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itte August 2013 wurde der israeli- sche Staatsbürger Alexander Cvetko- vic an die Justizbehörden Bosnien- Herzegowinas überstellt. Cvetkovic, der 2006 mit seiner jüdischen Frau nach Israel eingewan- dert war und die israelische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, ist der erste Israeli, der wegen des Vorwurfs der »Beihilfe zum Völkermord« an ein anderes Land ausgeliefert wurde. Im No- vember 2012 hatte der Oberste Gerichtshof Is- raels einen Einspruch des Beschuldigten gegen seine Auslieferung abgelehnt. Die bosnischen Ermittler werfen dem 42jährigen vor, zu einem achtköpfigen Kommando der bosnisch-serbi- schen Armee gehört zu haben, das im Juli 1995 auf dem Gut Branjevo nahe der ostbosnischen Stadt Srebrenica fast 1.000 Menschen ermor- det hat. Verbrechen an Wehrlosen waren sympto- matisch für den Verlauf des bosnischen Krieges. Das typische Szenario war der monate-, ja jah- relange Artilleriebeschuß von Wohngebieten wie in Sarajewo und Mostar, das Plündern und Niederbrennen von Dörfern und Städten und die massenhafte Ermordung und Vertreibung der »feindlichen« Zivilbevölkerung. Die For- schung geht mittlerweile davon aus, daß wäh- rend des über dreijährigen Krieges etwa 97.000 Menschen getötet wurden. Nach ethnischer Zu- gehörigkeit unterteilt, verloren 64.000 bosni- sche Muslime, 25.000 serbische und fast 8.000 kroatische Bosnier ihr Leben. Von den Getöteten waren etwa 57.000 Armeeangehörige sowie Mit- glieder von Milizen und paramilitärischen Ban- den und fast 40.000 Zivilisten. Noch immer füh- len die Nationalisten aller drei Gruppen sich durch Nennung dieser Zahlen diskriminiert und betrogen. Das übliche gegenseitige Aufrechnen von Toten ist dem Bedürfnis geschuldet, die meisten Opfer auf der eigenen Seite zu wissen. Die fast vollständige Zerstörung des Landes und die damit einhergehende Verelendung der Bevölkerung werden dagegen nur selten thema- tisiert. Nach Schätzungen der Weltbank belie- fen sich die materiellen Schäden und Verluste auf circa 15 Milliarden Dollar. Fast 50 Prozent der Industrieanlagen und die gesamte Infrastruk- tur wurden im Lauf des Krieges schwer in Mit- leidenschaft gezogen. Ein Großteil der Bevölke- rung hat fast alles verloren. Über zwei Millionen Menschen mußten ihre Wohnorte verlassen und sind bis heute auf sogenannte humanitäre Hilfe angewiesen. Was der Krieg übrigließ, wurde durch die Privatisierung der vormals so- zialistischen Wirtschaft ruiniert. Die sozialistische Republik In seiner ethnischen und religiösen Zusammen- setzung ähnelte Bosnien-Herzegowina bis 1991 der Gesamtrepublik Jugoslawien. Das Land hat- 34 konkret Vielvölkerstaatsruinen In Bosnien-Herzegowina leidet die Bevölkerung bis heute unter den politischen und ökonomischen Folgen der 1995 beendeten Jugoslawien-Kriege. Von Erich Später und Sadija Kavgic M ´ ´ ´ Das Kreuz über Mostar symbolisiert für die kroatischen Nationalisten ihre Dominanz über die größte Stadt Herze- gowinas. Vor dem Krieg zählte man in Mostar (126.000 Einwohner) die meisten gemischten Ehen des Landes. Fotos: Sadija Kavgic Bis heute pflegen die Einwohner des bosnischen Ortes Mravinjac bei Gorazde diese Erinnerung an Josip Broz Tito. Für sie verkörpert Tito nach wie vor die antifaschistische Tradition Jugoslawiens. »Casablanca« soll sein Lieblingsfilm gewesen sein. ´

Vielvölkerstaatsruinenboell-saar.de/wp-content/uploads/2017/03/konkret1213.pdf · Kusturica. 2005 konvertierte er zur serbischen Orthodoxie. (Ivo Andric ist in einer katholischen

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itte August 2013 wurde der israeli-sche Staatsbürger Alexander Cvetko-vic an die Justizbehörden Bosnien-

Herzegowinas überstellt. Cvetkovic, der 2006mit seiner jüdischen Frau nach Israel eingewan-dert war und die israelische Staatsbürgerschafterhalten hatte, ist der erste Israeli, der wegendes Vorwurfs der »Beihilfe zum Völkermord« anein anderes Land ausgeliefert wurde. Im No-vember 2012 hatte der Oberste Gerichtshof Is-raels einen Einspruch des Beschuldigten gegenseine Auslieferung abgelehnt. Die bosnischenErmittler werfen dem 42jährigen vor, zu einemachtköpfigen Kommando der bosnisch-serbi-schen Armee gehört zu haben, das im Juli 1995auf dem Gut Branjevo nahe der ostbosnischenStadt Srebrenica fast 1.000 Menschen ermor-det hat.

Verbrechen an Wehrlosen waren sympto-matisch für den Verlauf des bosnischen Krieges.

Das typische Szenario war der monate-, ja jah-relange Artilleriebeschuß von Wohngebietenwie in Sarajewo und Mostar, das Plündern undNiederbrennen von Dörfern und Städten unddie massenhafte Ermordung und Vertreibungder »feindlichen« Zivilbevölkerung. Die For-schung geht mittlerweile davon aus, daß wäh-rend des über dreijährigen Krieges etwa 97.000Menschen getötet wurden. Nach ethnischer Zu-gehörigkeit unterteilt, verloren 64.000 bosni-sche Muslime, 25.000 serbische und fast 8.000kroatische Bosnier ihr Leben. Von den Getötetenwaren etwa 57.000 Armeeangehörige sowie Mit-glieder von Milizen und paramilitärischen Ban-den und fast 40.000 Zivilisten. Noch immer füh-len die Nationalisten aller drei Gruppen sichdurch Nennung dieser Zahlen diskriminiert undbetrogen. Das übliche gegenseitige Aufrechnenvon Toten ist dem Bedürfnis geschuldet, diemeisten Opfer auf der eigenen Seite zu wissen.

Die fast vollständige Zerstörung des Landesund die damit einhergehende Verelendung derBevölkerung werden dagegen nur selten thema-tisiert. Nach Schätzungen der Weltbank belie-fen sich die materiellen Schäden und Verlusteauf circa 15 Milliarden Dollar. Fast 50 Prozentder Industrieanlagen und die gesamte Infrastruk-tur wurden im Lauf des Krieges schwer in Mit-leidenschaft gezogen. Ein Großteil der Bevölke-rung hat fast alles verloren. Über zwei MillionenMenschen mußten ihre Wohnorte verlassenund sind bis heute auf sogenannte humanitäreHilfe angewiesen. Was der Krieg übrigließ,wurde durch die Privatisierung der vormals so-zialistischen Wirtschaft ruiniert.

Die sozialistische RepublikIn seiner ethnischen und religiösen Zusammen-setzung ähnelte Bosnien-Herzegowina bis 1991der Gesamtrepublik Jugoslawien. Das Land hat-

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Vielvölkerstaatsruinen In Bosnien-Herzegowina leidet die Bevölkerung bis heute unter den politischen und ökonomischen Folgen der 1995 beendetenJugoslawien-Kriege. Von Erich Später und Sadija Kavgic

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Das Kreuz über Mostar symbolisiert für die kroatischen Nationalisten ihre Dominanz über die größte Stadt Herze-gowinas. Vor dem Krieg zählte man in Mostar (126.000 Einwohner) die meisten gemischten Ehen des Landes.

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Bis heute pflegen die Einwohner des bosnischen Ortes Mravinjac bei Gorazde diese Erinnerung an Josip Broz Tito. Für sie verkörpert Tito nach wie vor die antifaschistische Tradition Jugoslawiens. »Casablanca« soll sein Lieblingsfilm gewesen sein.

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te nach 1945 einen beispiellosen ökonomischen,sozialen und kulturellen Aufschwung erlebtund in den sechziger Jahren die Schwelle vomAgrar- zum Industrieland überschritten. 1981hatte Bosnien 4,1 Millionen Einwohner, davonbezeichneten sich 43 Prozent als Muslime, 31Prozent als Serben und 17,4 Prozent als Kroaten.Bemerkenswert war die nationale Verweige-rungshaltung einer Minderheit: Fünf Prozentder Einwohner titulierten sich als Jugoslawen,ohne eine nationale Zuordnung anzugeben. Inden großen Städten Bosnien-Herzegowinas wa-ren die »Jugoslawen« überdurchschnittlich ver-treten: Am stärksten in der Bergbau- und Indu-striestadt Tuzla mit 16,7 Prozent; es folgten dasZentrum Sarajewos (16,4), Banja Luka (zwölf )und Mostar (zehn Prozent).

Die meisten jugoslawischen Bürger interes-sierten sich zu dieser Zeit kaum für Fragen derHerkunft. Das später als »Kunststaat« und »Völ-kergefängnis« beschimpfte Jugoslawien erfreu-te sich bis weit in die achtziger Jahre der breitenZustimmung seiner Bürger/innen. ZahlreicheUmfragen belegen, daß die innerethnischen Be-ziehungen der unterschiedlichen Bevölkerungs-gruppen von einer deutlichen Mehrheit nochbis Ende der achtziger Jahre als gut oder zumin-dest befriedigend und nur von einem kleinenTeil der Befragten als schlecht beurteilt wurden.

Die Einwohner Bosniens nannte und nenntman Bosnier. Das war einerseits Ausdruck poli-tischer Souveränität, als die jugoslawische KP-Führung 1968 die bis dato lediglich als Reli-

gionsgemeinschaft angesehenen bosnischenMuslime als »Nation« anerkannte. Das großeersetzte das kleine M und stand seither für dieNationenbezeichnung der Muslime in Bosnien-Herzegowina. Diese Bezeichnung war proble-matisch, weil viele der nun als »M« Bezeich-neten kaum eine Beziehung zum Islam hatten.In den Augen der jugoslawischen Kommunistenaber waren die »Muslime« eine säkulare Nationwie Serben und Kroaten, bei welchen die Reli-gion eher eine größere Rolle spielte. Das politi-sche Wagnis, die gesamte bosnische Bevölke-rung ohne ethnische und religiöse Differenzie-rung als Staatsbürger anzuerkennen, wollte diekommunistische Führung nicht eingehen. »ImGegensatz zur katholischen und orthodoxenKirche«, konstatiert die Historikerin Marie-Ja-nine Calic, »war die religiöse Führung der Mus-lime, die Reis-ul-ulema, vorbehaltlos projugo-slawisch eingestellt. 1969 eliminierte die Isla-mische Religiöse Gemeinschaft das Adjektiv›religiös‹ aus ihrem Namen – ein wichtiges Si-gnal dafür, daß sie sich nicht nur als spirituelle,sondern auch als ethno-politische Interessen-vertretung begriff.«

Die erfolgreiche ökonomische, soziale undkulturelle Transformation der traditionellenLebenswelten der Muslime durch den soziali-stischen Staat bot der panislamischen Propa-ganda keine Möglichkeiten. Es gab im soziali-stischen Bosnien kein frommes Bürgertum undschon gar kein Millionenheer sozial deklassier-ter analphabetischer Unterschichten wie etwa

in Ägypten oder dem Iran. Die fortschreitendeSäkularisierung der Muslime war auch durcheine stärkere Rezeption islamischen Denkensdurch kleine Gruppen der »Jungen Muslime« inden siebziger Jahren nicht aufzuhalten. Religi-onsausübung galt zunehmend als Privatsache.

Der Niedergang Jugoslawiens begann Mitteder siebziger Jahre mit dem Verlust wirtschaft-licher Stabilität. Die tiefgreifenden Wandlun-gen innerhalb der Weltwirtschaft hatten für dasLand dramatische Folgen. Seine Industrien wa-ren chronisch unterfinanziert, technologischrückständig und bürokratisch organisiert. DieUnterschiede der ökonomischen und sozialenEntwicklung innerhalb Jugoslawiens wuchsenkontinuierlich und führten zu erbittert ausge-tragenen Verteilungskämpfen zwischen denRepubliken. Mitte der achtziger Jahre lag dasSozialprodukt in Slowenien mehr als 100 In-dexpunkte über dem jugoslawischen Durch-schnitt, während es im Kosovo um 72 Punktedarunterlag.

Die ökonomische und politische Krise ver-schärfte sich nach dem Tod des Minister- bezie-hungsweise Staatspräsidenten Tito (1980), weildie Institutionen des jugoslawischen Staatsap-parates umgehend an Legitimität verloren. Titostand als Symbolfigur der »Einheit und Brü-derlichkeit der Völker Jugoslawiens« für einePolitik, in der ethnisch-nationale Kategorienals fortdauerndes Übel begriffen wurden. Da-mit war er vor allem in den Augen der kroati-schen und serbischen Nationalisten für eine

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Ein Beispiel der neuen serbischen Erinnerungskultur. Der ser-bische Kreuzritter symbolisiert die Verteidigung der serbischen Heimaterde, die sich überall dort befindet, wo infolge kriegeri-scher Auseinandersetzungen der Vergangenheit serbische Gräber liegen. Die Vertreibung der jugoslawischen Einwohner feiert die Republik Srpska als Verteidigungs- und Befreiungsmaß-nahme. Allein in Visegrad und Umgebung wurden 1992 mehr als 13.000 Menschen vertrieben und Hunderte ermordet.

Der Hauptweg des in Visegrad neu erbauten Disneylands der serbischen Nationalisten, »Andricgrad«, führt in die serbisch-orthodoxe Kirche, die »Der Tempel des Großmärtyrers Zar Lazar und anderer Märtyrer von Kosovo« heißt. Erbauer des Tempels ist der Filmregisseur Emir Nemanja Kusturica. 2005 konvertierte er zur serbischen Orthodoxie. (Ivo Andric ist in einer katholischen Familie in Bosnien geboren, wuchs in Visegrad auf, war ein Verfechter des multiethnischen Jugoslawiens und bekam 1961 den Literaturnobelpreis für seinen Roman Die Brücke über die Drina.)

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»antiserbische« bzw. »kroatenfeindliche« Po-litik verantwortlich. Die politischen Konfliktewurden von den nun immer offener agierendenNationalisten ethnisch-national interpretiertund zugespitzt. Sie torpedierten, unterstützt vonantikommunistisch unterfütterter westlicher,vor allem auch deutscher Propaganda, alle Chan-cen, die Mitte 1990 einsetzende Auflösung derFöderation ohne Blutvergießen durchzuführen.

Als wesentliches Mobilisierungsinstrumentder Nationalisten erwiesen sich die sogenann-ten freien Wahlen und Volksabstimmungen, dieentlang ethnischer Grenzen durchgeführt wur-den. So wurde die Bevölkerung Jugoslawiensgezwungen, unter größtem Zeitdruck dramati-sche Entscheidungen zu treffen. Die tatsächlichdemokratischen Institutionen waren schwach,und die »jugoslawischen Kräfte« wurden schnellmarginalisiert.

Der KriegNoch bis Mitte 1991 war die internationale Ge-meinschaft eindeutig gegen eine ZerstückelungJugoslawiens – auch weil sie als Präzedenzfallfür die Sowjetunion mit unabsehbaren Fol-gen hätte verstanden werden können. Diese Haltung wurde im Dezember 1991 vom geradewiedervereinigten Deutschland mit der ein-seitigen Anerkennung der UnabhängigkeitKroatiens und Sloweniens konterkariert. AlsBegründung diente der schwarzgelben Regie-rung (Kohl / Genscher) der angeblich vorbildli-

che Minderheitenschutz in Kroatien, wo doch zurselben Zeit der düsterste Nationalismus undSäuberungswahn alle »Nichtkroaten« bedrohten.

Auch daß das kroatische Regime auf alle ex-pansiven Vorhaben in Bosnien zu verzichten ha-be, gehörte nicht zu den Bedingungen der deut-schen Anerkennungspolitik und beflügelte dieserbischen und kroatischen Pläne, das Landaufzuteilen und zu annektieren. Eine entspre-chende Vereinbarung hatten die angeblichenTodfeinde, die Führer Serbiens und Kroatiens,Milosevic und Tudjman, bei zwei Treffen am 25. März und Ende April 1991 getroffen. Die bos-nische Koalitionsregierung aus Serben, Kroatenund »Muslimen« befürwortete bis zur deut-schen Anerkennung Kroatiens und Slowenienseine Reform Jugoslawiens, nicht aber dessenAufteilung. Aber bereits Ende 1991 war der Zer-fall der gesamtstaatlichen Institutionen undOrganisationen in ihre ethnischen Bestandteilein vollem Gang.

Die ethnische Separierung und Homoge-nisierung Bosniens war für die Ethnokriegerund Faschisten ein schwieriges Unterfangen.Jedes fünfte Kind in Bosnien stammte aus einergemischten Ehe, jeder zweite Staatsangehörigebesaß mindestens einen nahen Verwandten mit einer anderen als der eigenen Nationali-tät. Wer wohin gehörte, ließ sich weder am Aus-sehen noch an der Sprache und in vielen Fällenauch nicht am Namen oder am Alltagsverhal-ten erkennen. Dieser Umstand wurde noch

durch die Tatsache verschärft, daß das alles of-fensichtlich sehr vielen Leuten völlig egal war.

In Reaktion auf die erfolgreiche SezessionKroatiens und Sloweniens begann die Führungder bosnischen Serben im Frühjahr 1992 mitUnterstützung der früheren JugoslawischenVolksarmee und paramilitärischer Banden ei-nen Krieg zur Schaffung einer ethnisch reinenserbischen Republik in Bosnien, die sich mitdem Mutterland zu einem Großserbien vereini-gen sollte. Vorbild waren die serbischen Natio-nalisten und Antikommunisten des ZweitenWeltkriegs, die »Tschetniks«. Unter ihrem Füh-rer Dragan Mihajlovic hatten sie die kommuni-stischen Partisanen als Hauptfeind ihrer Bewe-gung bekämpft. Mihajlovic träumte von derVernichtung aller Feinde einer rein serbischenNation. In Bosnien bedeutete die Verfolgungdieser Ziele die Eröffnung eines brutalen Bür-gerkriegs gegen die nichtserbische Bevölke-rung. Es fand eine regional flächendeckendeund alle Ebenen des öffentlichen Lebens umfas-sende nationale Homogenisierung statt.

Vertreibungen und Massenmorde begin-gen im Verlauf der Auseinandersetzungen alleKriegsparteien, aber hinsichtlich des Ausmaßesder Gewalt und der Zahl der Opfer gab es deutli-che Unterschiede zwischen Serben, Kroatenund »Muslimen«. Schließlich wird Mitte 1995 –nach dem ersten Militäreinsatz der Nato nach1945 und mit Beteiligung der Deutschen – einWaffenstillstand geschlossen.

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Es ist das Bestreben der Nationalisten, die antifaschistische Erinnerungskultur Jugoslawiens auszulöschen. In Kroatien wurden viele Denkmäler gesprengt, andernorts geplündert. Das Sutjeska-Denkmal zur Erinnerung an einen der größten Siege der Jugoslawischen Volksarmee über die Wehrmacht im Jahr 1943 liegt 60 Kilometer von Visegrad entfernt. Das Museum ist geschlossen.

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Der FriedenAm 14. Dezember 1995 unterschrieben die Prä-sidenten Serbiens (Milosevic), Kroatiens (Tudj-man) und Bosnien-Herzegowinas (Izetbegovic)in Paris einen Friedensvertrag. Die Führer derbosnisch-serbischen und bosnisch-kroatischenNationalisten waren von der Prozedur ausge-schlossen. Bosnien-Herzegowina blieb als Staatmit gemeinsamer Hauptstadt (Sarajevo), einemParlament sowie unbeschränktem Personen-und Güterverkehr erhalten, mußte aber einenerheblichen Teil seiner Kompetenzen an seinebeiden Entitäten, die bosnisch-kroatische Föde-ration und die Serbische Republik (RepublikSrpska, Hauptstadt Banja Luka) abtreten. DerFöderation wurden 51 Prozent des Gesamtter-ritoriums, der Serbischen Republik die restli-chen 49 Prozent zugeschlagen. Das Rückkehr-recht der Flüchtlinge und Vertriebenen sowiedie Restitution ihres Eigentums wurden ver-traglich vereinbart. Zur Überwachung und not-falls gewaltsamen Durchsetzung des Vertragsstationierte man eine 60.000 Mann starke Trup-pe unter Führung der Nato.

Das Friedensabkommen konnte zwar denKrieg beenden, aber es war und ist ungeeignet,die Macht der nationalistischen Eliten zu bre-chen. Nach wie vor lähmt die ethnische Sepa-rierung das geschundene Land, dessen Bevöl-kerungsstruktur trotz des Krieges vor allem inder Föderation multiethnisch geblieben ist.Trotz des bis heute anhaltenden Widerstands

konnte ein Teil der Flüchtlinge und Vertriebe-nen zurückkehren. Jeder politische Fortschrittwird durch die fortgesetzte Ethnisierung allerpolitischen Entscheidungen allerdings fast un-möglich gemacht. Während die Republik Srpskazentralistisch organisiert ist, gliedert sich diebosnisch-kroatische Förderation in zehn Kan-tone, die ihrerseits weitreichende Autonomie-rechte besitzen. 14 Parlamente und Regierun-gen, Hunderte von Ministern und Stellvertretern,eine Vielzahl von Parteien und internationalenInstitutionen machen Bosnien-Herzegowinanahezu unregierbar. Die Nationalisten haltenunbeirrt an der ethnischen Segregation desLandes fest und sichern so ihre während desKrieges gewonnene politische und ökonomi-sche Macht.

Die desillusionierte Bevölkerung ist derkorrupten und nationalistischen Politiker über-drüssig, ihnen aber weiter ausgeliefert, und dieinternationale Gemeinschaft verzichtet weitest-gehend darauf, ihre Machtmittel zugunstenmultiethnischer Lösungen einzusetzen. Sowird jeder Fortschritt verhindert. Die geradestattfindende Volkszählung sortiert die Men-schen wieder nach Nation und Religion. ZurZeit werden noch nicht mal die nach dem EU-Beitritt des Nachbarlandes Kroatien nötigen Ge-setzesanpassungen verabschiedet, von weiter-gehenden Reformen nach Maßgabe der EU ganzzu schweigen. Die Folge sind Massenentlassun-gen, vor allem im Agrarsektor.

Dabei ist Bosnien-Herzegowina bereits seit1998 informelles Mitglied der EuropäischenWährungsunion. Ohne große Debatte erklär-ten die Nationalisten aller Couleur damals die D-Mark zur Währung des Landes. Die »Konver-tible Mark« wurde am 22. Juni 1998 als WährungBosnien-Herzegowinas eingeführt und fest anden Wechselkurs der D-Mark gebunden. DieKonvertible Mark ersetzte die bisher gültigenZahlungsmittel Dinar, Kuna und den neuen ju-goslawischen Dinar. Mit Einführung des Eurowurde der Wechselkurs analog zur Mark Ende2001 auf 1.95583 Konvertible Mark festgesetzt.Eigenartig: Diese bedingungslose Abgabe einesKernbereichs der nationalen Souveränität Bos-nien-Herzegowinas, zunächst an die DeutscheBundesbank und schließlich an die EuropäischeZentralbank, bereitete den nationalistischenEliten nicht das geringste Problem. Allerdingshat man sich auf keine einheitlichen Motive fürdie Geldscheine einigen können. Daher gibt esjede Banknote in einer gleichwohl landesweitwie international konvertiblen Srpska- und ei-ner Föderationsausgabe. l

Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolge-staaten 1943–2011: Eine ungewöhnliche Geschichte desGewöhnlichen. Böhlau, Wien 2012, 567 Seiten, 40Schwarzweiß-Abbildungen, 59 Euro

Erich Später setzt im kommenden Heft seine Serie»Der dritte Weltkrieg« fort; Sadija Kavgic ist freieJournalistin und Fotoreporterin

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»Durch dieses Tor haben Nazis von 1941 bis 1944 die Juden, Roma, Bosniaken, Kroaten, Serben und andere Bürger von Tuzla in die Todeslager überall in Europa gebracht. Wir werden ewig um sie trauern ...«, lautet die Inschrift dieser »Träne« in Tuzla. Tuzla ist die einzige Großstadt in Bosnien-Herzegowina, die noch nie von nationalistischen Parteien regiert wurde. Die Bürger der Stadt verteidigten sich gemeinsam im bosnischen Krieg 1992–1995. Die Erinnerung an die antifaschistische Ver-gangenheit wird in Ehren gehalten. Am 2. Oktober 1943 wurde Tuzla als erste bosnische Stadt von der Herrschaft der Deutschen und der kroatischen Ustasa befreit. Berühmt ist der blutig nie-dergeschlagene Aufstand von Husino aus dem Jahr 1920, in dem 7.000 Bergmänner unter Führung der Kommunistischen Partei wegen niedriger Tagelöhne in Streik getreten sind.

Der Partisanenfriedhof in Tuzla wird bis heute gepflegt. In der »Allee der Helden« steht, neben Tito, auch die Statue von Mosa Pijade, dem jüdischen Kommunisten aus Serbien.

Die Ewige Flamme in Sarajevo für die mi-litärischen und zivilen Opfer des ZweitenWeltkriegs wurde am 27. November 1947 eingeweiht. Der dreifarbige Text erinnert an die Fahne des gemeinsamen jugoslawi-schen Staates, während die Flamme dasStaatswappen symbolisiert: »Mit Mut und gemeinsam vergossenem Blut der Kämpfer der bosnisch-herzegowi-nischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Brigaden der glorreichenJugoslawischen Armee, mit gemeinsamenAnstrengungen und Opfern der PatriotenSarajevos, Serben, Muslimen und Kroaten,wurde am 6. April 1945 Sarajevo, dieHauptstadt der Volksrepublik Bosnien und Herzegowina, befreit. Ewige Ehre undDank den gefallenen Helden für die Be-freiung Sarajevos und unseres Vaterlandes. Am ersten Jahrestag seiner Befreiung Das dankbare Sarajevo«

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