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Vierteljahrsschrift der N aturfo rschenden Gesellschaft in Zürich unter Mitwirkung von C. BURRI, A.U. DÄNIKER, P. FINSLER, H. ASCHER, A. FREY-WYSSLING, H. GUTERSOHN, P. KARRER, B. MILT, P. SCHERRER, H. R. SCHINZ, FR. STÜSSI und H. WALDMEIER herausgegehen von HANS STEINER, ZÜRICH 7 Druck und VerIag: Gebr. Frets AG, Zürich Nachdruck auch auszugsweise nur mit Quellenangabe gestattet Jahrgang 99 HEFT 3 30. September 1954 Abhandlungen Krebs als pathologisches Grundphänomen Von H. STÜNZI (Thalwil)1) Aus dem Veterinär-pathologischen Institut der Universität Zürich (Direktor: Prof. Dr. H. Stünzi) Wenn wir Entstehung und Wachstum der Krebsgeschwulst als pathologi- sches Grundphänomen bezeichnen wollen, so sehen wir uns vorerst vor die Aufgabe gestellt, den Begriff des pathologischen Grundphänomens zu defi- nieren. Im kranken Organismus lassen sich funktionelle und strukturelle Abwei- chungen von der Norm feststellen, die nicht nur von der Krankheitsursache, sondern auch von der individuellen Konstitution und der zoologischen Art des Patienten bestimmt werden. Entstehen bei verschiedenen Krankheitsursachen grundsätzlich übereinstimmende pathologische Erscheinungen, so dürfen wir von pathologischen Grundphänomenen sprechen. Der Begriff des pathologischen Grundphänomens umfasst also solche strukturelle und funktionelle Störungen, die sich durch eine prinzipielle qualitative Übereinstimmung bei den verschie- denen Tierarten auszeichnen. Solche Phänomene sind nicht nur von der Indivi- dualität, sondern auch von der zoologischen Art des Patienten, innerhalb gewis- ser Grenzen, unabhängig. Sie stellen gleichsam R e a k t i o n s k at e g o r i e n dar. Solche Reaktionskategorien sind beispielsweise Entzündung, Nekrose, Wachstums- und Regenerationsstörungen, Entstehung von Geschwülsten (Bla- stomen) u. a. m. Das Studium solcher Grundphänomene ist integrierender Be- standteil der allgemeinen Pathologie. Diese Forschungsrichtung basiert zu- nächst auf einer Anzahl korrespondierender Einzelbeobachtungen, die sich mit 1 ) Antrittsvorlesung vom 11. Juli 1953 an der Universität Zürich. Vierteljahrsschrift d. Naturf. Ges. Zürich, Jahrg. 99, 1954 11

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Vierteljahrsschrift der N aturfo rschendenGesellschaft in Zürich

unter Mitwirkung von

C. BURRI, A.U. DÄNIKER, P. FINSLER, H. ASCHER, A. FREY-WYSSLING, H. GUTERSOHN, P. KARRER,B. MILT, P. SCHERRER, H. R. SCHINZ, FR. STÜSSI und H. WALDMEIER

herausgegehen vonHANS STEINER, ZÜRICH 7

Druck und VerIag: Gebr. Frets AG, ZürichNachdruck auch auszugsweise nur mit Quellenangabe gestattet

Jahrgang 99 HEFT 3 30. September 1954

Abhandlungen

Krebs als pathologisches GrundphänomenVon

H. STÜNZI (Thalwil)1)

Aus dem Veterinär-pathologischen Institut der Universität Zürich(Direktor: Prof. Dr. H. Stünzi)

Wenn wir Entstehung und Wachstum der Krebsgeschwulst als pathologi-sches Grundphänomen bezeichnen wollen, so sehen wir uns vorerst vor dieAufgabe gestellt, den Begriff des pathologischen Grundphänomens zu defi-nieren.

Im kranken Organismus lassen sich funktionelle und strukturelle Abwei-chungen von der Norm feststellen, die nicht nur von der Krankheitsursache,sondern auch von der individuellen Konstitution und der zoologischen Art desPatienten bestimmt werden. Entstehen bei verschiedenen Krankheitsursachengrundsätzlich übereinstimmende pathologische Erscheinungen, so dürfen wirvon pathologischen Grundphänomenen sprechen. Der Begriff des pathologischenGrundphänomens umfasst also solche strukturelle und funktionelle Störungen,die sich durch eine prinzipielle qualitative Übereinstimmung bei den verschie-denen Tierarten auszeichnen. Solche Phänomene sind nicht nur von der Indivi-dualität, sondern auch von der zoologischen Art des Patienten, innerhalb gewis-ser Grenzen, unabhängig. Sie stellen gleichsam R e a k t i o n s k at e g o r i e ndar. Solche Reaktionskategorien sind beispielsweise Entzündung, Nekrose,Wachstums- und Regenerationsstörungen, Entstehung von Geschwülsten (Bla-stomen) u. a. m. Das Studium solcher Grundphänomene ist integrierender Be-standteil der allgemeinen Pathologie. Diese Forschungsrichtung basiert zu-nächst auf einer Anzahl korrespondierender Einzelbeobachtungen, die sich mit

1 ) Antrittsvorlesung vom 11. Juli 1953 an der Universität Zürich.

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der Zeit zu allgemeinen Erfahrungen verdichten. Solche Erkenntnisse gestat-ten schliesslich, sorgfältig aneinandergefügt und gegen einander abgewogen,Regeln abzuleiten. Vergleichende Betrachtungen von korrespondierendenkrankhaften Erscheinungen bei Individuen verschiedener Tierarten führen zueiner wesentlichen Bereicherung der allgemeinen Pathologie.

Wenn wir die Entstehung von Krebsgeschwülsten als pathologisches Grund-phänomen bezeichnen, so erhebt sich zunächst die Forderung, vergleichendeGeschwulstforschung auf breiter Basis, speziell unter Einbezug der spontanenBlastome der Haustiere zu betreiben. Lassen sich bei den natürlicherweise vor-kommenden Gewächsen der Haustiere Regeln ableiten, die von der human-medizinischen Geschwulstforschung bestätigt werden?

Wir wollen uns vorerst einen Überblick über die Ergebnisse der Geschwulst-forschung am Menschen verschaffen und dann von dieser Basis aus nach Ana-logien bei den Blastomen der Haustiere suchen. Wir werden gleichzeitig ver-suchen, uns die Problematik der Geschwulstforschung beim Haustier vorAugen zu führen, um der Gefahr voreiliger Deutungsversuche auszuweichen.

Das Phänomen der Geschwulstbildung beim Menschen war schon im Alter-tum bekannt. Dem Stande des damaligen ärztlichen Denkens entsprechend,wurden die von Hippokrates mit «tuma», «onkos» und ähnlichen allgemeinenTermini bezeichneten Schwellungen auf eine fehlerhafte Mischung der Kör-persäfte zurückgeführt. Von den vier Kardinalsäften— Blut, Schleim, gelbe undschwarze Galle — wurde die letztgenannte als Ursache der Geschwulstbildungbetrachtet. Diese Hypothese hat sich bis ins 18. Jahrhundert halten können.Erst mit der Entwicklung der Anatomie und insbesondere mit der Schaffungder Zellentheorie durch BROWN, SCHLEIDEN und SCHWANN trat die Krebsfor-schung aus dem Banne der überlieferten Humoralpathologie der Antike her-aus. Die Einführung einer pathologisch-anatomischen und funktionellen Be-trachtungsweise hat nicht nur das klinische Denken und Handeln fruchtbargestaltet, sondern auch die Geschwulstforschung wesentlich angeregt. Erst mitdem Ausbau der Morphologie, insbesondere der Histologie, wurde die Krebs-diagnostik auf wissenschaftliche Basis gestellt und damit eine ernsthafte For-schung ermöglicht.

Die Frage der Geschwulsterkrankungen beim Haustier wurde schon imLaufe des 18. Jahrhunderts diskutiert. Erst im 19. Jahrhundert gelangte manzur Erkenntnis, dass echte Geschwülste bei Haustieren tatsäChlich vorkommen.Seither ist eine grosse Zahl von Geschwülsten bei allen Haustierarten beschrie-ben worden. Leider sind aber diese Befunde aus dem letzten Jahrhundert oftnur lückenhaft mitgeteilt und häufig allzu willkürlich interpretiert worden.

Nach diesem kurzen historischen Überblick wollen wir uns der Frage nachdem Wes en der Geschwülste zuwenden. Wir werden uns dabei auf solcheGesichtspunkte beschränken, die für unsere Problemstellung von grundsätz-licher Bedeutung sind.

Die GesChwulstzelle ist eine körpereigene Zelle, die sich durch grosse Wu-cherungstendenz auszeichnet, wobei eigene Gesetzmässigkeiten bestehen.Sie ordnet sich nicht in den Bauplan des Organismus ein und zeichnet sich

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durch ein gleichsam rücksichtsloses Verhalten aus. Trotz dieser Eigengesetz-lichkeit entstehen Bildungen, die eine mehr oder weniger grosse Ähnlichkeitmit dem Gewebe des betreffenden Mutterbodens aufweisen. MorphologischeMethoden erlauben deshalb bei einer grossen Zahl von Geschwülsten Rück-schlüsse auf die Abstammung dieser Zellen. Der Grad der zytologischen undarchitektonischen Übereinstimmung lässt zwei Hauptgruppen, nämlich gut- undbösartige Geschwülste, unterscheiden. Wir wollen die bösartigen Geschwülste,die Malignome oder Krebse im weitern Sinne, in das Zentrum unserer Betrach-tung stellen, nicht nur, weil ihre Bedeutung für den Geschwulstträger stärkerin die Augen springt, sondern weil die charakteristischen Eigenschaften solcherWucherungen deutlicher in Erscheinung treten. Wie beim Menschen treten dieMalignome auch beim Tier häufiger auf als die gutartigen Geschwulstformen.

Bei der Katze z. B. sind ungefähr 80 % der Blastome als bösartig zu betrach-ten. Lediglich beim Rind halten sich die gut- und bösartigen Gewächse unge-fähr die Waage, weil bei dieser Tierart gewisse gutartige Hautgeschwülste, diePapillome, besonders häufig vorkommen (TAMASCHKE) .

Welches sind die histologischen Merkmale, die als Ausdruck der Malignitätaufgefasst werden dürfen? Der sich aus sich selbst heraus vermehrende Staatvon Geschwulstzellen führt zu einer Verdrängung und Infiltration der Nach-barbezirke. Die Geschwulstzellen zerstören aber nicht nur das umliegendegesunde Gewebe, sondern wuchern oft in Blut- und Lymphgefässe, in Nerven-scheiden und in Kanalsysteme verschiedener Art ein. Dieser Einbruch vonKrebsgewebe in vorgebildete Kanäle kann zur Bildung von To c h t e r -g e s c h w ü 1 s t en (Metastasen) innerhalb des gleichen Organes oder in ent-fernten Organsystemen führen. Die sog. Metastasierung ist ein fakultatives,aber sehr prägnantes Kennzeichen der Malignität, das selbstverständlich fürdie P ro g n o s e des krebskranken Organismus von entscheidender Bedeu-tung wird. Die Tochtergeschwülste stimmen histologisch weitgehend mitein-ander überein, da sie ja dem gleichen Mutterboden entstammen. Ein weiteres,für die histologische Diagnostik entscheidendes und für das biologische Ver-halten der Krebsgeschwulst charakteristisches Kennzeichen ist die sehr grosse,ich möchte sagen, übersteigerte Proliferationstendenz. Die enormen Wuche-rungen führen zu einer eigenartigen, funktionell kaum verständlichen Archi-tektur des Malignoms. Im mikroskopischen Präparat zeigen die Malignom-zellen mehr oder weniger zahlreiche Kernteilungsfiguren, die sich unter Um-ständen von normalen Mitosen morphologisch unterscheiden. Wir sehen dannstatt der symmetrischen bipolaren, gelegentlich tripolare Teilungsfiguren,wechselnde Zell- und Kerngrösse, gelegentlich ein- oder mehrkernige Riesen-zellen u. a. m. Der erhöhte Blutbedarf der sich rasch vermehrenden Zellpopu-lation kann stellenweise oft nicht mehr befriedigt werden, so dass bestimmteKrebsbezirke absterben. Das ernährende Stützgewebe kann regressive Ver-änderungen, wie Verfettung, Hyalinisierung, Verkalkung oder Verknöcherungerleiden. Als Ausdruck zirkulatorischer Störungen in den neugebildeten undvom umliegenden Geschwulstgewebe beeinflussten Blutgefässen können Blu-tungen entstehen.

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Abgesehen von der Metastasierung ist keines der soeben angeführten mor-phologischen Kriterien an sich typisch für Krebs; erst die Synthese der histo-logischen Teilphänomene gestattet die Diagnose. Die Geschwulstzelle ist abernicht nur durch morphologische Besonderheiten ausgezeichnet, sondern zeigtauch funktionelle Abweichungen von der Mutterzelle. Diese funktionellen Un-terschiede sind auf an sich unspezifische Änderungen im Enzymsystem zu-rückzuführen. Hat sich eine Körperzelle einmal zur Krebszelle umgewandelt,so behalten sie und ihre Nachkommen diese Merkmale bei.

Welche Hilfsmittel stehen der Krebsforschung zur Verfügung? Abgesehenvon morphologischen Methoden haben stoffwechselphysiologische Forschun-gen schöne, wenn auch oft zu optimistisch interpretierte Ergebnisse gezei-tigt. Grosse Möglichkeiten bieten die experimentellen Untersuchungen. Beieiner ganzen Reihe von Geschwülsten ist eine künstliche Übertragung auf ge-sunde Versuchstiere möglich. Durch fortgesetzte Bepinselung mit gewissenTeerprodukten, durch Verfütterung von Buttergelb und andern chemischenSubstanzen kann eine krebsige Entartung von Körperzellen hervorgerufen wer-den. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Stoffe während längerer Zeit ver-abreicht werden. Neben den verschiedenen sog. cancerogenen Substanzen, wieBenzpyren, Brenzkatechin, Buttergelb, Arsenverbindungen können auch phy-sikalische Noxen wie Röntgen- oder radioaktive Strahlen Krebs erzeugen. Ne-ben diesen verschiedenen Noxen sind in der Human- und speziell in der Vete-rinärmedizin auch belebt e geschwulsterzeugende Agentien bekanntge-worden. Ich erinnere hier nur an die parasitären Krebse, sowie an die Virus-geschwülste der Hühner und des Kaninchens. Überblicken wir die Vielfalt derkrebserzeugenden Noxen bei Mensch und Tier, so wird man den immer wiederauftauchenden Pressemeldungen über die Entdeckung d e s Krebserregers dienötige Skepsis entgegenbringen.

Wie kann eine solche Vielfalt von exogenen und endogepen Faktoren zueiner grundsätzlich übereinstimmenden, irreversiblen Umwandlung von Kör-perzellen führen?

Die Krebszelle ist eine kranke Zelle, die zum Schaden des Wirtsorganismusdurch die krebserzeugende Noxe nicht abgetötet, sondern umgewandelt wird.Neben einer optimalen Konzentration und einer langdauernden Verabreichungdes cancerogenen Agens ist eine gewisse Bereitschaft der Körperzellen für dieEntdifferenzierung erforderlich. Wir dürfen annehmen, dass die cancerogenenStoffe, von denen einige hundert Arten bekannt sind, solche Zellen umwan-deln, die sich in einem besonders labilen Zustand befinden. Eine solche Bereit-schaft ist z. B. bei chronischen regenerativen Reizen im weitern Sinne gegeben.

Wie kann eine solche irreversible Umwandlung körpereigener Zellen zu-stande kommen? Verschiedene Hypothesen versuchen, eine Antwort auf dieseFrage zu geben. Wir wollen uns hier auf die sogenannte M u t a t i o n s t he o-r i e beschränken, die zwar nicht den modernsten, so doch den bekanntestenVersuch darstellt, die krebsige Umwandlung zu erklären. Die Mutation beruhtbekanntlich auf einer p l ö t z l i c h en Änderung des Erbgefüges einer Zelle.In der Stammesgeschichte spielt sie bei der Entstehung neuer Arten eine Rolle.

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Neben den mutativen Änderungen der Geschlechtszellen kennt man auch einesomatische Mutation, die sich in beliebigen Körperzellen abspielen kann. ImExperiment gelingt es, durch Zufuhr von Energie, z. B. in Form von Röntgen-strahlen oder durch chemische Substanzen Mutationen zu erzeugen. Die Mu-tationstheorie (K. H. BAUER u. a.) sieht in der Umwandlung eines bestimmtenGens die Ursache der krebsigen Entartung. Ob die cancerogenen Agentien di-rekt am Kern angreifen oder primär Plasmaänderungen hervorrufen, ist nocheine offene Frage. Neuere und neueste Untersuchungen von A. v. ALBERTINIhaben mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass einseitige Betrachtungen des Zell-kerns niemals eine Antwort geben können. Auf Grund von Untersuchungenmit dem Phasenkontrast- und dem Elektronenmikroskop stellte er Beziehun-gen zwischen zytoplasmatischer Desorganisation und Malignität fest. Dieserkurze Hinweis möge genügen, um die Notwendigkeit weiterer Untersuchun-gen sowohl des Zytoplasmas als auch des Zellkernes zu unterstreichen.

Meine bisherigen Ausführungen basieren auf den Ergebnissen der human-medizinischen Geschwulstforschung.

Die Tierheilkunde hat auf dem Gebiet der Krebsforschung, vielleicht abge-sehen von den virusbedingten Geschwülsten, herzlich wenig beigetragen. DieseZurückhaltung der Veterinärpathologie beruht zur Hauptsache auf der kleinenAnzahl von tierärztlichen Geschwulstforschern, auf beschränkten Mitteln derveterinärmedizinischen Institute und nicht zuletzt auf der Fülle von prak-tisch wichtigeren Problemen, die in der Tierheilkunde noch einer Lösungharren. Die Geschwülste beim Haustier sind mehr von theoretischem Interesse,denn verglichen mit den Seuchen oder Mangelkrankheiten stellen sie keingrosses wirtschaftliChes Problem dar. Die Problemstellung in der Veterinär-pathologie und der gesamten Tierheilkunde überhaupt, darf sich aber nicht nurnach wirtschaftlichen Gesichtspunkten richten. Die Veterinärpathologie, diezwar zunächst eine Krankheitslehre der verschiedenen Haustierarten ist, hatdie unschätzbare Möglichkeit, die bei verschiedenen Tierarten ge-wonnenen Erfahrungen zu vergleichen, Gemeinsames zu einer Hypothese zuverbinden und nicht Übereinstimmendes bei der Interpretation zu berücksich-tigen.

Es steht heute ausser Zweifel, dass das Phänomen der Geschwulstbildungkeineswegs eine spezifische Eigenheit der Spezies Homo sapiens darstellt. Wirwissen, dass prinzipiell nicht nur alle Haussäugetiere, sondern überhaupt alleSäuger krebsanfällig sind. Seit etwa 80 Jahren ist bekannt, dass Malignome beiVögeln, ferner auch bei Reptilien, Amphibien und Fischen vorkommen. DerKrebs kann somit als potentielle Krankheit aller Wirbeltiere bezeichnet werden.Offenbar bestehen Beziehungen zwischen der Regenerationsfähigkeit der Ge-webe und der biologischen bzw. phylogenetischen Organisationsstufe. Die Re-generationsfähigkeit der Gewebe ist bekanntlich bei den Wirbeltieren bedeu-tend geringer als bei den primitiven Organismen. Bei höher organisierten Tie-ren nimmt offenbar die Regenerationsfähigkeit ab. An Stelle des fast unbegrenz-ten Regenerationsvermögens der Wirbellosen tritt beim Wirbeltier die Mög-lichkeit der krebsigen Entartung.

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Wenn wir die Geschwulstentstehung als pathologisches Grundproblem derhöher entwickelten Tiere bezeichnen, so setzen wir voraus, dass bei den ver-schiedenen Tierarten Analogien vorhanden sind, aus denen sich allgemein-gültige Schlüsse ziehen lassen. Welchen Beitrag kann nun die Veterinärmedi-zin zur Geschwulstforschung liefern? Können die Beobachtungen am Ver-suchstier mit den Erfahrungen am spontan erkrankten Haustier koordiniertwerden? Nur wenn sich wesentliche Übereinstimmungen herauslesen lassen,sind wir berechtigt, von einem pathologischen Grundphänomen zu sprechen.

Wir wollen uns im Folgenden auf die epithelialen Malignome, die Carci-nome im engern Sinne der domestizierten Säugetiere beschränken und Ver-gleiche mit dem Carcinom des Menschen anstellen. Lassen Sie mich folgendevier Gesichtspunkte aus der Vielfalt der Probleme herausgreifen:

1. Wie müssen die Krebsstatistiken unserer Haustiere interpretiert werden?2. Welches sind die für Krebs anfälligen Organe bei den verschiedenen

Haustieren?3. Lassen sich aus den veterinärpathologischen Beobachtungen Rückschlüsse

auf die Krebsursache ziehen?4. Kann die humanmedizinische Einteilung der Geschwülste prinzipiell auch

von der Tierheilkunde übernommen werden?

Die Statistik der Krebsgeschwülste bei unseren Haustieren ist letzten Endesein Problem der Alter s s t a f f e l u n g der verschiedenen Populationen. Wiebeim Menschen ist das Vorkommen von Carcinomen beim Tier grundsätzlich injeder Altersstufe möglich. Die Zahl der Carcinome im engern Sinne nimmt mitdem Alter eindeutig zu. Ganz allgemein können wir ihre maximale Häufigkeit indas vierte Fünftel des biologischen Lebensalters verlegen. Überlegen wir unsaber, dass gewisse Haustiere, wie z. B. das Schwein, bereits im jugendlichen Altergeschlachtet werden, so werden wir uns der Schwierigkeiten einer vergleich-baren Krebsstatistik erst richtig bewusst. Aber auch diejenigen domestizier-ten Tiere, die wegen des geringen Schlachtwertes ein relativ höheres Alter er-reichen, gelangen oft kaum ins Carcinomalter. Unsere Pferde können beispiels-weise ein Alter von 35 Jahren erreichen, der Landwirt wird aber bereits sein20jähriges Pferd durch ein jüngeres, leistungsfähigeres ersetzen. Beim Rindliegt das durchschnittliche Schlachtalter bei 7-8 Jahren. Bei Hund und Katzeliegen die Verhältnisse etwas günstiger, da stärkere gefühlsmässige Bindungendes Besitzers bestehen und ein Schlachterlös, wenigstens in der Schweiz, nichtin Betracht gezogen wird. In der Statistik von DOBBERSTEIN wurde diemaximale Frequenz der Carcinome beim 11jährigen Hund angegeben. Diebösartigen Geschwülste des Binde- und Stützgewebes treten auch im jugend-lichen Alter relativ häufig auf. Die Altersstaffelung der Haustiere ist Grundfür die verhältnismässig grosse Zahl von Sarkomen. Vergleichen wir das Ver-hältnis der Carcinome zu den Sarkomen beim jugendlichen Menschen mit dem-jenigen beim Haustier, so erhalten wir fast über eins t i m m en d e Zahlen-verhältnisse. Die Carcinome stellen bei fast allen Haussäugetieren die domi-

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nierende Geschwulstart dar. LedigliCh beim Schwein treffen wir neben Misch-tumoren vor allem Geschwülste des Stützgewebes an. Es hängt dies mit demniedrigen Lebensalter dieser Tiere zusammen.

Die veterinär-medizinische Geschwulststatistik hat sich mit vielschichtigenProblemen auseinanderzusetzen, die bei vergleichenden Betrachtungen sorg-fältig berücksichtigt werden müssen. Wohl am zuverlässigsten sind die Krebs-statistiken bei Hund und Katze, wobei allerdings auch dort die Wahrschein-lichkeit der Sektion bzw. der klinischen Feststellung von verschiedenen Fak-toren abhängt. Um die Carcinomstatistik des Menschen einerseits und die-jenige von Pferd, Hund und Katze andererseits ohne weiteres vergleichen zukönnen, müsste die Humanmedizin ihre Statistik beim 50jährigen MensChenabschliessen.

Bei gewissen Krebsgeschwülsten des Menschen besteht eine eindeutige G e -s c h l e c h t s d i s p o s i t i o n. Können wir bei unseren Haustieren ähnlicheBeobachtungen erheben? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir unsvergegenwärtigen, dass z. B. beim Rind das zahlenmässige Verhältnis dermännlichen zu den weiblichen Tieren sich ungefähr wie 1 : 10 verhält, wäh-rend bei Pferd, Schwein, Hund und Katze die beiden Geschlechter unge-fähr gleich häufig vertreten sind. Die Zahl der männlichen Rinder, Schafe undZiegen ist in den meisten Fällen zu klein, um irgendwelche statistischen Er-hebungen anzustellen. Bei den übrigen Haustieren kann die Frage der Ge-schlechtsdisposition kaum befriedigend beantwortet werden, weil entspre-chende Untersuchungen auf einem zu kleinen Material basieren. Nach unserenErfahrungen sind z. B. primäre Nierencarcinome beim Rüden eindeutig häu-figer als bei der Hündin (STUNZI) .

Beim Pferd und wohl auch beim Fleischfresser lässt sich der Einfluss derK a s t r a t i o n auf die Krebsfrequenz studieren. Nach DOBBERSTEIN tre-ten z. B. Peniscarcinome beim WallaCh in relativ viel grösserer Zahl auf alsbeim Hengst, während Milchdrüsengeschwülste bei Hündinnen nach unserenErfahrungen häufiger sind als bei kastrierten Tieren.

Ein weiteres Problem, das noch der Abklärung bedarf, ist die Frage derR a s s e n d i s p o s i t i o n. Es gibt aber z. B. bei Hunden, Pferden und Katzenderart viele Rassen, dass die einzelnen Gruppen auch in einem grösseren Unter-suchungsmaterial zu klein werden. Wir wissen lediglich, dass gewisse Hirn-geschwülste bei kurzköpfigen Hunderassen, wie Boxern, Bulldoggen usw. be-sonders häufig auftreten (DOBBERSTEIN). Die Frequenz der Melanosar-kome des Pferdes hängt eindeutig von der Haarfarbe ab. So werden Melano-sarkome bei fast allen alten Schimmelpferden beobachtet.

Die älteren Krebsstatistiken der Haustiere basieren oft auf einem zu klei-nen und manchmal etwas willkürlich klassifizierten UntersuChungsmaterial.Aber auch in den modernen Statistiken lassen sich gewisse Lücken kaum ver-meiden, weil das Untersuchungsmaterial in mancher Hinsicht zu klein ist. Sta-tistische Erhebungen an einem kleinen Sektionsmaterial können aber ausfolgenden Gründen doch eine Bedeutung erlangen. In der Schweiz besteht zwi-schen der Grösse der Haustierpopulationen und der Zahl der Menschen folgen-

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des Verhältnis, wobei die entsprechenden Zahlen für Deutschland in Klam-mern beigefügt werden: Auf 100 Menschen entfallen 3 (5) Pferde, 36 (30)Rinder, 20 (35) Schweine, 4 (5), Schafe, 3 Ziegen, 6 (5) Hunde und rund 138Hühner. Diese Proportionen lassen erkennen, dass sich jede Statistik aus demGebiet der Veterinärpathologie a priori auf ein kleineres Material stützen muss.

Geschwülste verschiedener Art sind sowohl bei wildlebenden als auch beiTieren aus zoologischen Gärten beschrieben worden. Die Altersstaffelung istbei diesen Tierarten aber derart schwierig zu beurteilen, dass statistische Er-hebungen kaum möglich sind. Oft sind solche Fälle laienhaft oder unvollständiguntersucht und beschrieben worden, so dass auf weittragende Rückschlüsseverzichtet werden muss.

Zusammenfassend dürfen wir feststellen, dass eine Geschwulststatistik beiden verschiedenen Haustieren grundsätzlich möglich ist, dass uns aber in derInterpretation grösste Zurückhaltung auferlegt ist.

Wenden wir uns der zweiten Frage zu: W e l c he s sind die f ü r K r e b sprädestinierten Organe beim Haustier?

Wir wollen vorerst feststellen, dass nach den modernen veterinärpatholo-gischen Geschwulststatistiken die Frequenz der Carcinome beim Rind unge-fähr 2, beim Pferd 2 bis 3, beim Hund rund 5 und bei der Katze 4 bis 5 % beträgt.

Beim Pf er d sollen die Carcinome der Nasenschleimhaut (inklusiveSchleimhaut der Nasennebenhöhlen), des Penis und der Lidbindehäute domi-nieren. Beim Rind steht der Krebs derLidbindehäute an erster und derjenigeder Leber an zweiter Stelle. Beim H u n d, über dessen Geschwülste wir ambesten orientiert sind, herrschen die Carcinome der Schilddrüse, der Milch-drüse und der Haut vor.

In Stockholm z. B. dominiert bei Hunden das Schilddrüsencarcinom,(STÜNZI), während in unserem Zürcher Sektionsmaterial das Malignom derMamma überwiegt (STÜNzi) . Diese beiden Geschwulstformen stehen bei fastallen modernen Statistiken an der Spitze.

Beim M e n s c h e n steht bekanntlich der Magenkrebs an erster Stelle. BeiPferd, Rind, Schaf, Ziege, Kaninchen und Hund sind Carcinome des Magensselten, sie stehen an 10. bis 14. Stelle der Statistiken. Dagegen sollen Ge-schwülste des Zahnfleisches bei Pferd und Hund relativ häufiger vorkommenals beim Menschen. Nach COTCHIN leiden die Katzen in England nicht seltenan Carcinomen der Speiseröhre, auch werden dort anscheinend viele Krebseder Tonsillen beim Hund festgestellt.

Der Krebs der A t m u n g s o r g a n e tritt beim Haustier häufiger auf. BeimPferd entfallen nach DOBBERSTEIN nicht weniger als 18 % aller- Carcinomeauf die Respirationsorgane. Es handelt sich dabei allerdings vorwiegend umKrebse der Nasenschleimhaut. Die Lungengeschwülste bei Pferd, Rind undHund machen etwa 4 bis 7 % aller Krebsgeschwülste aus. Auffallend seltenwerden Kehlkopfs-, Portio- und Prostatacarcinome beschrieben. Beim Hundwerden in der Vorsteherdrüse allerdings gelegentlich krebsige Prozesse be-obachtet, doch sollen sie auch dort etwa dreimal seltener sein als beim Men-

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schen2) . Die neuem veterinärmedizinischen Statistiken lassen eindeutig er-kennen, dass jede Spezies ihre eigenen Prädilektionsstellenf ü r K r e b s g e s c h w ü 1 s t e hat. Diese Unterschiede dürften mit dem ana-tomischen Bau und der funktionellen Beanspruchung der Organe, d. h. mit Dis-position und Exposition zu erklären sein. Wie bei den Infektionskrankheitenlässt sich hier die Regel aufstellen, dass nah verwandte Tierarten eine ähnlicheDisposition aufweisen. Diese Erfahrung verdient bei der Auswahl der Ver-suchstiere Beachtung. Man wird für die experimentelle Forschung stets die-jenigen Tierarten wählen, bei der die betreffende Krankheit auch unter natür-lichen Umständen häufig vorkommt.

Wenn die Hauptlokalisation der Carcinome von Tierart zu Tierart wechselt,so sollte es möglich sein, gewisse Hypothesen über auslösende Faktoren beieinzelnen Organkrebsen mit Hilfe der veterinärpathologischen Erfahrungenzu überprüfen. Die Frage nach der kausalen und f o r m a l e n Gen es edes Car c i n o m s der Haustiere soll deshalb etwas eingehender diskutiertwerden.

Wenden wir uns vorerst der Frage nach der Entstehungsweise der Ge-schwülste zu! Wir haben bei unsern allgemeinen Ausführungen bereits daraufhingewiesen, dass die krebsige Umwandlung in eine Phase der besonderenLabilität des Teilungsapparates der Zelle verlegt werden darf. Solche Bedin-gungen sind bei langdauernden, intensiven Regenerationen gegeben. Offen-bar ist die Quote der normalen Mitosen beschränkt. Diese Annahme basiertu. a. auf der alten Erfahrung, dass die Carcinome im höhern Lebensalter häu-figer auftreten und dass bei der experimentellen Geschwulsterzeugung mitirgendwelchen cancerogenen Stoffen stets mit einer langen Latenzzeit gerechnetwerden muss. Dieses präcanceröse Stadium ist durch eine starke Regenerationvon Zellen gekennzeichnet. Solche abnormen Zellwucherungen können durchexogene, belebte oder unbelebte krebserzeugende Substanzen oder auch durchendogene Faktoren wie lang dauernde hormonale Störungen ausgelöst werden.Endokrine Störungen sind offenbar beim Tier, bei dem ja das Stammhirn alsfunktionelles Prinzip dominiert, seltener als beim Menschen, bei dem der Ein-fluss der Grosshirnrinde überwiegt.

In den Lehrbüchern der Pathologie wird unterschieden zwischen Teratomen,dysgenetischen und sogenannten Reizgeschwülsten. Wir wollen die Teratomehier nicht miteinbeziehen. Die sogenannten dysgenetischen oder dysontogene-tischen Geschwülste nehmen ihren Ursprung von liegen gebliebenen embryo-nalen Zellgruppen. Diese verlagerten Keime befinden sich in einem fremden,inadäquaten Milieu und können jederzeit blastomatös entarten. Die dysgeneti-schen Geschwülste sind selbstverständlich vom Alter des betreffenen Organis-mus wenig abhängig. Wir finden deshalb gerade beim jüngern Tier relativhäufig solche Gewächse. Nach einer Zusammenstellung von TAMASCHKE sollenbeim Pferd 4,3, beim Hund 6,9 und beim Schwein sogar 26,2 % der Blastomeals Mischgeschwülste zu betrachten sein. Unter diesen Mischgeschwülsten des

2) DOBBERSTEIN.

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Schweines dominiert mit 64 % das sogenannte embroyonale Nephrom, einespezielle Geschwulst der Niere. Wir werden aus diesen und ähnlichen Fest-stellungen keine allzu grossen Rückschlüsse ziehen dürfen, denn das Schweinerreicht kaum die Schwelle des Carcinomalters. Wir werden deshalb bei die-sen jugendlichen Tieren vor allem solche Geschwülste antreffen, die vomAlter weniger abhängig sind. Beim Schwein kommt allerdings noch ein wei-terer Umstand hinzu: Wir beobachten bei dieser Tierart besonders häufigMissbildungen im Harngeschlechtsapparat (Zystennieren, Ovariotestis usw.).Die relativ grosse Frequenz solcher Missbildungen lässt es verständlich werden,weshalb wir bei dieser Tierart häufiger embryonale Nephrome feststellenkönnen als z. B. bei Hund und Katze (STÜNZI)

Die Annahme, dass chronische hormonale Störungen als krebsbegünstigendeFaktoren in Betracht kommen, erhält eine Stütze durch folgende Beobach-tungen: Wir können bei den meisten älteren Hündinnen, die eine Milchdrüsen-geschwulst aufweisen, Eierstockzysten und chronische Gebärmuttérentzün-dungen feststellen. Die krankhaften Veränderungen der Ovarien und derGebärmutterschleimhaut deuten auf eine hormonale Störung. SystematischeUntersuchungen über solche funktionellen Zusammenhänge stehen im Arbeits-programm unseres Institutes.

Beim Menschen stehen die sogenannten Reiz g es c h w ü 1 s t e im Vorder-grund. Schädigungen chemischer oder physikalischer Art, die während länge-rer Zeit einwirken, können nach einer jahrelangen Latenzzeit den Anstoss zurKrebsentstehung geben. Hierher gehören die in der Humanmedizin gut be-kannten B e r u f skr e b s e, z. B. der Anilin-, Chromat- und Asbestarbeiter.Diese Leute sind durch ihren Beruf den schädigenden Einflüssen dieser Stoffewährend Jahrzehnten ausgesetzt und erkranken im höhern Alter oft an Harn-blasen- bzw. Lungenkrebs.

Wir kennen in der Tierheilkunde Leiden, die mit den Berufskrankheiten desMenschen in Analogie gesetzt werden können (vgl. HEUSSER) . Diese äus-sern sich beim Haustier vorwiegend in Entzündungen gewisser überbean-spruchter Organe, z. B. der Sehnen der Zug- und Reitpferde, der Milchdrüsedes Rindes u.a.m. Eigentliche Berufskrebse im Sinne der Humanmedizin sindaber beim Haustier kaum bekannt geworden. Ein seltenes Beispiel stellt dasCarcinom an der Hornbasis gewisser Zeburassen dar, die mittels eines derHornbasis aufliegenden Joches zum Zug verwendet werden. Wir müssen an-nehmen, dass Haustiere mit chronischen Entzündungen getötet werden, bevorsich eine Krebsgeschwulst entwickeln kann. Das Lebensalter unserer land-wirtschaftlichen Nutztiere wird ja in erster Linie von ökonomischen Gesichts-punkten bestimmt.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der K r e b s der V er -dauun gs o r g an e beim Haustier selten vorkommt. Eine Ausnahmescheint der Zungen- und Speiseröhrenkrebs der Katze darzustellen. (Co-TCHIN) . Die Hypothese, dass die kleine Zahl von Zungen-, Speiseröhren-,Magen- und Darmcarcinomen beim Tier mit der Ernährung in Zusammenhangstehe, dürfte wohl zu Recht bestehen. Da dem Haustier im allgemeinen weder

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scharf gewürzte noch heisse Speisen verabreicht werden, sind chronische Rei-zungen der Verdauungsorgane kaum zu erwarten. Ich möchte noch als Rand-bemerkung beifügen, dass nervös bedingte Magen- und Darmleiden, wie z. B.Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre beim Haustier nicht oder nur äusserstselten vorkommen.

Die virusbedingten spontanen Geschwülste des Huhnesu n d des K a n i n c h e n s haben in der Humanmedizin kein Analogon. Eswürde zu weit führen, auf diese hochinteressanten, praktisch aber wenigerwichtigen Gewächse näher einzutreten. Die Frage nach der Ursache der Ge-schwulstbildung hat durch diese Beobachtungen eine wertvolle Bereicherungerfahren.

Bei der Ratte ist es gelungen, durch Verfütterung von bestimmten Rund-würmern Magengeschwülste hervorzurufen (FIBIGER) . Als Prototyp einerdurch Parasiten induzierten Geschwulst wäre der B i l h a r z i a k r e b s desMenschen zu betrachten. Dieses Harnblasencarcinom macht in Ägypten 6,5 %aller Krebsgeschwülste aus. Es wird vorwiegend bei den Fellachen angetroffen,die bei der Bebauung ihrer Felder im Nilschlamm waten und dabei Bilharziaaufnehmen. Diese Würmer schmarotzen in der Harnblasenschleimhaut undrufen schliesslich krebsige Wucherungen hervor. Ähnliche Beobachtungen las-sen sich aus der Veterinärmedizin anführen: Viele Katzen in Holland leidenan Leberegelkrankheit und bekommen anscheinend häufig primäre Leber-carcinome (Hoo0LAND) . Bei unseren K atz en tritt der Leberegel nicht auf;dementsprechend ist das primäre Lebercarcinom unserer Katzen äusserstselten. Beim Schaf sind drüsige Geschwülste in der Lunge ziemlich häufig. Dafast alle Schafe Würmer haben, die in der Lunge schmarotzen, wurde von ver-schiedener Seite dieser Parasit als Ursache der Lungenadenome betrachtet.

Die letzte Frage, die wir in unsere Betrachtung einbeziehen wollen, beziehtsich auf die Klassifikation der Geschwülste des Haustieres.

Grundsätzliche Unterschiede bezüglich des Bauschemas von Geschwülstenbestehen bei den einzelnen Tierarten nicht. Es ist dem Histologen nicht mög-lich zu entscheiden, ob ein Carcinom von einem Pferd oder von einer Katzestammt. Die tierartlichen Unterschiede beziehen sich lediglich auf die Fre-quenz der Krebse in den einzelnen Organen.

Die Tendenz, Tochtergeschwülste zu bilden, dürfte beim Haustier eher klei-ner sein als beim Menschen. Diese Frage lässt sich aber kaum befriedigend be-antworten, weil hier die frühzeitige Schlachtung die Wahrscheinlichkeit derMetastasierung einschränkt.

Soweit unsere Erfahrungen reichen, kann die humanmedizinische Klassifi-kation der Geschwülste im Prinzip auch von der Veterinärpathologie über-nommen werden. Die einzelnen Geschwulstgruppen können, soweit wir wissen,grundsätzlich bei a 11 e n Tierarten vorkommen. Dass beim Haustier bisher z. B.'keine Chorionepitheliome gefunden warden sind, hängt selbstverständlich mitder besonderen Art der Plazentation beim Menschen zusammen. Wir habenin der Veterinärmedizin vereinzelte Geschwulstformen, die beim Menschennicht vorkommen, bzw. noch nicht beschrieben worden sind. Es wären hier

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gewisse Geschwülste beim Hund zu erwähnen, z. B. bestimmte übertragbareMalignome der Haut, ferner Tumoren, die von den Chemorezeptoren der Herz-basis ausgehen (BLoom, STUNZI) .

Die Beobachtungen an spontanen Gewächsen unserer Haussäugetiere lassenfolgende, für die vergleichende Pathologie wichtige Schlüsse ziehen:

Das Carcinom ist bei Mensch und Haustier eine Krankheit des höhernLebensalters. Die Häufigkeit und die bevorzugte Lokalisation der Krebsge-schwülste variiert von Tierart zu Tierart. Die artspezifische Frequenz der ein-zelnen Organkrebse ist abhängig vom Bau und insbesondere von der Funktionder einzelnen Organe. Disposition und Exposition entscheiden über die Häufig-keit der in einem bestimmten Organ auftretenden Carcinome; hingegen bestehtkein grundsätzlicher Unterschied im morphologischen oder funktionellen Ver-halten. Wie beim Menschen hat auch das Carcinom der Haustiere ganz ver-schiedene Ursachen. Chronische Entzündungen verbunden mit starker Re-generation oder hormonale Störungen kommen beim Tier wie beim Menschenals krebsauslösende Faktoren in Betracht. Die Klassifikation der Geschwülstedes Menschen kann von der Veterinärmedizin übernommen werden. Die weit-aus meisten Geschwulstformen des Menschen kommen auch beim domestizier-ten Säugetier vor; Ausnahmen lassen sich grösstenteils durch artspezifischeBesonderheiten in Bau und Funktion der Organe erklären.

Diese grundsätzlichen Übereinstimmungen gestatten uns, den Krebs alspathologisches Grundphänomen zu bezeichnen.

Bei der Komplexität des Geschwulstproblems können statistische Unter-suchungen nur an einem grösseren Material befriedigend interpretiert werden.Wir sehen uns deshalb vor die Aufgabe gestellt, die tierärztliche Geschwulst-forschung (trotz geringer ökonomischer Bedeutung für die Landwirtschaft),beständig zu intensivieren. Aus den Beobachtungen an spontanen Geschwül-sten unserer Haustiere lassen sich allgemeingültige Rückschlüsse ziehen, diefür die Interpretation der Tierversuche wertvoll sind und darüber hinaus einerecht interessante Ausweitung der allgemeinen Pathologie darstellen.