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V.C.ANDREWS ® Im Schein des Mondes Die Hudson-Saga 4 Aus dem Englischen von Susanne Althoetmar-Smarczyk

V.C.ANDREWS Im Schein des Mondes · 2018. 12. 4. · und jetzt über das Wasser glitt. Da hielten wir uns wie so oft an den Händen,schlos-sen die Augen und wünschten uns etwas.Das

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  • V. C. ANDREWS®

    Im Scheindes MondesDie Hudson-Saga 4

    Aus dem Englischen vonSusanne Althoetmar-Smarczyk

  • Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel»The End of the Rainbow« bei Pocket Books, New York.

    Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

    sind chlorfrei und umweltschonend.

    1.AuflageTaschenbuchausgabe Juli 2006

    bei Blanvalet, einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, München.

    Copyright © der Originalausgabe 2001by The Vanda General Partnership.

    All rights reserved, including the right to reproduce this bookor portions thereof in any form whatsoever.

    This edition is published by arrangement with theoriginal publisher, Pocket Books, a division of

    Simon & Schuster, Inc., New York.V. C. ANDREWS and VIRGINIA ANDREWS are registered

    trademarks of The Vanda General Partnership.Following the death of Virginia Andrews, the Andrews

    family worked with a carefully selected writer to organize andcomplete Virginia Andrews’ stories and to create additional novels,

    of which this is one, inspired by her storytelling genius.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002

    by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Design Team München

    Umschlagfoto: Getty Images/Photonica/BradeUH · Herstellung: HN

    Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

    Printed in GermanyISBN-10: 3-442-35739-X

    ISBN-13: 978-3-442-35739-0

    www.blanvalet-verlag.de

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    Prolog

    An meinem sechzehnten Geburtstag trübte kein ein-ziges Wölkchen den Himmel. Ein tiefblaues Meererstreckte sich von einem Horizont zum anderen. Derwarme Wind, der nach Hyazinthen, Flieder und Narzis-sen duftete, wehte so sanft wie der Flügelschlag einesSperlings.

    Es war wie ein Zauber.Am Tag zuvor hatte ich Mommy bei Einbruch der

    Dämmerung die Rampe hinuntergeschoben und sieRichtung See gefahren.

    »Da ist eine!«, rief Mommy, sobald sie die erste Spott-drossel erblickte, die aus einem Baum aufgeflogen warund jetzt über das Wasser glitt.

    Da hielten wir uns wie so oft an den Händen, schlos-sen die Augen und wünschten uns etwas. Das war unserganz spezielles geheimes Ritual, etwas, das wir begon-nen hatten, als ich vier Jahre alt war. Sie glaubte an dieMacht des Sees und seiner Umgebung.

    »Ich fing damit an, sobald ich hierher kam, um beideiner Urgroßmutter Hudson zu leben«, erzählte siemir. »Bis dahin war die einzige größere Wassermenge, in

  • deren Nähe ich je gekommen war, die in meiner Bade-wanne. Ein Ort wie dieser passte vollkommen zu mei-nen Träumen und tut es immer noch. Ich weiß, er wirdauch für deine Träume vollkommen sein, Summer.«

    Wir hatten uns beide einen wunderschönen nächstenTag gewünscht. Ich stellte mir einen Tag vor, an dem dasLächeln vom Himmel herabschwebte und sich auf denGesichtern all meiner Verwandten und Freunde festsetz-te, so dass sie jeden traurigen oder quälenden Gedanken,jeden unglücklichen Augenblick vergaßen. So würdenwir alle in Harmonie mein neues Lebensjahr einläuten.Mommy glaubte, wir brauchten hier und da ein biss-chen Magie, um uns zu beschützen, uns besonders.

    Ich widersprach ihr nicht, denn mittlerweile war ichnicht mehr in einem Alter, in dem man all die Tragödi-en und Fehler, die die Geschichte unserer Familie kenn-zeichneten, von mir fern hielt. Mommy gestand, dasssie manchmal – vielleicht eher häufiger als nur manch-mal – wirklich glaubte, ein Fluch laste auf jedem ihrerSchritte, jedem Atemzug, selbst auf jedem Gedanken.

    »Jeder andere wäre vermutlich an einen Punkt ge-kommen, wo er unfähig wäre, noch eine einzige Ent-scheidung zu treffen, Summer. Meine Hände zittertenauf dem Lenkrad meines speziell ausgerüsteten Trans-porters, selbst wenn ich mich einer ganz normalenKreuzung näherte und mich bloß zu entscheiden hatte,ob ich rechts oder links fahren wollte. Bestimmt würdeetwas Schreckliches passieren, wenn ich die falsche Ent-scheidung traf. Der einzige Grund, warum ich nicht vor

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    Furcht erstarrte,war, dass ich ständig die Stimme meinerAdoptivmutter hörte, die mich vorwärts drängte undmit mir schimpfte, weil ich Angst hatte«, sagte Mommy.»Diese Frau wäre selbst mit einem Armageddon fertiggeworden.«

    Ich konnte Mommys Angst verstehen und fragte michoft, ob solch ein Fluch an mich weitergereicht werdenkönnte. Das war auch Mommys schlimmste Sorge.

    »Wenn nun das Größte, Stärkste, das ich dir mitgege-ben habe, mein eigenes Pech wäre?«, sagte Mommyplötzlich, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

    »Das ist doch albern, Mommy«, widersprach ich ihr,obwohl ich mir nicht sicher war. »So etwas wie zu Pechverurteilt zu sein gibt es nicht. Das ist doch nur Zufall,und niemand hat Schuld daran. Du kannst doch nichtdie Ursache von irgendjemandes Schwierigkeiten sein«,beharrte ich, und zwar mit solchem Nachdruck, dass sielachen musste und mir versprach, nicht wieder über sofinstere Gedanken mit mir zu sprechen.

    Aber sie tat es. Sie konnte nicht anders. Sie schleppteeinen Sack voller Schuldgefühle mit sich herum.

    Besonders verfolgten sie die Erinnerungen an ihreStiefschwester Beneatha, die in Washington – wo Mom-my früher gelebt hatte – von Mitgliedern einer Straßen-gang ermordet worden war. Quälend war auch der Au-tounfall, bei dem ihr Halbbruder – mein Onkel Brody,den ich nie kennen gelernt hatte – getötet worden war.Als ich mir sein Foto anschaute, sah ich, wie gut er aus-gesehen hatte und wie vielversprechend die Zukunft für

  • ihn gewesen sein musste. Er starb, als er nach einem Be-such bei Mommy, die eine Weile ganz allein hier gelebthatte, nach Hause raste. Großmutter Megan, Mommysleibliche Mutter, erlitt einen schrecklichen Nervenzu-sammenbruch nach Onkel Brodys Tod und versuchteSelbstmord zu begehen.

    Tante Alison, Brodys Schwester, hegte immer nocheinen Groll auf Mommy, obwohl sie das in der letztenZeit gut kaschierte und zumindest höflich war, wenn sieuns besuchte, was allerdings nicht oft der Fall war.Vorkurzem hatte sie eine hässliche Scheidung hinter sichgebracht, bei der ihr Mann sie des Ehebruchs beschul-digte – und nicht nur mit einem Geliebten! Das erzähl-te man mir allerdings nicht. Das schnappte ich zufälligauf.

    In unserem Haus bleiben Geheimnisse nie lange ver-borgen.

    Jeder würde denken, dass Tante Alison Mitleid mitMommy hätte. Nicht lange nach Brodys Tod erlittMommy durch einen Sturz vom Pferd eine Quer-schnittslähmung. Danach hatte sie Schreckliches unterTante Victoria, Großmutter Megans merkwürdiger, ver-rückter Schwester, zu erdulden. Eine Weile hielt sieMommy wie eine Gefangene in diesem Haus. Mommyhasste es, darüber zu reden. Sie sagte, es würde ihre Alp-träume wieder zum Leben erwecken. Aber Mommyglaubte, sie sei dafür bestraft worden, dass sie all diesesUnglück brächte. Sie glaubte tatsächlich, es verdient zuhaben, und wenn mein Vater Austin nicht gewesen wä-

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    re, der damals ihr Physiotherapeut war, wäre es ihr viel-leicht gelungen, sich in eben diesem See, der jetzt soheiter und ruhig vor uns lag, das Leben zu nehmen.

    Wir hatten diesen See mit genug Tränen gefüllt,schien mir. Jetzt war Zeit für Heiterkeit, Lachen undSonnenschein, und wenn meine Geburt und meine Ge-burtstage nötig waren, um diese Gefühle immer stärkerwerden zu lassen, war ich froh darüber.

    Von dem Punkt aus, an dem wir den See überblick-ten, um unsere Wünsche auszusprechen, sahen wir On-kel Roy, Mommys Stiefbruder, der eine Fensterlade sei-nes Hauses reparierte. Nachdem er die Armee verlassenhatte, hatte Mommy ihn gebeten, für das Bauunterneh-men zu arbeiten, das ihr und Großmutter Megan gehör-te. Er wurde Vorarbeiter und begann sich mit meinemKindermädchen Glenda Robinson zu verabreden, einerunverheirateten Mutter mit einem Kind, das nur einJahr älter war als ich, einem Jungen namens Harley. AlsOnkel Roy ihr einen Antrag machte und sie zustimmte,ihn zu heiraten, entschied Mommy, dass sie sich aufunserem Grund und Boden ein Haus bauen sollten.

    »Ich besitze doch all dieses Land, Roy«, sagte sie, »aberich habe keine Verwendung dafür. Ich werde wederBaumwolle noch Tabak anpflanzen. Das ist nicht Tara«,scherzte sie.

    Nach dem, was sie mir erzählte, war Onkel Roy allesandere als erpicht darauf, das zu tun. Sie musste meinenVater dazu bringen, ihn dazu zu überreden. Onkel Royhatte seine Gründe, die laut Mommy seinem halsstarri-

  • gen Stolz entsprangen. Später erfuhr ich, dass es nochandere Gründe gab, vielleicht noch wichtigere oder tie-ferliegende Gründe, die im Grunde deines Herzenswurzelten und sich fast täglich Gehör verschafften.

    Mommy beschrieb mir gerne die dramatischen Sze-nen aus ihrer Vergangenheit, wobei ihre Stimme tieferwurde, um Onkel Roy nachzumachen. Manchmal lach-te ich, manchmal hörte ich staunend zu, völlig fasziniertvon ihrer Fähigkeit, alles direkt vor mir erstehen zu las-sen. Schließlich hatte Mommy eine renommierte Lon-doner Schauspielschule besucht und wäre fast Schau-spielerin geworden.

    »Roy wollte trotzdem kein Haus hier bauen«, erzähl-te sie mir. »Ich warf ihm vor, er hätte Angst, eine weißeFrau zu heiraten und mit einem weißen Mann, der eineAfroamerikanerin geheiratet hat, auf dem gleichen An-wesen zu leben.

    ›Du bist doch halb weiß‹, erinnerte Roy mich.›Vor hundertfünfzig Jahren‹, entgegnete ich, ›wäre ich

    trotzdem eine Sklavin, Roy Arnold.Versuch mir nichtdas Gefühl zu geben, ich wäre schlechter oder besser alsdu.Wenn Mama Latisha so ein Gerede hörte, würde siedir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen‹, sagte ichihm und drohte ihm mit dem Finger. Er musste denKopf schütteln und lachen.Darauf gab er nach und bau-te das Haus«, erzählte sie mir.

    Ein Jahr später heiratete er Glenda. Sie bekamen einMädchen, das sie nach Onkel Roys Mutter und Mom-mys Adoptivmutter Latisha nannten. Sie war ein hüb-

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    sches Kind, aber kurz nach ihrem dritten Geburtstag be-kam sie Leukämie. Sie verfiel so schnell, dass den Ärztenkaum Zeit blieb, ihnen zu sagen, wie wenig Hoffnungbestand.

    Es brachte Tante Glenda fast um. Beinahe verlor sieihren Glauben. Aber dann wurde sie, statt Gott zu has-sen, sehr religiös. Harley erzählte mir einmal, dass seineMutter glaubte, Kinder würden für die Sünden ihrer El-tern bestraft. Nach dem Tod der kleinen Latisha glaubteTante Glenda, wenn sie nicht rechtschaffen würde,müsste ihre Tochter im Jenseits noch mehr leiden. Sieging ganz in dieser Vorstellung auf und so, wie er es sag-te, wusste ich, dass auch er trauerte, aber nicht nur umseine Schwester. Er trauerte ebenso darum, dass er seineMutter an diese Tragödie verloren hatte, die danach sei-ne Erziehung mehr oder weniger meinem Onkel Royüberließ.

    »Man würde gar nicht merken, dass ich jetzt ein Ein-zelkind bin«, sagte er mir. »Meine Mutter benimmt sichso, als wäre Latisha noch bei uns, schliefe nur dort drau-ßen unter den Sternen. Manchmal benimmt sie sich so,als könnte sie sie hören. Sie lässt all ihre Sachen draußen,wäscht und bügelt sogar ihre Kleidung. Das macht Royund mich verrückt.«

    Die schlimmste Art von Geschwisterrivalität war, ge-zwungen zu sein,mit einer toten Schwester um die Auf-merksamkeit der Mutter zu kämpfen.

    Sie begruben Latisha auf dem Anwesen in der Näheihres Hauses. Onkel Roy errichtete einen hübschen

  • Zaun und ein Tor um ihr Grab und den Grabstein.Tan-te Glenda hatte es in ein Heiligtum verwandelt, und esverging kein Tag, an dem sie nicht dort war und amGrabstein ihrer kleinen Tochter betete.

    Wenn ich nachts aus dem Fenster schaute, sah ich ofteine brennende Kerze. Glendas Silhouette zeichnetesich unter den Sternen oder unter einem bewölktenHimmel ab. Einmal sah ich sie sogar in einem Gewitterdort draußen, wie sie ihren Schirm umklammert hieltund sich nicht um die Blitze kümmerte, die um sie her-um zuckten.

    »Eine Mutter kann nie loslassen«, sagte Mommy mir,als wir über die Dinge sprachen, die Harley mir erzählthatte, »selbst wenn sie die Hand ins Feuer strecken muss.«

    Bei Latishas Tod war ich noch zu jung, aber Jahre spä-ter hörte ich, wie Mommy zu sich selbst murmelte, dasssie wieder einmal jemandem Unglück gebracht hatte.

    »Ich hätte Roy weit von mir entfernt leben lassen sol-len, wie er es gewollt hat«, stöhnte sie.

    Niemand wurde wütender auf sie, wenn sie solcheDinge sagte, als Onkel Roy. Seine Augen funkelten wieein Glutofen, er plusterte sich auf, wodurch er nochgrößer und breiter wirkte, und dann senkte er die Stim-me, um mit ihr zu schimpfen und ihr zu verbieten, soetwas zu sagen.

    »Du bist diejenige, die Mama dafür verprügeln wür-de«,versicherte er ihr und sein langer,dicker,rechter Zei-gefinger deutete wie ein Pfeil auf sie.

    Niemand war gern in der Nähe, wenn Onkel Roy

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    wütend wurde – am wenigsten sein Stiefsohn Harley. Indieser Zeit steckte Harley so häufig in der Schule undbei seinen Freunden in Schwierigkeiten, dass OnkelRoys Stirn vom finsteren Gucken erstarrt war zu tiefenFalten und dicken Runzeln.

    »Der Herr hat mir eine seltsame Bürde aufgehalst«,hörte ich Onkel Roy Mommy mehr als einmal erzäh-len. »Er raubte mir die Chance, ein Daddy zu sein, als erLatisha von mir nahm, aber er überließ mir die Verant-wortung für einen Jungen,dessen Vater ich gar nicht bin.Du redest davon, dass du mit einem Fluch beladen bist.Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas getan habe, umdiese Bürde zu verdienen, aber ich muss sie tragen.«

    »Mama sagte immer,es ist nicht an uns zu entscheiden,ob das, was der Herr tut, richtig oder falsch ist, Roy.«

    »Ja. Das erscheint mir auch nicht richtig.«Es machte mich traurig, so etwas zu hören. Ich musste

    an Harley denken.Es ist schwer,dachte ich,ungewollt zusein. Ich wusste, dass das auch Mommy traurig machte.

    Niemand wusste besser als sie, was das bedeutete.Und ich hoffte und betete, dass es etwas war, was ich

    nie erfahren würde.

  • Kapitel 1

    Happy Birthday, Summer

    Es sah aus, als ob ein Regenbogen gerade über unse-rem Anwesen explodiert wäre. Ich wusste zwar, dassDaddy insgeheim einige Überraschungen geplant hatte,war aber nicht darauf vorbereitet, was er alles getan hat-te. In dem Augenblick, als die Morgensonne auf meineAugen fiel, hörte ich das zarte Klimpern von »HappyBirthday to You«. Mit verschlafenem Blick schaute ichauf ein kostbares, erstaunlich anzusehendes Karussell, beidem sich eine Menagerie von Tieren um eine Ballerinadrehte, die in der Mitte tanzte.

    »Ich hoffe, dass du immer mit so einem Lachen auf-wachst, Summer«, sagte Daddy. Ich schaute hoch undsah Daddy dort stehen. Sein Gesicht strahlte fast so sehrwie meines. Ich hatte seine türkisgrünen Augen, aberMommys ebenholzschwarze Haare und einen Teint, derein paar Schattierungen heller als ihrer war, so dass jedersehen konnte, dass ich auch Daddys Sommersprossengeerbt hatte, besonders auf den Wangenknochen.

    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätz-chen«, wünschte er mir und beugte sich vor, um michauf die Wange zu küssen.

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    Mommy beobachtete uns aus ihrem Rollstuhl vonder anderen Seite des Bettes. Einen Augenblick langwirkte sie so distanziert, fast als befände sie sich außer-halb einer großen Glasglocke um mich herum. Ichwusste, dass sie einen ihrer Böser-Blick-Gedanken hat-te, diese Befürchtungen, dass immer etwas Schrecklichespassieren würde, wenn sie zu glücklich war. Anschei-nend merkte sie das selbst und fing schnell an zu strah-len. Ich stand auf, um sie zu umarmen.

    »Was habt ihr beiden gemacht?«, rief ich, als das Karus-sell sich immer weiter drehte. »Dagesessen und daraufgewartet, dass ich aufwache? Wie lange seid ihr schonda?«

    »Wir haben dich die ganze Nacht beobachtet«,scherzte Daddy. »Wir haben uns abgewechselt, nichtwahr, Rain?«

    »Wirklich«, bestätigte Mommy. »Dein verrückter Vaterhat sich aufgeführt, als sei dies eher sein Geburtstag alsdeiner.« Im Scherz zog sie ein missbilligendes Gesicht.»In letzter Zeit führt er sich mehr und mehr wie einSechzehnjähriger auf.«

    »Das Kind in einem verschwindet nie ganz«, versi-cherte Daddy uns. »Ich möchte, dass du bei meinemneunzigsten Geburtstag die Kerzen ausbläst und Ge-schenke auspackst.Vergesst nicht, das zu arrangieren, ihrbeiden«, befahl er und es klang, als stünde dieses Ereig-nis unmittelbar vor der Tür.

    Mommy schüttelte den Kopf und lächelte, als ob wirbeiden Verbündete wären, die gezwungen waren, einen

  • weiteren närrischen Mann zu tolerieren.Für mich konn-te Daddy niemals ein närrischer Mann sein.

    »Was für ein wunderschönes Karussell«, jubelte ich, alses stillstand.

    »Das«, sagte meine Mutter, »ist nicht einmal die Spit-ze des Eisbergs. Schau mal aus dem Fenster«, drängte siemich.

    Mein Zimmer ging auf den See hinaus. GroßmutterMegan hatte mir erzählt, dass es früher einmal ihr Zim-mer gewesen war, und von Mommy wusste ich, dass siees benutzt hatte, als sie hier einzog. Jetzt wohnten sieund Daddy in Großmutter Hudsons früherem Zimmer;sie hatten nur die Dekorationen geändert und die Mö-bel ersetzt. Das Badezimmer war an Mommys spezielleBedürfnisse angepasst worden.

    Zu Anfang wollte Mommy keine dramatischen Verän-derungen im Haus vornehmen lassen. Sie sagte, sie füh-le sich Großmutter Hudsons Erinnerung verpflichtet,alles so zu belassen, wie es gewesen war, aber im Laufeder Zeit nutzten Teppiche sich ab,Wände mussten neugestrichen, Lampen ersetzt, Armaturen ausgetauschtwerden, und Daddy brachte einen Innenarchitektenmit, der dem Ganzen einen neuen Stil verlieh.

    Die Flure verströmten immer noch den Geist desneunzehnten Jahrhunderts mit Antiquitäten wie einerWhite-und-Dogswell-Uhr, die auf einem runden Spie-gel aus dieser Epoche hing. Mommy war sehr stolz aufall die Antiquitäten, die meine Urgroßmutter Hudsonhinterlassen hatte. Mommy hatte sie so sehr geliebt, dass

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    ich eifersüchtig war und wünschte, ich hätte sie auchgekannt.

    Urgroßvater Hudsons Arbeitszimmer war noch ge-nauso wie immer, aber der Großteil des Hauses – dasWohnzimmer, die Küche, mein Zimmer und Daddysund Mommys Schlafzimmer – waren in helleren Farbenund mit weicheren Materialien modernisiert worden.Kürzlich hatten meine Eltern das Dienstbotenquartierrenovieren lassen;der Boden war mit einem dicken wei-ßen Hirtenteppich bespannt und das Krankenbett durchein übergroßes Bett aus Kirschholz ersetzt worden. Da-rüber freute Mrs Geary sich sehr.

    Nachdem Glenda Onkel Roy geheiratet hatte, warensie und Harley aus dem Haupthaus ausgezogen. Mom-my und Daddy engagierten Mrs Geary über eine Agen-tur. Damals war sie Anfang vierzig; mit Ende zwanzigwar sie aus Irland gekommen, um in Amerika zu lebenund zu arbeiten. Ihr mittlerweile von grauen Strähnendurchzogenes Haar war einst fast so rot gewesen wieDaddys. Sie hatte für entfernte amerikanische Verwandtegearbeitet, die sie so schlecht behandelten wie Aschen-puttels Stiefmutter Aschenputtel.

    »Ich wurde einfach nicht respektiert.Alles,was ich tat,wurde einfach von mir erwartet.Kein Funke von Dank-barkeit! Ich war froh, dort herauszukommen«, erzähltesie mir.

    Daddy sagte, er mochte sie, weil sie über eine innereStärke und ein Selbstvertrauen verfügte, was sie zu ei-nem Gewinn für jeden Haushalt machen musste, in dem

  • die Hausherrin behindert war. Mommy und sie moch-ten einander sofort, und mittlerweile war sie für michnicht weniger als ein Familienmitglied. Oft war sie fürmich wie eine zweite Mutter, die mir sagte, ich sollemich wärmer anziehen oder besser essen. Sie hatte sogaretwas dazu zu sagen, wo ich hinging und mit wem. EineGlucke konnte ihr Küken nicht besser behüten als MrsGeary mich, als ich unter ihren und Mommys Fittichenaufwuchs.

    »Ich habe fast genauso viel Zeit und Energie daraufverwendet wie deine Mutter, um dafür zu sorgen, dassdu gesund und stark aufwächst, und ich werde nichtzulassen, dass meine Bemühungen zunichte gemachtwerden«, sagte sie mir, wenn ich mich beklagte. Siewählte gerne Ausdrücke, die es vermieden, ihre wahrenEmpfindungen mir gegenüber preiszugeben. Als ob sieglaubte, in dem Moment, wo man jemandem sagte, dassman ihn mochte, würde man ihn verlieren. Ich solltenoch erfahren,dass ihre eigene Kindheit und Jugend mitgenug Verlusten angefüllt waren, um sie so denken zulassen.

    Trotzdem neckte ich sie, wann immer ich konnte, be-sonders wegen ihrer endlosen Romanze mit ClarenceLynch, dem Bibliothekar in der städtischen Bücherei.Wie sie war er Ende fünfzig. Sie trafen sich schon, solange ich mich erinnern konnte.

    Einmal als ich sie fragte, warum sie ihn nicht heirate-te, lautete ihre Antwort: »Warum sollte ich diese perfek-te Beziehung ruinieren?«

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    Das verwirrte mich natürlich, und ich lief mit meinenFragen zu Mommy.Sie lächelte einfach und sagte: »Sum-mer,nicht jeder passt so akkurat in die kleinen Kästchen,die die Gesellschaft geschaffen hat.Warum sollen sie esändern, solange sie glücklich sind?«

    Nach Mommys Vorstellung und, ich glaube, jetzt auchnach meiner waren Glück und Gesundheit zwei Seiteneiner Medaille, der wichtigsten und wertvollsten Me-daille. Menschen, die glücklich waren, konnten eher da-rauf hoffen, gesund zu sein; natürlich waren Menschen,die gesund waren, glücklich. Lachen war die beste Me-dizin für Krankheiten der Seele.

    Niemand war ein besseres Beispiel dafür als Daddy. Erliebte Mommy und mich so sehr und war so glücklich,dass jeder sehen und spüren konnte, dass er Wärme undWohlbefinden ausstrahlte. Er war immer noch ein hochangesehener Physiotherapeut, der die Therapiepraxisseines Onkels übernommen und dann eine Reihe ein-zigartiger Fitnessclubs ins Leben gerufen hatte, die nor-male Übungen mit therapeutischen Programmen kom-binierten. Sie wurden bekannt als Verjüngungsclubs; esging darum, durch Training und Medikamente den Al-terungsprozess zu verlangsamen und in manchen Fällensogar teilweise rückgängig zu machen. Sogar Gesund-heits- und Fitnesszeitschriften berichteten über Daddy.Ich war sehr stolz auf ihn und Mommy auch.

    Ja, Glück und Gesundheit waren die beiden Zwil-lingsschwestern, die meine Familie adoptiert hatte, umbei mir zu leben. Sie nährten die Klugheit und schufen

  • einen Schutzwall um unser Haus. Nichts Schrecklichesvon außerhalb konnte uns verletzen. Aber ich wussteauch, dass Ärger ganz in der Nähe in Onkel Roys trau-riger Welt lauerte; und auch in unsere Festung drang erein in Form eines trojanisches Pferdes namens Alison,meiner Tante Alison.

    »Menschen, die sich selbst nicht mögen, können auchkeinen anderen mögen«, erklärte Mommy mir einmal.»Deine Tante Alison hasst sich selbst. Sie weiß es nur ein-fach nicht oder will es nicht wahrhaben. Ich empfindemehr Mitleid für sie als Wut, und das wirst du auch ei-nes Tages«, prophezeite Mommy.

    Tante Alison würde ebenso wie Großmutter Meganund mein Stiefgroßvater Grant Randolph heute zumeiner Geburtstagsparty kommen.

    Jetzt im Morgenlicht stand ich am Fenster und teiltedie Vorhänge, wie Mommy mich angewiesen hatte. Ei-nen Augenblick lang glaubte ich noch zu träumen. Mirfiel die Kinnlade herunter.

    Alle Bäume unten waren übersät von leuchtend bun-ten Bändern.An viele Zweige waren Ballons gebunden,die jetzt im Rhythmus des Windes tanzten. Auf demRasen verteilt standen mit grünen, roten und gelben Pa-piertischtüchern gedeckte Tische.Während ich hinaus-schaute, wurde gerade ein Tanzboden errichtet. Selbsteine kleine Bühne für Musiker gab es.

    Daddy hatte die Vorbereitungen für meine Partystreng geheim gehalten und die Leute offensichtlich ex-tra dafür bezahlt, dass sie leise sehr früh am Morgen ka-

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    men, noch bevor die Sonne aufgegangen war, um allesaufzustellen.

    »Dein Vater war im Dunkeln mit einer Taschenlampedort draußen, um die Ballons aufzuhängen«, erzählteMommy mir.

    »Ich dachte, es würde größeren Spaß machen, davongeweckt zu werden, als zu sehen, wie es schon Tage vor-her vorbereitet wird«, kommentierte er aus dem Hinter-grund.

    Mir blieb noch immer die Sprache weg. Schließlichschüttelte ich den Kopf und kreischte vor Freude.

    »Es ist … wunderbar!«Ich eilte in seine Arme, um ihn zu küssen, dann um-

    armte und küsste ich Mommy, die gar nicht aufhörenkonnte, über meine Aufregung zu lachen.

    »Ist dein Vater verrückt oder nicht?«»Nein!«, schrie ich. »Er ist wundervoll!«»Siehst du«, sagte Daddy, »wenigstens eine Frau in die-

    sem Haus sieht einen Sinn in dem, was ich tue.«»Du armer Mann«, neckte Mommy ihn.»Also, du hättest hören sollen, wie Mrs Geary darüber

    gemurrt hat, es sei zu viel dies oder zu viel das, und dassselbst ein Freudenschock schädlich sein könnte für ei-nen jungen, leicht zu beeindruckenden Geist.«

    »Mach dich nicht über sie lustig«, tadelte Mommy ihnsanft.

    »Mich über sie lustig machen? Alle anderen machensich lustig über mich. Schon gut. Ich muss mich um einpaar Kleinigkeiten kümmern, beispielsweise um die

  • Parkplätze. Ich will doch nicht, dass irgendeiner vonSummers Teenagerfreunden über die Blumen fährt«,sagte Daddy und ging.

    Mommy schüttelte den Kopf und lächelte hinter ihmher.Würde ich jemals jemanden finden, den ich so sehrliebte und der mich so sehr liebte,wie meine Eltern ein-ander liebten? Sie waren der lebende Beweis, dass eswirklich so etwas wie Seelenverwandtschaft gab.

    »Besser, du ziehst dich jetzt an und kommst zumFrühstück herunter«, sagte sie, drehte sich um und woll-te hinausfahren.

    »Ich bin zu aufgeregt, um etwas zu essen, Mommy.«»Wenn du nichts isst, wird Mrs Geary eigenhändig je-

    den einzelnen Luftballon von den Bäumen reißen unddie Tische und Stühle zusammenpacken«, warnte sie.Wir lachten. Ich umarmte sie noch einmal.

    »Alles, alles Liebe und Gute zum Geburtstag, Sum-mer.All deine Geburtstage waren etwas Besonderes fürmich, weil es wirklich ein Wunder für uns war, dich zubekommen«, sagte sie leise, »aber ich weiß, dass dieserGeburtstag etwas ganz Besonderes für dich ist.«

    »Danke, Mommy.«Ich wusste, wie sehr das stimmte, wie schwierig mei-

    ne Geburt für sie gewesen war, und dass sie entschiedenhatten, ihr Glück nicht aufs Spiel zu setzen und weitereKinder zu bekommen.

    »Ich sehe dich gleich unten«, sagte sie und rollte sichweiter hinaus zu dem Treppenlift, der sie die Treppe hin-unterbrachte zu dem Rollstuhl unten.

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  • UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

    V.C. Andrews®

    Im Schein des MondesRomanDie Hudson-Saga

    Taschenbuch, Broschur, 464 Seiten, 11,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-35739-0

    Blanvalet

    Erscheinungstermin: Juni 2006

    Die sechzehnjährige Summer hat ihr ganzes Leben auf dem großen Hudson-Anwesen inVirginia verbracht – wo seit Generationen düstere Familiengeheimnisse in den Schatten lauern.Doch nun entdeckt Rains Tochter zum ersten Mal ihre ganz eigenen Geheimnisse. Einige wirdSummer für sich behalten. Manche wird sie teilen. Ein paar besonders verstörende werden diejunge Frau zur Flucht aus ihrem Elternhaus zwingen …