf dem Himmelsglo-bus des Atlas von Farnese (siehe KastenS. 88) folgt, dass dessen ursprünglicheFassung um das Jahr 125 v. Chr. entstand,als das Widderhorn gerade eben mal dieKolure berührt hatte.

Blick von außerhalb der 2000 n. Chr.scheinbaren Himmelskugel

+ 1100 v. Chr.

UM STERNBILDER DATIEREN ZU KÖNNEN,muss man die so genannte Präzession be-rücksichtigen. Diese von den Gezeitenkräf-ten des Monds, der Sonne und der Planetenverursachte Kreiselbewegung der Erde be-wirkt, dass sich die Örter der Sterne amHimmel während der Jahrtausende zyk-lisch verschieben. Entsprechend stehen imLauf der Zeit unterschiedliche Sterne in derNähe der Himmelspole und werden von denMenschen als Polarstern betrachtet. DieSternörter gleiten entlang der Ekliptik, wo-bei sie alle 72 Jahre etwa ein Grad (zweiMonddurchmesser) zurücklegen.

Genau wie Orte auf einem Erdglobussind Sternörter als Winkelabstände von be-stimmten Großkreisen am Himmel definiert.Der Himmelsäquator ähnelt dem Erdäqua-tor, während die Koluren den irdischen Län-gengraden entsprechen, wie etwa dem Null-meridian durch Greenwich in England. DieFrühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche ist der Ort,

an dem die Sonne den Himmelsäquator vonSüd nach Nord passiert (in der Grafik linksunten markiert durch den Kreuzungspunktder roten Linien).

Die Präzession bewirkt, dass sich dieserPunkt gegen die Sterne i m Hintergrund ver-schiebt, wodurch sich die Tierkreisstern-bilder etwa alle zwei Jahrtausende um einZeichen verschieben. In der griechischenKlassik lag die Tag-und-Nacht-Gleiche imWidder, dann wanderte sie in die Fische undkürzlich in den Wassermann – daher derAusdruck »Zeitalter des Wassermanns«.

DER ASTRONOM HIPPARCH entdeckte diePräzession um das Jahr 128 v. Chr., nachdemihm aufgefallen war, dass sich die Positionder Sonne zum Zeitpunkt der Tag-und-Nacht-Gleichen gegenüber alten Berichtenverändert hatte. Diese erstaunliche intel-lektuelle Leistung machte ihn zum wohlbedeutendsten Astronomen der Antike.

die Plejaden. Inschriften aus der Zeit vor1300 v. Chr. enthalten Symbole, die spä-ter auch Sternbilder bezeichneten. Da-mals wurden sie jedoch noch nicht ineinem astronomischen Kontext interpre-tiert und an den Himmel projiziert.Zwar lassen die wenigen überliefertenBelege viele Fragen offen, doch könnenwir daraus schließen, das die Mesopota-mier vor dem Jahr 1300 v. Chr. nur we-nige Sternbilder kannten.

Seitdem entstanden Inschriften aufGrenzsteinen sowie Siegelzylindern, indenen Sternbildzeichen häufig in Grup-pen und immer wieder zusammen mitSymbolen für Sonne, Mond und Pla-neten abgebildet sind. Dieser enge Zu-sammenhang legt nahe, dass mit denZeichen nun tatsächlich Sternbilder ge-meint waren. Nach der Zeit um 1100 v.Chr. entstanden Listen auf Tontäfelchen,die mehr als 30 Sternbilder aufzählen,

welche über den gesamten Himmel rei-chen. Eine Serie von drei Tafeln namens»Mul.apin« enthält Beobachtungen derÖrter und Bewegungen fast aller in Me-sopotamien benannten Sterngruppen.Der Text »Mul.apin« wurde häufig ko-piert und blieb dabei fast unverändert –offenbar war es ein Lehrbuch oder Alma-nach. Die noch heute existierenden Ab-schriften stammen aus der Zeit zwischen687 und dem 3. Jahrhundert v. Chr.

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Beim Versuch, das Alter der Stern-bilder zu bestimmen, hilft ein Phäno-men, das Astronomen als Präzession be-zeichnen: die stetige, westwärts gerichte-te Verschiebung der Sternörter gegen dasKoordinatennetz, das der Himmelsnord-pol und die Tag-und-Nacht-Gleichenaufspannen (siehe den Kasten links).Demzufolge verschiebt sich der voneinem bestimmten Punkt der Erdober-fläche aus sichtbare Ausschnitt des Stern-himmels mit einer Periode von etwa25 850 Jahren. So können wir die Längeverstrichener Zeiträume wie auf einer

Datum und Breite der Beobachtungenschließen lassen. Kein einziger Daten-punkt ist für diesen Zweck allein aus-reichend, aber die statistische Auswer-tung dieses umfangreichen Datenmateri-als lässt recht zuverlässige Schlussfolge-rungen zu. Also stammen die Berichteim »Mul.apin« mit großer Wahrschein-lichkeit aus der Zeit zwischen 1180 und1020 v. Chr. sowie einer geografischenBreite zwischen 31,5 und 34,5 Gradnördlicher Breite – im Einklang mit demErgebnis der Untersuchung von Hungerund Pingree.

In Mesopotamien ausgegrabene Tontafeln enthaltendie ältesten datierbaren Hinweise auf die Sternbilder

Uhr ablesen, wobei die Sterne einen sehrlangsamen Stundenzeiger darstellen, dersich vor dem Ziffernblatt der Himmels-koordinaten bewegt.

Die im »Mul.apin« aufgeführten rela-tiven Orter der Sterne am Himmel kön-nen wir in ungefähre Daten übersetzen.So ist den Tafeln zu entnehmen, dass derFrühlingspunkt – als Ort der Sonne zurFrühjahrs-Tag-und-Nacht-Gleiche – imöstlichen Teil des Sternbilds lag, das wirheute als Widder kennen. Das war spätim 2. Jahrtausend v. Chr der Fall. Da-rüber hinaus verraten uns die Angabenauch etwas über die geografische Breitedes Beobachters, sodass die vollständigeAnalyse der Sternbildliste sowohl das un-gefähre Datum als auch die Breite desBeobachtungsorts offenbart.

Hermann Hunger von der Universi-tät Wien und David Pingree von derBrown-Universität in Providence (RhodeIsland) untersuchten mehrere Listen des»Mul.apin« und verglichen sie mit spä-teren Sterntabellen, unter anderem der-jenigen des Ptolemaios. Sie schlossendaraus, die Sternenliste des »Mul.apin«müsse um das Jahr 1000 v. Chr. bei ei-ner geografischen Breite von 36 Gradentstanden sein – das entspricht Assyrien(dem Nordteil Mesopotamiens). Da das»Mul.apin« fast alle der jemals in Keil-schrifttexten erwähnten Sternbilder auf-listet, müssen diese in dem relativ kurzenIntervall von 1300 bis 1000 v. Chr. ent-standen sein.

Unabhängig von der Arbeit Hungersund Pingrees habe ich im »Mul.apin«114 Beschreibungen identifiziert, die auf

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Unabhängig davon kann man ausder Position der südlichsten Sternbildereiner bestimmten Liste deren Entste-hungszeitpunkt sowie den Standort ihrerAutoren abschätzen – vorausgesetzt, die-se machten ihre Beobachtungen von der-selben geografischen Breite aus. Von dortsind alle noch weiter südlich befind-lichen Sterne unsichtbar und markiereneine Kugelkappe um den Himmelssüd-pol. Die Südränder der südlichen Stern-bilder stehen an deren Grenze. Ihr Zen-trum lag damals auf der Polachse. DerenAbweichung von der heutigen Polachseverrät uns den seit der Benennung derSternbilder verstrichenen Zeitraum –,während wir aus der Größe der Kugel-kappe die geografische Breite erfahren.

Vom Pflug zum DreieckAus der Lage der sechs südlichen Stern-bilder des »Mul.apin«, die den Rand derKugelkappe definieren, schließe ich, dasssie zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr.auf einer nördlichen Breite von ungefähr33 Grad benannt wurden. Das passt gutzu den archäologischen Befunden undlässt vermuten, die Sternbilder im »Mul.apin« seien in Assyrien entstanden.

Die Motive dieser Konstellationenbilden eine eigenartige Mischung. Einigestellen Götter dar, andere Tiere, beimRest handelt es sich um alltägliche Ge-räte aus der Landwirtschaft. Der Textnennt zahlreiche Omen, die auf denSterngruppen basieren, und benutztLetztere auch für einen Kalender – le-benswichtig für eine Agrargesellschaft.Omen zu deuten, Rituale für die >

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ASTRONOMIE

Reliefs auf dem Himmelsglobuszeichnen die Sternbilder detailreich

nach und zeigen auch den Himmelsäqua-tor, die Wendekreise sowie die Koluren.

DIE ÄLTESTE BIS HEUTE ÜBERLIEFERTE Dar-stellung aller griechischen Sternbilder findetsich auf einer römischen Statue aus dem 2.Jahrhundert v. Chr., die als Atlas von Farnesebezeichnet wird. Kunsthistoriker halten siefür die Kopie eines griechischen Originals.Die aus Marmor gemeißelte Statue, die heutein Neapel steht, zeigt Atlas mit einem Him-melsglobus auf den Schultern.

Eine detaillierte Analyse der Örter derSternbilder auf dem Globus verrät, dass die-se mit einer Abweichung von weniger alszwei Grad den im Jahr 125 v. Chr. sichtbarenSternhimmel zeigen, wobei sich das Datumbis auf 55 Jahre genau bestimmten ließ. DieOriginaldaten waren so systematisch undpräzise, dass sie vermutlich einem Stern-katalog entstammten. Hipparch war derEinzige, der zu dieser Zeit einen solchen er-stellt hatte.

Vergleicht man die Sternbilder auf demGlobus mit den damals existierenden Be-

schreibungen, so entsprechen sie nur denAngaben in Hipparchs Kommentar. Natür-lich könnte ein anderer Astronom ungefährzur selben Zeit einen weiteren Katalog er-stellt haben, darauf gibt es jedoch keinenHinweis. Mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit ist Hipparchs Stern-katalog die Quelle.

> Götter abzuhalten und kalendarische Be-rechnungen anzustellen, waren Aufgabender assyrischen Priester. Vermutlich wa-ren diese auch die Erfinder der Stern-bilder.

Viele der klassischen griechischenSternbilder enthalten die mesopota-mischen Sterngruppen. Muster, welchedie Griechen als Steinbock und Zwil-linge bezeichneten, waren den Assyrernunter ähnlichen Namen bekannt: Zie-genfisch und Große Zwillinge. ZwanzigSternbilder übernahmen die Griechenunverändert, zehn weitere mit denselbenSterne tragen jedoch andere Namen. Sowurden der assyrische Lohnarbeiter zumgriechischen Widder und die Schwalbezu den Fischen.

Das Sternbild Dreieck verdeutlicht,wie die Griechen mit den mesopota-mischen Sterngruppen umgingen. Im»Mul.apin« wurden die Sterne des Drei-ecks als Pflug bezeichnet, ein Name, derauch für den Bären verwendet wurde.Obwohl die Geometrie den GelehrtenMesopotamiens und Ägyptens wohlbe-kannt war, galt sie dort allein als welt-liches Werkzeug der Ingenieure. Thalesvon Milet brachte die Geometrie im 6.Jahrhundert v. Chr. von Ägypten nachGriechenland, wo sie aus einigen Faust-regeln in ein organisiertes logisches Sys-tem von großer Schönheit verwandelt

wurde, als deren Gipfel Euklids Buch»Die Elemente« gilt, das um 300 v. Chr.entstand.

Erst nach dieser Verwandlung konn-te man auf die Idee kommen, das Drei-eck — als Symbol der Geometrie — amHimmel zu verewigen. Das SternbildDreieck ist deshalb sicherlich das Ergeb-nis der griechischen Umbenennung ei-ner mesopotamischen Sterngruppe, diesich irgendwann in der Zeit zwischenThales und Eudoxos beziehungsweiseAratos vollzog. In dessen »Phainomena«ist es nämlich enthalten.

Wenn der Orion fliehtOb die Griechen vor der Einführung desDreiecks bereits mehrere mesopotami-sche Sternbilder übernommen hatten,wissen wir nicht, doch die vorhandenenÜberlieferungen sprechen dagegen. Diebeiden ältesten schriftlichen Quellen derGriechen, die Epen des Homer und derBauernalmanach des Hesiod (beide ent-standen im 8. Jahrhundert v. Chr.), er-wähnen zwei auffällige Sternbilder (Ori-on und den Großen Bären), zwei Stern-haufen (die Plejaden und die Hyaden)sowie zwei Einzelsterne (Sirius undArktur).

Alle anderen griechischen Quellenaus der Zeit vor 500 v. Chr. schweigensich über die Sterne gänzlich aus. Das

lässt vermuten, die Griechen der vorklas-sischen Zeit hätten allein die auffälligs-ten Sternbilder benannt.

Die erste Schriftquelle, in der sichder griechische Blick auf den Nachthim-mel umfassend niederschlug, war dasBuch des Eudoxos aus dem 4. Jahrhun-dert v. Chr., von dessen Inhalt wir je-doch nur dank ausgiebiger Zitate beiAratos und Hipparch wissen. Eudoxos'Buch enthält Beschreibungen folgenderArt: »Der Kopf (des Drachen) kreist, wodie Grenzen von Unter- und Aufgangverschwimmen.«

Das soll vermutlich bedeuten, dieSterne im Drachenkopf seien vom Him-melsnordpol so weit entfernt, dass sie amnördlichen Horizont entlangschrammen.Dieser Zusammenhang gilt unmittelbarnur für eine bestimmte geografischeBreite, die sich auf Grund der Präzessionmit der Zeit verändert. Für sich betrach-tet schränkt diese Bedingung die geogra-fische Breite und den Zeitpunkt ihrerEntstehung nur wenig ein.

Anderswo schreibt Eudoxos: »BeimAufgang des Skorpions im Osten fliehtder Orion am westlichen Bannkreis.«Beide Sternbilder erscheinen gleichzeitigin entgegengesetzten Richtungen überdem Horizont. Allein oder in Kombina-tion mit der ersten Aussage führt unsdies nicht wesentlich weiter.

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Auf diesem mesopotamischen Grenz-stein aus der Zeit nach 1300 v. Chr.

(links) sind Sternbilder symbolisch darge-stellt. Das Keilschrifttäfelchen von etwa1100 v. Chr. (rechts) mit dem Text des »Mul.apin« enthält eine Liste der mesopota-mischen Sternbilder.

Aufschlussreich wird die Untersu-chung erst, wenn wir viele weitere Aussa-gen aus den »Phainomena« des Aratosheranziehen. Ich habe 172 solcher Stel-len identifiziert, und damit schrumpftder Bereich auf 0,9 Grad – das entspricht100 Kilometer in Nord-Süd-Richtung –und 80 Jahren in der Zeit. Daraus folgt,dass die Sternbilder im Jahr 1130 v. Chr.und bei 36 Grad Nord – wieder As-syrien, genau wie im »Mul.apin« – ent-standen.

Beim Vergleich der beiden Quellenstellte ich zahlreiche Übereinstimmun-gen fest: Sie enthalten im Wesentlichendieselben Sternbilder, jedoch unter ver-schiedenen Namen, und gehen vermut-lich auf die Aufzeichnungen desselbenassyrischen Beobachters zurück.

Es liegt nahe anzunehmen, die Grie-chen hätten irgendwann zwischen demJahr 1100 und 360 v. Chr. von den meso-potamischen Sterngruppen erfahren. Daes aber aus der Zeit vor 500 v. Chr. keineHinweise auf die griechischen Stern-bilder gibt – von der Erwähnung des Bä-ren und des Orion bei Homer einmalabgesehen –, können wir den Zeitpunktder Überlieferung gut einschränken.

Dazu passt, dass das babylonischeSystem der Tierkreiszeichen um das Jahr400 v. Chr. in Griechenland übernom-men wurde, wobei der Tierkreis denscheinbaren Jahreslauf der Sonne vordem Sternhimmel markiert, was für as-trologische Berechnungen wichtig war.Auf welchem Weg sich das astronomi-sche und astrologische Wissen damalsverbreitete, wird wohl für immer unge-wiss bleiben.

Nicht alle griechischen Sternbildersind mesopotamischen Ursprungs. Die»Phainomena« führen 18 Sterngruppenauf, die sich in keiner anderen altenQuelle finden – und deren Namen sichdeutlich auf die griechische Lebens- undMythenwelt beziehen. So ist von Herku-les die Rede, den am Himmel Tiere be-gleiten, die dieser große Krieger besiegthat, unter anderem Löwe und Drache.Es gibt Ophiuchus, der die Schlange

trägt, sowie den Delfin – was für eineSeefahrernation wie den Griechen pas-send ist. Sechs Sternbilder beziehen sichauf den griechischen Mythos der Ret-tung Andromedas durch Perseus. Das al-les deutet darauf hin: Die Griechen er-fanden diese Sternbilder selbst.

Muster im kulturellen GedächtnisIm Lauf der Zeit änderte sich die Bedeu-tung der himmlischen Bilderwelt. Zu-nächst erzählten die Bilder Geschichtenvon legendären Helden und Tieren.Dann dienten sie als Werkzeuge für Ka-lender und Navigatoren. Später wurdeder Tierkreis zu einem Koordinatensys-tem für die Beobachtung von Planetenals Teil der von Babyloniern übernom-menen Astrologie.

Aus den überlieferten Schriften desHipparch können wir erkennen, wie sichder griechische Blick auf die Sterne wan-delte. Zu Beginn seiner Laufbahn verglichdieser Gelehrte, wie weit die von Eudoxosüberlieferten Sternbilder mit dem über-einstimmten, was er selbst am Himmelsah. Dabei stieß er auf zahlreiche Abwei-chungen.

Als er im Jahr 135 v. Chr. bemerkte,wie ein Stern plötzlich aufleuchtete –vermutlich war es eine Nova oder Super-nova –, kam er auf die Idee, einen Kata-log der helleren Sterne zusammenzustel-len. Damit sollte man etwaige neueSterne besser identifizieren können. Lei-der ist dieses einflussreiche Werk nichtüberliefert. Wir wissen jedoch, dass esdem Gelehrten damit gelang, die Präzes-sion zu entdecken. Das war für die As-tronomie ein entscheidender Durch-bruch und machte die Erforschung derSternbilder zu einer Wissenschaft.

Zweifellos ist es nicht leicht, dieQuellen dieser Himmelsgeschichte zuinterpretieren, denn sie sind lückenhaft.Dennoch können wir aus ihnen ablesen,wie Konzepte entstanden und sich inzahlreichen Kulturen, über lange Zeitenund große Entfernungen ausbreiteten –und dabei gelegentlich abgewandeltwurden. Die Sternbilder lassen uns ei-nen Teil der Kulturgeschichte erkennen,den uns archäologische Funde nicht er-schließen können. Es ist der Wandel voneiner religiösen Himmelskunde zu eineroftmals praktischen Wissenschaft, vomabstrakten Ritual zum messbaren Phä-nomen der Präzession.

Bradley E. Schaefer ist Pro-fessor für Astronomie an derStaatsuniversität von Louisia-na in Baton Rouge. Er ist Mit-herausgeber des »Journal forthe History of Astronomy« so-

wie der Zeitschrift »Archaeoastronomy«.

Welcher Stern ist das? Von Joachim Hermann.Kosmos-Verlag 2006

Die Mythologie der Sternbilder. Von WolfgangSchadewaldt. Insel-Verlag 2002

The latitude and epoch for the origin of theastronomical lore of Eudoxus. Von Bradley E.Schaefer in: Journal for the History of Astro-nomy 35, 5. 161, 2004

Astral sciences in Mesopotamia. Von H. Hun-ger und D. Pingree. Brill, Leiden 1999

Asiatic parallels in North American star lore:Ursa Major. Von W.B. Gibbon in: Journal ofAmerican Folklore 77, S. 236, 1964

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unterwww.spektrum.de/artikel/864264.