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HAUPTBEITRÄGE Organisationsberat Superv Coach (2013) 20:437–446 DOI 10.1007/s11613-013-0346-9 Variationen über Narzissmus Wolfram Kölling Zusammenfassung: In allen zwischenmenschlichen Beziehungen und somit auch in Therapie und Beratung geht es in der heutigen Zeit immer mehr um den Dialog. Eine Art der Störung des Dialogs von gleichwertigen Gesprächspartnern sind Beschämungen, die einerseits als solche oft nicht erkannt werden und gleichzeitig auch als Teil der Zeiterscheinung „Boomeritis“ im sozia- len Bereich leider zunehmen. Schamauslösende kommunikative Muster können grundsätzlich als würdeverletzend angesehen werden. Um die Würde des Menschen mehr zu beachten und wür- deverletzendes Verhalten möglichst zu vermeiden, ist wechselseitige Anerkennung erforderlich, und wir sollten in unserer „Kultur der scheinbaren Schamlosigkeit“ eine Kultur der Anerkennung fördern und selbst etwas dafür tun. Gerade für professionelle Helfer ist dabei die Entwicklung einer kommunikativen Ethik sehr unterstützend. Schlüsselwörter: Beschämung · Boomeritis · Anerkennung · Kommunikative Ethik Variations of Narcissism Abstract: In interpersonal relationships is currently the focus on dialogue and therefore as well in the field of psychotherapy and coaching. A type of interference in the encounter of equivalent dialogue partners is humiliation. Humiliation is often not identified in the interaction. In the times of “Boomeritis” it may be an increasing phenomenon in the social sector. Shame provoking com- municative patterns may be looked at as a violation of dignity. In order to respect the human dignity to a greater extent we require reciprocal appreciation. In addition we should support and facilitate in our “culture of seeming shamelessness” a culture of appreciation. Especially in the field of helping professions the development of communicative ethics may be very supportive. Keywords: Humiliation · Boomeritis · Appreciation · Communicative ethics Online publiziert: 25.10.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Dipl.-Psych. W. Kölling () Postfach 3342, 88115 Lindau, Deutschland E-Mail: [email protected]

Variationen über Narzissmus; Variations of Narcissism;

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Hauptbeiträge

Organisationsberat Superv Coach (2013) 20:437–446DOI 10.1007/s11613-013-0346-9

Variationen über Narzissmus

Wolfram Kölling

Zusammenfassung: In allen zwischenmenschlichen Beziehungen und somit auch in Therapie und Beratung geht es in der heutigen Zeit immer mehr um den Dialog. Eine Art der Störung des Dialogs von gleichwertigen Gesprächspartnern sind Beschämungen, die einerseits als solche oft nicht erkannt werden und gleichzeitig auch als Teil der Zeiterscheinung „Boomeritis“ im sozia-len Bereich leider zunehmen. Schamauslösende kommunikative Muster können grundsätzlich als würdeverletzend angesehen werden. Um die Würde des Menschen mehr zu beachten und wür-deverletzendes Verhalten möglichst zu vermeiden, ist wechselseitige Anerkennung erforderlich, und wir sollten in unserer „Kultur der scheinbaren Schamlosigkeit“ eine Kultur der Anerkennung fördern und selbst etwas dafür tun. Gerade für professionelle Helfer ist dabei die Entwicklung einer kommunikativen Ethik sehr unterstützend.

Schlüsselwörter: Beschämung · Boomeritis · Anerkennung · Kommunikative Ethik

Variations of Narcissism

Abstract: In interpersonal relationships is currently the focus on dialogue and therefore as well in the field of psychotherapy and coaching. A type of interference in the encounter of equivalent dialogue partners is humiliation. Humiliation is often not identified in the interaction. In the times of “Boomeritis” it may be an increasing phenomenon in the social sector. Shame provoking com-municative patterns may be looked at as a violation of dignity. In order to respect the human dignity to a greater extent we require reciprocal appreciation. In addition we should support and facilitate in our “culture of seeming shamelessness” a culture of appreciation. Especially in the field of helping professions the development of communicative ethics may be very supportive.

Keywords: Humiliation · Boomeritis · Appreciation · Communicative ethics

Online publiziert: 25.10.2013© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Dipl.-Psych. W. Kölling ()Postfach 3342, 88115 Lindau, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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Die Liebe haftet dem Ich nicht an, sodass sie das Du nur zum Inhalt zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du.

(Martin Buber)

Mit diesem Zitat von Martin Buber möchte ich zu Beginn auf das Thema Dialog hin-weisen, denn Würde, Achtung und Anerkennung im zwischenmenschlichen Kontakt ist ohne den Begriff „Dialog“ nicht denkbar. Dialog hat mit Gleichwertigkeit der Dialog-partner zu tun, und um diese Gleichwertigkeit geht es auch, wenn wir uns Gedanken zum Thema Würde im zwischenmenschlichen Kontakt machen. Dies zu tun, ist mir immer mehr ein Anliegen, da ich mich seit etwa 20 Jahren mit dem Thema Scham beschäftige und mir immer deutlicher geworden ist, wie sehr Beschämungen unser tägliches Leben begleiten und schamauslösende Verhaltensmuster auch Würdeverletzungen sind. Wirkli-che Kontaktfähigkeit und tiefe, authentische, menschliche Kontakte sind meiner Ansicht nach nur in einem Dialog gleichwertiger Individuen möglich, wie er im Rahmen einer kommunikativen Ethik gesehen wird. Wenn wir darüber hinaus auch den Begriff „Seele“ benutzen und so etwas wie seelische Begegnungen verstehen wollen, dann geht dies nicht ohne die grundsätzliche Anerkennung und Wertschätzung zwischen Menschen. Es geht mir in dieser Arbeit also um die Beziehungen zwischen Menschen allgemein, aber eben auch um die Beziehungen zwischen professionellen Helfern und ihren Klienten und um alle beruflichen Beziehungen.

Ich möchte mit einem praktischen Beispiel beginnen: Stellen wir uns vor, ich erlebe Sie als sehr leicht verletzbar, also empfindsam, verletzlich und vielleicht auch schnell ängst-lich oder extrem vorsichtig und misstrauisch im Kontakt. Ich benutze extra den Begriff „empfindsam“ und nicht „empfindlich“, da letzterer Begriff bereits etwas Entwertendes hat. Dann kann ich diese Tatsache als Problem definieren oder als Schwierigkeit unse-rer Kommunikation, also als Ursache oder Grund für Schwieriges in unserer Beziehung. Hiermit wäre meiner Ansicht nach ein Dialog, der zwischen zwei gleichwertigen Men-schen auf gleicher Ebene stattfindet, nicht mehr möglich. Ich denke, in diesem Fall erhebe ich mich über Sie, und vielleicht ist damit schon Ihre Würde missachtet, und ich habe Sie erneut grundsätzlich verletzt. Ich kann Ihre Verletzlichkeit aber auch annehmen, sie akzeptieren und achten und dennoch im Prozess eines gleichberechtigten Dialogs bleiben, in dem ich z. B. mein kommunikatives Verhalten reflektierend auf verletzende Äußerun-gen überprüfe oder auch wenn wir gemeinsam Ihre Verletzlichkeit weiter kennenlernen, sofern Sie es wünschen. Letzteres müsste aber in jedem Fall von Ihnen ausgehen. Ich würdige sozusagen Ihre Empfindsamkeit und achte selbstkritisch darauf, wie mein Tun andere verletzen kann oder andere grundsätzlich entwertet und damit beschämt. Verlassen wir jetzt mal die persönliche Ebene und sprechen von Person A (Ich) und Person B (Sie), um die Themen Würde, Achtung und Anerkennung sowie Beschämung zu erörtern.

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1 Beschämung

Wen nennst Du schlecht? Den der immer beschämen will.Was ist Dir das Menschlichste? Jemand Scham ersparen.

Was ist das Siegel erreichter Freiheit? Sich nicht mehr vor sich selbst zu schämen. (Friedrich Nietzsche)

Wie ich schon festgestellt habe, kann Person A dazu tendieren, Person B zu entwerten, damit erneut zu verletzen und zu beschämen. Beschämung geschieht immer dann, wenn der innere Wert und dementsprechend die Würde eines Menschen angegriffen oder nicht geachtet wird. Gleiches gilt natürlich auch, wenn das Selbstgefühl bzw. das Selbstwert-gefühl eines Menschen verletzt wird. Schamauslösende Erfahrungen, die zwar das Selbst-gefühl des Menschen erschüttern, jedoch nicht immer direkt mit dem Verhalten anderer Menschen zu tun haben müssen, sind z. B. Krankheiten, Unfälle mit entsprechenden kör-perlichen Folgeerscheinungen, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, Behinde-rungen, menschliche Reaktionen auf Naturereignisse oder Katastrophen. Hier liegen zwar die Auslöser für Scham nicht im direkten Kontakt zwischen Menschen, jedoch betrachte ich Scham insofern als ein interaktives Gefühl, da sich der Betroffene vor anderen Men-schen für seine „Beeinträchtigung“ oder seine „Zustände“ schämt.

Meistens sind solche Erlebnisse, die das Leben bedrohen oder Todesgefahren beinhal-ten, für den betreffenden Menschen nicht einfach zu bewältigen, und wir sprechen dann von traumatischen Erlebnissen. Alle diese Erfahrungen und besonders die Traumatisie-rungen bewirken in der Regel die Auslösung von Scham, da das Selbst durch sie erschüt-tert wird. Hier geht es uns aber besonders um zwischenmenschliche Erfahrungen, die beschämend sind. Dazu zählen z. B. die Erfahrungen, nicht gesehen und nicht angenom-men zu werden, vernachlässigt oder missachtet zu werden, sowie alle Erfahrungen, die als Entwertung oder Erniedrigung erlebt werden. In geringerem Maße gehören so auch Belehrungen, Besserwisserei oder ständige Darstellung und Herausstellung des eigenen Wissens, Könnens oder Besitzens dazu.

Scham gilt neben Wut und Leere als Leitgefühl des Narzissmus und ist somit aus dem menschlichen Erleben nicht wegzudenken. Allerdings ist hier nicht nur die Scham des beschämten, also erniedrigten oder verletzten Menschen zu beachten, sondern auch und gerade das beschämende Verhalten des narzisstischen Menschen. Also die Person A rückt wieder ins Blickfeld, die durch Arroganz, Überheblichkeit, Besserwisserei, Manipulation und Machtverhalten oder Belehrungen und überhöhte Ansprüche andere erniedrigen, ent-werten und damit beschämen kann. Je weniger ein Mensch seinen Narzissmus transfor-miert hat, desto stärker sind diese Verhaltensmuster ausgeprägt. Nach Kohut (1976, 1981) und in Anlehnung an Johnsen (1988) nenne ich diesen Zustand, in dem sich Menschen dann befinden, „falsches Selbst“ (vgl. Kölling 2004). Hier bietet es sich an, kurz etwas mehr über Zeiterscheinungen oder einen möglichen Sozialcharakter zu sagen.

1.1 Exkurs: Boomeritis

Aus der Sicht einer integralen Spiritualität nach Ken Wilber wird von „Boomeritis“ gesprochen, wenn von den Geburtsjahrgängen etwa von 1946 bis 1965 die Rede ist und

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es um die Bewusstseinsentwicklung geht. Für diese Jahrgänge der sogenannten Babyboo-mer wird angenommen, dass „Masse“ mehr oder im besonderen Maße eine Art Urerfah-rung für den Menschen ist und dadurch Konkurrenzverhalten sozusagen „in die Personen eingewandert ist“ (vgl. Geißler 2005). Es werden immer sensationellere Reize um die geringer werdende Aufmerksamkeit notwendig: Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Anerkennung, und immer weniger Menschen sind bereit, anderen diese Anerken-nung zu geben. Trotz des Massenphänomens oder gerade deshalb ist das Prinzip Indivi-dualität besonders wichtig, und es kommt zu einer großen Indifferenz nach dem Motto „Leben und leben lassen“.

Nach Wilber entwickelt sich jedoch in der heutigen Zeit auch ein kollektives Bewusst-sein, welches sich in Pluralismus, multikultureller Vielfalt, Bewegung für Bürgerrechte, Umweltthemen und Feminismus zeigt (Wilber 2002, 2007). Der vorherrschende Stand-punkt sei eben pluralistischer Relativismus, ganz nach dem Motto „ich mache mein Ding, du machst deins“ (Wilber 2007, S. 151). Weil dieser Pluralismus nun einen ausgeprägten subjektiven Standpunkt bezieht, sei er aber eben auch besonders anfällig für Narziss-mus. So ist Boomeritis nach dieser Auffassung ganz einfach mit Narzissmus infizierter Pluralismus.

Es gibt aber neben dem Konzept der Boomeritis weitere Erkenntnisse über die Ent-wicklung einer Art Sozialcharakter in der heutigen Zeit. Die Entwicklung von Identi-tät hat heute besonders mit Selbstdarstellung, Flexibilität, ständigem Fließen oder einer Marktorientierung zu tun (vgl. Sennett 2000; Kölling 2002). Auch ein histrionischer Sozialcharakter wird für unsere Dienstleistungs- und Mediengesellschaft angenommen (vgl. Winterhoff-Spurk 2004), obwohl im „Zeitalter des Narzissmus“ (Lasch 1980) nar-zisstische Verhaltensmuster immer mehr an Bedeutung gewinnen. Allerdings können wir wohl davon ausgehen, dass sogenannte narzisstische Verhaltensmuster immer mehr normalisiert werden, da gesellschaftlicher Wandel und veränderte Sozialisationsbedin-gungen zu einer gewissen „Entpathologisierung“ des Narzissmus führen (vgl. Altmeyer 2000, S. 145).

Die Frage nach dem Sozialcharakter ist an dieser Stelle sicher nicht zu klären. Da jedoch all die genannten Ansätze und Erklärungen sehr viel mit Scham und scheinbarer Schamlosigkeit zu tun haben, spreche ich von einer „Kultur der scheinbaren Schamlosig-keit“ in unserer modernen Welt (Kölling 2007).

2 Würde

Ich bin das Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will. (Albert Schweizer)

Wie schon angedeutet, sind Beschämungen auch Würdeverletzungen, und mir scheint es notwendig und heute besonders wichtig, sich etwas genauer mit Würde zu beschäf-tigen. In einer Arbeit von Baer und Frick-Baer (2009, S. 12 ff.) zu diesem Thema wer-den Gewalt, Erniedrigung, Missachtung und Beschämung als die vier Geiseln, die die Würde des Menschen bedrohen, bezeichnet. Beschämung wird hier als ein Aspekt der Würdeverletzung neben anderen betrachtet. Die anderen genannten Würdeverletzungen

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lösen meiner Ansicht nach jedoch auch immer Scham aus; Beschämungen wie Gewalt, Erniedrigung oder Missachtung stellen also immer auch eine Bedrohung der Würde des Menschen dar.

Versuchen wir nun, den Begriff „Würde“ etwas genauer zu erfassen. Wetz (2011, S. 20) schreibt in der Einführung zu seinem Buch „Texte zur Menschenwürde“: „Selbst-achtung wird heute meist mit Menschenwürde gleichgesetzt und gilt als Gegenbegriff zu Erniedrigung und Demütigung.“ So gesehen wird Selbstachtung, also die Würde des Menschen, durch Erniedrigung und Demütigung beschädigt, und dies löst aus meiner Sicht immer Scham aus. Wetz (2011, S. 20 ff.) meint weiter, dass Achtung eine Hal-tung bedeutet, sich vor etwas zu verbeugen, das einen Wert besitzt. Die Bejahung des menschlichen Lebens als einen Wert für sich zu sehen, macht für ihn die Menschen-würde aus.

Ausgehend von Emmanuel Kant wird auch von Würde gesprochen, wenn es um einen „absoluten Wert“ des Menschen geht, um „den Zweck an sich selbst“, nicht um ein Mittel für irgendetwas, was dann auch einen Preis hat (vgl. De Koninck 2011, S. 172 f.). Also der Mensch an sich hat einen Wert, ohne dass er irgendeinen Zweck erfüllt, ohne dass er etwas tun muss, um seine Wichtigkeit und seine Bedeutung zu erlangen, oder um es in der heute üblichen Marktsprache zu sagen, ohne dass er sich erst etwas erkaufen muss. Auch der Wunsch nach sozialer Anerkennung und die positive Bewertung von Achtungs-ansprüchen stehen im direkten Zusammenhang mit der Würde des Menschen (vgl. De Koninck 2011, S. 180; Oberthür 2011, S. 248). Das bedeutet also, dass Anerkennung und Achtung zwei wesentliche Begriffe für die Würde des Menschen sind.

Besonders für den Bereich der Psychotherapie hat sich die Traumatherapeutin Luise Reddemann (2008) mit Würde auseinandergesetzt. Aus Meyers Lexikon zitiert sie: „Würde, die einem Menschen kraft seines inneren Wertes zukommende Bedeutung; auch Bezeichnung für die dieser Bedeutung entsprechende achtungsfördernde Haltung“ (S. 9). Jemand aufgrund seines inneren Wertes zu achten, ist also eine würdevolle Haltung. Betrachten wir jetzt wieder unser Beispiel: Person A achtet einen inneren Wert der Person B und geht achtsam mit deren Verletzlichkeit um. Dies wäre eine Haltung, die zumindest weniger würdeverletzend ist.

Den Zusammenhang zum Narzissmus sieht sie besonders im „würdevollen Umgang mit dem Machbaren bzw. nicht Machbaren“ (S. 28), mit der Annahme der eigenen Begrenzung und Schwäche. Gerade dies ist beim Narzissmus nicht gegeben oder nur unzureichend ausgeprägt. Auch sie sieht die Würde als eine Art Gegenmodell zur aktiven entwürdigenden Beschämung (S. 36). In Anlehnung an Wetz meint sie, „dass Menschen Würde besitzen, weil sie in ihrem Wesen etwas besitzen, was ihnen Würde verleiht, z. B. den göttlichen Funken“ (S. 46). An anderer Stelle schreibt sie bezugnehmend auf Richard Rorty, dass „Respekt und Würde durch Mitgefühl und das sich einlassen auf traurige Geschichten erreicht werden. (…) Bindungsfähigkeit, die auf emotionale Resonanz grün-det, also Empathiefähigkeit, könnte für das Recht auf Würde zentral sein“ (S. 58). In großer Deutlichkeit betont Reddemann immer wieder, wie wichtig die Achtsamkeit auf die Würde in der Psychotherapie ist, aber auch wie oft sie vergessen wird. Sie benennt einige Bereiche der Psychotherapie, in denen besonders auf mögliche Würdeverletzun-gen geachtet werden sollte (vgl. S. 108 ff.):

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1. Respekt vor der Autonomie des anderen,2. die Würde der Verletzlichkeit und des Scheiterns anerkennen,3. Respekt vor den Wünschen nach Verbundenheit,4. Individualität und Verschiedenheit,5. Würde der Intimität.

Zum Bereich Autonomie gehört z. B., dass Patienten nicht in ein Konzept hineingepresst werden und sie über alternative Methoden informiert und aufgeklärt werden. Man sollte Patienten oder Klienten an den eigenen Überlegungen und Theorien teilhaben lassen und sie auch über neue Schritte in der Behandlung gut informieren und erklären, warum die-ses oder jenes getan wird. Auch stellt Reddemann infrage, ob in Therapien verlangt wer-den kann, ausführlich über belastende Dinge zu reden. Es geht also grundsätzlich mehr darum, bei dem zu bleiben, was die Patienten oder Klienten von sich aus mitteilen wollen und können. Die menschliche Würde verlangt auch, dem Körper und der Seele keinen Schaden zuzufügen.

Die Verletzlichkeit des anderen würdevoll zu achten, ist deshalb auch in jeder Behand-lung notwendig, und dies ist dem Helfer nur möglich, wenn er seine eigene schmerzliche Seite annehmen kann und respektvoll mit eigener Ohnmacht und mit Scheitern umgehen kann. Da dies immer mit Scham verbunden sein kann, ist es unbedingt erforderlich, dass Helfer ihre eigene Schamproblematik oder ihren Umgang mit Scham gut kennen und natürlich auch konstruktiv bearbeitet haben. Die tiefen Wünsche des Menschen nach Ver-bundenheit und Bezogenheit sind würdevoll und respektvoll zu achten. Das kann manch-mal auch bedeuten, nicht oder nicht zum falschen Zeitpunkt das Thema Trennung zu fokussieren oder Beziehungswünsche nicht gleich als abhängig oder eben pathologisch zu sehen, sondern Autonomiewünsche und gleichermaßen die Bedürfnisse nach Verbun-denheit zu achten.

Beim Respekt vor Individualität und Verschiedenheit geht es z. B. um Diagnosen. Wird manchmal vor lauter Diagnostik der Mensch als einmaliges Wesen nicht mehr und dem-entsprechend nicht in seiner Würde gesehen und auch geachtet? Das Recht auf Intimität kann durch zuviel Kontrolle und Vorschriften eingeschränkt werden, und durch Druck oder Zwangsmaßnahmen z. B. in der stationären Therapie kann es zu Würdeverletzun-gen kommen (vgl. Reddemann 2008, S. 108 ff.). Solche oder vergleichbare Würdever-letzungen sind natürlich in allen zwischenmenschlichen Beziehungen möglich, vor allem natürlich in allen Beziehungen der professionellen Helfer. So wie es mir um mehr Würde in menschlichen Beziehungen allgemein geht, will ich auch das Thema Anerkennung einerseits allgemein besprechen, aber auch die spezielle Bedeutung in helfenden Berufen erwähnen.

3 Anerkennung

In dem Augenblick, da wir unsere Unabhängigkeit erreichen, sind wir davon abhängig, sie uns gegenseitig zu bestätigen.

(Jessica Benjamin 1990, S. 35)

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Wie wir gesehen haben, ist die Anerkennung nicht nur das Gegenteil von Beschämung, sondern die Anerkennung des inneren Wertes eines Menschen bedeutet auch, eine wür-devolle Haltung gegenüber diesem Menschen einzunehmen. Anerkennung und Achtung des Anderen in seinem grundsätzlichen Bedürfnis nach zwischenmenschlichem Respekt macht Würde aus. Auch aus sozialphilosophischer Sicht in Anlehnung an den Philoso-phen Hegel macht uns Axel Honneth (2003, S. 212 ff.) darauf aufmerksam, wie sehr die mangelnde Anerkennung durch Andere entwürdigend ist und soziale Scham auslöst.

Auch die amerikanische Feministin und Psychoanalytikerin Jessica Benjamin (1990, S. 34 ff.) bezieht sich auf Hegel, wenn sie vom „Paradoxon der Anerkennung“ spricht. „In dem Augenblick, da wir begreifen, was es heißt, ‚Ich selbst’ zu sagen, müssen wir auch die Grenzen dieses Selbst erkennen“ (S. 35). Wir müssen also annehmen und akzeptieren, dass wir von der Anerkennung anderer abhängig sind, und dies bedeutet, auch andere in dieser Abhängigkeit anzunehmen. Dies wiederum heißt, sie in ihrer Unabhängigkeit von uns anzuerkennen. In ihrer intersubjektiven Theorie macht Benjamin deutlich, wie „im Lauf des Lebens Selbstbehauptung und Anerkennung zu entscheidenden Momenten im Dialog zwischen dem Selbst und anderen werden“ (S. 25).

Auch Martin Altmeyer (2000, S. 157 ff.) beschreibt in seinem intersubjektiven Verständ-nis der Selbstbezogenheit die Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung. „Nur wenn ich den anderen als getrennt erleben kann, entsteht eine lebendige Spannung; die Aufhebung dieser Spannung bedeutet den psychischen Tod, weil die lebenswichtige Differenz zum anderen ausgelöscht wird: entweder durch Unterwerfung in der narziss-tischen Allmachtsphantasie oder in der symbiotischen Verschmelzung“ (S. 161). Die zwei Gefahren begleiten den Menschen lebenslang: einerseits die Tendenz, andere zu unterdrü-cken bis hin zur Unterwerfung, oder andererseits, sich aufzugeben in der Symbiose mit anderen. In anderen Worten, wir können zu übertriebener Selbstbehauptung oder zu einer überstarken Selbstanpassung neigen, wenn wir diese Spannung nicht aushalten oder nicht genügend Spannungstoleranz entwickelt haben. In weniger starker Ausprägung könnten wir entweder zu dominanten Verhaltensweisen neigen, oder wir ordnen uns relativ leicht unter. Menschen müssen also die Abhängigkeit von der Anerkennung anderer akzeptieren und auch die anderen in ihrer Unabhängigkeit gewissermaßen vorher anerkennen. Hier haben wir wieder die Anerkennung als Grundwert menschlichen Verhaltens, um würde-voll miteinander umzugehen.

Ich habe schon deutlich zu machen versucht, wie schnell Menschen sich gegensei-tig beschämen können und wie es dadurch zu Würdeverletzungen kommen kann. Auch die mangelnde Achtung und Anerkennung oder sogar Missachtung kann beschämen und damit würdeverletzend sein. Deshalb halte ich es für wichtig, Anerkennung als wich-tigstes Prinzip der Zwischenmenschlichkeit zu sehen, und so brauchen wir eine Kultur der Anerkennung. Ingrid Riedel (2007) macht darauf aufmerksam, dass die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung ein gewisses Maß an Selbstachtung der beteiligten Men-schen voraussetzt. Ein Hängenbleiben in der Selbstverachtung hingegen kann immer wie-der dazu führen, auch andere zu verachten. Für sie ist die Selbst-Akzeptanz, oder wie es in der Sprache von C.G. Jung heißt, die Schattenannahme erforderlich für die Bildung von Selbstachtung. Selbstannahme und dadurch auch wachsende Selbstliebe ist also not-wendig, um andere anerkennen zu können. Den anderen annehmen, so wie er ist, auch

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mit den Seiten, die wir nicht so gern haben oder die wir schnell mal entwerten, bedeutet, ihn in einer neuen „Schattenverträglichkeit“ anzunehmen (vgl. Riedel 2007, S. 92 ff.).

In der Organisationspsychologie wird auch von Fehlerkultur gesprochen, wenn es darum geht, wie mit Fehlern umgegangen wird (vgl. Kölling 2007; Schreyögg 2007). Ein produktiver Umgang mit Fehlern und eine permanente Fehlerreflexion zeichnet eine Fehlerkultur aus. „Offene Kommunikation“, „Fehleroffenheit“ und „Fehlertoleranz“ sowie eine Art „Fehlerfreundlichkeit“ (Schreyögg 2007, S. 214) bekommen immer mehr Bedeutung für die Organisationsentwicklung. Eine Annahme der eigenen Schwächen und Fehler, genauer gesagt, der „menschlichen Unvollkommenheit“ gelingt aber wiederum nur durch Akzeptanz der eigenen Schamgefühle und durch einen konstruktiven Umgang mit sonst eher aus dem bewussten Erleben abgespaltenen Schamprozessen. Für den Dia-log gleichwertiger Menschen im Sinne einer kommunikativen Ethik ist also eine Kultur der Anerkennung erforderlich.

4 Kommunikative Ethik

Man darf Konsens nicht als Endziel verstehen, sondern als Prozess, als gemeinschaftliche Suche nach Wahrheit oder Gültigkeit.

(Benhabib 1995, S. 51)

Wie nun Würde, Achtung und Anerkennung zusammenhängen, zeigt sich in einer Hal-tung, die aus moralphilosophischer Sicht „kommunikative Ethik“ genannt wird. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Zwischenmenschliche Verhaltensweisen, die in einer „Kultur der scheinbaren Schamlosigkeit“ bei anderen Menschen Scham auslösen können, nehmen zu bzw. werden auch immer weniger als solche wahrgenommen. Etwas provo-zierend ausgedrückt, wechselseitige Beschämungen gelten in unserer Gesellschaft mehr und mehr als normales Verhalten, wie grundsätzlich der Narzissmus „normaler“ wird. Ziel wäre es aber nach meiner Überzeugung, Scham und mögliche Schamprozesse wie-der mehr im bewussten Erleben zuzulassen, um konstruktiver mit Schamgefühlen umge-hen zu können. Beschämungen können immer auch die Würde des Menschen verletzen, denn durch sie wird ein innerer Wert des Menschen missachtet, und der zwischenmensch-liche Respekt geht verloren. Achtung und Anerkennung des Anderen sind grundsätzliche Werte, ohne die zwischenmenschliche Beziehungen nicht möglich sind, jedenfalls nicht Beziehungen zwischen gleichwertigen Individuen. Eine Kultur der Anerkennung ist also in allen Bereichen der Gesellschaft anzustreben, ganz besonders aber natürlich in den Bereichen, in denen es gerade um Beziehungen und soziale Kontakte geht, wie z. B. Päd-agogik, soziale Arbeit oder Psychotherapie.

Die Moralphilosophin Seyla Benhabib spricht von „kommunikativer Ethik“, und in ihren Darstellungen erkenne ich vieles von dem wieder, was mich hier beschäftigt hat. Was ist kommunikative Ethik? Es ist die Vorannahme von Gleichwertigkeit aller an einem Gespräch oder an einer Diskussion beteiligten Personen. So setzt Benhabib sich z. B. dafür ein: „Jeden Menschen als jemanden zu betrachten, dessen Standpunkt wir aus Achtung vor seiner moralischen Würde, die wir ihm schulden, in unsere Überlegungen einzubeziehen haben“ (Benhabib 1995, S. 152). Sie sieht Dialog als Ziel und nicht so sehr

Variationen über Narzissmus 445

den Konsens. Der Prozess des Gesprächs bekommt bei ihr eine besondere Bedeutung, und diesen Prozess zu fördern, gilt ihr Bestreben. Also ist das wechselseitige Verstehen immer anzustreben im Gespräch. Sie sagt z. B.: „Zu wissen, wie man eine bestehende zwischenmenschliche Beziehung aufrechterhält, bedeutet zu wissen, was es heißt, ein ICH zu sein, zu wissen, dass ICH für DICH ein anderer bin und dass DU ebenso ein ICH bist für dich selbst und ein anderer für MICH“ (S. 71).

Sie erinnert bei diesem Satz auch an die Anerkennungstheorie von Hegel, auf die sich ja auch Altmeyer, Benjamin und Honneth beziehen. Nicht nur für jede Art von sozialer Arbeit, Pädagogik und auch Psychotherapie gilt wohl Folgendes: „Sobald wir ‚bemut-tern’, für andere sorgen oder andere erziehen, setzen wir die Gleichheit bzw. die Gleich-berechtigung und Autonomie des Wesens, dessen Bedürfnisse wir befriedigen, für dessen Körper oder dessen Geist wir sorgen, die wir heilen oder trainieren, immer schon kontra-faktisch voraus. Wenn diese kontrafaktische Vorannahme der Gleichheit – keine Gleich-heit der Fähigkeiten, aber eine Gleichheit hinsichtlich der Ansprüche – fehlt, resultiert daraus schlechte Pädagogik oder erstickende, übertriebene, ‚bestrafende’ Fürsorge“ (Benhabib 1995, S. 284).

Erinnern wir uns nun noch einmal an das Beispiel vom Anfang. Person A wird die Person B nun nicht entwerten, indem sie deren Verletzlichkeit als Schwierigkeit erkennt, und dies dann als Konsens betrachten will oder darüber Konsens herstellen will, sondern wird bei sich selbst schauen, wie sie sich über andere erhöht und diese dadurch ernied-rigt. Begegnungen, die in dieser Haltung plötzlich möglich werden, sind von einer völlig neuen Qualität. Es sind Augenblickserfahrungen, in denen sich Seelen berühren. Solche Erfahrungen haben so gut wie nichts mehr mit kognitiven Lösungen oder eben mit Kon-senserleben zu tun, sondern es sind Erfahrungen tiefster menschlicher Gemeinsamkeit, ja letztlich sind es Erfahrungen von Glück oder manchmal sogar von Liebe.

Wenn meine Annahmen über Beschämungen, Würde und Anerkennung weitgehend so stimmen, wie ich sie hier beschrieben habe, dann sollten wir alle intensiv darüber nach-denken und uns um einen Diskurs, eine Gesprächshaltung und einen Dialog bemühen, in dem eine innere Orientierung an der kommunikativen Ethik angestrebt wird. Dies gilt nicht nur für unsere persönlichen Gespräche oder die Kommunikation in helfenden Beru-fen, sondern auch für jeden Diskurs in allen gesellschaftlichen Bereichen.

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Abendvortrag bei den 54. Lindauer Psychotherapiewochen.

Wolfram Kölling, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychothera-peut, Supervisor BDP, Coach, Traumatherapeut (EMDR), 1994–2011 Leitender Psychologe der Hochgratklinik Wolfsried, Tätigkeitsschwerpunkte: Therapie von Persönlichkeitsstörungen und PTBS, speziell Umgang mit Scham und Schamlosigkeit, Seminare, Vorträge und Veröffentlichungen im Grenzbereich von Psychotherapie, Spiritualität und Politik.