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bergundsteigen 4/05 34 Es ist November. Ein Genuatief steuert feuchte Luftmassen gegen die Alpen. Es regnet und regnet. Mehrere Niederschlagsperioden folgen aufeinander und bringen in diesem beginnenden Winter gute Tourenverhältnisse. Durch die hohen Temperaturen haftet der Schnee auf jedem Stein. Mein damaliger Freund Carlo und ich sind oft unterwegs, ent- weder auf Skitour oder im Skigebiet Schnals- taler Gletscher zum Variantenfahren. Der Niederschlag hört auf und vom Vinschgau her klart es auf, so der Wetterbericht. Vom Lawinenkegel ins Gefängnis von Kuno Kaserer Kuno Kaserer, 38, ist hauptberuflich Bergführer und arbeitet zusätzlich als Baumpfleger.

Vom Lawinenkegel ins Gefängnis - bergundsteigen.at (akte kuno k).pdf · bergundsteigen 4/05 36 ßen zu können), braucht es nicht etwa eine besondere Erfah-rung und schon gar nicht

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Es ist November. Ein Genuatief steuert feuchte

Luftmassen gegen die Alpen. Es regnet und

regnet. Mehrere Niederschlagsperioden folgen

aufeinander und bringen in diesem

beginnenden Winter gute Tourenverhältnisse.

Durch die hohen Temperaturen haftet der

Schnee auf jedem Stein. Mein damaliger

Freund Carlo und ich sind oft unterwegs, ent-

weder auf Skitour oder im Skigebiet Schnals-

taler Gletscher zum Variantenfahren.

Der Niederschlag hört auf und vom Vinschgau

her klart es auf, so der Wetterbericht.

Vom Lawinenkegel ins Gefängnis

von Kuno Kaserer

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Am Samstag fahren wir mit unserem Freund Hannesins (zu dieser Zeit noch geschlossene) Skigebiet Watlesauf Skitour. Die flachen Hänge dort eignen sich gut um

die Schneesituation zu erkunden. Schöner Pulver beim Aufstieg,im Gipfelbereich ist die Schneedecke etwas unregelmäßig,ansonsten keine Anzeichen von den starken Südwestwinden, dieim Lawinenlagebericht vorausgesagt waren. Bei der Abfahrt istder Schnee durch die Tageserwärmung schon etwas schwergeworden, aber noch gut befahrbar. So beschließen wir, amSonntag auf dem Schnalstaler Gletscher Neuschnee bzw. Vari-anten zu fahren. Durch die Höhenlage des Gletschers und da dashintere Schnalstal bei südlichen Staulagen weniger Niederschlagabbekommt, brauchen wir uns um die im Lawinenlageberichtvorausgesagten Nassschneelawinen nicht zu kümmern.

Schneebrett

Sonntag, der 19. November 2000. Ein Tag gemacht zum Träu-men. Die Bahn bringt uns auf 3.200 m Höhe. So weit das Augereicht, noch kein verspurter Hang. Die Lifte sind noch nicht allein Betrieb, die Skifahrer stehen Schlange; es ist früh in der Jah-reszeit, normalerweise beginnt die Saison etwas später. Langsamtasten wir uns an die Verhältnisse heran: Neuschnee vom Feins-ten, jeder Stein ist zugedeckt. Heute sind zahlreiche Varianten-fahrer unterwegs und Stunde um Stunde durchziehen mehrSpuren die Hänge. Im Laufe des Vormittages werden alle Exposi-tionen befahren und selbst in jenen Bereichen, vor denen dieLawinenmitteilung gewarnt hatte (Windschattenhänge), hältsich der Schnee fest. Etwa gegen 13:00 Uhr beschließen wir, die sogenannte "KurzenKar Rinne" abzufahren, die sich etwas südlich von der Bergsta-tion in Richtung der Parkplätze Kurzras erstreckt. Die ca. 800 mlange Rinne fällt bei der Anfahrt ins Skigebiet unmittelbar insAuge. Ich kenne die Rinne bestens und habe sie in diesem Jahrschon mehrmals befahren. Zudem hatte es Tage zuvor in großerHöhe geregnet und deswegen wurde die Rinne von einer Lawineausgefegt. All diese Umstände bekräftigten unseren Entschluss.Nach einigen Schwüngen verliere ich den Halt unter den Skiern.Es ist, als ob mir jemand einen Teppich unter den Füßen wegzie-hen würde. Ich habe ein weiches Schneebrett ausgelöst. Instink-tiv kralle ich mich in den Hang, verliere dabei einen Ski, werdeaber zum Glück nicht mitgerissen. Erst einige hundert Höhen-meter tiefer vermischen sich Tonnen von Schneekristallen mitdem tiefblauen Himmel: Ein weiteres Schneebrett donnert auseinem nach Nordwesten gerichteten Kessel über extrem steilesFelsgelände ins 800 m tiefer gelegene Tal. Danach wieder Stille.

t1 Gefängnis

Ich sitze in einer Gefängniszelle mit zehn anderen Häftlingen.Noch immer trage ich meine Tourenhose, denn ich wurde wäh-rend der Suche nach Verschütteten direkt vom Lawinenkegelabgeführt. Erst einen Tag später erfuhr ich von meinen Mithäft-lingen, dass bei der von mir ausgelösten Lawine niemand zuSchaden gekommen war. Diese hatte sich nämlich über einenoch nicht für den Skibetrieb offiziell freigegebene Piste gelegt. Ein tiefer Schlag in die Seele. Ich wurde meiner Freiheit beraubt,die ich über alles liebe. Irgendwann führt man mich einemPflichtverteidiger vor. Er rät mir, einem gerichtlichen Ausgleichzuzustimmen: Acht Monate bedingte Haft wegen fahrlässigemAuslösen einer Lawine. Dann könne ich gleich morgen Früh nachHause und die Angelegenheit wäre erledigt. Andernfalls wisse ernicht, ob und wann ich überhaupt aus der Haft entlassen würde. Am dritten Tag werde ich dem Untersuchungsrichter vorgeführt,auf freien Fuß gesetzt und der Presse vorgeworfen. Diese emp-fängt mich am Gefängnisausgang in großer Zahl.

Freispruch

Der zuständige Staatsanwalt Giancarlo Bramante leitet einSchnellverfahren ein (Anklageschrift am 28. November 2000).Nach Anhörung mehrerer Zeugen (Finanzwache Schnalstal, Mit-arbeiter der Schnalstaler Gletscherbahnen AG) und Einholendreier Gutachten (Gerichtsgutachten von Jürg Schweizer vomLawineninstitut Davos, Gutachten der Verteidigung von KarlGabl aus Innsbruck und Gutachten der Anklage von SilvanoBoriero, Experte des italienischen Militärs) spricht mich derRichter Stefan Tappeiner vom Landesgericht Bozen, AußenstelleSchlanders, am 25. März 2002 - gute zwei Jahre nach demUnfall - frei. Grund für den Freispruch war die Tatsache, dassdie Tat keine strafbare Handlung darstellt. Auszug aus derUrteilsbegründung: "Es ist hierbei auch erwähnt, dass Skifahren(genauso wie Bergsteigen) im freien Gelände, d. h. Tourenski-fahren und Variantenskifahren, von der Gesellschaft ausdrük-klich gebilligte Sportarten sind (man möge sich die Werbepro-spekte der verschiedenen Skigebiete vor Augen halten, aufdenen in der Regel keine überfüllten Skipisten oder Warte-schlangen vor den Skiliften dargestellt sind, sondern einsameTiefschneefahrer, abseits der Pisten) weshalb, nach Ansicht desGerichts, bei der Beurteilung der Fahrlässigkeit strenge Parame-ter anzuwenden sind, um eine generelle Kriminalisierung vonTourenskifahren oder Varianten-skifahren zu vermeiden. Dies umso mehr, als ein Lawinenabgang wohl nie mit absoluter Wahr-scheinlichkeit vorherzusehen ist."

Verurteilung

Staatsanwalt Bramante gibt sich nicht geschlagen und fechtetdas Urteil Tappeiners (das in einer Fachzeitschrift als beispiel-haftes Urteil veröffentlicht worden ist) an. Nach mehr als ein-einhalb Jahren des Wartens, am 02. Oktober 2003, werde ichkurz und bündig vom Oberlandesgericht Trient, AußenabteilungBozen, verurteilt. Das zweite Urteil berücksichtigt in keinerWeise das Ersturteil sowie das Gerichtsgutachten. Es gründetvielmehr auf die eigene Emotion der Urteilsverfasser: "… und umLawinengefahr in diesem Falle zu erkennen (= nicht ausschlie-

Die Bergstation Grawand im Schnalstal mit der Kurzen-Kar-Rinne, die nach Kurzras hinunterzieht. Das erste Schneebrett(orange) löste die zweite Lawine (blau) aus. Foto: Hydrographisches Amt Bozen

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ßen zu können), braucht es nicht etwa eine besondere Erfah-rung und schon gar nicht einen Experten, sondern es genügt dereinfache Hausverstand: auch jemand, der noch nie in seinemLeben eine Skitour unternommen hat, versteht, dass die Kombi-nation extreme Steilheit des Geländes plus große Menge vonNeuschnee plus plötzlicher Temperaturanstieg eine Lawinenge-fahr in sich birgt." Zudem deklarieren die Urteilsverfasser das ander Bergstation angebrachte Hinweisschild (stilisierte Hand) inihrer Urteilsbegründung zum Verbotsschild. Zusammenfassend steht sich ein Ersturteil, das auf Expertengut-achten basiert und ein Zweiturteil, das auf das persönliche Gut-achten der Urteilsverkünder basiert, einander gegenüber. Unterkeinen Umständen kann und will ich und, so meine ich, alleanderen Tourengeher und Variantenfahrer mit diesem Zweitur-teil leben. Zusammen mit meinen Verteidigern Alberto Valentiund Christine Jöchler warte ich bald zwei Jahre auf einen Ter-min vor dem Kassationsgerichtshof in Rom.

Resümee

Nachdem sich nach fast fünf Jahren der aufgewirbelte Staubgelegt hat, hofft man, dass Gras über die Angelegenheit wächst.Man hat verstanden (sogar im hintersten Schnalstal, wo nachdem Lawinenunglück das Verlassen der Pisten strengstens ver-boten war), dass die Kriminalisierung der Skitourengeher undVariantenfahrer der Wirtschaft schadet und so sind sie jetztwieder völlig legal unterwegs, "sofern es verantwortungsbe-wusst betrieben und dabei keine Dritten beschädigt werden"(Aussage des Oberstaatsanwaltes Cuno Tarfuser am 29. Novem-ber 2004). Ereignet sich jedoch erneut ein Lawinenunglück, sindwir am selben Punkt wie vor fünf Jahren: Der Unfall wird vonden Carabinieri aufgenommen, für die Staatsanwalt ist eine roteAmpel eine rote Ampel, für die Liftbetreiber hat ein Spinner dieLawine ausgelöst und die Besserwisser haben ihren eigenenLawinenlagebericht (wohlgemerkt nach dem Unfall) mit ihrereigenen Skala "akut" parat. Somit bleibt nur zu hoffen, dass inZukunft mehr das Menschliche im Vordergrund steht und wirbereit sind, mit dem Gesetz der Natur zu leben als uns durchvon Menschenhand geschaffene Gesetze von ihr zu entfremden.

”Wenn du verlierst, verliere nie die Lehre.” (Dalai Lama)von Thomas Aichner

Schneebrett

Der 19. November 2000 begann für mich ähnlich wie für KunoKaserer. Früh stand ich an der Talstation der Schnalstaler Glet-scherbahn, denn ich wollte eine der ersten Gondeln erwischen.Der Himmel war tiefblau und die Berge makellos weiß. Ein Tag,gemacht zum Träumen. Am Nachmittag trennten sich schließ-lich unsere Schicksale: Während ich mein Snowboard im Autoverstaute, bemerkte ich, dass sich weit oberhalb des Parkplatzeseine Lawine gelöst hatte. Eine Staubwolke bewegte sich auf dasTal zu, überquerte die gesperrte Talabfahrt und legte sichschließlich langsam nieder.

Gefängnis

Am nächsten Morgen berichtete das Radio von einem Varian-tenfahrer, der die Lawine ausgelöst haben soll. Er würde bis aufweiteres im Gefängnis von Bozen einsitzen, ein gewisser KunoKaserer aus Partschins. Ich kannte den Namen nicht. Trotzdemtraf mich diese Meldung hart. Gefängnis? Wie konnte jemand,

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der eine Lawine ausgelöst hatte, die noch dazu niemandengetroffen hatte, eingesperrt werden? Was, wenn mir das passiertwäre? In den nächsten Tagen überschlugen sich die Meldungenüber das Ereignis und der Fall Kaserer war in aller Munde. "Free-riden" war plötzlich zum Thema aller geworden und man hattefast das Gefühl, dass jeder Gasthausbesucher ein Lawinenexper-te sei. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass der Staatsan-walt Anklage gegen Kaserer erhoben hatte und ebenso schnellwurde dieser zum Sinnbild für alle "Spinner", die eine Gefahr fürandere und sich selbst sind. Niemand fragte, ob dieses Unglückdurch entsprechende Sicherungsmaßnahmen seitens der Liftbe-treiber verhindert hätte werden können. Und kaum jemand wusste, wie die Lawinenlage an jenem 19. November in Wahr-heit war. Nach einigen Wochen ebbte die Diskussion ab undmündete in die allgemeine Erkenntnis, dass Variantenfahren fürverantwortungsvolle Menschen abzulehnen sei.

Freispruch

Umso größer war die Überraschung, als Kuno Kaserer denGerichtssaal mit einem Freispruch verließ. Die Medien bemühtensich um eine sachliche, nicht allzu umfassende Meldung dersensationslosen Nachricht und damit sollte ein Schlussstrichunter diesen Fall gezogen werden. Denn schon hatte der eineoder andere Tourist gefragt, ob denn Variantenfahren in Südtiroljetzt verboten sein.Eigentlich ein passender Moment um die Problematik in einemgrößeren Rahmen zu stellen und Antworten auf die sichtbargewordene Fragen zu suchen. Ist der Wintersport und damitauch Variantenfahren nicht ein zentraler Bestandteil des touri-stischen Angebots Südtirols? Wo beginnt und wo endet die Ver-antwortlichkeit der Liftbetreiber und jene der Wintersportler?Welche Gesetze regeln den Bereich außerhalb der gesichertenPisten? Und welche Kultur herrscht in Südtirol gegenüber demklassischen Skitourengehen und dem Trend Freeriden? Fragen,die sich in einem Land, das zu 86 % aus Bergen besteht, eigent-lich von selbst stellen. Die Diskussion beschränkte sich zu die-sem Zeitpunkt auf die Gremien der alpinen Vereine, ohne dassder Funke auf die Öffentlichkeit übergesprungen wäre. Dement-sprechend löste der Fall Kaserer keine sichtbaren Konsequenzenauf gesetzlicher und sozialer Ebene aus.

Verurteilung

Die Staatsanwaltschaft gab sich mit dem Freispruch Kaserersnicht zufrieden und legte wider Erwarten Rekurs ein. Mit zwei-felhaften Argumenten und ohne fachliche Gutachten wurdeKaserer in zweiter Instanz verurteilt. Wieder berichteten dieMedien und wieder ließen die Unkenrufe nicht auf sich warten:Wer den Bogen überspannt, der verdient Bestrafung. In dieserZeit traf ich Kuno Kaserer zum ersten Mal persönlich. In derKletterhalle Meran erkannte ich das Gesicht aus der Zeitung undwieder fiel mir ein, wie ich mich an diesem 19. November 2000an seiner Stelle gefühlt hätte.Kuno lud mich zu sich nach Hause ein und zeigte mir stapel-weise Prozessunterlagen, Zeitungsberichte und Gutachten. Wirdiskutierten, analysierten und kamen immer wieder zum selbenSchluss: all dieses Papier enthält höchstens die Hälfte derWahrheit, die andere Hälfte ist noch verdeckt und noch längstnicht aufgearbeitet. Je mehr wir uns mit dem Fall auseinahnder-setzten, desto mehr spürte ich, dass es Kuno primär nicht umseine Person, sondern um die Sache ging. Er hätte sich den Aus-gang des Prozesses denkbar einfach machen können, indem ereinem Vergleich zugestimmt hätte. Doch damit hätte er den

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Klägern Recht gegeben und auch jenen, die ihn und mit ihm alleanderen Freerider als Spinner deklarieren.

Resümee

Ist jemand ein Spinner, der sich mit dem Gesetz der Naturintensiv befasst, der täglich ihren Puls sucht und der sich ihrenGefahren in höchstem Verantwortungsbewusstsein stellt? Inunseren Gesprächen tauchte immer wieder die Frage auf, objene Sicherheit, die uns von technischen Hilfsmitteln und Regelngegeben wird, nicht den eigentlichen Blick auf die Gefahr ver-stellt. Die Frage nach der Freiheit, die darin besteht, selbständigund im vollen Bewusstsein der Risiken Entscheidungen treffenzu können. Die Grundlage dieser Freiheit wäre ein umfassenderErfahrungs- und Wissensschatz, der langsam in jedem von unsreifen muss. Denn wer sich die Freiheit nimmt, aus purer Lustund ohne Überlegung in einen Hang einzufahren, ist in der Tatein Spinner. Mir stellt sich die Frage, wer dem Einzelnen denWeg zu einer freien und reifen Entscheidung weist? Hier stelltsich der Anspruch an eine Kultur für den Berg, die in einerGesellschaft von Bergbewohnern verankert sein muss. Eine Kul-tur, in der Platz für die Hochglanzprospekte der Skigebiete ist,die Variantenfahrer und Tiefschneehänge abbilden. Und eineKultur, die den Menschen in diese Natur begleitet, durch Schu-lung, durch Hinweise und durch kritische Diskussion. Wir schüt-zen uns nicht durch Verbote vor den Gefahren der Berge, son-dern durch gewachsenes Wissen und die daraus gewonneneIntuition. Das Kassationsgericht in Rom wird entscheiden, ob derProzess von Kuno Kaserer neu aufgerollt wird oder nicht. Ent-scheidend für ihn persönlich ist, dass sich sowohl die alpinenVereine als auch die Öffentlichkeit intensiv mit dem bisherigenGeschehen auseinandersetzen und dann klar Position beziehen.Nicht für seine Person. Sondern für die Freiheit am Berg.Andernfalls haben wir alle die Lehre verloren.

Nachtrag

von Annegret Vescoli

Mit Urteil vom 7. November 2005 hat der Oberste Gerichtshofin Rom den Rekurs der Verteidigung abgewiesen und das Urteildes OLG Trient vom 2. Oktober 2003 bestätigt. Die VerurteilungKuno Kaserers ist somit rechtskräftig. Der Tatbestand des Art.426 des "codice penale" in Verbindung mit dem Art. 449 c.p.(fahrlässiges Auslösen einer Lawine) war in Italien seit jeherkaum Gegenstand richterlicher Entscheidungen gewesen. Nunwurde jedoch ganz eindeutig ein Präzedenzfall geschaffen, demin Zukunft mit Sicherheit Rechnung zu tragen ist. Dass derLawinenabgang vom 19. November 2000 strafrechtliche Konse-quenzen hat, bedeutet, dass das subjektive Element (d.h. dieFahrlässigkeit) bei der Beurteilung von Lawinenunfällen völligneue Maßstäbe erhält: Fahrlässiges Verhalten - d.h. schuldhaf-tes Verhalten - ist auch dann gegeben, wenn sich die Auslösungder Lawine als eine für den Experten nicht erkennbare und nichtvorhersehbare Gefahr herausstellt. Eine solch rigorose Ausle-gung der Artikel 426 und 449 des Strafgesetzbuches - gepaartmit einer konsequenten Nichtbeachtung der Expertengutachten- verwandelt die beiden Strafnormen tatsächlich in eine explosi-ve Mixtur, da die strafrechtliche Haftung von der subjektivenEinschätzung (und Einschätzbarkeit!) quasi losgekoppelt wird. �

Spendenkonto (Prozesskosten bisher ca. ¤ 40.000,-)Stichwort: Lawinenprozess des Kuno Kaserer, Raika Partschins,SWIFT: rzsbit21025, IBAN: IT 39 L 08175 58690 000300003751

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