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13 Dietmar Rieger Vom Geschehen zum Text-Ereignis und zurück. Drei Beispiele transnationaler Medienereignisse Die notwendige und grundlegende theoreti- sche Begriffsbestimmung und die Erarbeitung eines narratologisch-genetischen Beschrei- bungsmodells transnationaler Medienereignis- se, vom historischen Geschehen zu seiner me- dialen Umsetzung und deren Wirkungsge- schichte, die eines der Ziele unseres Graduier- tenkollegs darstellen, bedürfen der sie orientie- renden Fallbeispiele. Drei derartige Beispiele von Medienereignissen will ich im Folgenden skizzieren, die sich grundlegend voneinander unterscheiden, aber beileibe nicht alle Möglich- keiten jener Entwicklungsgeschichte vom his- torischen Geschehen zum Medienereignis re- präsentieren. Ich lege dabei einen weiten Lite- raturbegriff zugrunde und spreche nicht von Gattungen, sondern von Textsorten. Eine theo- retische Grundlegung schicke ich voraus. Ich gehe in meiner Systematik von jenem rela- tiv einfachen, sicherlich weiter zu nuancieren- den und komplettierenden Modell aus, das Karlheinz Stierle 1970 formuliert hat 1 und das ich hier ein wenig variiere und ergänze – näm- lich dem Modell der dreigliedrigen Textkonsti- tutionsrelation von Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte: Das Geschehen, das sich aus der Totalität von einzelnen (noch nicht mit einem Sinn versehenen) Momenten zusam- mensetzt, ist eigentlich ein Kontinuum ohne Anfang und ohne Ende. Zu einer Geschichte wird Geschehen erst, wenn aus ihm ein ganz bestimmter zeitlicher Ausschnitt herausgegrif- fen und dieser – nicht zuletzt durch Selektion und Akzentuierung – mit einem Ablaufsinn be- gabt, also interpretiert wird. Oder anders: Die Geschichte ist eine sich in der Regel nach nar- rativen Mustern vollziehende Aneignungs- handlung von Geschehen, bei der die entschei- dende Konsistenzbildung – man könnte sogar von einer Art Konsistenzdruck sprechen – auf der Grundlage eines jeweils spezifischen Wis- sens vom Geschehen und der Deutung und Ideologisierung dieses Wissensbestands er- folgt. Es ist klar: Zu einem Geschehensaus- schnitt gibt es viele Möglichkeiten von Ge- schichte. Außerdem: Man kann jede dieser Ge- schichten durchaus auch als narrative Formulie- rung eines Diskurses fassen. Der Text der Ge- schichte kann dann als subjektive, wenn auch in der Regel kollektiv gesteuerte, sich meist im intertextuellen Bezug auf andere, entsprechen- de Texte vollziehende – aber auch bereits im Augenzeugenbericht vorliegende – sprachlich- schriftliche Fixierung einer Geschichte über die durch unendlich viele variable Voraussetzun- gen und Bedingungen bestimmten Zwi- schenschritte der „dispositio“ und der „elocu- tio“ beschrieben werden. Es sind die verschie- denen, nicht immer nur narrativen, aber als „narrative Abbreviaturen“ (Jörn Rüsen) stets auf die Narrativität der Geschichte verweisen- den „Texte der Geschichte“, die als sprachliche Neukonstitution und -strukturierung von Ge- schehen durch eine quantitative und qualitati- ve Wertung in Bezug auf das jeweilige Vorher und Nachher letztlich über dessen Status als prinzipiell bedeutungsoffenes Ereignis ent- scheiden. Ich meine damit auch: Geschichtliche Ereignisse gibt es nur, insofern ihnen zugrunde liegende Begebnisse durch Texte und andere Medien als Ereignisse in ausreichender Dichte narrativ und in der Regel auch kontrovers und miteinander konkurrierend repräsentiert, d.h. inszeniert werden. Dass dabei literarische Texte – im Interesse besonderer ästhetischer und/ oder ideologischer Funktionalisierungen, ja In- strumentalisierungen eines Ereignisses – über ein ungleich größeres Maß an Möglichkeiten Auf der Eröffnungsveranstaltung des Graduiertenkol- legs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ (29. Januar 2004) gehalte- ner Vortrag.

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Dietmar Rieger

Vom Geschehen zum Text-Ereignis und zurück.Drei Beispiele transnationaler Medienereignisse★

Die notwendige und grundlegende theoreti-sche Begriffsbestimmung und die Erarbeitungeines narratologisch-genetischen Beschrei-bungsmodells transnationaler Medienereignis-se, vom historischen Geschehen zu seiner me-dialen Umsetzung und deren Wirkungsge-schichte, die eines der Ziele unseres Graduier-tenkollegs darstellen, bedürfen der sie orientie-renden Fallbeispiele. Drei derartige Beispielevon Medienereignissen will ich im Folgendenskizzieren, die sich grundlegend voneinanderunterscheiden, aber beileibe nicht alle Möglich-keiten jener Entwicklungsgeschichte vom his-torischen Geschehen zum Medienereignis re-präsentieren. Ich lege dabei einen weiten Lite-raturbegriff zugrunde und spreche nicht vonGattungen, sondern von Textsorten. Eine theo-retische Grundlegung schicke ich voraus.Ich gehe in meiner Systematik von jenem rela-tiv einfachen, sicherlich weiter zu nuancieren-den und komplettierenden Modell aus, dasKarlheinz Stierle 1970 formuliert hat1 und dasich hier ein wenig variiere und ergänze – näm-lich dem Modell der dreigliedrigen Textkonsti-tutionsrelation von Geschehen, Geschichteund Text der Geschichte: Das Geschehen, dassich aus der Totalität von einzelnen (noch nichtmit einem Sinn versehenen) Momenten zusam-mensetzt, ist eigentlich ein Kontinuum ohneAnfang und ohne Ende. Zu einer Geschichtewird Geschehen erst, wenn aus ihm ein ganzbestimmter zeitlicher Ausschnitt herausgegrif-fen und dieser – nicht zuletzt durch Selektionund Akzentuierung – mit einem Ablaufsinn be-gabt, also interpretiert wird. Oder anders: DieGeschichte ist eine sich in der Regel nach nar-rativen Mustern vollziehende Aneignungs-

handlung von Geschehen, bei der die entschei-dende Konsistenzbildung – man könnte sogarvon einer Art Konsistenzdruck sprechen – aufder Grundlage eines jeweils spezifischen Wis-sens vom Geschehen und der Deutung undIdeologisierung dieses Wissensbestands er-folgt. Es ist klar: Zu einem Geschehensaus-schnitt gibt es viele Möglichkeiten von Ge-schichte. Außerdem: Man kann jede dieser Ge-schichten durchaus auch als narrative Formulie-rung eines Diskurses fassen. Der Text der Ge-schichte kann dann als subjektive, wenn auchin der Regel kollektiv gesteuerte, sich meist imintertextuellen Bezug auf andere, entsprechen-de Texte vollziehende – aber auch bereits imAugenzeugenbericht vorliegende – sprachlich-schriftliche Fixierung einer Geschichte über diedurch unendlich viele variable Voraussetzun-gen und Bedingungen bestimmten Zwi-schenschritte der „dispositio“ und der „elocu-tio“ beschrieben werden. Es sind die verschie-denen, nicht immer nur narrativen, aber als„narrative Abbreviaturen“ (Jörn Rüsen) stetsauf die Narrativität der Geschichte verweisen-den „Texte der Geschichte“, die als sprachlicheNeukonstitution und -strukturierung von Ge-schehen durch eine quantitative und qualitati-ve Wertung in Bezug auf das jeweilige Vorherund Nachher letztlich über dessen Status alsprinzipiell bedeutungsoffenes Ereignis ent-scheiden. Ich meine damit auch: GeschichtlicheEreignisse gibt es nur, insofern ihnen zugrundeliegende Begebnisse durch Texte und andereMedien als Ereignisse in ausreichender Dichtenarrativ und in der Regel auch kontrovers undmiteinander konkurrierend repräsentiert, d.h.inszeniert werden. Dass dabei literarische Texte– im Interesse besonderer ästhetischer und/oder ideologischer Funktionalisierungen, ja In-strumentalisierungen eines Ereignisses – überein ungleich größeres Maß an Möglichkeiten

★ Auf der Eröffnungsveranstaltung des Graduiertenkol-legs „Transnationale Medienereignisse von der FrühenNeuzeit bis zur Gegenwart“ (29. Januar 2004) gehalte-ner Vortrag.

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der Komplexitätsreduktion oder -steigerung,überhaupt an Deutungsspielräumen, fiktiona-len „Spielfreiheiten“ und Inszenierungspoten-tialen, ja auch Mythisierungslizenzen verfügenals etwa historiographische – bis hin zur achro-nologischen und denarrativierenden Umgestal-tung –, versteht sich von selbst. Doch auch sienehmen am öffentlich-medialen Dialog überdas Ereignis als Ereignis – wenn auch in beson-derer Weise – teil, und auch sie erinnern nichtnur an Vergangenheit, sondern sind auch alsProjekt in die geschichtliche Zukunft gerichtet.

Meine drei Beispiele nenne ich:

1. Texte der Geschichte streben nach einer Peripetie imGeschehen, oder: Von einem Ereignis zum nächsten.

2. Vom Text über das Ereignis zum Text, oder: Von dermedialen Inszenierung eines Ereignisses.

3. Von Texten der Geschichten zurück zum Ereignis,oder: Auf der Suche nach dem Geschehen.

1. Texte der Geschichte streben nach einerPeripetie im Geschehen, oder: Von einem Ereignis zum nächsten

Innerhalb des europäischen Medienereignissesdes Untergangs des Jesuitenordens spielt der zuBeginn des 17. Jahrhunderts entstandene Jesui-tenstaat von Paraguay eine entscheidendeRolle.2 Dieser geistlich-weltliche Missionsstaatwehrte sich nach 1750 gegen territoriale Eingrif-fe der Kolonialmacht Spanien, die sich in Süda-merika mit Portugal zu arrangieren versuchteund die Jesuiten verdächtigte, ein souveränestheokratisches oder auch nur hierokratisches Im-perium errichten zu wollen. Seit 1756 kam es zumilitärischen Auseinandersetzungen, zu Strafex-peditionen der Spanier gegen die Jesuiten undihre schwer zugänglichen „reducciones“. Mitder Vertreibung des Jesuitenordens aus Spanien(1767) ist schließlich auch die Geschichte des Je-suitenstaats von Paraguay beendet.Die europäische Medienlandschaft reagierteauf diese Ereignisse und diskutierte den Jesui-tenstaat als christliche Republik und jesuitischeUtopie in höchst kontroverser, aber fast durch-weg mythisierender, so gut wie nicht durch denAugenschein beglaubigter Weise. Das Materi-al, das zur Konstruktion von verschiedenen Pa-raguay-„Geschichten“ dienen konnte, stamm-te in der Hauptsache aus der Feder jesuitischer

Missionare selbst. Als besonders pikant mussdie Tatsache auffallen, dass gerade viele Auf-klärer zu den vehementesten Verteidigerngehören. Nicht nur der gemäßigt-aufkläreri-sche italienische Historiograph Muratori (1743)oder der parteiische Jesuit Père de Charlevoix(1756) feiern den Missionsstaat als Quelle desGlücks, des Wohlstands und der (von den Pat-res „regulierten“) Freiheit (Muratori). Auch einMontesquieu preist 1748 im Esprit des lois diehumanitär-zivilisatorischen Leistungen der Je-suiten in Paraguay und vergleicht deren Staats-wesen mit Sparta und der Römischen Republik.Melchior Grimm hält – bei aller Kritik – die in kommunistisch-kollektivistisch organisiertenchristlichen Lebens- und Produktionsgemein-schaften lebenden Guarani-Indianer für dieglücklichsten Menschen. Und auch die abtrün-nigen Jesuitenschüler Mably und Raynal stehendem – so Raynal – „plus bel édifice qui ait étéélevé dans le Nouveau-Monde“, dem „schöns-ten ‚Bauwerk’, das in der Neuen Welt errichtetwurde“, noch nach der Vertreibung der Jesui-ten aus Spanien im wesentlichen positiv ge-genüber – und sei es wegen des Gemeineigen-tums. Einer der wenigen, die Bemühen um Ob-jektivität erkennen lassen, ist Bougainville, derselbst aber auch nur bis Buenos Aires gelangtwar. Diderot dagegen wird etwa ein Jahr nachBougainvilles Voyage autour du monde (1771),im Supplément au voyage de Bougainville, anden „grausamen Spartiaten“, den Sklaven-schindern, Ausbeutern, Eigentumsdieben undMöchtegerngöttern kein gutes Haar lassen.Zweifellos ist es aber Voltaire, dem Erzfeind derJesuiten, auf zwei Textsortenebenen gelungen,zumindest im Lager der „philosophes“ zu ver-hindern, dass die Geschichte von der christli-chen Paraguay-Utopie das Hauptanliegen, dieVertreibung der Jesuiten, konterkariert. Einmalmit einem (im Januar 1758 abgefassten, 1761publizierten) Kapitel des Essai sur les mœurs,zum andern mit zwei Kapiteln (14–15) desMitte 1758 geschriebenen Candide.Im Essai sur les mœurs wechselt Voltaire perma-nent und in subtiler Weise vom historiographi-schen Diskurs, den er – plakativ unparteiisch –nicht nur mit der jesuitenfeindlichen Relaciónabreviada des späteren Marquis de Pombal,

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sondern auch mit franziskanischen bzw. jesuiti-schen Quellen wie der Histoire du Paraguay desPère de Charlevoix belegt, über zu einem dezi-diert polemischen Diskurs voller Ironiesignale, javermengt immer wieder die beiden Diskurse,wobei der Authentifikationsdiskurs den kriti-schen zu objektivieren versucht. Die Bewegungdieser textuellen Modellierung der Paraguay-Geschichte, die sich geschickt anekdotenhaft-narrativer Einschübe, deskriptiver Passagen, his-torischer Herleitungen, implizit und explizit wer-tender Vergleiche, etlicher unkommentierterOndits und konklusiver Reflexionen bedient,läuft letztlich – trotz einiger positiver, aber meistsogleich wieder relativierter oder gar ironisch insNegative gewendeter Faktoren (wie Mut undKriegstüchtigkeit) – auf die Verurteilung der „jé-suites-soldats“ hinaus. Dabei machen viele Text-signale deutlich, dass es Voltaire eigentlich nichtum die Jesuiten in Paraguay, sondern um die Je-suiten in Europa geht. Am Ende erhält Voltairesantijesuitische Einstellung durch die Ideologemeund administrativen Praktiken, die er den Jesui-ten in Paraguay attribuiert, neue Nahrung: Ab-solutismus, feudalistische Ausbeutung, zivilisa-torisch verbrämte Unterdrückung, Agrarkollek-tivismus, Verbot von Privateigentum und inter-nem Geldverkehr, hermetische Abgeschlossen-heit, Verpönung jeder Form von Luxus. Das Zielist klar: Stärkung der antijesuitischen Bewegungin ganz Europa. Inwieweit der Essai dazu beige-tragen hat, das angestrebte neue Geschehen,die völlige Vertreibung der Jesuiten, transnatio-nal zu befördern, mag dahingestellt bleiben. In-dessen: Voltaire hatte das Paraguay-Kapitel inder Edition von 1761 mit dem Satz beendet:

„Il faudra en [sc. von den Jesuiten] parler encore ail-leurs, et dire comment la terre tout entière s’est soule-vée contre eux, et comment Rome seule les aprotégés“ („Man wird noch an anderer Stelle vonihnen sprechen und erzählen müssen, wie die ganzeWelt sich gegen sie aufgelehnt und wie allein Rom sienoch protegiert hat“).

In der Ausgabe von 1771 schreibt er dagegen– voller Zufriedenheit über die durch die veröf-fentlichte Ratio zu erreichende Veränderbarkeitder Welt und die Geschichtsmächtigkeit derMenschen:

„ils [sc. die Jesuiten] ont été chassés de tous les Étatsdu roi d’Espagne, dans l’ancien et dans le nouveau

monde; les parlements de France les ont détruits parun arrêt; le pape a éteint l’ordre par une bulle; et laterre a appris enfin qu’on peut abolir tous les moinessans rien craindre“ („sie wurden aus allen Staaten desKönigs von Spanien in der Alten und in der NeuenWelt verjagt; eine Verfügung der französischen Parle-ments hat den Orden aufgelöst; der Papst hat ihndurch eine Bulle ausgelöscht; und die Erde hat endlichgelernt, dass man ohne jede Furcht alle Mönche ab-schaffen kann“).

Greift Voltaire bereits als Historiograph ingroßem Maß auf fiktionale Erzählmusterzurück – auch, indem er in der Geschichte derJesuiten von Paraguay die Stationen Aufstieg,Hybris, Sündenfall und Sühnung markiert –, soumso mehr in Candide. Die Fiktionalisierunggeschieht hier vor allem durch die vollkomme-ne Integration in die märchenhaft-abenteuerli-che Candide-Fiktion, deren Fiktionsironie und -parodie der Erzähler weidlich auskostet. Dis-kursive Polemik wird auch dort durch eine fik-tionale ersetzt, wo das Personal der Erzählungscheinbar diskursiv über den erzählten Gegen-stand Auskunft gibt. Die Fiktionalisierung er-spart dem Polemiker jedes historiographischeObjektivitäts- und Differenzierungssignal und

Abb. 1: Candide trifft auf den „révérend père comman-dant“, Cunégondes Bruder

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18403. Der von der Julimonarchie vertretenenIdeologie des Anschlusses an die revolutionär-imperiale Tradition entsprechend wurde seit1830, im Kontext einer nunmehr auch offizielllegitimierten Napoleonverehrung, die nicht nurvon der bonapartistischen Partei vertretene In-itiative diskutiert, als eine Art Wiedergutma-chung für Sankt Helena und in Erfüllung vonNapoleons Testament die sterblichen Überrestedes Kaisers nach Paris zu überführen. Zwischen1830 und 1839 wurden 31 Petitionen dafüreingereicht. Es war der Napoleonverehrer undliberale Regierungschef Adolphe Thiers, der1840, vielleicht zur Ablenkung von einer natio-nalen Krise, diesen Plan aufgriff – wohl nichtzufällig, als er seine Histoire du Consulat et del’Empire zu schreiben begann. Außenpolitischabgesichert wurde er gegen etliche Widerstän-de (der Dichter und Abgeordnete Lamartine er-innert an den „18 Brumaire d’un soldat ambi-tieux“, den „18. Brumaire eines ehrgeizigenSoldaten“) und nicht ohne innenpolitische Risi-ken (z.B. Louis-Napoléons Machtgelüste) unterder Verantwortung des englandfreundlichenMinisteriums Soult (mit Guizot als Außenminis-ter) bis zur Schlusszeremonie vom 15. Dezem-ber 1840 zügig verwirklicht. Bereits das Projektals solches, dann auch seine konkretere Ausge-staltung – etwa das Problem des letzten Ruhe-orts (Saint-Denis, Arc de Triomphe, Panthéon,Colonne de Vendôme oder Invalidendom) –wurde in den öffentlichen Medien monatelang,zum Teil kontrovers, diskutiert, vornehmlich inder Presse, in Denkschriften und Eingaben,aber auch in Gedichten und Chansons. Zahlrei-che (auch literarische) Texte, Bücher, Zeichnun-gen und Skizzen sind auf diese Weise nicht nuran der Produktion und Formulierung des Pro-jektdesiderats, sondern auch an der Konstruk-tion des Ereignisses im einzelnen mitbeteiligt,das Balzac einen Tag danach, in einem Brief anMme Hanska, als „plus grand que les triom-phes romains“ (als „größer als die Triumphzü-ge in Rom“) bezeichnen wird. Das Ereignisselbst vollzog sich dann in drei innerhalb vonMonaten bis ins Detail ausgeklügelten und ri-tualisierten Etappen, wobei die Inszenierungder gleichsam öffentlichen Wiederauferste-hung des Kaisers in einer Art Inszenierungsspa-

erlaubt ihm jede Überspitzung und Paradoxali-sierung („Los Padres y ont tout, & les peuplesrien; c’est le chef-d’œuvre de la raison & de lajustice“ – „Die Padres besitzen alles, und dieEingeborenen nichts; das ist das Meisterwerkvon Vernunft und Gerechtigkeit“). Der aukto-riale, mit seinem Personal wie mit Marionettenumgehende Erzähler, der einen Kommandan-ten der Jesuiten, Cunégondes verschollenenBruder, in geistlich-militärischer Mischtrachtinszeniert, vermag sich als Augenzeuge zu ge-bärden – zusätzlich ironisch authentifiziertdurch Candides Diener und Führer Cacambo(„je connais le gouvernement de Los Padrescomme je connais les ruës de Cadiz“ – „ichkenne die Regierungsform der Padres wie dieStraßen von Cadiz“). Auf dieser Textebene istes dem Erzähler ein leichtes, positive, gar uto-pistische Paraguay-Diskurse – etwa denjenigenMontesquieus – wenige Seiten vor den Eldora-do-Kapiteln und deren Utopie-Kritik zu subver-tieren. Die komisch-parodistische Deformationschreckt sogar nicht davor zurück, den jesuiti-schen Militärdiktatoren dieses „royaume“ –nicht von ungefähr wird die (im übrigen nichtunhistorische) Dominanz deutscher Jesuitenunter ihnen insinuiert – ausgerechnet den imEssai vermissten, Voltaire so wichtigen Luxus zuattribuieren, um auf den Rezipienten die kras-sen sozialen Gegensätze wirken zu lassen. DieAndeutung jesuitischer Homosexualität zeigt,wie weit Voltaire in seiner fiktionalen Diatribegehen zu müssen glaubt. Die Peripetie amEnde von Kapitel 15 antizipiert fiktional dasentscheidende Ereignis in der Geschichte desJesuitenordens, nämlich seinen Untergang: Deran Pangloss’ Lehrformel „les hommes sontégaux“ geschulte Candide tötet seinen über-aus standesbewussten Jesuiten-Schwager, den„coquin“, im Streit und vermag in dessen Klei-dern und mit dessen Pferd aus dem Jesuiten-staat zu fliehen.

2. Vom Text über das Ereignis zum Text,oder: Von der medialen Inszenierungeines Ereignisses

Gemeint ist der berühmte, nicht nur terminolo-gisch poetisierte „Retour des Cendres“ im Jahr

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gat darauf zu achten hatte, keine bonapartisti-schen Aufstände zu provozieren (Victor Hugo:„Le gouvernement semblait avoir peur dufantôme qu’il invoquait. On avait l’air tout à lafois de montrer et de cacher Napoléon“ [„DieRegierung schien sich vor dem Gespenst zufürchten, das sie beschwor. Man machte denEindruck, Napoleon gleichzeitig zu zeigen undzu verbergen“]):1. Etappe: Der Prince de Joinville, Sohn vonLouis-Philippe, der in seinen Vieux Souvenirsüber diese eine Million Francs teure Aktioneinen romanhaften Bericht abgeben wird, fährtmit einer Fregatte (La Belle-Poule) und einerKorvette (La Favorite) und 500 Mann Besat-zung – darunter vielen ehemaligen Dienernund Freunden Napoleons, aber auch einem Li-thographen und einem Daguerréotype – nachSankt Helena und kehrt mit dem feierlich exhu-mierten, offenbar noch recht gut erhaltenenLeichnam nach Frankreich zurück.2. Etappe: Von Cherbourg bzw. Le Havre ausfährt Napoleons Leichenschiff die Seine hinaufnach Paris: Hier bereits wird das Ereignis für ein

Abb. 3: Exhumation des Cendres de Napoléon, 15 octobre 1840

Abb. 2: Candide ersticht den Jesuiten-Kommandanten

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poleonischer Gedichte, Lieder, Complaintesund Erzählungen werden massenhaft verkauft,gedruckte ornamentale Festprogramme auchnoch nachträglich in Umlauf gebracht. Die An-denkenindustrie boomt (Fächer, Teller, Medail-len mit entsprechender Illustrierung – verkauftwird u.a. auch ein „Liqueur des cendres de Na-poléon“). Teilweise nicht unkritische Zeugen-berichte von Chateaubriand, Hugo, Thackerayoder Heine, die beispielsweise die Napoleonbe-geisterung der Massen (im Unterschied zu deneher verhaltenen Emotionen der Notablen derJulimonarchie) dokumentieren, erscheinen inganz Europa. 1841 werden auch ganze Bücherpubliziert wie etwa Napoléon à Paris desGénéral Bertrand (Napoleons Adjutant aufSankt Helena). Befand sich die politische Presseschon in der Planungsphase des „Retour“ imgegenwartsbezogenen und vergangenheitsbe-wältigenden Disput, so ficht sie in ihren Berich-ten darüber den innenpolitischen Streit zwi-schen Liberalen, Bonapartisten, Legitimistenund anderen Konservativen in noch größererSchärfe aus. Besonders interessant sind dabei –neben dem diffusen Stelldichein der traditio-nellen Napoleonbilder – ansatzweise Neumo-dellierungen (z.B. Napoleon wird von konser-vativer Seite als Diener des Katholizismus ak-zeptiert) und deutliche Positionsveränderun-gen – beides vor dem Hintergrund des vonallen zur Kenntnis genommenen Napoleon-En-thusiasmus der Volksmassen während des Er-eignisses. Medienereignisse verfehlen alsoauch nicht ihre Wirkung auf die Medien selbst. Über alle Ebenen der République des lettres er-gießt sich schließlich eine wahre Flut von mitallen Registern des Populismus, des Nostalgi-schen und der Mythisierung arbeitendenOden, Elegien, zum Teil nicht enden wollendenComplaintes, Canards mit reichem Bildmateri-al und einer großen Zahl von Gedichten undChansons. Die Colonne Vendôme feiert fröhli-che Urstände. In all diesen Texten überwiegtzwar die Glorifizierung Napoleons als epischerHeld, Prometheus, Wohltäter der Nation, Mes-sias, Mahner der degenerierten Gegenwart ingenretypischer Simplifizierung der Geschichte,doch, wie im Napoleondiskurs der beiden vor-ausgehenden Jahrzehnte, werden auch diffe-

Massenpublikum als reines „spectacle“ insze-niert: Die Seine-Brücken werden als Triumph-bögen dekoriert, überall wehen Fahnen, dieZuschauer am Seineufer singen alte und neueNapoleonlieder, Militärmusik und Gewehrsal-ven bilden die Geräuschkulisse.3. Etappe: Der städtische Leichen- und Tri-umphzug (mit vielen Veteranen der GrandeArmée) wird zur „fête payenne“ (Abbé Coque-reau) für ein bis zu 700 000-Personen-Publi-kum (trotz klirrender Kälte). Zwar soll diesesGesamtkunstwerk „nur“ 500 000 Francs geko-stet haben, doch wurden – Napoleon mussteim prunkvollen Sarg geradezu rotieren – Mate-rialien des Leichenzugs Ludwigs XVIII. und desTriumphzugs anlässlich des „sacre“ von Karl X.wiederverwendet. An der Dekoration des ge-samten (in einzelne Akte gegliederten) Wegsvon Courbevoie über den Arc de Triomphe unddie Place de la Concorde zum Invalidendom,wo Louis-Philippe Napoleon in Empfangnimmt, sind etwa 50 bildende Künstler betei-ligt – u.a. mit Gipsstatuen, Springbrunnen,Tuchmalereien, symbolisch-allegorischen Tri-umphsäulen, Reliefs und Girlanden. Die Musik-arrangements schöpfen einerseits aus älteremMaterial (Cherubini u.a.), andererseits sindAuftragsarbeiten für Triumph- und Trauermär-sche insbesondere an Auber, Adam und Halévyvergeben worden – Berlioz lehnte ab –, und eswurden eigens für die den Napoleonkult stär-kende „napoléonopée“ (Balzac) sogar neuarti-ge Trompeten erfunden (Schiltz) und angefer-tigt. Unmittelbar nach dem Ereignis beginnt eineschier unüberblickbare Medienreaktion, diezwischen den Polen der Glorifizierung und dermehr oder weniger deutlichen Kritik mit ästhe-tischen, vor allem aber politischen Akzentenverläuft. Das „spectacle“ des Medienereignis-ses wird auf der Theaterbühne „nachgespielt“.Ein reiches ikonographisches Material – Hun-derte von ideologisch durchaus differenziertenBilddrucken, Lithographien, „images d’Épi-nal“, Karikaturen und auch Historiengemälden– erscheinen allein Ende 1840 und Anfang1841, darunter lange Bildergeschichten des ge-samten „Retour des Cendres“. Drucke alterund (durch das Ereignis instigierter) neuer na-

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renziertere Napoleonbilder – mit Kritik am kai-serlichen Despotismus und der Betonung der„légende noire“ – verbalisiert. Viele dieser inder Regel lyrischen Texte stellen häufiger als jezuvor die durch den „Retour“ (überdies den„zweiten“ nach den Cent Jours) naheliegendeFrage nach der Wiederauferstehung diesesChristus: Wird der Jubel seines Volks denschlafenden Kaiser wecken? Wird sich ein Phönix aus den „cendres“ Napoleons erhe-ben?

„Amis, soldats français, vous le pleurez à tort./Croyez-moi, mes enfants, l’Empereur n’est pas mort“ („Freun-de, französische Soldaten, ihr beweint ihn zu Unrecht./Glaubt mir, Kinder, der Kaiser ist nicht tot“)

so heißt es in einem dieser Lieder. Nicht nur bo-napartistische Rhetorik, sondern zugleich eineArt Antizipation: Wenig mehr als ein Jahrzehntspäter tritt Napoléon-le-Petit (Hugo) die Machtan. Der „Retour des Cendres“ aber trug zwei-fellos mit zur Wendung des Geschehens inRichtung Second Empire bei.

Der „Retour des Cendres“ ist überdies ein Me-dienereignis, das ein weiteres (wenn auch we-niger spektakuläres) als eine Art Echo generier-te: Auf den Tag genau hundert Jahre später, am15. Dezember 1940, wurden die sterblichenÜberreste des Königs von Rom und Herzogsvon Reichstadt, Enkel des letzten Kaisers desHeiligen Römischen Reichs, also die sterblichenÜberreste Napoleons II., als Geste des DrittenReichs dem besiegten Frankreich gegenüberaus Wien in den Invalidendom überführt unddort in der Cella bestattet, zu Füßen des Stand-bilds seines Vaters im Kaiserornat.

3. Von Texten der Geschichten zurück zumEreignis, oder: Auf der Suche nach demGeschehen

Ist der Brand der Bibliothek von Alexandria eintransnationales Medienereignis?4 Die Antwortlautet: ja und nein. Seit vielen Jahrhundertenwird die längst global mythisierte Geschichtevom Untergang der antiken/spätantiken – vom

Abb. 4: Débarquement des cendres de Napoléon à Courbevoie par Antoine Ferogio, 15 décembre 1840

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diese im einzelnen jeweils minimalisierten, „ab-gebauschten“ Geschichten in Addition undSukzession miteinander zu kombinieren. ZurAuswahl stehen insbesondere drei Geschich-ten:1. Die heidnisch-antike Welt hat ihre größte Bi-bliothek selbst zerstört: Caesar belagertwährend des Alexandrinischen Kriegs von48–47 v. Chr., den flüchtigen Pompeius verfol-gend, die ptolemäische Flotte im Hafen vonAlexandria. Er steckt diese Flotte in Brand. DasFeuer greift auf die Hafengebäude und auf dieBibliothek des Museion über, die ein Raub derFlammen wird (seit Livius-Seneca). Diese Ge-schichte wird seit Seneca erzählt, der sich in Detranquillitate animi seinerseits auf eine ver-schollene Passage bei Livius beruft. Dass Caesarselbst in seiner Darstellung des Alexandrini-schen Kriegs nichts davon verlauten läßt, wirdgerne mit seinem schlechten Gewissen zu er-klären versucht.2. Die Christen haben die größte heidnisch-an-tike Bibliothek zerstört: Kurz vor dem Jahr 391,in dem das Christentum unter Kaiser Theodosi-us I. zur Staatsreligion erhoben wird, nehmenauf Ambrosius’ Betreiben die Zerstörungenheidnischer Heiligtümer und Kulturstätten er-heblich zu. Da sich in der Alexandrina heidni-sches Denken formiert und verstärkt, glaubtTheophilos, der Patriarch von Alexandria, dage-gen vorgehen zu müssen. Bei einem Kampf mitNichtchristen wird die Bibliothek des Serapeionvon einer aufgebrachten christlichen Mengeunter seiner Führung geplündert und an-schließend dem Erdboden gleich gemacht. Dadiese Geschichte aber die Zerstörung der „klei-nen“ Bibliothek erzählt, hat sie für die Konsti-tution des Mythos nur eine vergleichsweise ge-ringe Bedeutung. Sie dient aber seit der Auf-klärung und dem Orientalismus der Romantikimmer wieder dazu, in der Schuldfrage denmuslimischen Orient zu entlasten, den die drit-te (noch jüngere) Alexandrina-Geschichte be-lastet.3. Die Moslems haben die größte abendländi-sche, inzwischen dominant christliche Biblio-thek zerstört: Im Jahr 642 n. Chr. läßt der KalifOmar, der Begründer des theokratischen arabi-schen Weltreichs, dessen Feldherr Amru zwei

ptolemäischen Anspruch her – Universalbiblio-thek unablässig erzählt. Noch das Internet(auch das muslimische) ist voll davon – und diesnicht nur im Zusammenhang der Einweihungder neuen Bibliothek von Alexandria Ende desJahres 2002, deren Planung und deren Kon-struktion sich doch im wesentlichen eben die-sem Mythos verdanken. Die „alte“ Alexandrinaund ihr Ende werden in allen „Bibliotheksro-manen“, die in der Moderne nicht erst seit Um-berto Ecos Il nome della rosa proliferieren, zu-mindest der Assoziationslust des Lesers offe-riert. Auch der jüngste französische „Biblio-theksroman“, der sich zugleich als Wissens-und Wissenschaftsgeschichtsroman versteht,Jean-Pierre Luminets Le bâton d’Euclide. Leroman de la Bibliothèque d’Alexandrie von2002, legt Zeugnis ab von der ungebrochenennarrativen Attraktivität dieser Geschichte, inder das Faszinosum einer das gesamte Wissender Welt speichernden Universalbibliothek ver-bunden ist mit der die Strafe für menschlicheHybris imaginierenden, pyromanisch unterfüt-terten, apokalyptisch angehauchten, Ekel anneuzeitlicher Wissens-Unordnung bedienen-den oder auch „vanitas“-lastigen obsessionel-len Vorstellung von deren Vernichtung oder Er-setzung durch das „world wide web“.Dieser Geschichte? Luminet, von Haus ausAstrophysiker, aber immer wieder auch imReich des Fiktionalen umtriebiger Schriftsteller,wendet sich im Nachwort an den Leser:

„Vous venez de lire un roman et non pas un essai hi-storique“ („Sie haben gerade einen Roman und keinehistorische Abhandlung gelesen“),

fügt jedoch hinzu:

„tenant compte des éléments historiques que j’avaisen mains, je me suis toujours efforcé d’être plausibledans l’invention romanesque“ („ich habe die histori-schen Fakten, über die ich verfügte, berücksichtigtund mich mit ihrer Hilfe immer bemüht, in meiner Ro-manfiktion plausibel zu sein“),

und sagt auch damit nicht die ganze Wahrheit.

Genauer: Er musste sich für eine der vielen Ge-schichten entscheiden, die sich seit der Antikeüber den Untergang der Alexandrina herausge-bildet haben, während die Geschichtswissen-schaft heute mehr und mehr dazu neigt, all

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Jahre zuvor Alexandria erobert hat, die Ale-xandrina zerstören, in der jetzt die „heiligenBücher“ den Ton angeben. Die Bücher werdenals Heizmaterial in den alexandrinischen Ba-dehäusern verwendet. Die Begündung ist alseine „geflügelte“ in die Bibliotheksgeschichteeingegangen: Diese Bibliothek ist schädlich,wenn sie dem Koran widerspricht, und über-flüssig, wenn sie ihm nicht widerspricht – alsobesteht kein Grund, sie zu erhalten. Diese Ge-schichte ist aber nicht, wie vermutet werdenkönnte, christlicher Imagination oder Historio-graphie zu verdanken, sondern wurde zum ers-ten Mal zu Beginn des 13. Jahrhunderts voneinem arabischen Arzt und Philosophen er-wähnt. Im Abendland ist sie erst seit dem 17.Jahrhundert zur Kenntnis genommen wordenund zwar durchaus nicht immer als barbari-sche, sondern häufig auch als notwendige, kul-

turbefreiende, „tabula rasa“-schaffende Tat,die einen überfälligen Neubeginn ermöglichte.Sehr rasch ging sie in den Komplex von Er-klärungsversuchen für das vollkommene Ver-schwinden des einstigen umfassenden „Ge-dächtnisses der Menschheit“ ein. Omar ist seitdem 17. Jahrhundert mit bemerkenswerterKonsistenz Teil des abendländischen Orientdis-kurses. Und eben für diese Geschichte hat sichLuminet entschieden, versucht jedoch, ihrdurch ihre besondere Modellierung einige anti-muslimische Spitzen zu nehmen, die sich seitJahrhunderten an sie geheftet haben.Der Streit darüber, welche dieser Geschichten,dieser Konstrukte von Geschichte mit jeweilsvielen Vertextungsvarianten, das wahre Ge-schehen widerspiegelt, hält bis heute an. Er istsogar Teil des Dialogs Okzident-Orient gewor-den, denn die Omar-Geschichte trotzt bis heute

Abb. 5: Das brennende Alexandria im Jahre 48 v. Chr.

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Kann es also auch ein in permanenter medialerDatierungs-, Lokalisierungs- und Deutungsho-heits-Konkurrenz befindliches, die Jahrhunder-te überdauerndes, ja gleichsam aus der Zeitherausgenommenes Medienereignis ohne be-grenz- und konturierbares Geschehen geben?In der Tat: Wo das geschichtliche Erinnern aussetzt oder sich im Kreis bewegt, ohne auf historisch verbürgbare Wahrheiten zu stoßen,springt bei gegebenem Symbolbedarf die my-thische Erinnerung in die Bresche und besetzt –aber auf ganz verschiedene Weise – die Leer-stellen mit Geschehenskonstrukten aus demMaterial von Geschehensfragmenten. Oder an-ders: Die Zerstörung der Bibliothek von Ale-xandria hätte sogar auch dann erfunden wer-den müssen, wenn sie niemals stattgefundenhaben sollte. Die Beschäftigung mit der Zer-störung der Alexandrina und ihren zahlreichenmedialen Modellierungen in den verschiedens-ten „Texten der Geschichte“ ist ein Beispieldafür, dass nicht die verzweifelte Suche nachdem Geschehen, die neo-rankianische Frage„Wie ist es wirklich gewesen?“ die interessan-tere sein muss, sondern dass es sich immer wie-der lohnt, von der Faktengeschichte zur Erinne-rungsgeschichte, also zur Konstruktion von Ge-schichte überzuwechseln. Im Fall der Alexand-rina streiten sich die Medien nicht nur um Fak-ten und deren Bewertung, sondern auch undgerade um richtige oder falsche Erinnerung.Auch die Neugründung der Alexandrina im Jahr2002 war ein transnationales Medienereignis,das sich in großem Maß von der Erinnerung andie alte Alexandrina nährte. Wie bestimmenddiese Erinnerungskomponente auch und gera-de in Bezug auf den eines exakten Geschehens-bezugs entbehrenden Untergang dieser Biblio-thek war und ist, zeigt die weltweite Reaktionauf ein Vorkommnis vom Anfang März 2003:Viereinhalb Monate nach der feierlichen Eröff-nung sind in der neuen Bibliothek von Alexand-ria bei einem Feuer fast vierzig Personen verletztworden. Bücher und Lesesäle blieben aber un-beschadet. Wenn schon der Mythos nicht aufein exaktes historisches Geschehen zurückge-führt zu werden vermag: Versucht er nun –wenn auch sehr ungeschickt –, aus sich selbstein solches Geschehen zu generieren?

allen historiographischen Falsifizierungsversu-chen nicht erst seit des Aufklärers Edward Gib-bon proarabischer und antichristlicher Version.In Anbetracht der anhaltenden Attraktivität derOmar- oder Amru-Geschichte ist es vielleichtnicht allzu erstaunlich, dass Omar und seine Bi-bliotheks-Geschichte nicht nur im Okzident als„Geschichte“ attraktiv bleibt, sondern auch imImaginarium des Orients – und zwar, in Ver-kennung ihres Ursprungs, vor allem in der Rolleeines Zeichens für das christlich-abendländi-sche Überlegenheitsgefühl und insbesonde-re des Versuchs, die eigene Schuld auf ei-nen „exotischen“ Sündenbock abzuschieben.Ahmed Youssef beendet in seinem mit einemVorwort von Jacques Attali ausgestattetenBuch von 2002 über die „sieben Geheimnisse“der Alexandrina (Les sept secrets de la Biblio-thèque d’Alexandrie) seine eigene Enquête miteben dem Vorwurf, der Okzident wolle dieSchuld Caesars ganz bewusst nicht einge-stehen:

„Et lorsqu’on le reconnaît, ce ne sont pas les livres dela Bibliothèque mais ceux qui se trouvaient dans leport. Alors on cherche un autre accusé, et on le trou-ve dans la personne du général arabe“ („Und selbstwenn man es tut, meint man nicht die Bücher der Bibliothek, sondern diejenigen im Hafen. Dann suchtman einen anderen Angeklagten, und man findet ihnin der Gestalt des arabischen Generals“).

Der (durch wen auch immer verursachte, mehroder weniger historische oder auch nur imagi-nierte) Brand der alexandrinischen Bibliothek istin der Moderne – nicht immer losgelöst von derSchuldfrage, deren „postkolonialen“ Implika-tionen und der Herausstreichung abendländi-scher Kulturhegemonie – zur multiplen Denkfi-gur geworden: Erinnern gegen Vergessen alsGrundfähigkeiten des Menschen, Trauer überdas verlorene Gedächtnis gegen den freudigenAufbruch von der „tabula rasa“ zum Neuen,Buchleidenschaft gegen Spiel mit dem Feuer,Bildungsbeflissenheit gegen Furcht vor Überbil-dung, Ordnung gegen Orientierungslosigkeit,Angst vor Identitätsverlust im Zeitalter der Glo-balisierung gegen Hoffnung auf die Gewin-nung einer neuen Identität, Verehrung des Ehr-würdigen und Heiligen gegen Sakrileg und Blas-phemie, Schuld für eine Art kultureller Ursündegegen Befreiung von falschen Autoritäten.

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Anmerkungen

1 Karlheinz Stierle: „Geschehen, Geschichte, Text der Ge-schichte“, zuletzt in: Ders.: Text als Handlung. Perspekti-ven einer systematischen Literaturwissenschaft, Mün-chen 1975, S. 49–55.2 Vgl. im folgenden vor allem: Ulrich Knoke: „Zur ästhe-tischen Gestalt fiktionaler Texte aus historisch-materia-listischer Sicht (am Beispiel eines Vergleichs zweier Textevon Voltaire)“, in: Romanistische Zeitschrift für Literatur-geschichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 3(1979), S. 86–111; Hinrich Hudde: „Griechisches Idealund südamerikanische Wirklichkeit. Zu José Manuel Pe-ramás’ Vergleich zwischen Platons Staatsschriften unddem ‚Jesuitenstaat’ in Paraguay“, in: Lateinamerika-Stu-dien 13 (1983) (= Iberoaméricana. Homenaje a G. Sie-benmann I), S. 355–367; Ders.: „Der ‚Jesuitenstaat’ –eine verwirklichte Utopie? Über eine alte Vorstellung undihr Fortwirken bis in die Gegenwart“, in: Lateinamerika-Studien 14 (1984), S. 43–64.3 Sehr informativ ist der Ausstellungskatalog Napoléonaux Invalides. 1840, Le Retour des Cendres. Ouvrage réa-lisé sous la direction de Jean-Marcel Humbert. Préface deMaurice Agulhon, Paris 1990.4 Vgl. zum Folgenden auch Dietmar Rieger: „Wer warder Täter? Zur Konkurrenz der ‚Geschichten’ über dieZerstörung der Bibliothek von Alexandria“, in: Romanis-tische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’His-toire des Littératures Romanes 27 (2003); vgl. zum Bibliotheksimaginarium Ders.: Imaginäre Bibliotheken.Bücherwelten in der Literatur, München 2002.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Candide trifft auf den „révérend père comman-dant“, Cunégondes Bruder. In: Voltaire, Candide oder Diebeste aller Welten, Rudolfstadt 1957. Zeichnung von KarlStratil (Quelle: http://ub-dok.uni-trier.de/candide.htm)Abb. 2: Candide ersticht den Jesuiten-Kommandanten. In:Voltaire, Candide ou l’optimisme, Paris 1893. Aquarell-vorlage von Adrien Moreau (Quelle: http://ub-dok.uni-trier.de/candide.htm)Abb. 3: Exhumation des Cendres de Napoléon, 15 octob-re 1840. Imagerie Pellerin, Épinal 1840. gravure sur boiscoloriée, 0,42 x 0,62 m. Paris: Musée Carnevalet. In: Jean-Marcel Humbert (Hg.). Napoléon aux Invalides. 1840, LeRetour des Cendres. Paris: Musée de l’armée. 1990, 113.Abb. 4: Débarquement des cendres de Napoléon à Cour-bevoie par Antoine Ferogio, 15 décembre 1840. Ferogio(François-Fortuné-Antoine), 1840. Öl auf Leinwand. 0,64x 0,94 m. Courbevoie. Musée Roybet-Fould. In: Jean-Mar-cel Humbert (Hg.). Napoléon aux Invalides. 1840, Le Re-tour des Cendres. Paris: Musée de l’armée. 1990, 48.Abb. 5: Das brennende Alexandria im Jahre 48 v.Chr. DerHolzstich mit späterer Kolorierung ist einem Band des19. Jahrhunderts entnommen: Hermann Göll, Die Wei-sen und Gelehrten des Alterthums. Leipzig 21876. Hierin: Wolfram Hoepfner (Hg.). Antike Bibliotheken. Mainz2002, 35.

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