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Sonntag, 04. September 2016 (20:05-21:00 Uhr) KW 35
Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur
FREISTIL
Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen
Von Regina Kusch und Andreas Beckmann
Regie: Philippe Bruehl
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: Deutschlandfunk 2016
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- ggf. unkorrigiertes Exemplar
2
Montage auf Musik:
Sprecherin 2
Ich hab mich von oben fotografiert. Meine Brüste gucken sexy aus dem Ausschnitt.
Ich habe ein schmales Gesicht, wunderschöne Augen und mache einen
Schmollmund.
O-Ton Noufa
Ich mach schon jeden Tag Selfies, aber nicht viele. Zwei, drei Stück. Vielleicht auch
vier oder fünf.
O-Ton Mathias Tretter „Selfie“
Es geht in diesem Programm um ein Thema, dass ich im Moment global betrachtet
für das wichtigste halte, nämlich mich.
Sprecherin 2
Ich habe mich im Krankenhaus mit meinem Gipsarm fotografiert und bei Instagram
und facebook gepostet. Wer tröstet mich?
Sprecher 1
Ich habe meine Nase und Lippen mit durchsichtigem Klebeband verschnürt und sehe
aus, als ob ich mein Gesicht auf eine Glasplatte presse.
O-Ton Dorit Schäfer
Das individuelle Bild von sich selbst, was es in der Antike bereits gab, hat ... dann bis
heute, bis zum Selfie, eine rasante Entwicklung genommen.
O-Ton Mathias Tretter „Selfie"
Fünf Prozent aller Deutschen haben schon mindestens eine Schönheits-OP hinter
sich, Tendenz steigend. Das heißt, die Leute wollen Selfies machen, aber ohne sich
selbst.
O-Ton Kani Alavi
Jeder Mensch hat eine gewisse Ego, Selbstsüchtigkeit. Dadurch lebt ein Mensch. Ich
finde es gut, wenn diese Menschen dieses Gefühl haben, ich bin auch irgendwas.
Dann sollen sie das weitervermitteln.
O-Ton Christoph Wulf
Man hält ja nicht fest, wie es einem wirklich geht, das wird simuliert.
Sprecher 2
Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen
3
Von Regina Kusch und Andreas Beckmann
Sprecherin 2
Ich habe Selfies mit zehn verschiedenen Lippenstiftfarben gepostet. Welcher steht
mir am besten?
Sprecher 1
Schaut her Ladies: Für euch mein bestes Stück in Nahaufnahme!
O-Ton Lutz Prechelt
Ein Selfie sagt doch viel mehr über mich als ein handgeschriebener Brief.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Gerade weil diese Bilder so schnell gehen, wird viel experimentiert und eine neue
Mode kann innerhalb von Tagen aufkommen. ... Das ist so ein bisschen wie es
Modewörter gibt in einer bestimmten Zeit.
Sprecher 1
Ich trage einen orangefarbenen Overall, blicke düster in die Kamera und sehe aus
wie ein Häftling aus Guantanamo.
O-Ton Mathias Tretter „Selfie“
Gerade für ein so komplexbeladenes Volk wie uns Deutsche war die Erfindung des
Selfies wie eine Befreiung: endlich können wir von uns wieder Fotos mit
ausgestrecktem rechten Arm machen.
Sprecher 1
Ich und Angela Merkel lächeln auf meinem Selfie vor einem Flüchtlingsheim.
Sprecherin 1
Mit dem Selfie verallgemeinert sich eine Gattung, die früher selbstbewussten
Künstlern vorbehalten war: das Selbstporträt. Heute schütteln Normalbürger aus dem
Handgelenk, was Maler und Fotografen, Bildhauer und Video-Performer einst mit
Bedacht arrangierten. Und wofür die Pioniere dieser Gattung sogar ins Gefängnis
gegangen sind, erzählt die Kunsthistorikerin Dorit Schäfer, die in der Staatlichen
Kunsthalle Karlsruhe die Ausstellung „Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie“
kuratiert hat.
4
O-Ton Dorit Schäfer
Das erste Selbstporträt, das in der griechischen Antike zumindest dokumentiert
worden ist, ... ist ein Selbstporträt von dem berühmten klassischen Bildhauer Phidias,
der unter Perikles gearbeitet, der auf dem Schild der großen Figur der Athener
Parthenon auf dem Schild eine Amazonenschlacht dargestellt hat. Und in diese
Amazonenschlacht hat er sich selber integriert in Form eines Selbstporträts ...
Interessanterweise berichtet Plutarch, dass ihm das schwer übel genommen worden
ist, dass er der Hybris, also des Hochmutes angeklagt worden ist.
Sprecherin 1
Bildnisse waren ursprünglich den Göttern vorbehalten.
O-Ton Dorit Schäfer
Eine Grundvoraussetzung für ein Selbstporträt ist die Tatsache, dass der Mensch
sich es überhaupt wert ist, sich mit sich selbst zu befassen. Statt sich der
Verherrlichung eines Gottes, eines Heiligen oder eines weltlichen Herrschers zu
widmen. Das ist etwas Neues und ... es ist tief in der europäischen Tradition
verwurzelt. Es bedeutet, dass man die individuelle Freiheit ausleben dürfen muss.
Montage auf Musik:
Sprecherin 2
Ein Jugendlicher in Saudi-Arabien hat ein Selfie gepostet, das ihn mit
herausgestreckter Zunge neben seinem gerade gestorbenen Großvater zeigt. Am
nächsten Tag stehen Sittenwächter vor seiner Tür.
Sprecher 1
Um ihren Freund zu erschrecken, inszeniert sich eine Frau aus Deutschland auf
einem Selfie als blutüberströmtes Opfer eines Überfalls. Der holt die Polizei.
Sprecherin 2
Eine Frau fotografiert sich während der Arbeitszeit und wird von ihrem Chef
gekündigt.
Sprecher 1
In Moskau stürzt eine 21-Jährige von einer Brücke, während sie für ein Selfie posiert
und stirbt.
5
Sprecherin 2
Eine Autofirma warnt: Lass das Selfie am Steuer nicht das letzte Bild von dir sein!
Sprecher 1
Zwei Soldaten posieren mit einer Handgranate für ein Selfie. Auf dem Foto ist nur die
Explosion zu sehen.
O-Ton Lutz Prechelt
Selbstporträts, indem man eine Kamera am ausgestreckten Arm hält, haben die
Leute schon sehr lange gemacht.
Sprecherin 1
Für einen Informatiker wie Lutz Prechelt von der FU Berlin sind 15 Jahre schon eine
halbe Ewigkeit. Was etwa um die Jahrtausendwende, quasi im digitalen Mittelalter,
geschehen ist, lässt sich angesichts der Rasanz der Entwicklung auch von Experten
kaum noch rekonstruieren. Wann also das Selfie erfunden wurde, weiß niemand
genau. Es muss zu der Zeit gewesen sein, als die ersten Smartphones auf den Markt
kamen. Wer das Selfie erfunden hat, kann Lutz Prechelt dagegen mit Bestimmtheit
sagen: niemand. Denn die Ingenieure, die Smartphones entwarfen, dachten
zunächst gar nicht an Massenkonsumenten, sondern an Geschäftsleute, denen sie
ein vielseitiges Mobiltelefon anbieten wollten, das ihnen den beruflichen Alltag
erleichtern sollte und sich deswegen hoffentlich auch hochpreisig verkaufen lassen
würde.
O-Ton Lutz Prechelt
Die Frontkamera, die man ja am liebsten für das Selfie verwendet, weil man sich im
Sucher sehen kann, ist ja auch relevant, wenn Sie eine Videokonferenz machen
wollen. Wenn Sie gleichzeitig Ihren Partner auf dem Display sehen wollen und der
auch Sie sehen soll, dann kommen Sie ohne eine Kamera auf der Bildschirmseite
nicht aus. Und dass die Videokonferenz nach wie vor ein totales Randphänomen ist,
ist eine interessante Fußnote dabei.
6
Sprecherin 1
Das Selfie hingegen wurde zum Massenphänomen, als sich nach ein paar Jahren
auch die Massen ein Smartphone leisten konnten. Und einen Mobilfunkvertrag, der
eine Flatrate für Bildübertragungen beinhaltete. Selfies macht man nicht unbedingt,
weil man lang ersehnte Freiheiten und lange unterdrückte Ausdrucksmöglichkeiten
ausleben will. Selfies macht man einfach, weil man es kann. Also aus genau dem
gleichen Grund, aus dem auch die Maler der Renaissance die antike Tradition der
Selbstporträts wieder aufgenommen haben.
O-Ton Dorit Schäfer
Da kamen viele Sachen zusammen. Einmal ..., dass ... der Spiegel zu einem weit
verbreiteten Produkt geworden ist. Der flache Glasspiegel, der in Venedig hergestellt
worden ist und der im 15. Jahrhundert zu Tausenden Exemplaren ... in ganz Europa
verbreitet worden ist. ... Man muss auch dazu immer sagen, dass der Künstler für
sich selbst ... das preiswerteste Modell ist. Der, der immer anwesend ist, der, den
man in verschiedenen Positionen zeigen kann, das ist man selber.
Atmo
auf der Oberbaumbrücke, Stimmen und Straßenmusik
Sprecherin 1
Auf der Oberbaumbrücke über der Spree, die Kreuzberg und Friedrichshain
verbindet, haben im Rahmen der OpenAirGallery 2016 100 Künstler ihre Werke
ausgestellt. Der Deutsch-Iraner Kani Alavi hat auf einer etwa 20 Quadratmeter
großen Leinwand, die er auf dem Boden ausgelegt hat, Porträts von vorbeigehenden
Menschen gezeichnet.
O-Ton Kani Alavi auf Musik
Ich hab in den letzten zwei Stunden 60 Porträts gemalt. Auf großer Fläche. Da sind ja
unterschiedliche Ausdrucksformen, die ich in meinen Porträts zeige. Will ich gerne
die … Gesichtsausdrücke den Menschen einfach vermitteln.
7
Es wurde oft gesprochen, was willst du jetzt zeigen? Hab ich gesagt, ich will Eure
Gefühle zeigen. Und es war natürlich interessant für mich, dass ich nur Köpfe gemalt
habe, die Porträts von Menschen, die durch Zufall hier vorbei gehen. Einmal blick ich
drauf auf deren Gesichter und kommt dann direkt auf meine Leinwand, und jetzt hab
ich vor, mein Porträt auf diese Fläche (zu) malen. Unter 60 Porträts eins ist meins.
Sprecherin 1
In der Tradition große Meister will Kani Alavi sein Konterfei in der Masse der
Gesichter verstecken. Er hat einen Spiegel ausgepackt und beginnt, sich selbst auf
dem letzten freien Flecken der Leinwand zu zeichnen. An seinem allerersten
Selbstporträt hat er sich mit 19 versucht, aber schnell wieder aufgegeben.
O-Ton Kani Alavi
Ich fand mich nicht so interessant. Das Gesicht war mir zu einfach. Und ich wollte
eigentlich genauso wie Rembrandt und Künstler, die bekannt waren, genauso wie
die, oder Michelangelo z.B., die Bilder gemalt haben, die so interessant waren, und
so konnte ich nicht malen,... so hab ich dann aufgehört und nicht weiter mich
porträtiert.
Sprecherin 1
Bevor man sich selbst porträtieren könne, müsse man ein wenig gereift sein, meint
Kani Alavi, menschlich wie künstlerisch.
O-Ton Kani Alavi
Wenn du dich mit deiner Kunst auseinandersetzt, das sind ja deine Gefühle, dann
wirst du dich im Laufe der Zeit viel mehr kennen lernen. Dieser Prozess ist für
längere Zeit. Wenn du tatsächlich ein Selbstporträt malst, hast du dich
auseinandergesetzt über die Jahre. Und dann gehst du ran und versuchst, dich
darzustellen.
8
Sprecher 1
Da wir immer noch nicht genau wissen, was nun eigentlich dieses „Ich“ ist, muss
alles getan werden, um das „Ich“ immer gründlicher und tiefer zu erkennen. Denn
das „Ich“ ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt.
Sprecher 2
Max Beckmann
O-Ton Kim Kardashian I think, to be honest, Girls, they take a lot of nude selfies.
Sprecherin 1
Wenn Kim Kardashian in Talkshows herumerzählt, dass junge Mädchen heutzutage
häufig Nacktfotos von sich machen, verrät sie längst kein Geheimnis mehr. Als Model
und Reality-TV-Star hat sie schließlich dazu beigetragen, diesen Trend zu begründen
und zu befeuern. Sie inszeniert ihr Leben als permanente Performance und hat sich
damit zur Kultfigur stilisiert. Anders als viele junge Frauen versucht sie gar nicht, den
Empfängerkreis für ihre Selfies zu begrenzen, sondern verstreut sie, wo sie nur kann,
auf ihrer Homepage, auf Facebook, auf Instagram, auf Twitter.
O-Ton Kim Kardashian
If I see a photo, I know exactly where I was, what I was doing, what I was wearing,
who did my makeup, like everything. ... I look back and think: Oh God, why would I
complain about feeling fat? I like the way I looked then, so it taught me to be a little
bit easier on myself.
Sprecherin 1
Sie könne sich noch an jedes ihrer Selfies erinnern, wo sie es geschossen hat, was
und welches Makeup sie damals getragen habe, plaudert Kim Kardashian. Und sie
schaue auf jedes Bild gern zurück und denke, mein Gott, wie konnte ich mich damals
nur für zu dick halten, ich sah doch toll aus, ich sollte nicht so streng mit mir sein:
9
Jeder Augenblick ein Spaß, festgehalten in einem Selfie, mit dessen Hilfe man ihn
wieder hervorholen und noch einmal feiern kann. So stellt Kim Kardashian ihren
Lebensstil öffentlich zur Schau und weltweit nehmen Millionen von Teenagerinnen
teil. Sie imitieren alles, von den Posen bis zu den Klamotten. Soweit geht die 15-
jährige Noufa aus Berlin nicht, die eine deutsche Mutter und einen libanesischen
Vater hat. Auf ihrem Smartphone hat sie zwar eine App installiert, die ihr jedes
Posting von Kim Kardashian gleich anzeigt. Aber bei Selfies hat sie ihren eigenen
Stil.
O-Ton Noufa
Ich könnt’ mir schon gut vorstellen, … dass es so um die 1000 sind. (lacht) Wenn ich
gerade finde, dass ich gut aussehe, oder ich ein schönes Oberteil anhabe, oder
meine Haare gerade gut sitzen, dann mach ich einfach ein Selfie. … ich nehm das
dann als Profilbild, z.B. auf Whatsapp. Also meistens mach ich Selfies … für mich.
Sprecherin 1
Noufa sammelt und ordnet ihre Selbstporträts auf ihrem Smartphone. So kann sie
sich selbst beim Erwachsenwerden zuschauen.
O-Ton Noufa
Gestern erst hab ich ein Bild von mir gefunden von vor zwei Jahren. Da hatte ich
glatte Haare und ich hab das damals gemacht und ich weiß, ich fand das toll. Und
wenn ich mir das jetzt angucke, dann seh ich so klein aus. Ich seh einfach so extrem
jung aus, das hab ich damals so gar nicht gesehen. Dass ich mich so verändert
habe, das ist schon irgendwie krass.
Sprecherin 1
Auf den meisten Bildern lächelt sie in die Kamera. Ein Filter mit Weichzeichner lässt
ihren Teint makellos aussehen. Die schwarze Hornbrille, hinter der von schwarzem
Eyeliner umrahmte braune Augen leuchten, ist stets frisch geputzt.
10
Ihre langen, welligen, dunklen Haare hat sie oft lässig über die linke Schulter
geworfen. Wenn sie sich so gestylt hat, könnte die Schülerin glatt als Angelina Jolies
kleine Schwester durchgehen, oder als Model.
O-Ton Noufa
Man kann so einen Moment festhalten und man kann sich daran erinnern. Und ich
meine, man wird auch nicht schöner. Und wenn man dann eines Tages alt ist, dann
kann man sich wenigstens noch daran erinnern, wie man mal ausgesehen hat. Dann
kann man dann sagen, so schön war ich, so hübsch war ich.
Sprecherin 2
In gewissem Sinne habe ich mich durch das Werk „enthüllt“, um Aspekte eines
Innenlebens zu zeigen, die zerbrechlich sind.
Sprecher 2
Die schottische Musikerin Annie Lennox über das Cover ihres Albums „Bare“, auf
dem sie sich 1984 nackt, aber mit weißer Kreide bedeckt, statuengleich präsentierte.
O-Ton Dorit Schäfer
Bei den beiden amerikanischen Künstlern Warhol und Mapplethorpe, etwa eine
Generation Unterschied, ist eines festzustellen, dass sie eine obsessive
Beschäftigung mit sich selber gemacht haben und mit unterschiedlichen
Rollenspielen. Sie haben einen großen Hang zur Verkleidung und einen großen
Hang, auch ihre Sexualität in diesen Verkleidungen immer wieder zu ändern, und
dieses Rollenspiel, was jeder von uns macht, künstlerisch zu zeigen. Bis dahin, dass
sie zum Teil lächerliche Bilder von sich machen. ... Ob das jetzt die Marilyn Monroe
Frisur ist, dieses toupierte blonde Haar bei Warhol oder ob Mapplethorpe so tut, mit
dramatisch verzogenem Gesicht so tut, als ob er ein Straßenverbrecher ist und mit
einem Messer, das er hält, dabei ist, den Betrachter gleich in Stücke zu schneiden,
dass sind überzogene, dramatische, theatralische Inszenierungen des eigenen
Selbst, wo der Künstler schon zum Schauspieler wird.
11
Sprecherin 1
Was traut ihr mir zu? Wer oder was bin ich? Mann oder Frau oder beides ein
bisschen? Der Kuratorin Dorit Schäfer von der Kunsthalle Karlsruhe gefällt vor allem
die Ironie, mit der solche Fragen in den Selbstporträts aufgeworfen werden.
Derartige Rollenspiele kann heute jeder mit dem Smartphone selbst inszenieren. Die
Vanity-Fair-Autorin Nancy Jo Sales berichtet in ihrem Buch „American Girls“ von
Teenagern, die sich zum Sex im virtuellen Raum verabreden. Dabei tauschen sie
Fotos ihrer intimsten Körperregionen aus, die sie sorgsamst arrangieren. Aber sie
treffen sich nie im wahren Leben. Je mehr sie sich auf diese Weise mit sich selbst
beschäftigten, desto mehr machten sie sich zu ihrem eigenen Modell, schlussfolgert
Nancy Sales und desto weniger, so meint sie, würden sie sich selbst wirklich
kennenlernen. Die Mitgliederzahlen solcher Communities sind in den vergangenen
Jahren rasant gestiegen.
Sprecher 1
Ich knipse, also bin ich.
Sprecher 2
Stefan Trinks, Kunsthistoriker
Sprecherin 1
Zweideutiges, Fragendes, Ironisierendes bleibt beim Selfie eher die Ausnahme,
beobachtet der Leipziger Blogger und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Für mich haben Selfies auch sehr viel zu tun mit diesen anderen typischen Medien
der Kommunikation, die im Smartphone-Zeitalter groß geworden sind, die emoticons,
die emojis, alles Zeichen, mit den versucht wird, sehr knapp Emotionen,
Gefühlslagen ... zum Ausdruck zu bringen.
12
Sprecherin 1
Emoticons stammen aus der Welt der Zeichen und der Piktogramme. Ihr ältester und
immer noch berühmtester Vertreter ist das gelbe Smiley, das weltweit verbreitet ist
und weltweit verstanden wird. Inzwischen gibt es davon Hunderte Varianten: weinend
zum Beispiel oder wutschnaubend mit Dampf aus den Nasenlöchern, cool mit
Sonnenbrille oder verliebt mit Herzchen als Augen. Praktischerweise sind sie alle
schon wie Schriftzeichen auf jedem modernen Smartphone vorinstalliert, so dass
man seine Mitteilungen auch ohne Wort verschicken kann.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Und so würde ich auch viele Selfies verstehen, da bringt man sein Gesicht auch in so
eine übertriebene Pose, die besonders albern oder witzig oder traurig aussieht, ...
und damit ist das Bild, das man von sich schickt, so eine Art von lebendigem oder
natürlichen Emoticon. Und erfüllt auch die Funktion von so einem emoticon, auf eine
schnelle, plakative Weise anderen mitzuteilen, wie es einem gerade geht.
Sprecherin 1
Das gelingt erstaunlich gut und erstaunlich missverständnisfrei. Und zwar nicht nur
unter Freunden, die sich gut kennen und auch im realen Leben öfter über den Weg
laufen. Sondern auch unter Menschen, die Tausende Kilometer voneinander entfernt
in völlig unterschiedlichen Kulturen leben, sich aber regelmäßig und ausschließlich in
digitalen Sphären begegnen.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Ich finde es eher überraschend, dass ... hier vielleicht das erste Mal glückt, was man
sich gerade in der klassischer Moderne hier im Westen gewünscht hatte, nämlich
dass es Bildsprachen gibt, die kulturübergreifend sind, die unmissverständlich sind.
Man hat ja auch darauf gehofft, kulturelle Missverständnisse zu überwinden, indem
man auf Bilder setzt, denn Sprache muss man erst lernen und hat so viele
Zwischentöne und ist so missverständnisträchtig und in gewisser Weise scheint sich
mir diese Utopie ... jetzt damit zu verwirklichen.
13
Ich habe nicht den Eindruck, wenn ich auf Blogs gehe, die von Leuten aus der
arabischen oder der asiatischen Welt gemacht werden, dass es da so grundsätzlich
andere Codes oder andere Bildtypen gibt, sondern dass sich das als globales Idiom
etabliert hat.
Sprecherin 1
Auf globale Verständlichkeit konnte ein Albrecht Dürer allenfalls in gebildeten Kreisen
bauen, obwohl die für ihn relevante Welt noch viel übersichtlicher war und sich auf
die damalige christliche Hemisphäre beschränkt haben dürfte. In der war es bis zum
Anfang des 16. Jahrhunderts ein Sakrileg, sich dem Blick des Betrachters so frontal
auszusetzen, wie er es im „Selbstbildnis im Pelzrock“ tat, und dabei auch noch
genauso frontal zurückzublicken. Diese Perspektive hatten seine Malerkollegen bis
dahin für den Sohn Gottes reserviert.
O-Ton Dorit Schäfer
Das Selbstbildnis von Dürer ..., das heute in der Alten Pinakothek hängt: ... Er ist 28
Jahre alt und er zeigt damit, das, was ich mache als Schöpfer, ich bin ein
künstlerischer Schöpfer und ich setze mich in vielen äußerlichen Dingen den
Erscheinungsbildern von Christus gleich, das hat natürlich etwas von einem
großartigen Selbstbewusstsein. ... Das ist ein unglaublich selbstbewusstes Bild.
Sprecherin 1
Nicht nur, weil sich da ein Mensch fast gottgleich präsentierte. Sondern weil sich
Dürer so in einen Stand erhob, der ihm nach landläufiger Meinung gar nicht zustand
als Künstler. Denn Künstler galten damals als einfache Handwerker. Dürer aber
beanspruchte für sich die Rolle eines Intellektuellen, der neue, unbekannte
Sichtweisen eröffnete. Er war schließlich gleichzeitig Mathematiker und dieses Fach
machte gerade zu seinen Lebzeiten große Fortschritte und schickte sich an, die Sicht
auf die Welt zu verändern. Ohne freilich Philosophie und Theologie den Rang von
Königsdisziplinen unter den Wissenschaften streitig machen zu wollen. Dürer blieb
14
stets ein gottesfürchtiger Mann. Er wollte seinem Schöpfer nahe kommen, nicht an
seine Stelle treten. Dürer wollte Grenzen verschieben, nicht aufheben.
Sprecher 1 Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am
Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
Sprecher 2
Exodus Kapitel 20, Vers 4+5
Sprecherin 1
Wer heute Selfies macht, überschreitet ständig Grenzen, ohne noch darüber
nachzudenken. Die Zeit ist kaum noch eine Grenze, weil das Bild in
Sekundenschnelle gemacht werden kann. Die Verbreitung übers Internet und soziale
Netzwerke ist ohnehin grenzenlos. So wie Gott einst überall gegenwärtig schien,
kann sich der Mensch heute globale Omnipräsenz verschaffen, wenn er will.
O-Ton Christoph Wulf
Man könnte sagen, dass das Selfie gegen ein uraltes Gebot der monotheistischen
Religionen verstößt, sich nämlich kein Bild von Gott und im übertragenen Sinne vom
Menschen zu machen.
Sprecherin 1
Nicht nur die Religionen Abrahams, sagt der Berliner Anthropologe Christoph Wulf,
propagierten das Gottes- und Selbstbildnisverbot. Schon die Philosophen der Antike
hatten dieses Tabu gekannt. Seine berühmteste Ausformulierung findet sich für Wulf
im Mythos des Narziss, der eines Tages im Wasser sein Spiegelbild erblickte und
sich darin verliebte. Ohne die Hoffnung, dass seine Liebe je erwidert werden könnte,
starrte er den Rest seines Lebens in sein Ebenbild.
O-Ton Christoph Wulf
Die theologische Weisheit, dass das Machen von Bildern ... erst mal von Gott, aber
auch von anderen Menschen und auch von einem selbst, ein äußerst
15
problematischer Prozess ist, ist völlig klar, ... und ich denke, beim Selfie ist die
Tendenz wirklich, das Bild an die Stelle vom Menschen zu setzen. ... Hier, beim
Selfie geht es darum, sich möglichst viele Bilder von einem selbst zu machen. ... Das
ist natürlich eine bestimmte Form von Religions-Anthropologie, die ich da zum
Ausdruck bringe, aber ich glaube, das hat seine Bedeutung.
Sprecherin 1
Denen, die heute Tag für Tag Millionen Selfies knipsen, ist diese Botschaft entweder
unbekannt oder einfach egal. Doch diese Leichtigkeit schlägt schnell um in
Leichtfertigkeit. Nur wenige denken darüber nach, dass ihnen eine besonders
extrovertierte Selbstdarstellung irgendwann einmal peinlich sein könnte. Dass z.B.
ein potentieller Arbeitgeber Jahre später ein freizügiges Selfie im Netz finden könnte,
wenn sie sich gerade bei ihm bewerben. Christoph Wulf würde den Menschen am
liebsten zu mehr Vorsicht raten, aber er erwartet nicht, dass sie auf ihn hören.
O-Ton Christoph Wulf
Das ist ein Merkmal der heutigen Zeit, wir müssen uns alle inszenieren. Wir müssen
uns, anders gesprochen, verkaufen damit wir ankommen. Wir werden zur Ware, das
muss man so deutlich sagen. Der Kapitalismus hat da nicht angehalten, es wird alles
verkauft, es geht ja der ökonomische Blick in alle Bereiche des menschlichen
Lebens. Und beim Selfie gibt es diese Widerspiegelung, man sieht sich selbst, ist auf
sich selbst zentriert. Das ist einerseits etwas, was den Menschen Freude macht, sie
inszenieren sich gerne, ... das ist die positive Seite, wenn man so will. Das hat
natürlich auch andere Seiten, dass wir uns dauernd selbst manipulieren. Das Selfie
scheint mir das zum Ausdruck zu bringen. Wir haben dauernd den Anspruch an uns,
zu gefallen und sichtbar zu sein.
Sprecherin 1
Ist der Mensch einmal in den Selfie-Kosmos eingetreten, muss er immer neue Bilder
posten, meint Christoph Wulf. Muss immer wieder zeigen: ich bin hier. Ich bin immer
noch da. So wertet man sich auf, macht sich und sein Leben interessant.
16
O-Ton Christoph Wulf
Wir müssen das alle tun,... dass man das Leid nicht zeigt, Schmerz nicht zeigt, weil
das natürlich nicht zum Hauptmerkmal des modernen Menschen gehören soll.
Das passt nicht. Das Selfie hat schon als Medium die Funktion, glückliche Menschen
zu zeigen, oder Menschen, die sich gut inszenieren.
O-Ton Lutz Prechelt
Oh, Selfies lügen natürlich schon, aber ... aus meiner Sicht ist ein Grund, warum die
Selfies so viel Zulauf haben, dass Sie ein Exemplar sind nicht nur von Selbstporträt,
sondern von Selbstrepräsentation.
Sprecherin 1
Für den Informatiker Lutz Prechelt gilt ähnlich wie für den Anthropologen Christoph
Wulf die alte Weisheit: The medium is the message.
O-Ton Lutz Prechelt
So ziemlich jede Lebensäußerung, wo ich als Person mit auftauche, könnte man als
Selbstrepräsentation betrachten. Wenn ich etwas spreche, bin ich stimmlich präsent,
wenn das, was ich sage, meine Meinung ist, bin ich als Persönlichkeit präsent, wenn
ich eine Unterschrift leiste, ist das eine Selbstrepräsentation, nämlich meiner
Identität, usw. usw. ... Und vieler dieser Selbstrepräsentationen, die wir bis jetzt
verwendet haben, z.B. Handschrift und Unterschrift, sind verhältnismäßig arm,
verhältnismäßig schmalbandig, da steckt nicht sehr viel drin von mir.
Sprecherin 1
Das Medium Selfie schränkt für Lutz Prechelt die Menschen nicht ein, sondern
erweitere ihre Ausdrucksmöglichkeiten – schon allein auf Grund seiner technischen
Beschaffenheiten.
O-Ton Lutz Prechelt
Das Selfie ist jetzt plötzlich eine Möglichkeit, die schnell und einfach geht, nichts
kostet, leicht verfügbar ist, wie ich eine viel reichhaltigere Selbstrepräsentation
anfertigen kann.
17
Wo meine Stimmung und ein Teil meines Körperzustands direkt abgebildet werden.
Und ich glaube, dass das Bedürfnis, solche Selbstrepräsentationen weiterzugeben
an andere, ein Treiber sind, warum Selfies so populär geworden sind.
Sprecherin 1
Für den Informatiker ist diese Entwicklung noch längst nicht am Ende angelangt,
vielleicht nicht einmal an ihrem Höhepunkt.
O-Ton Lutz Prechelt
Da geht technisch einiges, also die Frage, ob man holografische Wiedergabe schafft,
ist noch interessant. ... Dass man in die Luft ein dreidimensionales Bild projizieren
kann, um das man sozusagen rumlaufen kann und das sich dann perspektivisch
verändert. Wenn sich das genügend hoch treiben lässt technologisch, kann man
damit Telepräsenz realistisch machen, und wenn Sie es dann noch schaffen, die
Tonwiedergabe so hinzukriegen, dass der Ton wirklich aus dem Mund dieses
projizierten Bildes zu kommen scheint, was, wenn Sie fest aufgestellte Lautsprecher
haben, heute schon möglich ist. Das ist noch nichts für den portablen Bereich so
richtig, aber man weiß im Prinzip, wie man so etwas machen kann, dann stoßen wir
noch mal ein Tor auf zu neuen Dimensionen von Nutzen, ... wo man also tatsächlich
die persönliche Nähe eines Menschen annähern.
Sprecherin 1
Noch ist die Übertragungstechnik nicht so weit, aber sie wird kommen, und Selfie-
Macher sind es gewohnt, Verbreitungswege zu wechseln. Medien-affine Jugendliche
haben Snapchat für sich entdeckt. Über diesen Dienst lassen sich Fotos und kurze
Videos blitzschnell verbreiten, sind aber für den Empfänger nur wenige Sekunden
sichtbar und werden dann wieder gelöscht. Auch wenn es immer Hacker geben wird,
die solche Dateien wieder herstellen können, sinkt die Gefahr, dass einem peinliche
Posen oder Grimassen oder anderen Bilder, die man später bereut, immer wieder
vorgehalten werden. Immer mehr User machen sich Gedanken, was sie verschicken
und was nicht.
18
O-Ton Noufa
Nacktbilder. Ich will dieses Risiko gar nicht eingehen, dass das rumgeschickt werden
könnte. Also ich würd das nicht machen. Wenn mein Freund mich anbetteln würde,
ich würde immer nein sagen. Ich mein, wer’s machen möchte, bitte, aber ich mach
das nicht. Ich hätte viel zu große Angst vor den Folgen. Wenn man sich jetzt z.B.
trennt oder Streit hat, dass man das dann einfach rumschickt. Oder selbst wenn der
Typ oder die Freundin das bloß ihren Freundinnen zeigt, oder seinen Kumpels, das
ist doch demütigend.
Sprecherin 1
Ewig, sagt Noufa, habe sie sowieso nicht vor, Selfies zu produzieren.
O-Ton Noufa
Ich denke, dass man ab einem gewissen Alter zu reif dafür ist. Also mit 30 denk ich,
dass ich dann nicht unbedingt noch so viele Selfies machen werde. Vielleicht mal
eins mit ein paar Freunden, aber dann auch wirklich nur, wenn man gerade gute
Laune hat, dass man unter Freunden ist und dann ne Erinnerung hat.
Sprecherin 1
Auch da lässt sie Grimassen oder alberne Gesten eher weg.
O-Ton Noufa
Ich achte darauf, dass es natürlich aussieht, ... als wär es jetzt gerade so ganz
nebenbei gemacht worden. Und nicht, dass man sich irgendwo extra hinstellt. Es
sieht schon blöd aus, wenn man da rumhüpft.
Sprecherin 1
Wolfgang Ullrich hat seine Professur für Kunstgeschichte in Karlsruhe aufgegeben,
um sich als freier Autor, Kurator und Blogger mit der Geschichte des Kunstbegriffs
und mit modernen Formen des Ausdrucks zu beschäftigen.
19
O-Ton Wolfgang Ullrich
Für mich besteht der kategoriale Unterschied darin, dass Selfies wie viele andere
Bildertypen in den sozialen Medien primär zu verstehen sind über die Funktion, dass
sie Teil von Kommunikation sind und zwar einer Live-Kommunikation. ... Dahinter
steht die Idee, ich teile jemand anderem mit, hier bin ich gerade, mir geht es gerade
so, ich denke gerade an dich. ... Es sind so Status-Meldungen im weitesten Sinne.
Fast alle Selfies gehen in dem Moment auf, in dem sie gemacht und gesendet und
von der anderen Seite angeschaut und vielleicht kommentiert oder beantwortet oder
weitergeleitet werden.
Sprecherin 1
Der Blick auf Abertausende von Selfies beeinflusst auch Wolfgang Ullrichs Sicht auf
künstlerische Selbstbildnisse.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Ich finde, dass man an der Geschichte des Selbstporträts sehr schön sehen kann,
wie sich Begriffe von Künstlertum ändern, die Selbsteinschätzung von Künstlern. Mal
sehen sie sich eher als Opfer der Gesellschaft, als Außenseiter, dann sind sie eher
stolz, weil sie Teil eines irgendwie auch mächtigen Milieus sind. Wann definieren sie
sich über materielle Erfolge? Wann definieren sie sich eher darüber, ausgestoßen zu
sein? Das kann man wunderbar ablesen und das wird durch die Inszenierung
gesteigert, diese jeweilige Rolle und Selbsteinschätzung, insofern ist diese Gattung
ja auch so spannend.
O-Ton Dorit Schäfer
Rembrandt, also der Künstler, der am meisten Porträts von sich gefertigt hat, ... hatte
einen riesigen Kostümfundus mit unglaublichen Gewändern aus Pelz, aus Seide, aus
unterschiedlichen Jahrhunderten, orientalische Kostüme, verschiedene Schwerter,
Waffen, was auch immer, das waren Kostüme, die er verwendet hat für seine
Modelle, er hat ja viele, viele sakrale Gemälde geschaffen und v.a. viele Motive aus
dem Alten Testament, wo er mit Hilfe dieser Kostüme auch die historische Zeit, in der
seine Bilder spielten, mit darstellen wollte. Und diese Kostüme hat er selber
verwendet, hat sie selber angezogen.
20
Sprecherin 1
Und sich dann gemalt. Ungefähr 80 Selbstporträts Rembrandts sind bekannt,
Gemälde, Zeichnungen, Radierungen. Angefertigt hat er wahrscheinlich noch mehr,
denn Röntgenuntersuchungen seiner Werke zeigen, dass der Meister viele später
wieder übermalte. Auf seinen Selbstbildnissen ist er mal eindeutig zu erkennen, mal
schlüpft er in Rollen wie die des Apostels Paulus. Die Zeitgenossen und auch die
Nachwelt hat er damit irritiert. Bis ins 19. Jahrhundert bekam er kaum bessere
Kritiken als heute Kim Kardashian. In Katalogen wurden ihm seine burlesken Züge
vorgeworfen, die seltsamen Haartrachten kritisiert oder ganz allgemein die Rohheit
seiner Selbstbildnisse moniert, erzählt Dorit Schäfer. Erst in der aufkommenden
bürgerlichen Gesellschaft wollen die Kunstsachverständigen bei ihm eine Suche
nach dem eigenen Ich erkennen.
O-Ton Dorit Schäfer
Bei Rembrandt ist es nun so gewesen, dass er sich in einer so empfindsamen
Physiognomie dargestellt hat, aber auch in unterschiedlichen Stimmungen, ängstlich,
leidend, klagend, erstaunt, er hat auch die Physiognomie der verschiedenen
Empfindungen immer wieder am eigenen Gesicht ausprobiert, dass man ganz lange
gedacht hat, es ist eine sehr starke psychologische Beschäftigung mit dem eigenen
Selbst. Heute geht man davon aus, dass das eher eine romantische Sicht ist auf
Rembrandt, ... denn man weiß, dass diese Ausdrucksstudien damals auch eine
große Modewelle gewesen sind, ... und dass er damit eine große Einnahmequelle
hatte.
Sprecherin 1
Die Gesetze des Marktes, die Erwartungen der Umwelt, die gesellschaftlichen
Konventionen – das Umfeld für künstlerische Selbstporträts war und ist nicht so
grundverschieden von dem, in dem Selfies entstehen, meint Wolfgang Ullrich. Nur
dass Künstler damit natürlich viel professioneller umgingen.
21
Was aber nicht verwundern könne, das Selfie sei nun mal ein Medium des Alltags,
offen für jeden, auch für Amateure und Dilettanten.
O-Ton Wolfgang Ullrich
Ich war auf einem Symposium letztes Jahr ... in Venedig und da waren mehrere so
kulturkonservative Redner und lustiger Weise hatten drei von denen dasselbe Chart
bei einer Powerpoint-Präsentation, links das Selbstbildnis von Dürer, im Pelzrock, wo
er in christusgleicher Position da sich malt, mit ernstem Gesicht, mit durchdringenden
Blick, also der erhabene große Künstler schlechthin und daneben haben sie dann
irgendein Selfie gezeigt, wo ein junges Mädel mit Kulleraugen und aufgerissenem
Mund und rausgestreckter Zunge sich fotografiert hat, um zu zeigen, welchen
Kulturverfall es seit Dürer gegeben hat. Und das ist für mich völlig absurd, solche
Bilder so in Beziehung zu setzen. Man hat das Selfie aus dem Kontext gerissen ...
und überlädt es mit Ansprüchen, die es nicht hat.
Sprecherin 1
Das Selfie will gar nicht anders sein als profan.
Montage auf Musik:
Sprecherin 2
Ich lichte meinen Hintern ab und habe ein Belfie.
Sprecher 1
Ich drehe ein Selfie-Video und habe ein Velfie.
Sprecherin 2
Ich fotografiere Haare für ein Helfie.
Sprecher 1
Ich posiere nackt und produziere ein Nelfie.
Sprecherin 2
Ich inszeniere mich nackt mit meinem Partner und schaffe ein Relfie.
22
Sprecherin 1
Mit ihren Selfies, Belfies und Relfies wollen die Absender sich der Welt zur Schau
stellen. Der Künstler Kani Alavi will dagegen in Selbstporträts seine Geheimnisse
malen, auch und gerade die, die er selbst noch gar nicht kennt.
O-Ton Kani Alavi
Ich hab irgendwann mal ein Bild gemalt, und dann hatte ein … Käufer von mir …
interpretiert, wie ich in diesem Bild meine Gefühle gezeigt hab und er hat
herausgefunden: Die Augen, in diesem Zeitraum warst du bestimmt glücklich, warst
du mit vielen Menschen zusammen, hast denen Gefühle gegeben, dass die auch
glücklich werden. Deine Augen leuchten und da hast du das so dargestellt.
Sprecherin 1
Momentan sind alle seine Selbstbildnisse verkauft. Doch Kani Alavi kann sich nicht
einfach hinsetzen und beliebig neue produzieren.
O-Ton Kani Alavi
Du musst dich in eine Stimmung versetzen und versuchen, so weit zu kommen, dass
du sagst, heute male ich mein eigenes Selbstbildnis. Und sonst wird es nicht richtig
gut laufen. ... Du musst wirklich diese Zeitspanne herausfinden, auch entdecken, du
kannst nicht jederzeit sagen, jetzt geh ich mal ran und mal ich mich. Das geht nicht.
Du musst diese Zeit erwischen. Manchmal ist es nachts, zwei, drei Uhr morgens
vielleicht, dann stehst du auf und sagst, jetzt möchte ich gern versuchen. Aber das ist
nicht so, dass es dann gleich kommt, … kann sein in zwei Tagen, kann sein, dass es
zehn Jahre dauert.
Sprecherin 1
Kani Alavis bekanntestes Gemälde heißt „es geschah im November“ und ist auf
einem Mauersegment in der Berliner East Side Gallery ausgestellt. Vor einem blauen
Hintergrund teilt sich die weiße Betonmauer und eine Flut von Gesichtern strömt
hindurch.
23
Auf einer Leinwand-Variante dieses Bildes hat er auch sein Selbstporträt versteckt.
Bis jetzt hat diese Version noch nie ausgestellt. Aber falls sich sein großer Traum
erfüllt und aus der East-Side-Gallery einmal ein Museum wird, möchte er es dort
aufhängen.
Sprecher 1
Ich lebe in meiner Haut wie in meinem Haus. Ich weiß, es gibt schönere Haut, feinere
Haut und robustere Haut. Aber ich fände es widernatürlich, sie gegen meine zu
tauschen.
Sprecher 2
Primo Levi
O-Ton Walter Smerling
Die Bilder sind alle heimlich entstanden. Und sie sind versteckt worden. Manche
Aufseher oder Bahnarbeiter haben sie mitgenommen und nach dem Krieg wurden
sie wiederentdeckt.
Sprecherin 1
Walter Smerling vom Verein Kunst und Kultur in Bonn hat in diesem Winter der
deutschen Öffentlichkeit zum ersten Mal eine sehr ungewöhnliche Sammlung von
Selbstporträts gezeigt. Im Rahmen der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ hat er
Selbstbildnisse aus Konzentrationslagern präsentiert. Sie stammen aus der
Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, wo sie aber nur sehr selten gezeigt werden, weil
sie einen fast surrealen Überlebenswillen zeigen und damit unrealistisch wirken
können, obwohl an ihrer Echtheit kein Zweifel besteht.
O-Ton Walter Smerling
Derjenige, ... der etwas ausdrücken will, der hat es gemacht wenn er die Kraft dazu
hatte. Und das ist eben das Bemerkenswerte, dass diese Menschen, die den Tod vor
Augen haben, dennoch sich das ausdrücken, das Individuum. Leute mit eigener
Meinung, die man zwar auf das Unmenschlichste, unvorstellbar Grauenhafteste
behandeln kann, aber die sagen, mein Menschsein und meine Seele, meine
24
Kreativität, das kann mir niemand nehmen. Es ging darum, auch ein schönes Bild zu
haben von sich selber.
Sprecherin 1
Die wenigen Gefangenen, die im Konzentrationslager gemalt haben, waren fast alle
künstlerisch vorgebildet, einige sogar bekannte Maler. Andere waren, als sie
deportiert wurden, noch zu jung gewesen, um auf eine Kunstakademie zu gehen,
hatten sich aber schon im Elternhaus oder in der Schule darauf vorbereitet. Die
Historiker von Yad Vashem haben jede Biografie mit Hilfe von Zeitzeugen und
Dokumenten rekonstruiert. Walter Smerling deutet die Selbstporträts als Versuch, die
zerstörten Lebensentwürfe nicht aufzugeben.
O-Ton Walter Smerling
Die Porträts sind alle auch unter künstlerischen Gesichtspunkten, ich will nicht sagen
hochwertig, aber man sieht in Anführungsstrichen schöne Gesichter, der Versuch,
den Porträtierten positiv darzustellen. Dem entnimmt man nicht unbedingt die
furchtbare Situation, in der er sich befindet. Ich könnte mir vorstellen, weil es darum
ging, auch ein Bildnis für die Zeit nach dem Leben, also für die Nachwelt zu erhalten.
Sprecherin 1
Ilka Gedó hat das Ghetto von Budapest überlebt und später als Grafikerin Weltruhm
erlangt.
O-Ton Walter Smerling
Sie war ja eigentlich noch eine junge Frau, als das Bild entstand, aber sie sieht sehr,
sehr alt aus. So eine verschwommene Gestalt, ein nicht klar erkennbares Gesicht
„Seltsam in Nebel zu wandern, kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein“, fällt
einem da ein. Sie war gerade mal 23 Jahre alt, hat sich hier als alte Frau porträtiert,
das verschattete Gesicht, die trüben Augen, die hängenden Schultern, da denkt man
an Ermüdung, an Niedergeschlagenheit. ... 1.24 Sie hat ... diesen Stil nach dem
Krieg weiter fortgesetzt.
25
Sprecherin 1
In den Ghettos und Konzentrationslagern waren die meisten Künstler auf einfachste
Mittel angewiesen.
O-Ton Walter Smerling
Sie haben sehr viele Bleistiftzeichnungen, wir haben natürlich überwiegend ganz
kleine Formate, also 30 mal 20 Zentimeter oder 30 mal 40, ... man hat mit
Kartoffelscheiben gemalt.
Sprecherin 1
Keines dieser Selbstporträts nimmt die Realität des Lagers auf. Keines zeigt die
Menschen so halbverhungert, so verdreckt und erniedrigt, wie sie waren.
O-Ton Walter Smerling
Zum Beispiel Joseph Kowner, der macht ein Selbstporträt in einer sehr expressiven
Sprache. Es ist 1941 in Lodz entstanden, Litzmannstadt, man sieht schon
Traurigkeit, das Gesicht ist abgemagert, aber ... er bringt etwas Farbe ins Gesicht,
aber das verbirgt nicht seinen traurigen Blick. Ein nachdenklicher, trauriger Blick,
aber, wie soll ich sagen, in der Bildfläche strahlt ... so eine optimistische Apokalypse
aus. Also, ich male heute noch ein farbiges Bild, selbst wenn morgen die Welt
untergeht. Und das ist so stark und positiv, wie er hier mit den Farben jongliert, die
grün und violett einerseits farbig ist und andererseits eine melancholische Stimmung
vermittelt. ... Du siehst den Tod, du siehst die Leidenden, die Hungernden und du
bist einer von denen und porträtierst dich jetzt in dieser Situation, aber willst deine
positive Lebenshaltung und deinen Stolz und in gewisser Hinsicht Unabhängigkeit
und deine Stärke zum Ausdruck bringen, aber auch die Traurigkeit , diese
Ausweglosigkeit, in der du dich befindest. Und dieses Selbstporträt bringt das für
mich auf intensivste Weise rüber, und zwar alleine durch den Blick der Augen. Der
Blick sagt alles: Ich bin ein Mensch und ich habe ein Würde und die Würde ist
unantastbar.
Musik
26
O-Ton Dorit Schäfer
Wenn es Zusammenhänge gibt zwischen Selbstporträt und Selfie, dann ist es der
Wunsch des Menschen, sein eigenes Bild in die Welt zu setzen und damit auch der
Sterblichkeit etwas entgegen zu halten. ... Jedes Selbstporträt und jedes Selfie ist ein
Statement, ein Statement dafür, dass man in der Welt ist und sich behaupten will in
der Welt. Und das ist etwas zutiefst menschliches, was das Selbstporträt und das
Selfie gemeinsam haben.
Sprecherin 1
Kim Kardashian macht das auch neuerdings mit einem Buch. An den drei Seiten des
Buchschnitts fällt ein grauer Mittelteil auf, in dem man normalerweise Fotos erwarten
würde. Aber tatsächlich enthält das ganze Buch nichts als Fotos. Die grau
gekennzeichneten Seiten sollen anzeigen, dass hier die Nacktaufnahmen platziert
wurden. Damit kein christlich-fundamentalistischer Teenager etwas sieht, das für
Kinderaugen nicht bestimmt ist, und die Eltern womöglich Verlag und Autorin
verklagen.
Montage auf Musik:
Sprecher 1
Kim Kardashian im kleinen Schwarzen auf rotem Teppich.
Sprecherin 2
Kim Kardashian mit Ehemann Kanye West und Sohn auf dem Weg zum Strand.
Sprecher 1
Kim Kardashian im Bad, mal mit Dessous, mal ohne.
Sprecherin 2
Kim Kardashian versprüht ihre neue Duftkollektion.
Sprecher 1
Kim Kardashian und Hillary Clinton – wer Star ist und wer Fan ist nicht erkennbar.
27
Sprecherin 1
Etwa 50 Millionen Dollar verdient Kim Kardashian im Jahr: Mit ihren Büchern,
Fernsehauftritten, einer eigenen Duft-Kollektion und Modeschauen. Das Feuilleton
rümpft darüber gern die Nase. Wenn dagegen ein Selbstporträt von Gerhard Richter
für ein paar Millionen bei Sotheby’s unter den Hammer kommt, wundert sich niemand
mehr. Bis auf einen: Gerhard Richter. Der aktuell am höchsten gehandelte Maler hat
die Preise für seine Werke schon mehrfach öffentlich als aberwitzig eingestuft. Kim
Kardashian nimmt strahlend lächelnd alles, was sie kriegen kann.
O-Ton Kani Alavi
Ob du glücklich bist oder traurig bist, … diese beiden Dinge kannst du ohne weiteres
nutzen. … Ich hab angefangen zu malen, mein Selbstporträt darzustellen, auf
Leinwand, auf Papier. Für mich war früher die Voraussetzung ... die klassische
Malerei, ... die Regelung war immer exakt beschrieben, die Proportion, die Tiefe, die
ganze Farbkomposition und die musst du dann einhalten. Bei jedem bekannten
Künstler war das immer so, bei Da Vinci, Rembrandt oder Michelangelo. Dann aber
… nach 10 oder 15 Jahren hast du dann eine andere Phase. Dann willst du dich
befreien, dann lässt du die Pinsel viel mehr schwingen. Ich brech die Regeln, ich
nehm nicht die Farben, wie sie kombiniert werden sollten. Das mach ich nicht und
das ist alles so ein bisschen wild. Die Farbe, das muss nicht unbedingt genau die
Hautfarbe sein, … darüber hinaus mach ich von dieser Hautfarbe, die gewisse
Farbtöne hat, mach ich eine völlig andere Farbe, meinetwegen dunkelblau oder
dunkelgrün. Mit diesen Farben hat man eine neue Form geschaffen und darüber
hinaus eine neue Stimmung.
Und die Linien, die Konturen musst Du nicht unbedingt exakt malen. … Das ist dann
eine andere Phase. Und dann kommst du dann nach fünf Jahren noch mal und
versuchst, dich diesmal so modern darzustellen, dass so abstrahiert wird, dass
keiner dich leicht verstehen kann, außer dir selbst.
Sprecherin 1
Auch Kim Kardashian legt beim Selfiemachen Wert auf gutes Handwerk.
28
O-Ton Kim Kardashian
I think lighting is everything. ... Angle is everything.
Sprecherin 1
Auf gutes Licht komme es an. Und natürlich darauf, dass das Smartphone im
richtigen Winkel gehalten werde, damit sich die Perspektiven nicht verschieben und
die Proportionen nicht mehr stimmen. Sie habe sich das alles selbst beigebracht.
O-Ton Kim Kardashian
And a lot of it has to do with how you crop it. If you don’t like something on your body
you just crop it.
Sprecherin 1
Später bei der Bildbearbeitung müsse man die Kunst des Weglassens beherrschen.
Alles, was am Körper nicht gefällt, schneide sie einfach weg. Über allem aber steht
für Kim Kardashian eine eherne Grundregel: Kein Selfie-Stick. Sich so eine
Teleskopstange ans Smartphone montieren, das Gerät dann einen Meter oder noch
weiter weg halten und per Fernbedienung auslösen, das ginge dann doch gegen die
Berufsehre. Da entstünden dann Bildräume, die man niemals schaffen könne nur mit
einer Armlänge Bewegungsradius. Das wäre Schummelei.
O-Ton Noufa
Erst mal … der Hintergrund. Ich find’s wichtig, dass der nicht so übertrieben ist, auch
ein schöner Hintergrund ist, Felder, Wiesen. Aber dass man doch mehr auf die
Person dann achtet. 4.20 Wenn ich zu Hause sitze und ich ein Selfie machen
möchte, dann mach ich natürlich auch zuhause ein Selfie und geh dafür nicht extra
raus. … Die meisten meiner Selfies sind tatsächlich mit Freunden, oder auch mit nem
Haustier. Ne Bekannte von mir, die ist jetzt 22, die macht immer noch dieses
Duckface. … Ich find’s nicht toll, … dieses Duckface ist so kindisch, … wenn man so
’ne Schnute zieht, wie so ’ne Ente eben. (lacht) Meistens lächle ich auf Selfies.
29
Mir ist es immer wichtig, dass ich einen Filter drauf habe, weil so ein Filter
verschönert das Ganze noch mal und dann sieht man vielleicht den einen Pickel auf
der Nase nicht und die Sommersprossen sind dann vielleicht nicht so doll zu sehen.
Dann halt noch der Winkel, dass man das nicht von unten macht und auch nicht von
oben, manchmal halt ich’s halt gerade, so vor, meistens auch so leicht angeschrägt.
Oder halt, dass man nur die Hälfte des Gesichtes sieht, das machen ja jetzt auch
alle.
Sprecherin 1
Was das Selfie eigentlich ist, ob Medium oder Bildgattung, ob vorübergehende
Modeerscheinung oder kommende Kunstform, darüber streiten die Experten. Aber
sie sind sich einig, dass das Phänomen sich weiter entwickeln und ausdifferenzieren
wird. Es könnte noch mehr zu einem Alltagswerkzeug werden. Schon bald,
prophezeit der Informatiker Lutz Prechelt, könnte man es nutzen, um die eigene
Identität nachzuweisen, zum Beispiel am Geldautomaten.
O-Ton Lutz Prechelt
Wenn man ein Bewegtbild überträgt, als Video wäre das etwas, was recht schwierig
zu fälschen ist, insbesondere noch, wenn gleichzeitig ein Sprachsignal kommt, wenn
ich etwas sage, was dann lippensynchron sein muss, so dass sich das potenziell
eignet für Authentisierungszwecke.
Sprecherin 1
Die lippensynchrone Botschaft wäre so etwas Ähnliches wie eine Geheimzahl oder
ein PIN-Code.
O-Ton Lutz Prechelt
Wenn mein Gegenüber entsprechende Daten hat, entweder, wenn es eine Person
ist, die mich gut genug kennt oder wenn es ein Automat wäre, der über biometrische
Daten verfügt, also zum Beispiel die Geometrie meines Gesichts und eine
Stimmprobe hat von mir, dann wäre die Kombination all dieser Faktoren, ein
30
bewegtes Gesicht plus gleichzeitige Stimmprobe, eine verhältnismäßig schwierig zu
verfälschende und zu umgehende Authentisierungsmethode.
Sprecherin 1
Alle großen Kreditkartenunternehmen denken schon darüber nach, ob und wo sie
Foto- oder Video-Selfies nutzen können. Amazon hat sogar schon ein
entsprechendes Patent angemeldet. Für Kunden hätte das den Vorteil, dass sie sich
überall identifizieren und bezahlen könnten, nicht nur dort, wo ein Automat oder ein
Kartenlesegerät installiert ist. Sie müssten allerdings ihr Smartphone dabei haben.
O-Ton Ai Weiwei
I see European 19th century, 20th century. 21st century I don’t know. I think it’s very
different century.
Sprecherin 1
Europa habe das 19. Jahrhundert bestimmt und auch das 20., aber was das 21.
Jahrhundert betrifft, da hat Ai Weiwei seine Zweifel. Das werde wohl ganz anders
geprägt werden, auch in der Kunst. Und es dürften sich Formen und Bildsprachen
durchsetzen, die hierzulande bisher kaum anerkannt seien, pflichtet ihm Dorit
Schäfer bei.
O-Ton Dorit Schäfer
Ich betrachte das Selfie als, lassen Sie uns mal Bildgattung sagen, ... die ich
künstlerisch verwenden kann. Und die ich natürlich konzeptionell gut verwenden
kann und zwar auf eine Art und Weise, wie ich noch keine andere Kunstgattung
verwenden konnte, nämlich indem ich in einer Nanosekunde, übertrieben gesagt,
mein Bild millionenfach in die Welt bringen kann. Und nicht nur millionenfach in die
Welt, sondern auch global. ... AiWeiwei ist einer, der das Selfie tatsächlich zu einer
künstlerischen Aussage gemacht hat. Der exzessiv Selfies von sich macht und das
konzeptuell als autobiografische Äußerung in seinem Werk verankert.
31
O-Ton Ai Weiwei
People would ask, why you are doing this. ... Everytime I make a move, I have to
report to authority.
Sprecherin 1
Er müsse ohnehin jeden seiner Schritte in China den Behörden melden, erzählt Ai
Weiwei, da könne er doch sein Leben auch der Öffentlichkeit zeigen, gelegentlich
eben mit Hilfe von Selfies.
O-Ton Ai Weiwei
Ordinary people can’t bear this. They’d be crushed anyway.
I think, I have a chance and I have a responsibility to speak out.
O-Ton Dorit Schäfer
Und zum anderen ist es so, dass seine Selfies sehr oft …künstlerisch genau
durchkomponiert sind. Also, ... das eine Selfie, das er 2009 in Chengdou in einem
Hotel gemacht hat, als er von der Polizei zusammengeschlagen und festgenommen
worden ist, gemeinsam mit einem chinesischen Musiker.
O-Ton Ai Weiwei
The police tried to stop me and so they were beating me. I guess that is not so
abnormal.
O-Ton Dorit Schäfer
Man sieht in diesem Selfie, dass er zusammen mit diesem Musiker von zwei
Polizisten, ja, weggebracht wird und er schafft es gerade noch, mit dem Smartphone
ein Selfie von sich zu machen. Er hält es über seinen Kopf und der Blitz erscheint wie
ein Nimbus, wie ein Lichtschatten über ihm, man sieht die Spiegelung links und
rechts und wenn man einigermaßen die sakrale Kunst oder die christliche Ikonografie
der Kunstgeschichte Europas kennt, dann hat er eine Komposition gewählt, ... mit der
er auf die Passion Christi anspielt. Er hat ein rotes T-Shirt an, das zerschlissen ist, in
dem Löcher sind, er hat den Heiligenschein durch das Blitzlicht von dem Smartphone
über sich, er wird von den Schergen, sage ich, von den chinesischen Polizisten, in
der christlichen Passion waren es die Schergen, wird er begleitet, es ist eine
Dreieckskomposition, die austariert ist.
32
Also so schnell und spontan er dieses gemacht hat, so sehr sieht man doch, dass er
als Künstler genau wusste, in welchem Winkel er ... fotografieren musste.
Sprecherin 1
Für Ai Weiwei ist das Selfie wie für jeden anderen Nutzer in erster Linie ein Mittel der
Kommunikation. Er teilt sich mit, persönlich wie künstlerisch, und unterscheidet gar
nicht zwischen diesen beiden Bereichen. Und weil er ein politischer Mensch ist, sind
seine Bilder eben oft auch politische Statements, umso mehr in Zeiten, in denen ihm
die kommunistische Führung in Beijing Interviews verbietet.
O-Ton Ai Weiwei
If I don’t show my voice, I don’t act as I always believed and I think I’m dead already.
Sprecherin 1
Nach seiner Verhaftung in Chengdou fürchtete Ai Weiwei ganz real eine Zeitlang um
seine Gesundheit und sogar um sein Leben.
O-Ton Ai Weiwei
I felt a headache and a pain in my head all the time. I thought I would go away and
come to Germany for my exhibition while I feel the pain getting more severe. So I
come to hospital and then I realize, after checking, that there is blood in my head.
With the help of Munich University Hospital we did the surgery and it’s very
successful.
Sprecherin 1
Weil seine Schmerzen immer schlimmer wurden, nachdem ihn die Polizisten auf den
Kopf geschlagen hatten, nutzte er einen Aufenthalt in München, um sich in die
Uniklinik zu begeben, wo ihm ein Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernt wurde.
33
Noch mit einer Drainage im Kopf postete er ein Selfie, auf dem er den blutgefüllten
Schlauch zu einem Kreis verbog, so wie ihn Taucher mit Daumen und Zeigefinger
formen, wenn sie unter Wasser anzeigen wollen, dass mit ihnen alles okay ist.
O-Ton Dorit Schäfer
Ich kann ein Selfie inszenieren, ich kann es auf einen bestimmten Zeitpunkt fixieren,
ich kann es ganz bewusst in die Öffentlichkeit lancieren. ...Und dann wird das zu
einem Kunstwerk. ... Das ist ein völlig neues Phänomen, das mit Sicherheit in der
Kunst und gerade auch bei Konzeptkünstlern weiter bearbeitet werden wird. Da bin
ich mir ganz sicher.
O-Ton Kani Alavi
Ich hab heute eins gemacht mit einem Kind. Ich hab mit ihr gemalt und dann hat sie
gesagt, jetzt machen wir ein Foto. Und dann haben wir ein Foto gemacht. Das fand
ich interessant, das Kind hat dadurch eine Anerkennung bekommen, mit einem
bekannten Künstler oder nicht bekannten Künstler zusammen was gemalt hat und
gleich hat es das festgehalten. Das fand ich ganz toll. … Sie konnte innerhalb kurzer
Zeit ihr Kunstwerk ... an ihre ganzen Freunde verstreuen, und gleich haben es alle
gesehen, fanden alle toll. Das ist Kunst.
Musik
Sprecher 2
Hauptsache Ich – Von „Selfies“ und anderen Selbstbildnissen
Von Regina Kusch und Andreas Beckmann
Es sprachen: Henriette Nagel, Tristan Pütter, Bettina Kurth und Ecki Hoffmann.
Regie: Philippe Bruehl
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: Deutschlandfunk 2016
ENDE