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Ruth Weiss Der jüdische Kreuzfahrer VAT

VAT Leseprobe "Der jüdische Kreuzfahrer"

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Leseprobe von Ruth Weiss neuem Roman "Der jüdische Kreuzfahrer"

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Page 1: VAT Leseprobe "Der jüdische Kreuzfahrer"

Ruth WeissDer jüdischeKreuzfahrer

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Ruth Weiss

DER JÜDISCHE KREUZFAHRER

Roman

Verlag André iele

Leseauszug

© VA

T Verlag Mainz

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w.vat-m

ainz.de

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© VAT Verlag André iele, 2014Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Sabine Krieger-Mattila, KönigswinterSatz: Felix Bartels, EberbachUmschlag: Jürgen Meyer, HamburgDruck: ANROP Ltd., JerusalemPrinted in Israel.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-95518-019-5

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Für meine Aschaffenburger Freunde

Ruth Weiss

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1084

1.Narrentag

Am frühen Morgen war alles in dichten Nebel gehüllt.Noch zogen die Nachtwächter mit ihren Laternen durchdie Stadt, doch in den meisten Häusern herrschte schonemsiges Treiben. Knechte und Mägde beeilten sich, in denHaushalten ihrer Herrschaften die nötigsten Dienste zuverrichten, denn dieser Tag gehörte ihnen, den niedrigstender Niedrigen, und sie wollten keine Minute vergeuden.Es war Fastnachtmontag, der 12. Februar im Jahr des Herrn1084.

Der weithin bekannte und beliebte Rabbi Isaak ben Ru-ben beeilte sich ebenfalls. Ein stattlicher Mann von zwei-undvierzig, dessen schwarzer Bart kaum von Silberfädendurchzogen war, die dunklen Augen klar und leuchtend,trotz seines unermüdlichen Studierens der Heiligen Schrif-ten. Er war sich wohl bewusst, dass dieser Montag kein nor-maler Tag war, und vor allem keiner, an dem sich ein Judein den Straßen sehen lassen sollte. Es würde Trubel herrschenund viel Durcheinander mit Lärm und Gekreisch. Wenndas gemeine Volk den einen oder anderen Becher Wein zuviel geleert hatte, wandte es sich nur zu oft in trunkenerAusgelassenheit gegen die jüdischen Nachbarn.

Trotzdem wollte er zur Stunde des Morgengebetes in derShul sein, er durfte sich nicht wie ein Feigling gebärden. Alseins der zwölf Mitglieder des Ältestenrats musste er den an-deren ein Vorbild sein und wie immer seinen Beitrag leisten,damit ein Minjan zustande kam. Mindestens zehn jüdischeMänner wurden benötigt, um einen vollständigen Gemeinde -gottesdienst abzuhalten.

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Am Eingang der Shul traf er auf Samuel ben Gideon,den wohl beleibtesten und vermögendsten Mann der Stadt,den König der Fernhandelskaufleute, dessen Geschäfts -verbindungen bis nach China reichten. Mit seinem scharfenVerstand und dem weiten Netz von Mischpoche und Ge-schäftsfreunden war Samuel am richtigen Platz: Magenza,wie die Juden die Stadt nannten, lag direkt gegenüber derMündung des Mains in den Rhein, von hier aus liefen dieSchiffsladungen mit bester Ware zu den Messen, vor allemins nahe Frankfurt.

Samuel, dessen Sohn Jehuda dem Rabbi einer der liebstenSchüler war, schlug wie dieser seinen Tallit auf und flüsterteIsaak zu, was auch der schon zufrieden festgestellt hatte:»Mehr Leute als Minjan!« Fast alle waren gekommen, selbstSaul ben Izak, der Älteste, der sich schwer auf die Schulterseines jüngsten Enkels stützte.

Trotzdem gingen sie nach dem Gebet eilig auseinander.Dies war kein Tag, an dem man gesellig zu einem Gesprächbeieinanderstand. Auf dem Nachhauseweg sah Isaak, dasssie sich bereits trafen, die Feiernden in ihren unsinnigen Ge-wändern, um ihr närrisches Spiel zu treiben, mit Umzügen,Gelächter, Getränken und derben Scherzen, den närrischenSprüchen. Alles war auf den Kopf gestellt, selbst die unterstenKlerikalen hatten heute ihren Tag, an dem sie mehr zu sagenhatten als alle gesalbten Bischöfe zusammen.

In einem Seitenweg der Schustergasse sah Isaak schwarzeGestalten an einem Brunnen versammelt, mit Teufelsmaskenund Peitschen, mit denen sie vermutlich die Kobolde undGeister des Winters vertreiben wollten, so wie die Mägdedie Spinnweben und den Schmutz des Winters aus Kistenund Kästen, Schränken und Ecken vertrieben. Vor allemwürden heute die Vorratskammern geleert für den Fest-schmaus vor der kommenden Fastenzeit. Ostern: das großeFest der Christen, dachte Isaak. Nicht einmal jeder Pfarrerwar sich bewusst, dass damals Jesus und seine Jünger nach

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Jerusalem gekommen waren, um mit ihren GlaubensbrüdernPessach zu feiern, das Fest des Auszugs aus der ägyptischenSklavenzeit. Die Römer, die das Königreich Juda besetztund zur römischen Provinz gemacht hatten, nahmen Jesusfest und kreuzigten ihn. Hatte der jüdische Hohepriesterden römischen Statthalter wirklich dazu überredet? Werkonnte das sagen, nach eintausend Jahren? Wo doch selbstdie Chronisten, die Jünger Jesu, die Geschichten erst nachvielen Jahrzehnten aufgeschrieben hatten. Die Wahrheit istdie, die man glaubt, sagte sich Isaak, Christen werden ewigglauben, wir haben ihren Erlöser ermordet und werden unsewig dafür bestrafen wollen.

Der Rabbi sah mit Genugtuung, dass die Tür seines Hau-ses sich öffnete und seine Frau Eva und die vierzehnjährigeHannah ihm mit dem kleinen Samson an der Hand ent -gegenkamen. Der Junge riss sich los, um den Abba zu be-grüßen. Er hob ihn mit beiden Händen hoch in die Luft,und Samson jauchzte freudig, während Eva ihrem geliebten,lebenslustigen Sohn stolz zulächelte.

Er begrüßte Hannah und seine Gattin, die sagte: »Mirischläft. Aber Samson wollte zu dir!« Miriam war SamsonsZwilling, die Dreieinhalbjährigen ein Geschenk des All-mächtigen, denn die Eltern hatten nicht erwartet, nachHannah noch einmal Nachwuchs zu bekommen. Der erst-geborene Sohn Abraham hatte sich soeben vermählt, undauch die zwei ältesten Töchter waren verheiratet und lebtennicht mehr zu Hause. Die Zwillinge waren sich verblüffendähnlich und gleichzeitig sehr verschieden, Samson wiss -begierig und vorlaut, Miri zufrieden und ruhig, stets demBruder die Führung überlassend.

»Beim Schreinermeister nebenan wird bald gefeiert, siehaben Bänke vor die Tür und in den Hof gestellt«, sagteHannah und nahm Isaak den kleinen Bruder aus den Armen.»Sie haben gestern gebacken, auch Haferküchlein, für dieVorbeiziehenden!«

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In Mainz mussten die eintausend Juden unter den insge-samt siebentausend Einwohnern nicht in einem eigenen Vier-tel leben, sondern durften neben und zwischen christlichenNachbarn wohnen. Trotzdem blieben sie eng zusammen inihrem Gebiet, das sich an das Handelsviertel zwischen Fischtorund Karmeliterkirche anschloss. Nur einige der ärmsten Judenwohnten am Stadtrand. Wir sind nun mal ein geselliges Volk,dachte der Rabbi, außerdem ist es sinnvoll, zur Sicherheit zu-sammen und auch in der Nähe der Synagoge zu sein.

»Ja, der Umzug wird hier bei uns vorbeikommen«, sagteEva und blickte besorgt in die noch leere Gasse, währendSamson voller Vorfreude rief: »Wir backen auch!« Sie gingenzusammen ins Haus und schlossen die Tür, nachdem Isaak,wie immer, mit der Hand die Mesusa, die kleine Kapsel mitdem Glaubensbekenntnis der Juden – Höre Israel, der EwigeIst Eins … – am Türpfosten berührt und die Finger geküssthatte.

»Hör zu«, sagte er ernst zu seinem kleinen Sohn. »Wirhaben bald unsere eigene Feier. Purim.« Er ergriff SamsonsHand und sprach weiter, obwohl er nicht wusste, ob seinKleiner, der ihm angestrengt mit großen Augen zuhörte,alles schon begreifen konnte: »Vor vielen, vielen Jahren lebtedas Volk der Juden im Reich der Perser. Der König war mitEsther, einer Jüdin verheiratet. Haman, ein Bösewicht, über-redete den König, die Juden in seine Macht zu geben, da ersie töten wollte. Doch der König erfuhr, dass er das Volkseiner Königin massakrieren wollte und ließ Haman hin-richten. Das Gesetz zur Ermordung der Juden konnte ernicht rückgängig machen! Aber er erlaubte den Juden, sichzu bewaffnen und gegen ihre Feinde zu kämpfen. Das tatensie zwei Tage lang, bis sie den Sieg errungen hatten. Denfeierten sie in der persischen Hauptstadt Susa. Und wirfeiern Purim jedes Jahr! Mit Verkleidung und Gesang, jaauch mit Trinken – und mit viel Lärm. Selbst in der Syn-agoge machen wir viel Lärm!«

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Danach fasten wir nicht, dachte er, das tun wir nur amVersöhnungstag, wenn wir den Herrn anflehen, unsere Sün-den zu vergeben, und wenn wir jeden, den wir beleidigt ha-ben, um Verzeihung bitten. Auch am Tisha B’Av fasten wir,am neunten Tag des Monats Av, an dem die Babylonier inJerusalem den ersten Tempel und fünfhundert Jahre späterdie Römer den zweiten Tempel zerstörten. Danach versklav-ten sie unsere religiösen und anderen Führer, der Rest wurdevertrieben und Juda wurde der Name unserer Feinde verlie-hen, der Pharisäer, sodass das Land nun Palästina hieß.

Samson zappelte unruhig an der Hand des Vaters undEva holte den tief in seinen Gedanken versunkenen Isaakwieder in die Gegenwart: »Einige der Schüler waren hier,aber ich hab sie sofort nach Hause geschickt – Jehuda hatden kleinen Simon zu seinen Eltern gebracht. Sie sollensich heute nicht auf der Straße blicken lassen.«

»Gut, meine Liebe.« Isaak wandte sich um und schrittden Gang entlang zu seiner Kammer, um sich seiner Arbeitzu widmen. Nein, heute war kein Tag zum Unterrichten.Nun hatte er Zeit für anderes. Er setzte sich an den Tischund griff nach einem Schreiben, das er sich zurechtgelegthatte. Der Oberrabbiner Jakob ben David hatte es ihm ge-geben. Es war vom Erzbischof von Speyer, Rüdiger vonHuzmann, auf Latein, der Sprache der Kirche, abgefasst,das dem einfachen Volk nicht geläufig war, und an die Main-zer Parnassim gerichtet. Die Gemeindeältesten in Wormshatten dasselbe Schreiben erhalten.

Der Erzbischof lud Juden ein, in seine Stadt zu ziehen,da er überzeugt war, eine große jüdische Gemeinde würdedas Ansehen von Speyer erheblich erhöhen, indem sie denHandel, vor allem den Fernhandel, vorantrieb. Er verspracherstaunliche Dinge, Privilegien und Rechte, die noch niezuvor eine Obrigkeit Juden im Reich gewährt hatte: Grund-besitz sowie Handelsfreiheit, das Recht, Waren ohne Ein-schränkungen an Christen zu verkaufen, mit Gold und Geld

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zu handeln, Christen als Knechte und Mägde anzustellenund, was fast unglaublich war, vor dem Gericht dasselbeRecht wie Christen zu haben, also Zeugen aufrufen zu kön-nen und einen Eid zu schwören. Darüber hinaus durftenStreitigkeiten zwischen Juden von jüdischen Richtern nachjüdischen Gesetzen geregelt werden. Juden würden in derInnenstadt wohnen können, wobei der Erzbischof sagte, erwerde um ihr Viertel herum eine Mauer ziehen, die ihnenvor dem gemeinen Volk Schutz böte.

Der Oberrabbiner hatte mit einem traurigen Lächeln ge-sagt: »Wir werden uns beraten müssen. Aus Nächstenliebelädt der Erzbischof uns nicht ein – eher aus Liebe zu unseremGeld. Er hat gesehen, wie tüchtig unsere Geschäftsleute sindund dass sie zum Wohlergehen von Mainz und Worms bei-tragen. Aber … er verspricht erstaunliche Dinge, das musstdu, das müsst ihr alle lesen.«

Rabbi Isaak wiegte bedächtig den Kopf. Er stimmte demOberrabbiner zu.

Ein Angebot, das zu erwägen war. Im Dorf Altspeyer leb-ten bereits einige Juden, das wusste Isaak. Der Erzbischofwollte den Dom von Speyer umbauen und zum prächtigstenim christlichen Abendland gestalten. König Heinrich IV.unterstützte dieses Vorhaben, da die Gebeine seiner Vor-fahren dort begraben lagen, und hatte Speyer bereits groß-zügige Geschenke gemacht. Aber um den Bauplan der hohenHerren zu verwirklichen, wurde noch viel mehr benötigt.Und woher sollten sie es nehmen, wenn nicht von den Ju-den? Dafür waren sie ihnen stets gut genug. Sie solltenschuften und sparen, damit die anderen sich dann bedienenkonnten. Obwohl Isaak zugeben musste, dass in diesem Fallder Erzbischof nicht einfach zugriff, sondern eine erheblicheGegenverpflichtung einging.

Rabbi Isaak bedachte, wie gut sich die jüdischen Ge-meinden im Rheinland entwickelt hatten. Man sagte, dorthätten Juden bereits vor der Entstehung der Kirche in Ein-

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tracht mit den anderen gewohnt. Schriftlich hatte es erstder Gelehrte Gerschon ben Jehuda belegt, der bis 1040 inMainz gelebt und über die Geldgeschäfte der Mainzer undWormser Juden auf der Kölner Messe geschrieben hatte.

Der Rabbi war kein Prophet, wie er manchmal lächelndzu den Schülern sagte. Deshalb konnte er nicht wissen,dass bald auch Speyer zusammen mit Mainz und Wormszu den größten jüdischen Gemeinden im Kaiserreich zählenwürde.

Die drei Städte wurden unter den Juden als »Schum« be-kannt, nach den ersten Buchstaben der hebräischen Namender drei Orte: Schin für Schpira (Speyer), Waw (U) für War-maisa, Mem für Magenza. Ihre Talmudschulen wurden ge-achtet. Die SchUM-Auslegung der Gesetze galt für alle deut-schen Juden.

Isaak wusste auch, dass der König im Streit lag mit demPapst, Gregor VII. Ihm tat der 1050 geborene Heinrich ei-gentlich leid. Er lächelte, als er sich an eine ungewöhnlicheBegegnung erinnerte:

Spät an einem Purim-Abend, an dem er etwas zu viel ge-feiert hatte, war er durch die Straßen gelaufen – obwohl esbei Strafe verboten war. An der nahen Kirche war er beinahmit einer breiten Gestalt zusammengestoßen. Diese ent-puppte sich als Mönch, der ihn brüderlich umfasste, umnicht umzufallen. Auch Bruder Lazarus, der von seinemAbt entsandt worden war, hatte dem Trank des Bacchus inbeachtlichem Maße zugesprochen. Fast lallend lud er denJuden ein, in seiner Unterkunft, einer kleinen Kammer hin-ter der Kirche, ein Glas mit ihm zu genießen – was ebenfallsstreng verboten war. Dabei amüsierten sich die ungleichenBekannten vortrefflich.

»Heinrich hat’s nicht leicht gehabt«, erklärte der Mönch.»Nach dem Tod des Vaters ist er als unmündiger Königunter der Regentschaft der willensstarken Mutter und demungeliebten Erzbischof als Ratgeber aufgewachsen. Man

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sagt …«, ein Rülpsen verschluckte, was man sagte. »Heinrichhasste ihn. Einer, der dabei war, erzählte, der König sei nachder Zeremonie, die ihn als Fünfzehnjährigen mündig er-klärte, dem Erzbischof an die Kehle gesprungen. Er musstevon einigen Edelleuten zurückgerissen werden.« Ein neuerRülpser.

»Man sagt auch viel über den Lebenswandel des hohenHerrn«, warf der Rabbi ein. Er wusste, der junge Könighatte sich seine Braut nicht aussuchen können. Das wareben üblich. Auch bei Juden. Heinrich liebte seine Königinnicht.

»Stimmt! Er lebt anders, als man von ihm erwartet hat.«Der Mönch stierte in den Krug und stellte fest, dass ernichts Flüssiges mehr enthielt.

Er fuhr fort: »Außerdem hatten die großen Fürsten demunmündigen König nur unter der Bedingung die Treue geschworen, dass er ein guter und gerechter König werde!Nein, kein Wunder, dass er dieser Forderung trotzte. Unddass die Fürsten sich nun zum Teil gegen ihn auflehntenund einen König ihrer Wahl haben wollten… Ach was! Esgeht um Macht.«

Ob es dem frommen Bruder später leid tat, mit einemJuden getrunken und geredet zu haben? Isaak wusste esnicht. Er wusste auch nicht, wie er später in sein Haus gekommen war. Er war mit einem dicken Kopf in seinerTageskleidung aufgewacht, und bis zum Abend hatte nie-mand gewagt, ihn anzusprechen. Er selbst hatte nie einWort über diese Nacht verloren.

Der Mönch hat Recht behalten, sagte er sich jetzt: Esging um Macht. Ein Kampf zwischen kirchlicher und welt-licher Herrschaft. Die Fürsten wollten nicht, dass der Königihnen befehlen konnte, was sie zu tun und zu lassen hatten.Der König wiederum wollte nicht nur die Fürsten beherr-schen, sondern auch die Kirche. Dagegen sträubte sich derPapst. Verständlich war das alles schon.

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Isaak durchsuchte einige Schriftstücke und fand endlichdie Abschrift von Heinrichs Anklage gegen den Papst: »Ich,Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir mit allenmeinen Bischöfen: Steige herab, steige herab, du auf ewigzu Verdammender.« Kein Wunder, dass der Papst danachden König mit dem Bann belegte, was den erschreckenmusste, denn aus der Kirche ausgeschlossen zu sein, soglaubten die Christen, bedeutete, ins Fegefeuer zu kommen.Diesmal hatte der Papst gewonnen, denn die Fürsten stellteneinen Gegenkönig auf, sodass Heinrich IV. vor sieben Jahrendem Papst nach Canossa nachreisen musste, um ihn demütigzu bitten, ihn wieder in die Kirche aufzunehmen.

Die andauernden Machtkämpfe hatten Europa verunsi-chert. Deswegen war es für die Juden als gebeutelte Min-derheit wichtig, das Richtige zu tun. Die Gemeindeältestenmussten über den Brief des Speyrer Erzbischofs diskutieren.Im September 1009 hatte der Fatimiden-Kalif die Grabes-kirche auf dem Tempelberg in Jerusalem geplündert unddas Felsengrab Jesu zerstört, eine irrsinnige Tat. Im gesamtenReich der Fatimiden wurden danach Christen diskriminiert.Christliche Symbole und Feiertage wurden verboten. Chris -ten mussten bestimmte Gürtel und schwarze Kopfbedeckun-gen tragen, die sie als Verfolgte erkennbar machten.

Im Abendland war die Empörung über die Schändungdes Heiligen Grabes groß. Es kam darauf zu Verfolgungenvon Juden – aberwitzig, dass Juden stellvertretend für Mus-lime bestraft wurden! Aus Mainz wurden Juden vertrieben,nachdem man verlangt hatte, sie sollten sich taufen lassen.Einige wenige stimmten der Taufe zu, die Mehrheit, darunterIsaaks Vater und Großvater, floh aus der Stadt. Nach einpaar Jahren durften sie zurückkommen, man hatte gemerkt,dass sie in der Wirtschaft fehlten. Aber sicher hatten dieRückkehrer sich nicht gefühlt. Das konnte keine jüdischeGemeinde. Sollte es in Speyer wirklich anders sein? Daseben war die Frage, die schwer zu beantworten war. Nach-

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denklich legte der Rabbi den Brief beiseite. Morgen würdensie darüber beraten können.

2.Der Graf

Wie versprochen, wurde gekocht, gebacken, genäht und gelacht. Dabei hatte Eva die Hilfe von Dinah – einer Verwandten von Isaak, deren Eltern froh gewesen waren,als Eva sie als Magd in ihren Haushalt aufgenommen hatte.Hannah hatte gerade den Zwillingen ihre Kronen aufgesetzt,zwei Reifen, die sie mit Spänen aus der Werkstatt des Nach-barn gebastelt hatte. Miri sollte als Königin Esther, Samsonals König Ahasverus verkleidet werden.

Kaum hatte Samson die Krone auf den wirren Locken,als er rief: »Ich bin der König!« Zu seinem Leidwesen wardie Tür zur Kammer seines Abba verschlossen. Samsonwusste, dass er dann nicht stören durfte. Er lief zurück undmerkte, dass die Vordertür etwas offen stand. Neugierigstieß er sie weiter auf und staunte, als er das Treiben in derGasse sah.

Gerade kam eine wilde Horde vorbei, maskierte Men-schen in merkwürdigen, bunten Kostümen, einige trugenStöcke, andere Peitschen und Ruten, mehrere hatten auchKrüge dabei. Das Geschrei erschreckte den Knaben, er wolltezurückweichen, als ihn eine Hexe mit ellenlanger Nase undwirren Haaren erblickte.

»Erlauchter König!«, schrie sie, »ein Tänzchen gefällig?«Und ehe Samson weglaufen konnte, hatte sie blitzschnelleine seiner kleinen Hände ergriffen und ihn aus dem Einganggezogen. Eine zweite Hexe, ein Teufel und zwei Koboldeumtanzten grölend das ungleiche Paar.

Ein Laienbruder in schmutziger, brauner Kutte, der sichdas Gesicht halb rot, halb schwarz bemalt hatte und Arm in

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Arm mit einem Dämon lief, fasste die Hexe um die Hüfteund schrie: »Was soll der Spuk? Was willst du mit dem Ju-denkind?!«

»Tanzen!«, brüllte sie zurück und herrschte Samson, dersich nun wehrte und losreißen wollte, an: »He, Hübscher, soschnell entkommst du mir nicht!« Sie erblickte einen Krugin den Händen des Dämons, riss ihn an sich, tauchte dieHand in das Nass und grölte: »Was ich will mit dem Juden-kind? Was man mit allen tun soll! Ich … ich taufe es!«

Die Maskierten waren zum Teil weitergezogen, zum Teilgeblieben, um den Spaß mitzumachen. Der Menge gefieldas Spektakel, die Leute schrien vergnügt: »Ja! Ja! Tauf ihn!Tauf ihn!«

Die Hexe ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie warf ih-ren Besen zur Seite, tauchte die Hand noch mal in denKrug und rief: »Hört, Ihr Herren, lasst’s euch sagen – ichtaufe dich … im wahren Glauben … im Namen desHerrn!«

»Im Namen des Herrn, Amen!«, schrien die anderen zu-rück.

Die Hexe nahm ihren Besen, ohne Samson loszulassen,und der Laienbruder verkündete: »Zur Kirche! Wir gebendas Kind der Kirche!«

Auch das gefiel der Menge. Als Samson sich weiter wehrteund nach der Mame schrie, hob ihn der Dämon auf, hieltihn fest und lief mit der Hexe den anderen voraus. ZweiBuben hatten den Ruf gehört und rannten zusammen zurKirche, um dem Pfarrer Bescheid zu sagen.

Im Haus hatte man zwar das Gekreisch gehört, ahnteaber nicht, dass Samson die Ursache dafür war. Erst als dasKind laut brüllte, erkannte Eva die Stimme ihres Sohnesund lief auf die Straße. Entsetzt sah sie Samson in denArmen eines Dämons und rannte dem Zug schreiend hin-terher. Die zweite Hexe, die sich ärgerte, nicht wie die andereim Mittelpunkt zu stehen, versetzte der Jüdin einen heftigen

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Schlag. Eva wurde schwarz vor Augen, sie konnte sich nir-gendwo festhalten und schwankte. Ein zweiter Schlag ließsie bewusstlos umsinken. Isaak, von Hannah alarmiert,stürmte aus dem Haus, hob seine Frau auf und brachte siemithilfe der jammernden Magd in Sicherheit. Es dauerteeine Weile, bis er verstand, was Dinah ihm zu sagen ver-suchte: »Eva ist rausgelaufen, weil der Pöbel Samson fortge-schleppt hat.« Verzweifelt überließ der Rabbi Eva den Frauenund rannte los, als ginge es um sein Leben.

Die grölende Meute hatte inzwischen die Kirche erreicht,wo der Pfarrer vor dem Eingang auf der obersten Stufestand. Der Dämon hielt ihm das Kind entgegen und sagtestolz: »Der ist der Kirche!«

Der Pfarrer zögerte. Er hatte schon gehört, was geschehenwar und wusste nun nicht, wie er sich verhalten sollte. Waswürde der Bischof sagen? Würde er sich empören, weil derheilige Akt der Taufe von diesen betrunkenen Hörigen ent-würdigt wurde? Oder würde er gutheißen, dass ein Jude ge-tauft wurde? Er würde das herausfinden müssen.

»Gebt mir das Kind«, forderte er schließlich. »Und gehtin Frieden.«

Noch ehe er die Arme ausstrecken konnte, sah er, dassder Mob sich von ihm abgewandt hatte. Die Leute hattenetwas gehört, was der Pfarrer erst jetzt bemerkte: das Stamp-fen von Pferdehufen. Ein mächtiger Hengst bahnte sich ei-nen Weg durch die Menge, hinter ihm tauchten drei weiterePferde auf. »Was gibt es?«, fragte mit dröhnender Stimmeder erste Reiter, dessen Reisemantel und pelzgesäumter Hutden Herrn von Adel verrieten.

»Ein Kind der Kirche!«, wiederholte der Dämon. »Wirhaben der Kirche ein Judenkind vermacht!«

»Und getauft!«, fügte die Hexe stolz hinzu. »Ich hab ihnim Namen …«

»Sei still«, herrschte der Pfarrer sie an. »Du lästerst denHerrn!«

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»Getauft?« Der Adlige zog nachdenklich die Stirn in Fal-ten.

August von Raabe stammte aus Sachsen, kannte die Städteam Rhein aber schon seit seiner Kindheit und besuchte sieoft und gern. Sein Vater hatte ihn als Kind einem rheinischenFürsten übergeben, an dessen Hof er dann aufgewachsenwar. Die ersten Jahre hatte er als Page gedient, später war erzum Knappen ausgebildet worden. Zur Zeit der Sachsen-kriege zwischen König Heinrich IV. und den Sachsenfürstenwar er im Oktober 1080 zum Ritter geschlagen worden,vor der Schlacht, in der Rudolf von Rheinfelden, ein Ge-genkönig zu Heinrich, seine Hand und kurz danach seinLeben verlor. Seitdem verwaltete von Raabe sein Lehen undhielt sich aus der Politik heraus.

August war stets auf sein Wohl bedacht. Er überlegte, obes für ihn von Vorteil sein könnte, der Kirche ein Judenkindzu geben. Er könnte es auch auf seiner Burg selbst zu einemguten Christen erziehen. Jedenfalls sollte man ein Geschenknicht ablehnen. »Nimm ihn!«, befahl er dem Ältesten seinesGefolges, der sofort sein Pferd zu dem Dämon bewegte undihm Samson aus den Armen riss.

Nun hatte Isaak die Menge endlich erreicht und bahntesich einen Weg zu den Reitern. Samson streckte die Ärmchenaus, aber sein Schrei nach dem Abba ging im Lärm unter.»Mein Sohn! Herr, gebt mir meinen Sohn!«, rief Isaak.

»Ein Christ hat nichts mit einem Juden zu tun!«, sagtevon Raabe verächtlich und zog an den Zügeln, um denKirchplatz zu verlassen.

»Er ist ein Jude! Er ist mein Sohn!«Von Raabe sagte ruhig: »Das war er. Nun ist er es nicht

mehr.« Dann setzte er sein Pferd in Trab.Wie auf Kommando erhoben die zwei Hexen ihre Besen

und schlugen auf Isaak ein. Auch andere fanden Spaß daran,sodass Rabbi Isaak sich nicht lange wehren konnte und wiezuvor seine Frau bewusstlos in die Knie sank. Das Letzte,

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was er sah, war eine Pferdedecke und darauf einen Greif,dessen Flügel ihn erschreckten.

3.Der Novize

Auf einer breiten Felsenplatte hoch über dem lieblichen Ne -ckartal lag das Kloster des Heiligen Antonius. Die Bewohnerder Dörfer ringsum waren glücklich, es in ihrer Nähe zu ha-ben. Sie besuchten zwar für gewöhnlich nicht die Kirche, dieüber die Klostermauer hinausragte, dafür war der Weg nachoben zu beschwerlich. Doch mehrere Wohlhabende hatten,wie es damals üblich war, vor ihrem Ableben dem Kloster irdische Güter vermacht, um sich den Weg ins Himmelreichzu ebnen, darunter auch einige Äcker und Obstgärten. Des-halb arbeiteten stets Brüder am Abhang oder im Tal und er-freuten viele mit ihrem Gesang. Der Abt hatte den Mönchen,die Feldarbeit verrichteten, Dispens von einigen der siebenGebetszeiten erteilt. Also beugten sie zu diesen Stunden drau-ßen die Knie und sangen zusammen ihre Gesänge. Im Klostergab es um zwei Uhr morgens die Vigilien – den Nachtgottes-dienst –, bei Sonnenaufgang die Laudes – den Morgengot-tesdienst –, danach die Gebete zur Prim, Terz, Sext, Non, gefolgt von der Vesper und zuletzt vom Komplet. Danach,wenn die Mönche sich in das Dormitorium zum Schlafenzurückzogen, herrschte Redeverbot.

Fünf Monate nach Ostern sandte Petrus von Stein nachBruder Lukas. Der begab sich so schnell er konnte zumHaus des Abtes, wo man ihn zum Klostergarten schickte.Hier fand der etwas atemlose Lukas seinen Abt, einen un-tersetzten, stämmigen Mann, der aus einem alten Adelsge-schlecht stammte, jedoch mehr wie ein Bauer denn wie einAristokrat wirkte. Er studierte die kränklich wirkenden Blät-ter eines Rosenstrauchs. Als der Bruder sich verbeugte, fragte

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er ohne den Blick zu heben: »Wie geht es mit unseremjüngsten Novizen? Bemüht er sich, die Regeln des Hauseszu befolgen?«

Lukas, der für die neuen Brüder verantwortlich war undsie alle liebte, besonders aber die kleinsten, die manchmalsogar als Säuglinge der Obhut der Kirche übergeben wurden,bedrückte es, wenn er einen seiner Lieblinge nicht lobenkonnte. »Ich tue, was ich kann, mein Herr!«

»Das war nicht meine Frage. Tut er, was er kann?«»Julian ist ein liebes Kind«, antwortete Lukas traurig,

»Aber er vermisst seine … sein Zuhause.« Mame und Abba,manchmal auch Miri, sagt er, wenn er weint, was oft derFall ist, dachte der Bruder. Er selbst hatte sich glücklich ge-fühlt, als er als Postulant, dann als Bruder, in diese Gemein-schaft aufgenommen wurde. Ein Glück, für das er nichtjede Stunde, sondern jede Minute Gott dankte. Als Sohneiner Magd, die in einem Pfarrhaus gearbeitet hatte, undeines unbekannten Vaters – von dem die Dorfbewohnersagten, der Pfarrer wüsste wohl am besten, auf welchen Na-men er hörte – hatte Lukas Demut mit der Muttermilchaufgesogen, Demut – keine Liebe. Es schmerzte ihn, dassdie Eltern ein Kind, das sie so liebte, wie Julian es tat, derKirche gegeben hatten. Er war wohl wie die meisten Novizenein zweiter oder dritter Sohn, der nichts erben würde. Siehatten das Beste für ihr Kind gewollt. Nun musste das Kindsich einordnen, es würde die Regeln des Klosters verinner-lichen, würde seine Pflichten kennenlernen, um zu wissen,dass das Gebet an erster Stelle stand, dass dann arbeitenwichtig war, und dann noch das Lesen.

»Hier ist sein Zuhause«, sagte der Abt streng. »Also, ver-steht er, dass er nicht in den Gängen umherrennen kann?Dass beim Essen Schweigen herrschen muss? Dass er lernenmuss, dem Herrn gehorsam und in Liebe zu folgen?«

Ein Wortschwall brach aus Lukas heraus: »Er ist andersals die anderen, er ist – er hat wohl viel Freiheit gehabt.

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Manchmal spricht er in fremder Sprache … er ist lieb undversucht zu tun, was ich verlange, aber … und dann …nachts schreit er oft im Schlaf und erschreckt die anderen,sodass ich ihn wie die Allerkleinsten in meiner Zelle aufden Strohsack bette.« In Sankt Antonius hatten Mönchemit bestimmten Aufgaben eigene Zellen, so auch BruderLukas, der Tag und Nacht in der Nähe seiner Schützlingesein musste.

»Hm.« Der Abt überlegte, was er tun könnte. Er hattegehofft, dass fünf Monate genug waren, um das Kind ge-fügig zu machen. Das schien nicht der Fall zu sein. Erwürde mit dem Novizenmeister reden müssen, um eineLösung zu finden. Doch auch dem konnte er nicht verra-ten, was in der Nacht nach Fastnachtmontag geschehenwar, als nach Komplet ein ihm unbekannter Geistlichererschöpft nach einem langen Ritt eingetroffen war, dasschlafende Kind übergeben und erklärt hatte, der Bischofwisse darüber Bescheid.

Abt Petrus rief sich die Ereignisse dieser Nacht ins Ge-dächtnis. Als er die Decke zurückgeschlagen und das nackteKind betrachtet hatte, hatte er gedacht, auch ich weiß nunBescheid, und mit gerunzelter Stirn gefragt: »Ist er ge-tauft?«

Der fremde Geistliche hatte genickt. »Zweimal. Das ersteMal …« Es folgte eine wegwerfende Geste. »Ich taufte ihnJulian, in Gegenwart des Herren, der ihn – beschützt hatan jenem Fastnachtmontag.« Das sagte dem Abt wenigstens,dass er zuvor geraubt worden war, wahrscheinlich von einerübermütigen Gruppe von Narren, die ihn im Scherz tauften.Nur: Für die Kirche war auch solche eine Taufe kein Scherz.Der Adlige hatte das Richtige getan. Das Kind sollte vorerstin Obhut der Kirche bleiben. Vielleicht für immer.

Der Abt tauchte aus seinen Gedanken auf und wollteLukas schon wegschicken, als ihm etwas in den Sinn kam,was der Bruder gesagt hatte. »Wie war das?«

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Verwundert wiederholte Lukas: »Ich sage, er kann lesen,Buchstaben und Wörter, Vater!«

Ein zweites Stutzen. Er kann lesen? Natürlich. Die Judenkonnten lesen, schreiben und rechnen. Im Gegensatz zumRest der Bevölkerung. Sicher lernten es ihre Kinder sehrfrüh. War das nicht Grund genug, dass das Volk sie fürchtete,mit ihren Büchern und diesen fremden Gebräuchen? DasVolk des Teufels. Und der Knabe sprach manchmal hebrä-isch. Vielleicht aus Trotz? Eine Sprache, die der Abt be-herrschte. So wusste er, dass sein Titel »Abt« von abba, Vater,hergeleitet war.

»Der Novizenmeister wird von nun an für Julian ver-antwortlich sein«, erklärte Petrus mit mildem Ton, denner war sich sicher, dass die Entscheidung Bruder Lukaskränken würde. »Er soll weiter lesen lernen, mit den Fünf-jährigen.«

Aber mit lateinischen Buchstaben, nicht mit dem hebräi-schen Aleph Bet. Vielleicht hatte er beides gelernt? Jedenfallswürde ihn das gefügiger machen, wenn er Spaß am Lernenhatte.

Lukas entfernte sich. Er bedauerte den Beschluss seinesHerrn, und doch verstand er ihn. Er war in einem Dorfaufgewachsen und wusste, wie man Tiere zahm machte.Sie wollten Julians Willen brechen! Würde es gelingen?Er war anders, dieser Novize. Und nicht nur, weil er be-schnitten war, wahrscheinlich wegen einer Infektion, dasgeschah öfters. Er war eben anders. Julian war klug, seineschwarzen Augen sahen mehr als die der Älteren. Er würdedie Schule absolvieren, dann ein Studium, und Priesterwerden. Nicht wie er, Lukas, der nie einen höheren Rangerreichen würde.

In der Nacht konnte Lukas nicht schlafen. Deshalb schlicher am folgenden Tag in der Ruhestunde der Kleinen in denSchreibsaal, in dem die Brüder Texte kopierten. Lukaskonnte mit einer Feder auf Pergament, auch mit einem

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Griffel auf eine Wachstafel langsam schreiben. Er wusste,wo die Federn und wo die Pergamente aufgehoben wurden.Er betete, dass Gott ihm verzeihen würde und begann zuschreiben: »Ich, Lukas, erhielt am Morgen vor Aschermitt-woch im Jahr unseres Herrn 1084 …« Er hatte sich vor -genommen, alles aufzuschreiben, was er über Julian wusste.Eines Tages, wenn der Jüngling das Gelübde geschworenhatte, würde er ihm die Aufzeichnungen überreichen. Jederhatte das Recht zu wissen, woher er stammt.

4.Der Umzug

Im selben Monat, in dem Julian zum ersten Mal in der No-vizenschule saß – allein, wie die Regel befahl, denn privaterKontakt mit anderen war verboten –, erschien beim erstenMorgenlicht am Tor von Mainz eine kleine Gruppe, diewünschte, die Stadt zu verlassen. Der Wächter blinzelte, alser sie betrachtete. Juden. Ein Mann mit einem schwarzen,von vielen Silbersträhnen durchzogenen Bart und ein Weibmit roten Augen und starrem Blick, zwei Mädchen, eins ge-tragen von dem älteren, sowie eine Magd. Dass die Silber-strähnen erst in den letzten Monaten im Bart des Manneserschienen waren und dass die Frau noch nicht lange gebeugtging, konnte der Torhüter nicht wissen, noch würde er eswissen wollen. Für ihn war anderes Silber wichtig, nämlichdie silbernen Münzen in einem kleinen Beutel, den der Mannin seiner Hand gehalten hatte und der nun in seinem Wamsverschwand. Er warf einen misstrauischen Blick auf die Pack-esel, sodass der Mann erklärte, er hätte eine Tochter inWorms, die in den Wehen läge, was der Wahrheit entsprach.Weniger nahe der Wahrheit waren seine weiteren Erklärun-gen, dass seine Frau als Hebamme der Tochter helfen wollteund dass die Esel Geschenke trugen.

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Der Wächter ließ sie ziehen, das Beutelchen war schwergenug für ein wenig Großmut. Außerdem bedeutete es einigeJuden weniger in der Stadt und das war nur gut.

Nach drei Stunden erreichte die kleine Gruppe ein Wirts-haus, in dem Isaaks ältester Sohn Abraham mit Pferden undzwei christlichen Knechten auf sie wartete. Der Erzbischofvon Speyer hatte sein Wort gehalten und den Juden die ver-sprochenen Privilegien eingeräumt.

Trotzdem zog Rabbi Isaak ungern nach Speyer, aber erglaubte, es der Familie zu schulden. Vor allem Hannah, dennSamuel ben Gideon, Jehudas Vater, hatte ihn formell gebeten,ein Schidduch zwischen Jehuda und Hannah zu besprechen.Die beiden waren seit ihrer Kindheit befreundet, und Isaakwusste, dass Hannah nie einen anderen Gatten gewünschthätte. Er hatte befürchtet, dass Samuel seinem Sohn eineder Töchter seiner Geschäftsfreunde aussuchen würde, derenMitgift viel größer wäre als alles, was er Hannah gebenkönnte. Aber als er Samuel seine Sorgen gestanden hatte,hatte dieser schallend gelacht und gesagt, Geld hätte Jehudagenug. Was er brauche, sei eine Perle unter den Frauen unddie, so hatte er gesagt, hätte er in Rabbi Isaaks Haus gefunden.Nun wollte er dem verehrten Rabbi ein förmliches Angebotfür die Hand seiner Tochter machen.

Das hatte Isaak mit Freude angenommen. Nun war Jehudanach Speyer gezogen, wo er die Geschäfte des Vaters leitete.In ein oder zwei Jahren würden die jungen Leute heiraten.Es war richtig, dass die Braut in derselben Stadt lebte wie ihrVerlobter.

Isaak wäre am liebsten dort geblieben, wo Samson entführtworden war, er hatte noch immer die Hoffnung, dass er ihnausfindig machen und zurückholen könnte. Er selbst wardamals – vor fünf Monaten – nach Hause getragen worden,nachdem Hannah ihn gefunden hatte. Erst nach vier Wochenliebevoller Pflege durch Hannah und Dinah hatte er sichwieder erholt. Selbst Miri war mit Krügen voll Wasser und

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Aufgaben, die ihr die Älteren übertragen hatten, eifrig hinund her gelaufen.

Der Rabbi konnte sich bald wieder um seine Schülerkümmern. Doch er war nicht mit dem Herzen dabei, eswar ihm unmöglich, Samsons Schicksal zu vergessen odersich keine Sorgen darum zu machen, wie es ihm erging, obman ihn gut behandelte. Außerdem bangte er um Eva, dienicht völlig genesen war. Sie war bereits nach zehn Tagenaufgestanden, hatte am selben Tag einen Weinkrampf be-kommen und geschrien, dass sie an allem schuld sei, siehätte sofort nach dem Kind sehen müssen, als das Gebrüllauf der Straße begonnen hatte. Nichts und niemand konn -te sie trösten. Danach war sie in Trauer versunken, war apathisch geworden, ihr Verhalten hatte sich geändert, siewurde träge und bewegte sich wie eine alte Frau. Nichtskonnte sie aufheitern, sie redete kaum, vernachlässigte sichselbst und musste von Hannah immer wieder an mancheserinnert werden. Das Mädchen hatte viele der Haushalts-pflichten übernommen. Vor allem versuchte sie, der kleinenMiri die Mutter zu ersetzen. Die Kleine war traurig undverwirrt, sie verstand nicht, wo der Bruder geblieben war;sie waren stets zusammen gewesen, er war ihr Halt, nachder Mame und dem Abba, vielleicht sogar noch vor ihnen!Samson besaß ihr ganzes Vertrauen und ihre Liebe. Miriwar immer ein ruhiges Kind gewesen, das sich selten auf-lehnte und nie beschwerte, aber jetzt wurde sie ganz stillund in sich gekehrt. Nur Hannah gelang es, sie zum Redenund manchmal sogar zum Singen zu bewegen.

Isaak hatte Grund, sich Sorgen um seine Frau zu machen.Der Arzt Saul, dem er am meisten vertraute, war hilflos, erhatte zwar einen Trank verordnet, den er aus einer Heil-pflanze zubereitete, konnte damit aber keine Besserung be-wirken. »Wir wissen nicht, was im Kopf vorgeht«, hatte erbekümmert gesagt. »Oder in der Seele.« Saul konnte auchnicht sagen, wie viel dem Schlag zuzurechnen war, den Eva

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erhalten hatte, ob diese Verletzung etwas im Kopf zerstörthatte oder ob alles auf dem Kummer wegen Samsons Ent-führung beruhte.

Eva schien wie eine Schlafwandelnde durch den Tag zugehen. Manchmal sagte sich Isaak, dass sie in einer Weltlebte, in der er keinen Platz hatte. Es war ihm, als hätte ernicht nur einen Sohn, sondern auch seine liebende Gattinverloren.

Dabei hatte er, genau wie die Kehille, alles getan, umSamson zu finden. Isaak wusste nicht, ob der Adlige dasKind behalten oder der Pfarrer die Verantwortung über-nommen hatte. Bittbrief auf Bittbrief war verfasst und ge-sendet worden, an die Stadtoberen, den Erzbischof und an-dere. Der benachbarte Schreinermeister, der Erste in seinemGewerbe, versprach, ausfindig zu machen, was mit Samsongeschehen war, doch auch er kam nicht weiter. Die Kehillebot der Kirche ein großes Geschenk an, das wurde empörtals Bestechung abgewiesen, dann insgeheim angenommen,half aber auch nicht.

Schließlich hatte Isaak sich dazu durchgerungen, nachSpeyer zu ziehen. Er hoffte, dass eine neue Umgebung Evahelfen würde, sich zu erholen. Ihr trauriger Zustand be-drückte nicht nur ihn, sondern die gesamte Familie undschreckte am Ende alle Besucher ab. In Isaaks Jeschiwa spür-ten selbst die Schüler, dass mit Rabbi Isaak etwas nicht inOrdnung war. Inzwischen hatten viele Juden das Angebotdes Erzbischofs angenommen, vor allem, weil König Hein-rich IV., inzwischen vom Papst zum Kaiser gekrönt, wieErzbischof Rüdiger den Bau des Doms weiter vorantrieb.Der Kaiser hatte schriftlich das einzigartige Schutzabkom-men des hohen Würdenträgers gutgeheißen. Mehr noch, erhatte angedeutet, dass ein ähnliches kaiserliches Dekret fürdas gesamte Reich erwogen werden könnte.

Unglaublich! Großartig! War es wirklich möglich? WürdenJuden einen Weg gehen können, der zur Gleichwertigkeit

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mit den »anderen« führte? Rabbi Isaak hoffte und betetedafür mit derselben Inbrunst, mit der er hoffte und betete,dass seine Frau genesen würde. Mehr noch, dass er einmal,nur einmal noch, seinen Sohn in die Arme nehmen könnte,ehe er für immer die Augen schloss.

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»Eines Tages wird es Frieden geben zwischen uns allen,sagte sich Samson ben Isaak. Wie konnte es anders sein?«

19.90 EUR [D]inkl. eBookISBN 978-3-95518-019-5