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herausgegeben von Gunther Nickel Edition Poesis, Nr. 1 Magie, Material und Gefühl in Goethes Gedicht »Ein gleiches« Sebastian Kiefer Verlag andré Thiele isbn978-3-940884-51-0 www.vat-mainz.de »Über allen Gipfeln« ist der separat lesbare erste band einer zweitei- ligen Studie. Der zweite Teil wird das von Goethe unter dem Titel »Wandrers Nachtlied« gemeinsam mit »Über allen Gipfeln« überlie- ferte Gedicht (»Der du von dem Himmel bist«) behandeln und im frühjahr 2012 im VaT Verlag erscheinen. iNHalT

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Edition Poesis, Nr. 1

herausgegeben vonGunther Nickel

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Sebastian Kiefer

ÜbEr allEN GiPfElN

Magie, Material und Gefühlin Goethes Gedicht »Ein gleiches«

Verlag andré Thiele

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»Über allen Gipfeln« ist der separat lesbare erste band einer zweitei -ligen Studie. Der zweite Teil wird das von Goethe unter dem Titel»Wandrers Nachtlied« gemeinsam mit »Über allen Gipfeln« überlie-ferte Gedicht (»Der du von dem Himmel bist«) behandeln und imfrühjahr 2012 im VaT Verlag erscheinen.

© VaT Verlag andré iele, Mainz am rhein 2011Umschlag: Klaus H. Pfeiffer, www.goldensection.delektorat: Meike bohn, MainzSatz und reihengestaltung: felix bartels, berlinDruck: Winterworks, borsdorfalle rechte vorbehalten.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-940884-51-0

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Ein feldversuch 9»Ergreifende Schlichtheit« 21idiomkombination, komplexe Elementarität

und Klassik 40Was ist klassisch? (i) Das prototypisch »Poetische«.

Titelverse 52Die kompositorische funktion der inversion 61»ist ruh’« und das kollektive lyrikempfinden 74Kaschierte arbeit mit nicht vorhandenen Äuße rungs -

umständen 79Der leser und sein anderes »Selbst«: Der reaktiv

unterstellte beobachterstandpunkt und seine kompositorische funktion 83

Was ist klassisch? (ii) aufspalten, Über- und Zerschreiben, künstliches Verfehlen der »form«. Hypothesen zum Entstehungsprozeß 86

Der vielstimmige abstieg vom Gipfel zum Wipfel 105rhythmische labilität, Hauch, Polyphonie, Evidenz 111Was ist klassisch? (iii) Zeigen, was nicht zu deuten

ist; Mit-Empfinden-lassen, was nicht bezeichnet werden kann 123

fremdkörper Kopula, Mimesis Zweiter Stufe 126Was ist klassisch? (iV) Mit-Empfinden der über -

schriebenen Versionen. Verbergen von Tiefen-syntax. Gedicht als Optionsraum 132

Was ist klassisch? (V) idiomatische brüche und ausstellen lyrischer Klischees (Vers 6) 152

Weshalb kann »Ein gleiches« nicht »WandrersNachtlied« heißen? Die Poetik der TitelgebungGoethes 164

anmerkungen 190bibliographie 198

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Talk about specifics, the generalities will take care of them-selves.

Emmett Williams1

Die Sache ist sehr einfach, sagte Goethe. Um Prosa zu schreiben,muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat,der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort dasandere giebt und zuletzt etwas heraus kommt, das zwar nichtsist, aber aussieht, als wäre es was.

Gespräche mit Eckermann,29. Januar 1827

Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern.Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten inein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann mansagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welttheoretisieren.

Goethe,Vorwort zur farbenlehre

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[Ein gleiches]

Über allen Gipfeln ist ruh[’],in allen WipfelnSpürest duKaum einen Hauch;Die Vögelein schweigen im Walde.Warte nur, balderuhest du auch.2

[Erstdruck 1780]3 [fassung in den Schriften 1789]4Um friede Wandrers Nachtlied

Der du von dem Himmel bist Der du von dem Himmel bist,alle freud und Schmerzen stillest, alles leid und Schmerzen stillest,Den der doppelt elend ist Den, der doppelt elend ist,Doppelt mit Erquickung füllest. Doppelt mit Erquickung füllest,ach ich bin des Treibens müde! ach[,/!]5 ich bin des Treibens müde,Was soll all die Qual und lust? Was soll all der Schmerz und lust?Süßer friede, Süßer friede,Komm, ach komm in meine brust. Komm ach komm in meine brust!

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Etwas ist über Gipfeln; Wipfel sind da, Vögel im Wald. DieWorte beschreiben − in kunstgerechter Typisierung − eineDämmerungsszenerie im Gebirge oder eine spätabendliche»atmosphäre« und die rolle der Person, die das alles wahr-nimmt (oder es sich vorstellend wahrnimmt). So dachte mandamals und denkt man heute. Und damals wie heute wun-dert(e) man sich beharrlich, wie wenig eigentlich »gesagt«wird und wie nah und anschaulich dennoch oder geradedeswegen alles sei, wie magisch hintergründig alles wirke,oder auch: wie »lakonie« so »ergreifend« sein könne6:

Das zweite Nachtlied [d.i. »Ein gleiches«] setzt das erstefort und hat etwas von dem Frieden, nach dem das erstesich sehnte. Das Naturbild ist wieder da, abermals nurin den weitesten Linien entworfen, wenngleich deutlicherals im ersten Lied: wieder fast nur Raum. […] Seltsam,wie sich ohne die geringste Schilderung hier eine Abend-landschaft andeutet, in der nur noch die Höhen aus derDämmerung ins letzte Licht ragen! 7

Um diesem Mysterium auf die Spur zu kommen, unterwarfman die acht Zeilen in zwei Jahrhunderten einer Unzahl von»interpretationen«, deren kleinster gemeinsamer Nenner dieVorstellung war, ein Sprachkunstwerk zu »verstehen« hieße,es zu »deuten« und das wiederum hieße: paraphrasieren, inwelcher Weise der autor hier gewisse Erfahrungen, beobach-tungen »poetisch« vulgo: »musikalisch« verdichtet, welchebedeutungen hier wie vermittelt oder »ausgedrückt« seienund welche Vorstellungen von Natur heimlich »mit darge-stellt« würden. Nur stieß man immer wieder aus das Uner-klärliche: Wie? Und: Wo? – Es steht doch fast nichts da.

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Goethe überschrieb »Über allen Gipfeln« autoritativ mit»Ein gleiches«. Das tat er jedoch nur zu einer einzigen, sehrbestimmten Gelegenheit: als er in einer ausgabe seinerWerke den Text unterhalb des Gedichtes »Wandrers Nacht-lied« setzen ließ. Das ist der Grund, warum man vom »Zwei-ten Nachtlied« oder auch einfach von »Wandrers Nachtlied«spricht − die Überschrift »Ein gleiches« nämlich soll nichtsanderes bedeuten als: dieselbe Überschrift wie in dem dar-überstehenden Gedicht sei hier anstelle der Zeile »Ein glei-ches« zu denken. Häufig versteht man das Wort »gleiches«dabei auch, als würde es dasselbe (›das Gleiche‹) sagen wie»etwas gleiches« oder »etwas Gleiches« und dasselbe wie»dasselbe« im Sinne von »noch ein Text derselben Art«.8Dabei kann das, was von »gleicher art« ist, einer vollkom-men anderen Gattung zugehören, einer völlig anderenSprechsituation zuzudenken sein, völlig andere Gegenständehaben, eine andere art des Vorstellens, des Verhüllens, desuntergründigen rhythmisierens, des Nicht-Nennens oderwas auch immer. Niemand findet das bemerkenswert: Diejeweils vorgeschlagenen Erklärungen des vermeintlich tri-vialen Titels sind völlig unvereinbar miteinander in all ihrerSelbstverständlichkeit und alltäglichkeit. aber das ist dieSache selbst: Das Gedicht ist alltäglich und »lakonisch«,und offensichtlich weiß jeder sofort, was gemeint ist − nurlesen die interpreten aus dem Offenbaren etwas unvereinbarGegensätzliches »heraus«.

Nicht einmal wird in den hundert Erklärungen des»Sinns« dieses scheinbar schlichten poetischen ausdruckserklärt und begründet, ob hier »gemeint« sein solle: derselbeTitel wie im vorstehenden Gedicht sei zu denken, oder: dasGedicht selbst sei ähnlich oder dasselbe wie das darüberste-hende − und noch viel weniger, was denn am oder oder imGedicht gleich oder identisch sein soll. Was also ist dennnun »gleich« und in welchem Sinne – ähnlich oder iden -tisch? – : die »Gattung«, die Machart, der Charakter alsrollengedicht? all das erfährt man aus den Deutungen der

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literaturgeschichten und pädagogischen Handreichungenerstaunlicher- wie symptomatischerweise nicht. Heute istman offenbar des Treibens müde und bescheidet sich mitelementaren Stipulationen wie: »Die Überschrift besagt: Einweiteres Nachtlied des Wanderers«.9 Das ist nicht nur brutal,verfehlt den Wortsinn, es erklärt auch nichts: Hat man sicheinen singenden Wanderer in einer landschaft vorzustellen,ist es einem solchen Wanderer zugeeignet? − und vor allem:weshalb das?, wo doch erstens gar nicht leicht zu sagen ist,was hier überhaupt »lied« heißt, und wo vor allem wederdie Nacht noch der Wanderer hier wie dort vorkommen,man sie also wie ›von außen‹ durch die Titelzeile erst ein-bringen und dann noch einmal dieses Einbringen nicht vor-kommender figuren in »Der du …« auf das zweite Gedichtübertragen muß − und zwar in »gleicher« Weise, also viel-leicht in derselben, vielleicht in einer dezidiert nur ähnlichenWeise.

Und was hieße ähnlich oder identisch, wo doch die ersteZeile von »Der du …« ein rekombiniertes Zitatfragmentdes Vaterunsers ist, das Gedicht also mit ziemlich kompli-zierten Materialkombinationen eines Gebetes arbeitet, wäh-rend der reiz von »Über allen Gipfeln / ist ruh’« dochwohl eher mit der abwesenheit einer konkreten beobach-terperson zusammenhängt. Das leugnen die »interpreten«auch gar nicht, im Gegenteil: »im vorangehenden Gedichtsprach der Wanderer, aber wer spricht hier? Keine identifi-zierbare Person jedenfalls.«10 Wenn die »interpreten« sichselbst beim Wort nähmen, kämen sie auf die in der Tat ›un-geheurlichen‹ Konstruktionen in diesem harmlos scheinen-den Text. Das tun sie jedoch nicht. Statt dessen erfinden sieimmer neue Dinge hinzu und zwar stets solche, mit derenHilfe man sich am Ende beweisen kann, die Kunst bestehedarin, uns jene rührenden Dinge zu liefern, nach denen un-ser Gemüt immer schon verlange: »eher schon ist es die Na-tur selbst«, die hier spreche, sagt der eben erwähnte Kom-mentator, um eine lösung des unerfindlichen rätsels zu

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geben, wer denn hier wie »wahrnimmt«. Das mag eine an-genehme Phantasie sein, doch es steht nirgends im Text.Und das Schöne und Ergreifende sei eben, daß diese Natur»den gestressten Menschen – ›ach ich bin des Treibens mü -de‹ – in ihrem Schoss (wie man damals noch sagen konnte)aufnimmt.«11 Nun, wenn man zuvor wüßte, was Natur ist,bräuchte man keine Poesie mehr, um sich an ihr zu trösten:Man bräuchte sie nur noch dazu, illustrierend zu bekräftigen,wonach es einen in seinem gestreßten Dasein schon immerverlangt.

Wer würde auf die idee kommen zu behaupten, JohannSebastian bach hätte nicht den Tetrachord »gemeint«, deram anfang des Wohltemperierten Klaviers steht, sondernetwas anderes, ›Dahinterstehendes‹, das man sich anstelledes faktisch Geschriebenen »zu denken« habe und das den»eigentlichen« Gedanken ausdrückt? Darf man das in derWortsprache, weil hier die sichtbaren »Zeichen« nur »äußere«Vehikel für eine unsichtbare geistige »bedeutung« im innerensind? Warum darf man solche esoterischen raum- und Ge-fäß-Metaphern auch heute noch ganz selbstverständlich aufSprachkunstwerke anwenden und als »Wissenschaft« aus-geben? Wer käme auf die idee, Marcel Duchamps »fountain«hieße eigentlich gar nicht so; der Titel sei nur als Vorwandzu verstehen und ›eigentlich‹ habe man sich etwas zu denkenwie »Ein Pissoir und weiteres ready-made, das ich hiermitspaßeshalber als fountain bezeichne«? – weil Goethe ebenein »klassischer« Dichter sei, Duchamp aber »modern« unddaher »vieldeutig« und »mit den Erwartungen des rezipien-ten spielend«? Wo steht das?

Es ist symptomatisch, daß man einerseits darauf beharrt,der Titel »Ein gleiches« sei nicht »deutungsbedürftig«, docheben diesen Titel ja im selben atemzug immerzu deutet,nämlich seinen angeblich ›eigentlichen‹ Sinn gegen denWortbestand behauptet.12 (Eine solche Paraphrasiermenta-lität sieht dann z.b. eine Vorwegnahme »des Gleichklangsvon Natur und Mensch, Dichter und Stimmung«13 − ob-

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wohl weder der Mensch noch die Natur noch ein Gleich-klang noch ein Dichter noch irgendeine »Stimmung« imGedicht vorkommen.) Doch auch, wer darauf beharrt, derTitel »Ein gleiches« ›besage‹ nichts weiter, als daß an dieserStelle ›eigentlich‹ die Überschrift »Wand(e)rers Nachtlied«zu denken sei, postuliert ›eigentlich gemeinte bedeutun-gen‹14, die er an die Stelle des vom autor definierten be-standes setzt. Dabei wäre solche Esoterik, die sich als Ver-nunft und alltägliche Natürlichkeit verkleidet (»Herme-neutik«), leicht zu vermeiden; man muß nur lesen, was da-steht: Wenn etwas auch (so) ist wie etwas anderes, dann istes diesem »gleich« – oder es geschieht »ein gleiches« mitbeiden Dingen (in gewisser Hinsicht). /auch/ ist keineswegsdasselbe wie /gleich/ und noch weniger dasselbe wie »Eingleiches«, aber deshalb gibt es keinerlei Grund, etwas »hinter«den Worten an eigentlicher absicht zu postulieren. Wennetwas »auch« wie etwas anderes ist oder wird, ist etwas anjenem diesem gleich – nicht mehr, nicht weniger. Daran istnichts Geheimnisvolles, im Gegenteil. Was dieser empirischebefund für das Verhältnis von Überschrift und Hauptkorpusund damit für die Poetik des Ganzen bedeutet, ist wiedereine andere frage. Daß Goethe darüber hinaus dem Scheinnach eine Konvention des 18. Jahrhunderts bediente, indem man öfters »Ein anderes« und ähnlich titelte, wennman Stücke gleicher Gattung oder Motivik in Sammlungeneinander zuordnete, ist ohnehin klar. Goethes Virtuositätist selbstverständlich auch und gerade in einer solchen nach-träglichen Titelgebung − im rahmen einer Schriftensamm-lung des berühmtesten Dichters der Epoche, immer schonmit blick auf die Nachwelt veranstaltet − eine akrobatikdes Scheins: insbesondere des Scheins der Einfachheit, Trans-parenz, Natürlichkeit.

Man hat sich auch deshalb angewöhnt, den Text als (Zwei-tes) Nachtlied des Wanderes zu kategorisieren, weil manmeint, es handele sich um ein Gedicht, das, sei es als rol-lengedicht oder als Gedicht über die rolle eines Wandern -

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den − auch da unterscheidet man ungerne −, die Erfahrun-gen oder (möglichen oder wirklichen) beobachtungen einesWanderers in nächtlicher Szenerie verarbeitet und eine artsangbarer Essenz bildet, die, eben weil sie Essenz ist, insGleichnishafte geht. Warum welche Worte weshalb eine Es-senz oder eine »poetische Verdichtung« bilden − was solltedenn »verdichtet« werden, etwas, das vor abfassung des Ge-dichtes bereitlag in der »Seele« des Dichters? − und nichtzum beispiel eine reduktion auf ein paar Stichworte oderSkizzenstriche, wie wir sie auch im alltag gebrauchen, umZeit zu sparen, und wo wir unterstellen, der adressat werdedas fehlende ohnehin selbst hinzudenken, wird ebenfallsnirgendwo erklärt.

Es ist eine denkbar gute Schule zur Wahrnehmung dieserKompositionskunst, die Gründe zu verstehen, weshalb Goe-the eben nicht schrieb: »Noch eines« oder »Ein Weiteres«,oder, wie er in ähnlichen Druck-fällen seines Werkes ge-schrieben hatte, »Ein anderes«, »Desgleichen« und auchnicht »Ein Gleiches« (das sich in manche ausgaben hinein-geschmuggelt hat), sondern eben genau dieses: »Ein glei-ches«, und das nur in diesem einen fall. »Ein gleiches«:dieser ausdruck ohne Subjekt und ohne Nomen ist keinWarenetikett, sondern eine hinzukomponierte Titelzeile –die irrungen und Wirrungen der rezeption sind der schönstebeweis dafür, wie durchkomponiert diese Zeile ist. Sie sinddas Produkt von Goethes Kalkül, über diesen subjektlosenausdruck wechselseitige Kontrafakturen, Negationen, bre-chungen in und mit beiden Texten herzustellen. Man ver-drängt es, aber bis heute tut man so, als wüßte man, obnun eher eine gleiche art zu dichten, eine identische oderähnliche Überschrift, eine identische oder ähnliche darge-stellte Sache, eine gleiche Sprechsituation oder Sprecher-person hinzuzudenken sein soll − und tut so, als ergäbensich durch die von Goethe Jahrzehnte nach der Gedich-tentstehung hinzukomponierten Titel nicht oft unvereinbarverschiedene Perspektiven.

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Niemand kann vom Haupttext her darauf schließen, wieGoethe ein Gedicht betiteln würde. Goethe umgekehrt hieltlange Zeit Titel für unnötig, das heißt, das Wissen darum,daß hier ein Wanderer als Zugeeigneter, als Wahrnehmenderoder Singender und die Nacht als Tageszeit hinzuzudenkenseien, hielt er für unnötig − oder für störend. Oder − unddafür spricht vieles − Goethe dachte den Text nicht als rol-lengedicht, als Darstellung eines Wanderers oder was auchimmer, sondern einfach: als Text. also als etwas, das seineeigenen Gesetze hat. Mithin: so eigengesetzlich ist, wie esseine reife Kunstanschauung immer gelehrt hat. Und ersetzte daher die aufforderung, in den Text die in diesemnicht vorkommenden Gegenstände Wanderer und Nachthineinzulesen und es nun nicht mehr als Gebet, sondern alslied zu hören, ganz bewußt von ›außen‹ hinzu, um in dieSprach- und Vorstellungsprozesse des rezipienten neue Ob-jekte einzubringen − und damit notwendigerweise einenKonflikt zwischen diesen hineinzulesenden Objekten unddem Text selbst zu produzieren. Diese aufforderung zumProjizieren,«Herauslesen« oder »Wiederfinden« von Dingen,Situationen, Gattungszugehörigkeiten, die im Text nichtvorkommen, hat er ausdrücklich als etwas gekennzeichnet,das in beiden fällen »gleich« zu vollziehen sei − also in iden-tischer und doch wieder nur ähnlicher Weise. Sein artisti-sches Kalkül zielt auf unsere reaktiven Substitutions- undVervollständigungsmechanismen, und zwar schon mit demausdruck »Ein gleiches« selbst. Dieser ist nur sinnvoll undmit dem Textkorpus verknüpfbar – das ist Empirie, keine»Deutung« −, wenn man sich ein »x« als gekennzeichnetesSubjekt dazudenkt, sei es als imaginären Gegenstand oderals Sachverhalt, sei es als Verweis auf den gedruckten Text,der dann »gleich« wie etwas anderes wäre. Der Titel ist vorjeder Deutungs-Option wesentlich vervollständigungsbe-dürftig, um sinnvoll zu werden, und er kann ebensogut zu»Ein gleiches Gedicht« wie zu »Ein gleiches Ereignis [imGedicht]« u. a. vervollständigt werden. bereits mit dem Ti-

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telvers arbeitet Goethe demnach über die durch ihn ausge-lösten Vervollständigungsreflexe mit der Spannung von Ver-balform, Eigenschaft und Gegenstand, aber auch von ab-strakten und konkreten Entitäten überhaupt.

Die Gedichte selbst betätigen ohnehin von den erstenSilben an unsere Vervollständigungsreflexe: »Der du …«setzt ganz offensichtlich eine vorhergehende Äußerung undidentifikation eines Gegenstandes voraus, der im Gedichtselbst nirgends genannt wird. andererseits kommt der imTitel annoncierte Wanderer weder in diesem noch im Schwe-stergedicht vor, »Natur« kommt nicht vor, die Nacht kommtnicht vor. Dagegen tritt im früheren »Wanderers Sturmlied«die Witterung ziemlich bühnenreif auf, während in »Jägersabendlied« wiederum der Jäger äußerst raffiniert ausgespartwird: berge kommen nicht vor − und wenn man fragte, in-wiefern es sich bei den Texten eigentlich um »lieder« han-delt, würde man einige Verlegenheiten verursachen − sofernman mehr meinte als die für jeden beliebigen Text der Weltzutreffende Eigenschaft, prinzipiell vertonbar« zu sein. Jeder,der einmal in Gedanken die ruckelnden, irregulären, fastdurchweg schwebenden rhythmen und verqueren Propor-tionen von »Über allen Gipfeln« im gewöhnlichen Sinnedes Wortes zu »singen« versuchte, wird in jene Verlegenheitkommen, die unbedingt zu dieser form von Kunst gehört.Wer diese Verlegenheit einmal durchlebt hat, wird die indi-vidualität des Textes, seine eigentümliche Mixtur aus Trans-parenz, Plastizität und Ungreifbarkeit und Disproportionum so inniger erfahren können.

Gesetzt, wir hätten uns eine Titelzeile des Sinnes »Nochein Nachtlied des Wanderers« anstelle von Goethes eigenemTitel »Ein gleiches« zu denken, so wüßten wir nicht, wiewir ihn mit dem Hauptkorpus von »Der du von dem Him-mel bist« in beziehung bringen sollten. Um das tun zu kön-nen, müßte man erst einmal eine praktikable Poetik desVerhältnisses der anderen Titelzeile »Wandrers Nachtlied«zum Hauptkorpus »Der du …« haben!

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beide Titel sind demnach hochgradig individuierte T i t e l v e r s e , integrale Teile der jeweiligen Gedichte unddamit, womöglich, Teile einer zweiteiligen Gesamtkomposi-tion. Es wird sich zeigen: Gerade das ›spontane‹ aufeinan-derprojizieren der beiden Titel und Gedichte, das die inter-preten durchweg vornahmen, obwohl die Textegrundverschiedenen poetischen ideen folgen, wurde vonGoethe genau einkalkuliert und benutzt.

Die regie über diese Projektionen ermöglicht insbesondereauch ein Verbergen des Naheliegendsten – die einfachstenfragen werden nicht gestellt, etwa: Kann man denn »alleGipfel« (sinnlich) wahrnehmen oder auch nur sich vorstel -len – alle berggipfel rund um die Erde, alle möglichen undalle wirklichen Gipfel? Wenn nicht, wie sind dann das Wahr-nehmbare, das Vorstellbare, das Erahnbare und das nur ab-strakt ›Denkbare‹ zueinander durch die Wortordnung insVerhältnis gesetzt? Was sollte man denn wahrnehmen odereben gerade nicht wahrnehmen, sondern imaginieren: einenraum, ein fluidum, eine beinahe-Person ›Die ruhe‹? Undwenn wir in diesem Sinne nicht wissen, was hier »ist«, woraufbezieht sich dann eigentlich »Über«? Wieso wird das docheigentlich so bedeutungslose »ist«, wenn wir nicht wissen,was ›dort oben‹ ist, so demonstrativ mit Majuskel an denZeilenkopf gerückt? ferner: Wer hat überhaupt irgend etwasdavon gesagt, daß hier Gipfel zu sehen oder als sichtbare vor-zustellen seien − an Wahrnehmungseigenschaften wird le-diglich, und auch das nur implizit (sofern »ruh’« in akusti-schem Sinne zu lesen wäre, was gleichfalls nirgends fixiertwird), das Hören und die innere oder äußere Empfindung(Spüren) erwähnt, nicht jedoch das Sehen. Wenn mannicht(s) sieht, es nur so scheint, als würde man »sehen«, wes-halb sind leser sich dann so sicher, daß es abend oder an-brechende Nacht ist? Und was heißt überhaupt wahrnehmen:sich beim lesen vorstellen, daß und wie eine andere Personim Gebirge wahrnehmen würde − oder jetzt, in actu währenddes lesens angeleitet werden, etwas wahrzunehmen?

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Schließlich: Warum sind sich die rezipienten so gewiß,daß die Verse unvergleichlich »anschaulich«, »lakonisch«und transparent seien, wo von alledem, was sie so selbstver-ständlich als das »Dargestellte« oder »ausgedrückte« emp-finden, schlichtweg nichts im Wortbestand vorkommt –oder vielmehr: wo doch das, was so selbstverständlich alsdas »Dargestellte« empfunden wird, gerade nicht dasteht?

»in den Wipfeln« ist nicht etwa kaum etwas zu spüren;es ist nur von dieser jetzigen, speziellen »Du«-instanz kaumetwas an x zu spüren. Die »ruh’« dagegen ist einfach ›dortoben‹, im Über-raum; ob man sie spüren kann, bleibt of -fen − das Komma nach »ruh’« läßt es als Option zu, schreibtes jedoch nicht vor. Daß man den Hauch »kaum« spürt,kann sodann bedeuten: eigentlich keinen, zumindest keinenabzählbar einen Hauch spüren können – und kann glei-chermaßen bedeuten: beinahe gar nicht spüren. Nurwiesowird hier davon so leichterhand gesprochen, als ob derHauch gegenwärtig sei? Man ist wohl, (beinahe) ohne etwaszu spüren, seiner anwesenheit gewiß − so wie man desruhe-Seins in einem ganz anderen, unmittelbareren Modusgewiß sein muß, um es so elementar herauszusagen. Zudem:Sowohl die Nicht-Wahrnehmbarkeit wie die Gerade-Noch-Wahrnehmbarkeit können ebenso erleichternd wie be -unruhigend, freudig wie bedauerlich sein – oder alles zu-sammen.

Man muß also nur sehr grundlegende und doch offenbarsehr verborgene Eigenschaften des Wortbestandes befra-gen – schon stößt man auf etwas, das im Gegensatz zu allenbiographischen anekdoten, zu allen Gefühlsbekundungen,allen Spekulationen über vermeintliche »aussagen« und»Naturanschauungen« den Weg zum Poetischen weist. Dieinkongruenz oder sogar Widersprüchlichkeit von Wortbe-stand und all den Dingen, die leser reaktiv als das wahr-nehmen, was »dargestellt« oder »gemeint« oder »ausge-drückt« oder anwesend oder »im« Text enthalten sei, ist einoder sogar der Schlüssel zu diesem wohl meistzitierten Ge-

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dicht deutscher Sprache. Die Gleichzeitigkeit von frappie-render Einfachheit, Transparenz, ›Direktheit‹ und dem Ge-fühl von »Tiefe« und Geheimnis geht zu erheblichen Teilenaus Goethes Kalkül, mit dem er solche inkongruenzen ein-gesetzt hat, hervor. Der leser ›sieht‹ nichts als lakonie undTransparenz, alles ist einfach und klar wie eine benutzer-oberfläche oder der visuelle Eindruck einer Gebirgsland-schaft, aber im Mit-Empfinden zeigt sich alles mögliche.»Magisch« nennt der leser das Gedicht, weil er im Wortbe-stand nichts erkennen kann, was denn diese geheimnisvollen,ursprungslosen Empfindungen eines »Plus-x« der scheinba-ren »lakonie« ausgelöst hat − und schreibt sie dem »verbor-genen Sinn« oder Gehalt des Gedichtes oder dem »uner-klärlichen Genie« des autors zu.

Diese Eigentümlichkeit war es vor allem, deretwegen mandas Gedicht viele Generationen lang als prototypische Ver-wirklichung des Dichterischen schlechthin empfunden hatund es in diesem Sinne »klassisch« genannt werden kann.»Klassisch« wäre die Weise, in der Goethe den leser nureinfachste Worte und Dinge »sehen« läßt, doch zugleich,indem er ihn nur diese benutzeroberfläche anschauen läßt,dessen Gefühle und Vorstellungenaktiviert und regiert.

Was man als »dargestellt« empfindet, obwohl es nicht da-steht, ist das Werk unserer alltäglichen Sprachverarbeitungs-mechanismen. Sie sind es, deretwegen man den Text Goethesersetzt und ihn kurzerhand »Wandrers Nachtlied« nennt,eine berglandschaft »im« Text »sieht« usf. − und nicht seltenauch gleich die Person Goethe selbst. Man geht gewissenanekdoten und legenden rund um die Entstehungsum-stände nach und will das Gedicht erschließen, indem manvermeintliche »Erfahrungen«, Wahrnehmungen und Natur-vorstellungen des Dichters postuliert, die im Text »ausge-drückt« würden. Seit der bergingenieur Johann ChristianMahr Goethe am 26. august 1831 noch einmal zur Hütteauf dem Kickelhahn begleitete15 und über diesen Gang mitdem berühmten Greis einen bericht verfaßte, »verbindet

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man mit Goethes Gedicht die Vorstellung vom greisen altenauf dem Kickelhahn, der voller Wehmut und Todesahnungin den anblick der abendlichen Natur versunken ist.«16Und weil man das tut, verbindet man indirekt mit demGedicht auch den Jüngling Goethe, der in einer legendegewordenen Wandersnacht die Verse aus der Hand der Naturund der Musen empfing.

Die rezeption des Gedichtes ist insofern ein einziger gro-ßer feldversuch, um das Verhältnis von alltäglichen Sprach-verarbeitungsmechanismen und Gedicht zu testen. Ähnlichwie friedrich bodenstedt in seinem »album deutscher Kunstund Dichtung«17 – manchmal naiven Herzens, manchmalzur »forschung« verklärt –, dachte und denkt man sich einbeobachterindividuum und eine illusionistische Nachtland-schaft zu den Worten hinzu, hat man tausendfach wie bo-denstedt einen schwebenden Mond über einer Kette vonberggipfeln »gesehen«18, einen Durchblick auf berggipfelin der hintergründigen Höhe mit Caspar-David-friedrich -schen baumumrankungen hinzugefühlt oder -vorgestellt (jenach Gusto mit geläufigen Vulva- und Höhlen-assoziationenbesetzt19), eine zugehörige Stimmung erfühlt –, und nichtselten die Person des Olympiers gleich mit. Unzählige illu-strationen, Souvernirs, Postkarten, Pilgerberichte vom Kik-kelhahn haben das eingeimpft – oder eben: nur bestätigt,was ohnehin spontan als »aussage« oder »Sinn« gefühltwurde und in geringen Variationen noch durch heutige for-schung gelehrt wird.

Es ist, als bestünde ein Text nicht aus dem, was auf demPapier steht, sondern viel eher aus dem, was man »hinter«oder »in« den Worten als »mitgeteilt« und damit als daste-hend empfindet − solche Gefäßmetaphern spielen eine er-hebliche rolle im konventionellen Umgang mit Texten.

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»Ergreifende Schlichtheit«

Die ohrwurmartige Popularität des Textes gründet also darin:rätselhafterweise ist ein Text, der elementar, »lakonisch«,aussagend, metaphernlos ist, dennoch hintergründig, tief,magisch aufs Ganze bezogen – die »ergreifende Schlichtheit«(franz Heyden) ist ein Topos der rezeption.20 »Schlichtheit«ist ein dehnbares und an sich ein gänzlich vorästhetischesWort. Schlicht kann eine Jugendstilvase, ein Zen-aquarell,Ciceros Prosa, eine Seite Kafkas sein, aber genauso ein be-schränktes Gemüt oder eine franziskanische Kutte. ZweierleiKriterien könnten aus dem Wort einen Terminus der Kunst-betrachtung machen. Erstens: Die das Poetische erzeugendenStrategien bleiben unsichtbar; daher erscheint die benut -zeroberfläche als Kombination ›natürlicher‹, ungeschmück -ter Einfachheit, frei von jeder Symbolik, Metaphorik, Dop-pelbelichtung. Zweitens: auch leichteste Einprägsamkeit istein wichtiger Teil einer poetischen Strategie des Verber-gens – die Verse sind schon ›erfaßt‹, bevor man überhaupthinschaut. Sie ›fallen ins auge‹, in Ohr und Sinn. in der»Vögelein«-Zeile beispielsweise läßt Goethe die einfältigeund volksliedhaft putzige Einprägsamkeit wie auf einemGrat tanzen, setzt sie bewußt der Gefahr der Selbstparodieaus, ohne sie ganz in die Selbstparodie umkippen zu lassen.Zu den meist parodierten Versen der deutschen Sprachemachte sie ihre Schlichtheit, die vermeintliche; sie provoziert,weil jedermann auch gegen seinen Willen die Verse »imOhr« behält und doch niemand sagen kann, was denn »hin-ter« ihnen steckt, das aus dem beinahe-Schlager etwas ganzanderes macht. Und so wurde in keiner sonstigen Zeile dieeminente poetische Konstruktion so vollständig übersehenwie in dieser.

Mehrheitsfähig dürfte noch die Charakteristik Herrmannaugust Korffs sein:

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Das Rätselhafte liegt deshalb darin, daß von einem soeinfachen Inhalte so wunderbare poetische Wirkungenauszugehen vermögen. […] Denn wie Goethe es hier sagt,ist es offenbar die einfachste Sache von der Welt, undman sollte glauben, es hätte das eigentlich jeder sagenkönnen. In Wahrheit hat es bis zu Goethe gedauert, daßdiese scheinbar so einfachen Worte, die sich bei genauererBetrachtung freilich als raffinierteste Kunst erweisen, tat-sächlich gefunden worden sind.21

Worin die »raffinierteste Kunst« und das bloß Scheinbarebestehen – das hat Korff so wenig wie die gesinnungsver-wandten leser und Kollegen je gezeigt.

Die Hamburger Goethe-ausgabe zitiert im Herausgeber-kommentar halbseitig eine offenbar als besonders treffendempfundene Charakterisierung aus der feder einer (wohl-reputierten) englischen Philologin: »ere is in it not a si-mile, not a metaphor, not a symbol. ree brief, simplestatements of fact are followed by a plain assertion for thefuture …«22 fast durchgängig spricht man noch heute da-von, »Über allen Gipfeln« sei zumindest eingangs meta-phernfrei – und absolut ausnahmslos spricht man von lako-nischen aussagen, von der Natürlichkeit, der Schlichtheit,der Sinnfälligkeit des Dargestellten – und beschwört gleich-zeitig, daß die »Größe« des Textes in einem »Plus-x« liege,die zur »aussage« oder dem »Dargestellten« oder der »be-deutung« hinzutrete. Dabei sollte dieses »Plus-x« in irgend-einer Weise etwas mit der »form« zu tun haben, mit »Kon-zentration«, »bündigkeit«, »Musikalität« – und gleichzeitigmit »Magie« oder »Geheimnis«, mit denen gewisse »Erfah-rungen«, »Stimmungen«, »intuitionen« oder »Visionen« o. ä.»ausgedrückt« oder »atmosphärische Ereignisse bildhaft be-schworen« würden. Nur: Wo soll die »form« denn sein?Manifest sind nichts als graphische Muster.

Wir werden sehen: Entscheidend ist, daß nichts »darge-stellt« wird, doch Goethe es ingeniös versteht, die Vorstel-

»Ergreifende Schlichtheit«22

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lungen und Gefühle des lesers zu regieren, während dieserglaubt, bloß zu lesen, was dasteht, ein paar »lakonische«benennungen. Es gehört zum Kalkül Goethes, den lesernicht merken zu lassen, daß er gerade nicht liest, was dasteht,sondern nur seine halb- oder ganz unbewußten Projektionen»sieht« und fühlt − die Gipfelkette, die Weite, die mystischeinnere Verbundenheit mit den Dingen, das Werden undVergehen.

Klischees des lyrischen, der Gestimmtheit, der Natur-fühlung wurden und werden aktiviert, doch fühlte manmindestens ebenso stark die unwiederholbar individuellenEigenheiten des »schlichten« Werkes, ein unwiederholbaresEnigma. Vergebens versuchte man, in den Vokalen /u/, /au/,dem ›hauchenden‹ /[H]auch/ den auslöser des ›unvergleich-lichen‹ magischen »Plus-x« zu entdecken. irgendwie scheinendie »laute« besonders und besonders unmittelbar zu wirken,doch man ist schier daran verzweifelt, ihnen eine konkrete»bedeutung« zuzuordnen.23 Ebenso fruchtlos wurde immerwieder behauptet, bestimmte rhythmische Module seien ir-gendwie bedeutsam − nur konnte man sich nie auf ihre»bedeutung« einigen; etwa darauf, daß die trochäischen bil-dungen die Nachtruhe »versinnlicht« hätten, während dak-tylische und jambische die »damit contrastierende Gefühls-aufregung« widerspiegeln sollen.24 Der heutige leser, obGymnasiast oder Pensionär, wird mit der forschung resi-gnieren und feststellen, die »rhythmische Gliederung« desGedichts sei so »mannigfaltig, daß eine Einteilung der Versein bestimmte Versfüße unmöglich durchzuführen ist« bzw.man »die rhythmische form des Gedichtes durch Einteilungin Takte überhaupt nicht richtig fassen kann«25 – wobei dieErstgenannten, sofern ihre Ohren empfindsam gebliebensind, sich durchaus darüber wundern dürften, daß ebendieselben forscher, die ihre resignation teilen, zum behufeder »analyse« dem Gedicht freimütig folgende »form« ge-ben: »Über allen Gipfeln ist ruh. [sic] / in allen Wipfelnspürest du / Kaum einen Hauch. [sic] / Die Vöglein [sic]

»Ergreifende Schlichtheit« 23