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Begründungsstrategien Ein Weg durch die analytische Erkenntnistheorie von Thomas Bartelborth Copyright „Akademie Verlag, Berlin 1996“ Postprint mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlags

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BegründungsstrategienEin Weg durch die analytische

Erkenntnistheorie

von Thomas Bartelborth

Copyright „Akademie Verlag, Berlin 1996“Postprint mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlags

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Inhaltsverzeichnis

I Epistemologie und Wissenschaftstheorie .......................................... 10A. Problemstellungen der Erkenntnistheorie .................................. 17

1. Wissen und Begründung ....................................................... 172. Epistemische Rechtfertigungen als Wahrheitsindikatoren ...... 19

a) Die Entwicklung einer diachronischen Kohärenztheorie .. 23b) Metarechtfertigungen...................................................... 26

B. Wissenschaftliche Theorien und Erklärungen............................. 271. Theorien und ihre innere Struktur ........................................ 282. Unterschiedliche Erklärungskonzeptionen ............................ 28

II Der metatheoretische Rahmen ....................................................... 34A. Zur Naturalisierung der Erkenntnistheorie................................ 35

1. Genese und Rechtfertigung................................................... 362. Resignation in bezug auf das Projekt einer ersten Philosophie433. Methodologischer Naturalismus ........................................... 45

a) Poppers Falsifikationismus............................................... 47b) Reflektives Überlegungsgleichgewicht.............................. 52

4. Evolutionäre Erkenntnistheorie ............................................ 615. Resümee............................................................................... 67

B. Wahrheit und Wahrheitsindikatoren ......................................... 671. Deflationäre Wahrheitskonzeptionen .................................... 682. Epistemische Wahrheitsbegriffe............................................. 703. Eine Korrespondenztheorie der Wahrheit ............................. 744. Resümee............................................................................... 76

C. Zur Struktur unserer Erkenntnis ............................................... 771. Epistemische Subjekte........................................................... 782. Inferentielle Rechtfertigungen .............................................. 793. Implizites Wissen.................................................................. 834. Epistemische Arbeitsteilung .................................................. 865. Hierarchische Strukturen...................................................... 93

a) Grade von Allgemeinheit ................................................. 94b) Metaüberzeugungen ........................................................ 96c) Rechtfertigungshierarchien .............................................. 97

6. Resümee............................................................................... 99

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III Begründungsstrategien ................................................................ 100A. Externalistische Strategien....................................................... 100

1. Externalistische Wissenskonzeptionen ................................ 102a) Eine neue Wissensbedingung ......................................... 102b) Was heißt „zuverlässige Überzeugungsbildung“?............ 104c) Eine Antwort auf den Skeptiker? ................................... 107d) Ein nicht-kognitiver Wissensbegriff?.............................. 111

2. Externalistische Rechtfertigungen....................................... 114a) Fragen der klassischen Erkenntnistheorie....................... 115b) Eine externalistisch-internalistische Mischform ............. 118c) Rechtfertigung und Ursachen......................................... 119d) Rationalität und Rechtfertigung .................................... 124e) Kritik am Internalismus ................................................. 125

3. Eine Diagnose der intuitiven Attraktivität des Externalismus.....1274. Resümee............................................................................. 131

B. Fundamentalistische Erkenntnistheorien.................................. 1321. Fundamentalistische versus kohärentistische Rechtfertigungs-strukturen .............................................................................. 132

a) Formaler Fundamentalismus.......................................... 133b) Spielarten des Fundamentalismus .................................. 136

2. Das Regreßargument für den Fundamentalismus................. 1383. Natürliche epistemische Arten und Hintergrundwissen....... 1434. Der Einwand des Kriteriums............................................... 1455. Substantieller Fundamentalismus ........................................ 147

a) Sinnesdaten und der Phänomenalismus.......................... 147b) Mosers Fundamentalismus ............................................ 155

6. Resümee............................................................................. 165

IV Kohärenz .................................................................................... 166A. Bestandteile von Kohärenz ...................................................... 167

1. Kohärenz und Konsistenz ................................................... 1672. Die Bedeutung von Theorien für Kohärenz......................... 1683. Sind unsere Schlüsse deduktiv? .......................................... 1704. Abduktion und Induktion ................................................... 1795. Epistemische Stützung durch Erklärungen .......................... 1846. Analogiebeziehungen.......................................................... 190

B. Eine Kohärenztheorie der Wahrnehmung ................................ 1921. Vier Typen von Irrtumsquellen ........................................... 1932. Eine kohärentistische Rechtfertigung von Wahrnehmungen 198

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3. Empiristische und rationalistische Wahrnehmungsauffassungen2024. Erinnerung und Introspektion ............................................ 204

C. Lokale und Globale Aspekte von Rechtfertigung ..................... 207D. Drei Kohärenzkonzeptionen ................................................... 211

1. Lehrers Kohärenztheorie .................................................... 2122. BonJours Theorie der Rechtfertigung ................................. 2153. Thagards Theorie der Erklärungskohärenz ......................... 221

E. Einwände gegen Kohärenz als Erklärungskohärenz.................. 2281. „Erklärung“ ist kein epistemischer Begriff........................... 2292. Sind Erklärungen interessenrelativ? .................................... 2303. Der Trivialitätsvorwurf ....................................................... 2334. Rechtfertigungen ohne Erklärung ....................................... 236

F. Eine diachronische Theorie der Erklärungskohärenz ................ 241G. Die Vereinheitlichung unseres Wissens .................................... 250H. Einige Konsequenzen der KTR ............................................... 253I. Resümee................................................................................... 259Anhang: Bayesianistische Schlüsse................................................ 260

V Einwände gegen eine Kohärenztheorie ......................................... 264A. Das Regreßproblem................................................................. 264

1. Pragmatischer Kontextualismus .......................................... 2652. Lineare Rechtfertigungsstrukturen? .................................... 2673. Epistemologischer Konservatismus ..................................... 273

a) Anwendungen des epistemischen Konservatismus .......... 281b) Ist die konservative Strategie irrational? ........................ 283

B. Der Isolationseinwand............................................................. 287C. Der mehrere-Systeme Einwand ............................................... 288D. Resümee ................................................................................. 290

VI Metarechtfertigung ..................................................................... 291A. Interne Skepsis ........................................................................ 294B. Externe Skepsis ....................................................................... 301

1. Fallibilismus und Skeptizismus............................................ 3022. Wissensskeptizismus und Rechtfertigungsskeptizismus ........ 3053. Unnatürliche Zweifel? ........................................................ 3124. Realismus als beste Erklärung?............................................ 3165. Erkenntnistheoretische Ziele .............................................. 3226. Eine Entscheidung gegen den Skeptiker .............................. 324

C. Resümee ................................................................................. 332

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VII Wissenschaftliche Theorien........................................................ 333A. Die Entscheidung für den Strukturalismus ............................... 335B. Mehrdeutigkeiten des Theoriekonzepts ................................... 338C. Das Netz einer Theorie am Beispiel der klassischen Partikelmecha-nik............................................................................................... 339

1. Die begriffliche Struktur und die Gesetze von Theorie-Elemen-ten.......................................................................................... 3402. Innertheoretische Querverbindungen: Constraints.............. 3423. Intertheoretische Querverbindungen: Links ........................ 3464. Die „empirische“ Ebene einer Theorie................................ 3495. Der Anwendungsbereich einer Theorie ............................... 3526. Das Theorien-Netz der Newtonschen Partikelmechanik...... 3547. Theoriendynamik ............................................................... 3568. Die empirische Behauptung einer Theorie .......................... 3599. Approximationen und erlaubte Unschärfemengen............... 36310. Zusammenfassung der strukturalistischen Theorienauffassung370

VIII Wissenschaftliche Erklärungen.................................................. 374A. Erkenntnistheoretische Funktionen von Erklärungen............... 374B. Wissenschaftliches Verstehen ................................................... 375C. Die klassische Erklärungskonzeption....................................... 378

1. Erste Probleme des DN-Schemas ....................................... 380a) Das Problem der Gesetzesartigkeit ................................. 380b) Sind Gesetze für Erklärungen notwendig? ..................... 382

i. Unvollständige Erklärungen....................................... 382ii. Statistische Erklärungen ........................................... 384iii. Erklärungen in der Evolutionstheorie ...................... 388

2. Asymmetrie und Irrelevanz ................................................. 3903. Grade von Erklärungen ...................................................... 392

D. Neue Ansätze in der Erklärungstheorie ................................... 3931. Zur Pragmatik von Erklärungen ......................................... 3932. Kausale Erklärungen........................................................... 404

a) Kausale Prozesse............................................................ 405b) Sind alle Erklärungen kausale Erklärungen?................... 409c) Koexistenzgesetze .......................................................... 413d) Theoretische Erklärungen ............................................. 414e) Erklärungen in der Quantenmechanik ........................... 416f) Eine deflationäre Theorie der Kausalität ........................ 423

E. Resümee.................................................................................. 428

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IX Erklärung als Vereinheitlichung .................................................. 430A. Friedmans Vereinheitlichung der Phänomene .......................... 430B. Kitchers Vereinheitlichung der Argumentationsformen ............ 438C. Einbettung in ein Modell ........................................................ 451

1. Ein allgemeiner Modellbegriff ............................................ 4522. Einbettungen und Erklärungen ........................................... 456

D. Ein Beispiel für Vereinheitlichung ........................................... 458E. Komponenten der Vereinheitlichung ....................................... 462

1. Begriffliche Vereinheitlichung in Strukturarten ................... 4622. Sukzessive Vereinheitlichung durch Gesetze........................ 4653. Vereinheitlichung durch Konsistenzforderungen ................. 4674. Vortheoretische Vereinheitlichung und theoretische Größen4685. Vereinheitlichung der Phänomene....................................... 4696. Stringenz durch kleinere erlaubte Unschärfen ..................... 4757. Intertheoretische Vereinheitlichung .................................... 4778. Empirische Behauptung und organische Einheit von Theorien ..4789. Formale Explikation von Vereinheitlichung ........................ 484

F. Analogien und Kohärenz.......................................................... 493G. Einbettung und kausale Erklärung........................................... 495H. Zur Problemlösekraft des Einbettungsmodells......................... 498

1. Erklärungsanomalien.......................................................... 4982. Asymmetrien der Erklärung................................................ 5003. Irrelevanz ........................................................................... 5034. Statistische Theorien und Erklärungen................................ 504

(i) Gesamtheiten als Anwendungen des Gesetzes................ 507(ii) Wahrscheinlichkeiten als Eigenschaften........................ 508(iii) Probabilistische Aussagen als Constraints .................... 508

5. Und wenn die Welt nicht einheitlich ist? ............................. 509I. Resümee................................................................................... 512

Literaturverzeichnis:......................................................................... 513

Index................................................................................................ 527

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Vorwort

Die Erkenntnistheorie ist eines der zentralen Gebiete der Philosophie.Sie fragt, wann unsere Wissensansprüche berechtigt sind und wann wirüber gute Begründungen unserer Meinungen verfügen. Leider ist die ge-genwärtige analytisch orientierte Philosophie der Erkenntnis überwie-gend im englischsprachigen Raum zu Hause. In dieser Arbeit versucheich sie auch dem deutschsprachigen Publikum etwas näher zu bringenund einen Einstieg in eine grundlegende Fragestellung dieser Disziplinzu geben. Es geht mir vor allem darum, was eine Begründung einer Mei-nung auszeichnet, während ich die weniger einschlägigen Diskussionenum den Wissensbegriff nur nebenbei erwähne. Außerdem möchte ich ei-nem Versäumnis der Erkenntnistheorie entgegenwirken, nämlich neuewissenschaftstheoretische Resultate nicht zur Kenntnis zu nehmen, diewichtige Hilfsmittel zur Lösung epistemischer Probleme bereitstellen. Eswird Zeit für eine engere Zusammenarbeit beider Disziplinen.

Mein Weg durch die analytische Philosophie der Erkenntnis bieteteine Einführung in das Thema und beginnt mit einer Erörterung dergrundlegenden Begriffe wie „Meinung“, „Rechtfertigung“ und „Wahr-heit“. Dann werden die verschiedenen Grundpositionen vorgestellt, wo-bei ich für eine ganz bestimmte Theorie eintrete, nämlich eine Kohä-renztheorie der Begründung. Die Argumentation für diese Theorie undihre Ausgestaltung begleiten uns als roter Faden überall auf unseremWeg. Dabei müssen wir uns nach und nach von einigen liebgewordenenetwa empiristischen Ansichten verabschieden und uns mit einer diachro-nischen Theorie der Erklärungskohärenz anfreunden. Um diese vollendskennenzulernen, müssen wir uns außerdem der Frage zuwenden, was ei-gentlich das Charakteristische an einer Erklärung ist. Eine substantielleAntwort auf diese Frage, die im letzten Drittel der Arbeit gegeben wird,ist auf eine Teilnahme an der entsprechenden wissenschaftstheoretischenDebatte angewiesen. Die versuche ich so intuitiv wie möglich und mitvielen Beispielen zu gestalten, damit man auch als Nichtfachmann ver-stehen kann, worum es dabei geht.

Die Arbeit ist aus meiner Habilitationsschrift des Jahres 1993 her-vorgegangen, die anhand zahlreicher Diskussionen überarbeitet wurde.Für Anregungen danke ich in erster Linie Prof. Ulrich Gähde, Prof. Uli-

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ses Moulines und Prof. Peter Bieri; des weiteren danke ich Dr. ElkeBrendel, Dr. Oliver Scholz, Dr. Dirk Koppelberg und einigen Studentenaus meinen Seminaren. Die verbliebenen Fehler sind natürlich trotzdemmir zuzuschreiben, schon deshalb, weil ich nicht allen Anregungen ge-folgt bin.

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I Epistemologie und Wissenschaftstheorie

Sehen wir im ebenmäßigen Sand eines Strandes klare Fußabdrücke in re-gelmäßiger Folge, so denken wir unwillkürlich: Da muß ein Mensch ge-laufen sein. Doch trotz der Unwillkürlichkeit haben wir damit bereitseine Art von Schluß vollzogen. Einen Schluß von Indizien auf etwas, daswir nicht direkt gesehen haben. Unser Alltag ist voll von solchen Schlüs-sen, obwohl wir sie meist nicht einmal bemerken. Verzieht jemand dasGesicht, nachdem er sich mit einem Messer in den Finger geschnittenhat, nehmen wir selbstverständlich an, daß er Schmerzen hat. Auch daskönnen wir nicht direkt wahrnehmen – jedenfalls nicht so direkt wie erselbst. Wir verfahren in all diesen Fällen ähnlich wie ein Detektiv, deranhand bestimmter Spuren erschließen muß, wer wohl der Mörder war.Selbst wenn uns jemand erzählt, er hätte einen Verkehrsunfall beobach-tet, und wir ihm das glauben, vollziehen wir einen Schluß von der Schil-derung zu dem Glauben an das Vorliegen eines bestimmten Verkehrsun-falls. Daß es sich tatsächlich um Schlüsse handelt, mag folgender Hin-weis verdeutlichen: Auch wenn wir in den geschilderten Beispielen unse-ren Sinneswahrnehmungen vollkommen vertrauen, können wir uns inden darauf gestützten Annahmen irren. Die Spuren im Sand hätte aucheine Maschine dort hinterlassen können; das Messer schneidet vielleichtnur in eine Fingerattrappe (etwa bei Filmaufnahmen) und der Betreffen-de spielte nur den angeblichen Schmerz; die Schilderung war gelogenusw.

All die genannten Schlüsse sind natürlich völlig in Ordnung, abernicht zuletzt die Irrtumsmöglichkeiten weisen darauf hin, daß wir trotz-dem nach einer Rechtfertigung oder Begründung für die Schlüsse fragendürfen. Etwa: Wieso glaubst du, daß dein Bekannter dich nicht angelo-gen hat? Oder: Wieso glaubst du, daß du dich nicht getäuscht hast undnur den Trickaufnahmen zu einem Spielfilm zuschautest? Den Philoso-phen und speziell den Erkenntnistheoretiker interessiert außerdem, wel-ches Schlußverfahren jeweils zum Einsatz kam und wie es sich begrün-den läßt, daß wir diesem Verfahren vertrauen. Schlüsse, in denen wirüber das uns Bekannte hinausgehen, nennt man induktive Schlüsse (odertechnischer: nichtmonotone Schlüsse), während sichere Schlüsse, in de-nen wir uns nicht irren können, deduktive genannt werden. Man kann

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die Frage also auch so formulieren: Gibt es bestimmte induktive Schluß-weisen, die in unseren Beispielen angewandt wurden, und wie lassen siesich rechtfertigen?

Ein einfaches Induktionsverfahren wird schon seit der Antike disku-tiert, nämlich die enumerative oder konservative Induktion. Danach sam-meln wir eine Reihe von gleichartigen Fällen und schließen dann, daßwir auch in allen weiteren Fällen auf ähnliche Zusammenhänge stoßenwerden. Wenn wir etwa 20 Raben untersucht haben und sie waren alleschwarz, werden wir von allen Raben erwarten, daß sie schwarz sind.Unsere Schlüsse im Alltag entsprechen allerdings oft nicht diesem einfa-chen Verfahren. Muß ich tatsächlich erst viele Schilderungen von Ver-kehrsunfällen meines Bekannten auf ihren Wahrheitsgehalt hin unter-sucht haben, ehe ich mit Fug und Recht annehmen darf, daß sein Berichtauch in diesem Fall der Wahrheit entspricht? Das geht wohl doch zuweit. Wir können aus vielen anderen Indizien begründen, daß wir ihnfür glaubwürdig halten, und haben dann gute Gründe, seiner Schilde-rung zu glauben, selbst wenn es sich um seine erste Schilderung einesVerkehrsunfalls handelt. Ebenso ist es mit den Spuren im Sand. Es ge-nügt schon ein einzelner Fall, um unsere Schlüsse zu untermauern. Wirschließen ohne eine Untersuchung weiterer Beispiele, daß hier einMensch gelaufen sein muß.

Statt von enumerativer Induktion zu sprechen, läßt sich der vollzoge-ne Schluß daher besser als ein Schluß auf die beste Erklärung beschrei-ben. D.h. wir suchen jeweils nach der Annahme, die die beste Erklärungfür unsere Wahrnehmungen darstellt, und halten sie wegen ihrer Erklä-rungskraft auch für gut begründet. Für derartige Schlüsse (die ich im fol-genden auch „Abduktionen“ nennen werde) gelten ganz andere Maßstä-be als für die konservativen Induktionen. So kommt es nicht darauf an,daß wir schon sehr viele ähnliche Fälle untersucht haben. Wichtiger istmeist, ob wir über alternative Erklärungen verfügen. Da im Normalfallkeine anderen Erklärungen für die Fußspuren in Betracht kommen, alsdie gegebene, scheint unser Schluß vollkommen gerechtfertigt zu sein.

Schon die wenigen Beispiele offenbaren allerdings einen grundlegen-den Aspekt der Schlüsse auf beste Erklärungen: Sie sind wesentlich ab-hängig vom jeweiligen Hintergrundwissen. Was für uns die beste Erklä-rung für etwas ist, hängt von unseren anderen Annahmen über die Weltab. Wir nehmen eventuell an, daß Menschen die Abdrücke im Sand hin-terlassen haben müssen, weil es keine dazu geeigneten Maschinen gibtund wir normalerweise auch keine Motive kennen, entsprechende Ma-

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schinen zu bauen. Vielleicht haben wir noch nicht einmal die Phantasie,derartige Möglichkeiten überhaupt zu erwägen.

Diese Abhängigkeit der Abduktionen von unseren Hintergrundan-nahmen ist im Alltag oft versteckt, weil sie sich nur auf Selbstverständli-ches bezieht. Aber sie wird schnell deutlich, sobald wir annehmen, daßkeine „Normalsituation“ vorliegt. Befinden wir uns auf einer Insel, dieeinem Ferienclub gehört, der gerne Belebtheit vortäuschen möchte undzu diesem Zweck rund um die Uhr Maschinen herumschickt, die Fußab-drücke hinterlassen, ist nicht mehr klar, welches nun die beste Erklärungunserer Beobachtung ist. Wissen wir darüber hinaus, daß es außer unspraktisch noch keine Gäste auf der Insel gibt, aber sehr viele Abdruck-maschinen, gewinnt die Maschinenerklärung die Oberhand. Nicht nurdie Beurteilung der Plausibilität von Erklärungen und erklärenden Hy-pothesen, sondern natürlich auch ihre Auswahl ist von unserem Hinter-grundwissen abhängig. In vielen Fällen halten wir sogar nur eine erklä-rende Hypothese für möglich. Vielleicht denken wir, es ließen sich über-haupt keine Fußabdruckmaschinen bauen und können uns z. B. nicht er-klären, wie diese so gebaut werden sollten, daß sie außer Fußabdrückenkeine anderen Abdrücke wie Reifenspuren im Sand hinterlassen. Dannwürden wir diese Alternativerklärung nicht ernsthaft erwägen.

In gewisser Weise stoßen wir hier bereits auf ein weiteres wichtigesMerkmal der Abduktionen, nämlich einen Regreß. Die gesuchten Erklä-rungen sollten möglichst selbst wieder nur erklärbare Bestandteile ent-halten. Diese Einbettung von Erklärungen in weitergehende Erklärungs-zusammenhänge wird in meiner Arbeit unter dem Stichwort „Kohärenz“präzisiert werden. Doch dem möchte ich an dieser Stelle noch nicht vor-greifen. Bleiben wir noch ein wenig bei den einfachen Abduktionen.

Man könnte anhand der Beispiele vielleicht den Eindruck gewinnen,die Abduktion sei nur ein typisches Schlußverfahren unseres Alltags.Doch das wäre ein ganz falscher Eindruck. Gerade in den Wissenschaf-ten oder auch vor Gericht sind Schlüsse auf die besten Erklärungen all-gegenwärtig. Denken wir z. B. an einen Mordprozeß. Die Staatsanwältinwird Indizien (dazu zähle ich auch Zeugenaussagen) vorlegen, die gegenden Angeklagten sprechen sollen. Sie könnte anführen, daß am TatortBlut mit seiner Blutgruppe gefunden wurde, daß er ein Mordmotiv unddie Gelegenheit hatte: Er war etwa in Geldnot und hatte einen Schlüsselzum Haus seiner ermordeten Erbtante. Da außerdem ein Ermordetervorliegt und es dafür eine Erklärung (sprich einen Mörder) geben muß,sei die Geschichte der Staatsanwaltschaft, wonach der Angeklagte nachtsin das Haus seiner Tante ging und sie die Treppe hinunterstieß (wobei er

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sich verletzte), die beste Erklärung für die gesammelten Indizien. Für ih-re Beweisführung muß die Staatsanwältin nicht erst etliche einschlägigeStraftaten des Angeklagten abwarten, um dann einen enumerativen In-duktionsschluß führen zu können. Entsprechende Vorstrafen des Ange-klagten machen die Erklärung der Staatsanwältin zwar noch überzeugen-der, aber sie sind weder notwendig noch hinreichend für eine Verurtei-lung.

Die Verteidigung könnte die Beweisführung unter anderem dadurchangreifen, daß sie alternative Erklärungshypothesen vorträgt. Vielleichthatte die Tante noch einen weiteren geldgierigen Neffen, der sehr gutmit einem Dietrich umzugehen weiß und ebenfalls kein Alibi für dieMordnacht besitzt. Sie muß also nicht einmal bestreiten, daß die Staats-anwältin eine gute Erklärung der Indizien geliefert hat. Es genügt meistschon zu zeigen, daß sie nicht unbestreitbar die beste Erklärung darstellt.Zumal die Staatsanwaltschaft gerade in Strafverfahren nicht nur einerecht gute Erklärung liefern muß, sondern eine, die jenseits allen ver-nünftigen Zweifels die beste ist. Die gerade nur angedeuteten Mechanis-men der Beweisführung stellen erste Hinweise für meine Behauptungdar, daß wir es hier wiederum mit den typischen Regeln für Abduktio-nen zu tun haben.

Auch in wissenschaftlichen Kontexten treffen wir wieder auf abduk-tive Schlüsse. Wenn es um Fragen der Rechtfertigung oder Wahrheit wis-senschaftlicher Theorien geht, berufen wir uns gern auf ihre Erklärungs-leistung. Eine in den Wissenschaften vielfach anzutreffende Argumenta-tion besagt sogar, daß eine Theorie genau dann besser begründet ist alseine andere, wenn sie mehr Phänomene und diese möglichst auch nochbesser erklärt als ihre Konkurrentin. Wir nehmen etwa an, daß sich un-ser Weltall ausdehnt, denn diese Annahme ist die beste Erklärung für diezu beobachtende Rotverschiebung in den Spektrallinien entfernterSterne. Die Erklärungsleistung zeichnet diese Annahme gegenüber ande-ren kosmologischen Modellen erkenntnistheoretisch aus.

Selbst in philosophischen Begründungen wird der Schluß auf die be-ste Erklärung eingesetzt; z. B. in Argumenten für die Existenz einer Au-ßenwelt. So beruft sich schon Hume (1978, 196ff) auf Konsistenz undKohärenzphänomene für die Behauptung, es gäbe unbeobachtete Gegen-stände. Hume spricht zwar manchmal davon, wir müßten sie annehmen,um Kontradiktionen zu vermeiden, aber Bennett (1984, 325) hat ge-zeigt, daß Hume tatsächlich nur sagen kann, daß wir ohne die Annahmedieser Gegenstände über keine Erklärung für die Kohärenz und Kon-stanz unserer Wahrnehmungen verfügen.

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Der Schluß auf die beste Erklärung ist bis heute eines der prominen-testen Argumente für realistische Positionen geblieben. Das gilt sowohlfür einen „Common Sense“ Realismus wie für den wissenschaftlichenRealismus (s. z. B. Devitt 1991, 111ff). Abduktionen sind geradezu all-gegenwärtig in den Wissenschaften und eigentlich in allen Disziplinenfestzustellen. Ein Beispiel aus der Linguistik: Dort finden wir in Choms-kys Hypothese einer angeborenen Grammatik einen weiteren typischenVertreter dieses Schlußverfahrens. Wir können uns nach Chomsky näm-lich nur aufgrund einer derartigen Annahme erklären, wieso wir soschnell unsere Sprache erlernen, obwohl diese eine sehr komplexe Struk-tur aufweist.

Die Beispielliste für dieses Begründungsverfahren ließe sich ohneweiteres verlängern. Jedenfalls weist sie schon darauf hin, daß geradedie erkenntnistheoretisch interessantesten Schlüsse keine deduktivenund auch keine konservativen induktiven Schlüsse sind. Wir werden imVerlauf der Arbeit immer wieder feststellen müssen, daß das grundle-gendste Schlußverfahren, das uns für nichtdeduktive Schlüsse zur Verfü-gung steht, das des Schlusses auf die beste Erklärung ist. Eine der zentra-len Thesen meiner Arbeit besagt daher:

Für wissenschaftliche Theorien und auch für viele Alltagsüberzeu-gungen ist ihre Erklärungsstärke der zentrale Aspekt ihrer epistemi-schen Beurteilung.

Dieses Phänomen erklärt das große Interesse von Philosophen an einembesseren Verständnis dessen, was eine Erklärung ausmacht. Doch so gutwir auch im Entwerfen und im Beurteilen von konkreten Erklärungensind, so schwierig ist es trotzdem, die folgenden drei Fragen zu beant-worten:

1. Was ist eine (wissenschaftliche) Erklärung?2. Warum sind Erklärungen so bedeutsam in der epistemischen

Beurteilung von Meinungen bzw. Theorien?und schließlich:3. Wann sind die Erklärungen durch eine Annahme (Theorie) besser

als die durch eine andere?

Diesen Fragen ist meine Arbeit gewidmet. Zu ihrer Beantwortung wirdneben einer allgemeinen Erklärungstheorie vor allem eine Theorie derwissenschaftlichen Erklärung entwickelt, die wiederum eng mit einerAnalyse, was eine wissenschaftliche Theorie ist und welche innerenStrukturen sie aufweist, verknüpft wird. Voraussetzung für eine erfolg-

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versprechende Bearbeitung der genannten Projekte ist zunächst eineAntwort auf die zweite Frage, welchen epistemischen Wert Erklärungenbesitzen. Hauptsächlich an dieser Antwort wird die zu entwickelnde Me-tatheorie der Erklärung zu messen sein. Sie wird in einer Theorie der epi-stemischen Rechtfertigung oder Begründung gegeben, die Erklärungeneine grundlegende erkenntnistheoretische Aufgabe zuweist. Bei derRechtfertigungstheorie handelt es sich um eine diachronische Version ei-ner Kohärenztheorie, die an bestimmten Stellen an die Theorien vonBonJour, Harman, Lehrer, Sellars, Thagard und anderen Kohärenztheo-retikern anknüpft, aber an anderen Stellen auch eigene Wege geht, umdie bekannten Schwächen der genannten Ansätze zu vermeiden. In die-ser Konzeption wird Kohärenz maßgeblich durch Erklärungsbeziehun-gen gestiftet. Zugleich beantwortet sie die alte Frage, welche Strukturunsere Begründungen aufweisen: Statt linearer Ketten, wie man sie auslogischen Ableitungen kennt, bilden sie ein Netzwerk von sich gegensei-tig stützenden Aussagen, die durch Erklärungen untereinander verknüpftsind. Erklärungen bilden demnach geradezu den „Zement unseres Wis-sens“, der die Teile unseres Wissens zu einem systematischen Ganzen zu-sammenfügt.

Diese Anknüpfung an Humes Metapher von der Kausalität als dem„cement of the universe“ legt es nahe, die Aufgabe von Erklärungen ge-rade in der Aufdeckung von kausalen Beziehungen zu sehen. In dieserRichtung sind deshalb auch viele Wissenschaftsphilosophen vorgegan-gen; z. B. Salmon (1984) ist hier als einer der prominentesten zu nen-nen. Doch meine Untersuchung der epistemischen Funktionen von Er-klärungen zeigt, daß diese intuitiv so ansprechende Erklärungskonzepti-on letztlich zu kurz greift und nur einen Aspekt von Erklärungen erfaßt.Das wird an den Stellen offensichtlich, an denen es nicht nur kausale Be-ziehungen sind, die unsere Welt „zusammenhalten“, sondern z. B. auchstrukturelle Zusammenhänge. In unseren Modellen der Welt finden sichdaher neben Kausalerklärungen Beziehungen inferentieller und begriffli-cher Art, die genauso gut erklärende Funktionen übernehmen könnenwie die kausalen. Wir benötigen also eine neue und umfassendere Erklä-rungstheorie.

Den Bereich des wissenschaftlichen Wissens werde ich in der Arbeithervorheben, denn zum einen finden wir dort Erklärungen, die eine ex-plizite Form annehmen, wie wir sie in unseren Alltagserklärungen meistnicht erreichen, und zum anderen stellt dieser Bereich einen nicht mehrwegzudenkenden Teil unseres Hintergrundwissens dar. Die Einschätzungder Erklärungsstärke und Entwicklung von entsprechenden Kriterien ist

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für Alltagserklärungen oft mit großen Vagheiten behaftet, weil sie kaumausformuliert werden und sich unscharfer Begriffe bedienen. Für wissen-schaftliche Erklärungen, die in schriftlicher Form vorliegen und sich aufentwickelte wissenschaftliche Theorien stützen, kann ihre Bewertung da-gegen präzisiert werden; zumal in den Wissenschaften selbst bereits be-stimmte methodische Standards für eine derartige Einschätzung etabliertsind. Kriterien, die für den Bereich der Wissenschaften Geltung besitzen,lassen sich schließlich mit manchen Einschränkungen und Modifikatio-nen auf Erklärungen aus dem Alltag übertragen, weil zwischen alltägli-chen und wissenschaftlichen Erklärungen grundlegende Gemeinsamkei-ten bestehen.

Mein Unternehmen beginnt also damit, eine diachronische Kohärenz-theorie der Rechtfertigung zu entwickeln, die den allgemeinen Rahmenbereitstellt, in dem Erklärungen die wichtigste Aufgabe bei der Erzeu-gung von Kohärenz zukommt. Erst im zweiten Schritt wird eine Explika-tion von „(guter) Erklärung“ folgen, die ihren Schwerpunkt in einer Ex-plikation von „wissenschaftlicher Erklärung“ findet.

Neben diesen beiden Aufgabenstellungen ist es ein Anliegen diesesBuchs, einen längst fälligen Brückenschlag zwischen der heutigen Er-kenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie zu bewerkstelligen. Dennobwohl diese philosophischen Disziplinen thematisch eng verbundensind, treten sie in den meisten akademischen Diskussionen, wie z. B. derüber epistemische Rechtfertigungen, getrennt in Erscheinung. Meine Ar-beit wird diese Beobachtung an vielen Stellen weiter untermauern. Ob-gleich etwa der Erklärungsbegriff explizit eine zentrale Rolle in zahlrei-chen erkenntnistheoretischen Ansätzen neueren Datums spielt, wirddort kaum zu seiner Explikation beigetragen – schon gar nicht gemäßdem Stand der entsprechenden wissenschaftstheoretischen Diskussion.Vielmehr wird, was unter einer Erklärung zu verstehen ist, entweder of-fengelassen und nur an ein vages Alltagsverständnis dieses Begriffs ap-pelliert, oder man bezieht sich schlicht auf das Hempel-OppenheimSchema der Erklärung, das in der wissenschaftstheoretischen Debatteum Erklärungen wegen seiner zahlreichen Mängel schon seit längeremausgedient hat. Auf der anderen Seite sieht es nicht besser aus: Die wis-senschaftsphilosophische Diskussion, welche der auf das DN-Schemader Erklärung folgenden Konzeptionen über wissenschaftliche Erklärun-gen zu bevorzugen sei, wird nahezu ausschließlich anhand von Anwen-dungen dieser Erklärungsansätze auf Beispielfälle geführt. Welche epi-stemische Funktion Erklärungen zu erfüllen haben und wie sie sich in be-stimmte Erkenntnistheorien einfügen, bleibt dabei außen vor, obwohl

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diese Überlegungen offensichtlich einschlägig für die Beurteilung vonErklärungen sind.

A. Problemstellungen der Erkenntnistheorie

BonJour hat in seinem vielbeachteten Buch The Structure of EmpiricalKnowledge (1985) im wesentlichen drei Problembereiche für die heutigeErkenntnistheorie genannt, die auch für die vorliegende Arbeit einefruchtbare Unterteilung darstellen. Da ist zunächst ein vornehmlich be-griffsanalytisches Projekt, in dem der Begriff „Wissen“ zu explizierenund die Wahrheitsbedingungen für Sätze wie „S weiß, daß p“ zu bestim-men sind. Ein zweites Unternehmen der Erkenntnistheorie läßt sich ineiner Theorie der Rechtfertigung ermitteln, die uns angeben soll, waseine gute epistemische Rechtfertigung bzw. Begründung einer Meinungist. Das dritte Vorhaben, das BonJour als „Metarechtfertigung“ bezeich-net, bezieht sich insbesondere auf das Zweite, indem es den Zusammen-hang zwischen dem explizierten Rechtfertigungsverfahren und demWahrheitsbegriff untersucht und beinhaltet vor allem die Auseinander-setzung mit dem Skeptiker. Dieses Buch soll in seinem erkenntnistheore-tischen Teil überwiegend das zweite Problem behandeln und darüberhinaus zumindest eine Antwortskizze auf den Fragenkomplex der Meta-rechtfertigung (speziell auf die Herausforderung durch den Skeptiker)anbieten, während die Wissensdefinition keinen Gegenstand der Arbeitbilden wird. Trotzdem ist ein erster Blick auf dieses Thema schon zuZwecken der Abgrenzung erforderlich.

1. Wissen und BegründungDie Aufgabe zu bestimmen, was Wissen ist, ist eine der grundlegendenFragen seit den Anfängen der Philosophie. Der wohl einflußreichste Vor-schlag war der Platons im Theaetet und im Menon. Danach verstandman den Wissensbegriff lange Zeit so, daß jemand eine Aussage p weiß,wenn er den wahren und zugleich begründeten Glauben hat, daß p. ErstGettier hat (1963) einen Typ von Situationen gefunden, der nach ihmbenannt wurde und in seinen zahlreichen Ausgestaltungen Gegenbei-spiele gegen die meisten vorgelegten Wissensdefinitionen anbieten kann.An einem einfachen Gettierbeispiel möchte ich auf das Verhältnis vonWissensdefinition und der Begründung von Meinungen eingehen. Neh-men wir an, ein Student von mir fährt einen BMW und behauptet, er ge-

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höre ihm auch. Da ich keinen Grund habe, seine Behauptung in Zweifelzu ziehen, denn er ist weder ein Angeber, noch finanziell zu schlecht ge-stellt für ein solches Auto, glaube ich ihm, daß ihm der Wagen gehört.Dazu habe ich in diesem Fall auch gute Gründe, und man dürfte meineÜberzeugung sicherlich als Wissen bezeichnen, wenn nicht eine Kompli-kation ins Spiel käme. Der Student wollte mich tatsächlich an der Naseherumführen. Der BMW gehört – so nimmt er jedenfalls an – einemFreund von ihm, der ihm den Wagen geliehen hat. Er selbst besäße dem-nach überhaupt kein Auto. Aber, ohne daß er davon wußte, hat sein Va-ter den BMW von seinem Freund für ihn gekauft. Entgegen seinen eige-nen Annahmen gehört ihm der BMW also doch. Damit sind für meineentsprechende Überzeugung alle Anforderungen der Platonischen Wis-sensdefinition buchstäblich erfüllt: Mein Glaube, daß ihm der BMW ge-hört, ist wahr und auch begründet.

Trotzdem möchten wir in diesem Fall nicht von Wissen sprechen,weil meine Gründe für die Meinung, daß der Student einen BMW be-sitzt, mit ihrer Wahrheit nichts zu tun haben. Bei meinem Wissensstand,der sich ganz auf die Angaben des Studenten stützt, ist es bloß ein glück-licher Zufall, daß die Meinung wahr ist, und somit keineswegs Wissen.Wir hätten genau dieselben Gründe zur Verfügung gehabt, wenn der Va-ter nicht so großzügig gewesen und der Student immer noch auf einLeihauto angewiesen wäre. Also können wir nicht mit Fug und Rechtbehaupten, ich hätte gewußt, daß dem Student ein BMW gehört, dennWissen verlangt mehr als eine bloß zufällig wahre Meinung, für die manGründe hat, die nur zufällig mit der Wahrheit der Meinung zusammen-hängen.

Diese Beschreibung des Falles, die von den meisten Wissenstheoreti-kern geteilt wird, setzt voraus, daß wir in der geschilderten Situation tat-sächlich über eine Rechtfertigung unserer Überzeugung: „Student X be-sitzt einen BMW“ verfügen, da sonst die entsprechende Platonische Be-dingung in dem Gettierbeispiel nicht erfüllt wäre und dieses seine Funk-tion als Gegenbeispiel nicht übernehmen könnte. Diese Redeweise ent-spricht auch unseren üblichen Vorstellungen von Rechtfertigungen. Diegeschilderten Gründe – die man in einer erweiterten Geschichte natür-lich ohne weiteres noch verstärken könnte – stellen gute Gründe fürmeine Überzeugung dar, nur reichen diese Gründe eben nicht für Wissenaus. Dazu müssen in eine Wissensdefinition vermutlich weitere Anforde-rungen mit aufgenommen werden.

An dieser Stelle wird erkennbar, wie sich die Wege für eine Theorieder Rechtfertigung und eine Wissensexplikation trotz ihres Zusammen-

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hangs trennen. In dem Projekt der Wissensdefinition sucht man nachspezifischen Rechtfertigungen, nämlich solchen, die für wahre Meinun-gen auch zu Wissen führen, oder beschreitet ganz andere Wege, indemman die Rechtfertigungsbedingung der Platonischen Definition durchvöllig andersgeartete Forderungen ersetzt. Die für Wissen spezifischenRechtfertigungsbedingungen sind aber keinesfalls für Rechtfertigungenper se unerläßlich, denn in dem Gettierbeispiel liegen sie offensichtlichnicht vor, obwohl wir es mit guten Gründen für unsere Meinung, daßder Student einen BMW besitzt, zu tun haben. Das Projekt der Wissens-explikation, das manchmal auch als „Gettierologie“ bezeichnet wird, hatsich so zu einer subtilen Tüftelei der Formulierung immer ausgefeiltererBedingungen für Wissen und dem Konstruieren immer kompliziertererGegenbeispiele im Stile Gettiers entwickelt. Dabei geht es nicht darum,besonders gute Rechtfertigungen von schlechteren abzugrenzen, sonderndarum, einen ganz speziellen Typ von Rechtfertigungen für eine geeig-nete Wissensbedingung zu bestimmen. Es wird schon vorausgesetzt, un-sere Vorstellung, was eine Rechtfertigung ausmacht, sei bereits hinrei-chend geklärt, und wir könnten nun unter den Rechtfertigungen nachsolchen für Wissen suchen. Eine beliebige Rechtfertigung ist eben nur zuwenig für Wissen. Sie kann daher z. B. durch externalistische Anforde-rungen an die Rechtfertigung ergänzt werden; wie etwa die HarmanscheBedingung, nach der die Rechtfertigung selbst nicht auf falschen Annah-men beruhen darf.

Es ist wichtig, dieses Projekt deutlicher von dem zu trennen, eineTheorie der epistemischen Rechtfertigung zu entwerfen, als das in der er-kenntnistheoretischen Forschung bisher geschieht. Etliche Autoren ver-mengen beide Fragestellungen, als ob es um ein und dasselbe Unterneh-men ginge oder versuchen auf dem „Umweg“ über die Rechtfertigungs-theorie eigentlich nur zu einer Wissensdefinition zu gelangen. Dann hatdie Rechtfertigungstheorie meist erkennbar darunter zu leiden, daß ihreKonstrukteure schon auf den zweiten Schritt abzielen. Mir soll es in die-ser Arbeit nur um eine Theorie der epistemischen Rechtfertigung oder Be-gründung zu tun sein und die Explikation von „Wissen“ wird dabei bes-tenfalls am Rande besprochen.

2. Epistemische Rechtfertigungen als WahrheitsindikatorenDer kurze Abstecher in das Vorhaben der Wissensexplikation sollte dar-an erinnern, an welcher Stelle in den klassischen Wissensdefinitioneneine Konzeption von Rechtfertigung bereits vorausgesetzt wird. Die Be-deutung einer Theorie der Rechtfertigung von Meinungen erschöpft sich

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aber keinesfalls darin, eine Vorarbeit zur Wissensdefinition zu sein. Es istein Vorhaben der Erkenntnistheorie, das weit über die spezielle Proble-matik des Wissensbegriffs hinausreicht und unabhängig von den Idio-synkrasien unseres Wissensbegriffs behandelt werden kann.

Wenn man Jay F. Rosenberg (1986, 17ff) wenigstens im Grunde zu-stimmt, daß das Wesen des Philosophierens geradezu darin besteht, Posi-tionen immer nur mit Begründungen zu vertreten und bereit zu sein, aufArgumente gegen diese Positionen wieder mit Argumenten zu antwor-ten, gehört das Anfertigen von Rechtfertigungen unerläßlich zur Praxisdes Philosophierens. Eine Analyse, was Rechtfertigungen ausmacht,sollte daher ein wichtiges Geschäft für jede Metaphilosophie darstellen.Die Bereitschaft, für eigene Behauptungen auch Gründe anzuführen undnicht bloß auf zufällig angenommenen Behauptungen zu beharren, istdie kognitive Leistung, die einen Philosophen von einem bloßen Dogma-tiker oder einem Kind unterscheidet, das eine Meinung von seinen El-tern übernommen hat, ohne sie selbst begründen zu können. Offenheitfür neue Argumente, die es gestattet, auch die angeführten Begründun-gen selbst wieder in Zweifel ziehen zu können, ist der wichtigste Schrittweg von einer dogmatischen Verteidigung seiner Ansichten zu einer ra-tionalen Auseinandersetzung.

Eine Rechtfertigung einer Behauptung besteht in idealtypischer Ver-einfachung aus zwei Teilen. Einmal aus weiteren Hypothesen oder An-nahmen, die als Prämissen der Rechtfertigung auftreten und zum zwei-ten aus der Behauptung, daß diese Annahmen die in Frage stehende Po-sition in bestimmter Weise rechtfertigen. Ein Angriff auf eine philoso-phische Position kann sich dementsprechend entweder gegen die Prämis-sen richten und nach Begründungen für sie verlangen oder dagegen, daßsie tatsächlich die fragliche Meinung stützen. Im Verlaufe eines solchenAngriffs auf eine philosophische Ansicht werden meist selbst wieder Be-hauptungen formuliert, die ebenfalls zu begründen sind. Diese natürlichstark vereinfachte Darstellung einer dialektischen geführten Diskussionmag als Hinweis genügen, warum Rechtfertigungen in philosophischenDisputen eine zentrale Rolle zukommt. Wir sollten schon deshalb diephilosophische Verpflichtung übernehmen, über die Frage zu reflektie-ren, wie eine gute epistemische Rechtfertigung auszusehen hat.

Begründungen bzw. Rechtfertigungen (diese Ausdrücke werden vonmir bezogen auf epistemische Kontexte synonym gebraucht) anzugeben,ist natürlich keineswegs Philosophen vorbehalten, sondern eine Selbst-verständlichkeit in vielen außerphilosophischen, wissenschaftlichen undeventuell vollkommen banalen Kontexten. Selbst wenn ich auf einer Par-

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ty äußere: „Fritz ist eifersüchtig auf Hans“, ist die Erwiderung: „Wiesoglaubst du das?“, eine naheliegende Aufforderung, die geäußerte Mei-nung nun auch zu begründen. Dann kann ich womöglich anführen, Fritzhabe sich gestern sehr feindselig gegenüber Hans verhalten und dies seiein Zeichen seiner Eifersucht. Wenn meinem Gesprächspartner dieseRechtfertigung meiner Behauptung nicht ausreicht, kann er entwedermeine Prämisse bestreiten: „Fritz hat sich nicht feindselig gegenüberHans verhalten, sondern war nur allgemein mürrisch“, oder den Recht-fertigungsanspruch dieser Prämisse in Abrede stellen: „Auch wenn Fritzsich feindselig verhalten hat, so deutet das keineswegs auf Eifersuchthin, sondern ist darin begründet, daß Hans den Fritz geschäftlich herein-gelegt hat.“ Wie eine derartige Diskussion weiter verlaufen kann, läßtsich leicht ausmalen.

Schon in diesem einfachen Beispiel sind zwei Aspekte von Rechtferti-gungen gut erkennbar. Zum einen die oben schon beschriebene Grund-struktur von Rechtfertigungen und zum anderen ihre erkenntnistheoreti-sche Funktion. Da wir in vielen Fällen die Wahrheit bestimmter Behaup-tungen nicht direkt überprüfen können, suchen wir nach indirekten An-zeichen für ihre Wahrheit oder auch Falschheit. Dabei steht meist der inder Pflicht, Wahrheitsindikatoren vorzulegen, der eine Meinung vorträgt.Indizien für die Wahrheit einer Aussage darzustellen soll zugleich die fürdie weitere Arbeit leitende Charakterisierung von Rechtfertigungen sein.

Eine terminologische Abgrenzung ist aber noch angebracht. Mit„Rechtfertigung“ beziehe ich mich nur auf epistemische Rechtfertigun-gen. Bekanntlich spricht man auch in anderen Kontexten von Rechtferti-gung. So könnte mein Chef mich z. B. auffordern, mich zu rechtfertigen,warum ich in der letzten Woche nicht gearbeitet habe. Wenn die Faktenbereits geklärt sind und ich ihm nicht in seiner Behauptung, daß es sowar, widersprechen möchte, erwartet er eine moralische oder sogar juri-stische Rechtfertigung von mir. Diese Rechtfertigung soll dabei nichteine Begründung dafür darstellen, daß bestimmte Annahmen wahr sind,sondern hat die Funktion, mich moralisch zu entlasten, mein Verhaltenzu rechtfertigen. Dazu teile ich ihm in der Regel gleichfalls neue Faktenmit – etwa, daß ich krank war –, aber diese Fakten werden in diesemKontext nicht als Indizien dafür betrachtet, daß ich nicht im Dienst war,sondern gelten hoffentlich als angemessene Entschuldigung für meineAbwesenheit.

Epistemische Rechtfertigungen zielen dagegen auf Wahrheit ab. Siesind noch nicht einmal in erster Linie dazu geeignet, andere von derWahrheit einer Behauptung zu überzeugen – selbst wenn das Partybei-

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spiel oder diskurstheoretische Ansätze das vielleicht nahelegen mögen.Das können in bestimmten Fällen andere Überlegungen, die z. B. an be-stimmte Vorurteile des Adressaten appellieren oder an gewisse Emotio-nen rühren, viel eher leisten, obwohl wir diese Überlegungen nicht un-bedingt als Wahrheitsindikatoren anerkennen werden. Im Gegenteil er-achten wir sie sogar oft als irreführend: Wir werden nicht in der Wer-bung nach typischen Vertretern guter Rechtfertigungen und Wahrheitsin-dikatoren suchen, obwohl sie ganz darauf abstellt, uns von etwas zuüberzeugen.

Die tatsächliche Überzeugungskraft einer Argumentation möchte ichaus der Diskussion um Rechtfertigungen weitgehend heraushalten undin einer Theorie der Argumentation oder Rhetorik ansiedeln. So kann einzwingender mathematischer Beweis ein optimaler Wahrheitsindikatorsein, weil er die Wahrheit einer Behauptung sogar garantiert, aber trotz-dem wenig überzeugend wirken, weil er zu lang und kompliziert er-scheint, um von vielen Leuten verstanden zu werden. Außerdem sind ty-pische Argumentationsweisen häufig nur aus der dialektischen Situationheraus zu analysieren, etwa in einer dialektischen Logik, und in be-stimmten Fällen kaum als Rechtfertigungen zu bezeichnen. Walton(1984, 4ff) gibt dazu ein Beispiel für eine Variante eines ad hominem Ar-guments, dem sehr wohl ein Platz in einem entsprechenden Disput zu-kommt, das aber keine epistemische Begründung darstellt: Der Vater er-mahnt den Sohn weniger zu rauchen, denn das würde sein Krebsrisikodramatisch erhöhen. Darauf erwidert der Sohn: „Aber Du rauchst dochselbst jeden Tag ein Päckchen.“ Diese Replik sagt uns nichts über denZusammenhang von Rauchen und Krebs, aber ein Vorstoß des Mottos„Du praktizierst nicht, was Du predigst“ kann auf eine Art pragmati-scher Inkonsistenz eines Diskussionspartners verweisen, die der Über-zeugungskraft seiner Argumente Abbruch tut. Die epistemologischeRechtfertigungstheorie hat in derartigen Fällen andere Aufgabenstellun-gen als eine Argumentationstheorie und bedient sich bei allen Zusam-menhängen, die es unzweifelhaft zwischen diesen Gebieten gibt, auchanderer Methoden.

Trotz dieser sicher notwendigen Warnungen, den Zusammenhangzwischen Rechtfertigungen und Motiven oder Ursachen für unsere Über-zeugungen nicht zu eng zu sehen, sollte es bestimmte Gemeinsamkeitengeben. Wenn wir von guten Argumenten verlangen, nachhaltige Über-zeugungsarbeit zu leisten und nicht nur auf die menschlichen Schwächeneiniger Diskussionspartner zu zielen, so sollte hinter jedem guten Argu-ment auch eine gute Begründung stehen. Gute Argumente wären dem-

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nach überzeugend verpackte Begründungen. Darüber hinaus erwartenwir einen Zusammenhang zum Rationalitätsbegriff. Vollkommen ratio-nale Personen sollten von guten epistemischen Rechtfertigungen über-zeugt werden können, wenn sie keine Gegenargumente anzubieten ha-ben. Das ist aber vielleicht nicht so sehr eine Behauptung über die kau-sale Wirksamkeit von Rechtfertigungen in der Meinungsbildung, als viel-mehr ein analytischer Bestandteil eines entsprechenden normativen Kon-zepts von Rationalität.

Neben epistemischen Rechtfertigungen lassen sich also noch vieleBeispiele anderer Rechtfertigungen finden, die im folgenden ebenso aus-geklammert werden sollen, wie die motivationalen Aspekte von Recht-fertigungen. Es wird nur um die Frage gehen, was eine gute Rechtferti-gung ist, und nicht um die, von welchen Argumenten bestimmte Men-schen sich besonders beeindrucken lassen. Epistemisch zu rechtfertigensind – und das wurde in den Beispielen schon angedeutet – Aussagenoder Meinungen aus recht unterschiedlichen Bereichen. Im folgendenmöchte ich mich vornehmlich mit Rechtfertigungen für empirische Mei-nungen beschäftigen, aber an vielen Stellen ist offensichtlich, daß zumin-dest wesentliche Strukturähnlichkeiten zu Rechtfertigungen von morali-schen oder anderen nicht-empirischen Behauptungen gegeben sind.

Allerdings treten für Begründungen normativer Behauptungen spezi-fische Probleme hinzu, die zunächst auszuklammern ein methodischesGebot sein sollte. Die Moralphilosophie ist ein gutes Beispiel dafür, daßwir von Begründungen sprechen, die etwas mit der Richtigkeit morali-scher Normen zu tun haben, obwohl die Frage, ob es so etwas wie ethi-sches Wissen und moralische Wahrheit gibt, recht umstritten ist. Was dasgenaue Ziel moralphilosophischer Begründungen von ethischen Normensein soll, wenn wir nicht auch in einem anspruchsvollen nichtrelativisti-schen Sinn von moralischer Wahrheit sprechen möchten, ist ein schwie-riges Problem der Metaethik. Das hat einige Moralphilosophen wieBrink (1989) zu der Ansicht des moralischen Realismus geführt. Für ihnkann auch im Bereich der Ethik die Suche nach Wahrheit eine geeigneteBeschreibung unserer Praxis moralischen Räsonierens abgeben.

a) Die Entwicklung einer diachronischen Kohärenztheorie

Meine Argumentation für eine bestimmte „Ethik des Meinens“, nämlicheine Kohärenztheorie der Rechtfertigung, erfolgt in mehreren Schritten.In Kapitel (II) wird der metatheoretische oder metaphysische Hinter-grund skizziert, vor dem die folgende Untersuchung stattfinden soll. In(II.A) wende ich mich als erstes gegen Versuche, die Erkenntnistheorie in

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radikaler Weise zu „naturalisieren“, wie wir sie etwa bei Quine finden,der die Erkenntnistheorie zur Gänze an die Naturwissenschaften delegie-ren möchten. Eine sorgfältige Unterscheidung zwischen Genese undRechtfertigung von Meinungen bietet dabei immer wieder den bestenAusgangspunkt zur Zurückweisung naturalistischer Angriffe auf die phi-losophische Erkenntnistheorie, die im Unterschied zu rein naturwissen-schaftlichen Forschungsvorhaben eine zum Teil normative Zielsetzungverfolgt. Ähnliche Einwände sind auch gegen Naturalisierungsvorstößewie den der evolutionären Erkenntnistheorie wirksam, der darüber hin-aus noch eine ganze Reihe inhärenter Probleme mit sich bringt.

Zusätzlich zu dieser negativen Abgrenzung gegenüber radikalen na-turalistischen Vorgehensweisen, beinhaltet Kapitel (II.A) auch die Ausar-beitung einer positiven Methodologie. Die Naturalisierung der Epi-stemologie wurde zumindest teilweise durch die Fehlschläge motiviert,die Erkenntnistheorie in Form einer ersten Philosophie zu begründen,und es bleibt daher die Frage offen, was an die Stelle der ersten Philoso-phie treten kann, wenn die Naturwissenschaften und ihre Methoden da-für ungeeignet erscheinen. Hier, wie auch für normative Theorien in derEthik, scheint mir nur eine Form des von Goodman und Rawls propa-gierten reflektiven Gleichgewichts – das ich in seiner hier vertretenenForm auch als „methodologischen Naturalismus“ bezeichne – den richti-gen Weg zu weisen.

Das Kapitel (II.B) ist einer Bestimmung derjenigen Wahrheitskonzep-tion gewidmet, die mit der Redeweise von Wahrheitsindikatoren gemeintist. Dabei wähle ich denselben Rahmen, in dem auch klassische erkennt-nistheoretische Debatten geführt wurden, d.h. eine realistische Vorstel-lung von der Außenwelt gepaart mit einem realistischen Wahrheitsbe-griff im Sinne einer Korrespondenzauffassung von Wahrheit. Allen nochso verlockenden Versuchen, den Einwänden des radikalen Skeptikers da-durch zu entkommen, daß man die Welt als wesentlich durch uns kon-struiert ansieht oder Wahrheit als epistemisch ideale Rechtfertigung be-trachtet, wird damit eine klare Absage zugunsten der klassischen Er-kenntnisproblematik erteilt.

Ehe ich zu einer direkten Untersuchung von Begründungsverfahrenübergehen kann, werden in Kapitel (II.C) noch einige Grundfragen derStruktur unserer Meinungssysteme und ihrer Rechtfertigungsbeziehun-gen rekonstruiert, so etwa, daß Rechtfertigungen immer relativ zu einembestimmten Hintergrundwissen bestehen. Bei Menschen setzt sich das zueinem großen Teil aus dem nicht unproblematischen impliziten Wissenzusammen. Für andere epistemische Subjekte wie z. B. Wissenschaftler-

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gemeinschaften, die hier auch zugelassen werden sollen, ergeben sich da-gegen völlig andere Probleme.

Um zu einer einigermaßen realistischen Darstellung unseres Erkennt-niserwerbs zu kommen, ist aber in jedem Fall ein Phänomen zu berück-sichtigen, das ich als „erkenntnistheoretische Arbeitsteilung“ bezeichne.Schon der Spracherwerb aber auf jeden Fall der Wissenserwerb und dieuns zur Verfügung stehenden epistemischen Rechtfertigungen unterlie-gen zu wesentlichen Teilen einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Dermethodologische Solipsismus Descartes verkennt, daß wir bereits zumVerständnis der Wörter, mit denen wir unsere Überzeugungen wiederge-ben, auf sozial vermittelte Bedeutungen – etwa in Form der Putnam-schen Stereotypen – angewiesen sind. Das gilt für die meisten Bereicheunseres Wissens. Sie sind nur als eine Form von gesellschaftlichem Wis-sen verfügbar, und eine Erkenntnistheorie, die diesem Phänomen nichtRechnung tragen kann, gerät immer in die Gefahr, dem Erkenntnissub-jekt eine Herkulesarbeit aufzubürden.

Diese Vorarbeiten sind zwar langwierig, aber notwendig, um im fol-genden einer Reihe von Einwänden und Mißverständnissen begegnen zukönnen. Erst in Kapitel (III) beginnt eine direkte Argumentation für dieKohärenztheorie, indem ihr Hauptkonkurrent, der fundamentalistischeAnsatz, bekämpft wird. Dazu wird zunächst einmal die heutzutage fürFundamentalisten gebräuchliche externalistische Variante ihrer Rechtfer-tigungsstrategie zurückgewiesen; jedenfalls für den Bereich der epistemi-schen Rechtfertigungen, denn für das Projekt der Wissensexplikationsind externalistische Schachzüge kaum noch wegzudenken. Für die Aus-arbeitung einer Rechtfertigungstheorie erweist sich das externalistischeVorgehen allerdings als eine glatte Themaverfehlung. Mit dieser generel-len Argumentation gegen alle externalistischen Schachzüge, die in ver-schiedenen Variationen immer wieder in fundamentalistischen Erkennt-nistheorien auftreten, untergrabe ich gleichzeitig das wichtigste Stand-bein der empiristischen Epistemologie.

Die Festlegung auf nicht-externalistische Rechtfertigungen verringertalso die Attraktivität fundamentalistischer Ansätze im allgemeinen. Siekönnen dann keine überzeugende Antwort auf die Frage geben, welcherArt die Rechtfertigungen ihrer basalen Meinungen sind. Dadurch verlie-ren sie auch die Unterstützung ihres wichtigsten Arguments, dem Regre-ßargument, weil sie selbst keine stichhaltige Lösung für einen Stopp desRegresses mehr anzubieten haben. Dazu kommt eine Reihe interner Pro-bleme, wie ihre implizite Annahme, es gäbe natürliche epistemische Ar-ten von Aussagen, die sich anhand von Beispielen als unplausibel heraus-

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stellt. Da sie darüber hinaus noch nicht einmal andere erkenntnistheore-tische Ziele wie die Irrtumssicherheit ihrer fundamentalen Aussagen (et-wa im Phänomenalismus) gewährleisten können, führt das letztlich zu ei-ner Zurückweisung der Konzeption basaler Überzeugungen.

Demnach ist jede unserer Meinungen im Prinzip anhand andererMeinungen begründungspflichtig, und die einzige Metatheorie, die die-sem Erfordernis Rechnung trägt, ist eine Kohärenztheorie der Rechtferti-gung. Sie wird in Kapitel (IV) entwickelt und selbst begründet. Dafür istals erstes zu klären, was Kohärenz über bloße Konsistenz hinaus ist, wor-auf meine Antwort lautet: Ein Netz von Abduktionsbeziehungen, dasüber einen gewissen Zeitraum hinweg stabil geblieben ist. Kohärenzsetzt sich dabei aus verschiedenen Aspekten der relationalen und syste-matischen Kohärenz zusammen, die außer der Güte der Einbettung einerMeinung in ein Netzwerk von Meinungen auch holistische Beurteilun-gen der globalen Kohärenz dieses Systems von Meinungen berücksichtig-ten. Neben einer Reihe von Überlegungen und Beispielen, die die intuiti-ve Kraft dieser Kohärenztheorie belegen sollen, zeigt die Kohärenztheo-rie ihre Leistungsfähigkeit speziell in der bisherigen Domäne der empiri-stischen Theorien, den Beobachtungsaussagen. Für sie stütze ich michauf die von BonJour entwickelte kohärenztheoretische Begründung vonWahrnehmungsaussagen, die auch das besondere Irrtumsrisiko bestimm-ter Typen von Beobachtungsaussagen besser als empiristische Konzeptio-nen erklären kann.

Abgeschlossen wird die Ausgestaltung der Kohärenztheorie in Kapi-tel (V) mit einer Beantwortung der Standardeinwände, die gegen Kohä-renztheorien erhoben werden. Da ist in erster Linie wieder das schon er-wähnte Regreßargument zu nennen, das gerade Fundamentalisten gernefür ihre Position zitieren. Doch relativ zur Antwort des Fundamentali-sten hat die Kohärenztheorie die eindeutig informativere Antwort anzu-bieten und kann darüber hinaus eine falsche Voraussetzung des Regre-ßarguments entlarven. Zusätzlich verstärke ich an diesem Punkt die Ko-härenztheorie durch den epistemologischen Konservatismus, der nocheinmal den diachronischen Charakter der Rechtfertigungstheorie betont.

b) MetarechtfertigungenIm Verlauf der Ausarbeitung meiner Rechtfertigungstheorie wird diePlausibilität bestimmter Rechtfertigungsverfahren immer schon ein The-ma sein – wie für die Wissensexplikation die Auseinandersetzung mitden Gettierschen Beispielen. Trotzdem bleibt noch Raum für ein eigen-ständiges drittes Projekt innerhalb der Erkenntnistheorie, das „Meta-

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rechtfertigung“ genannt wird. Für das entwickelte Rechtfertigungsver-fahren soll gezeigt werden, daß es sich tatsächlich um einen Vorschlagfür epistemische Rechtfertigungen handelt, d.h. ein Verfahren, das aufWahrheit abzielt. Spätestens in diesem Rahmen haben wir uns mit denverschiedenen Formen des Skeptizismus auseinanderzusetzen, der dasganze erkenntnistheoretische Unternehmen bedroht. Der Skeptiker kannsich auf den vorgegebenen Rahmen einer realistischen Auffassung derWelt und den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff berufen, derimmer eine Lücke zwischen unseren gerechtfertigten Überzeugungenund der Wahrheit läßt, von der der Skeptiker behauptet, wir könnten sienicht überwinden.

In meiner Antwort auf den Skeptizismus beschränke ich mich darauf,Erwiderungen auf zwei Typen von Skeptikern zu formulieren, nämlicheinen Cartesianischen radikalen Skeptiker und einen sehr gemäßigtenSkeptiker, der unsere Überzeugungen über unsere kausale Stellung in derWelt nicht gänzlich in Frage stellt. In beiden Fällen betrachte ich dieskeptischen Einwände aber als sowohl verständliche wie auch berechtigteHerausforderungen, denen nicht leicht zu begegnen ist.

Ein reflektives Unternehmen wie das der Metarechtfertigung wirddabei mit dem Problem konfrontiert, wie sich Behauptungen im Rahmeneiner Metarechtfertigung selbst begründen lassen. Dazu wiederum aufdie explizierten Rechtfertigungsverfahren zurückzugreifen, erscheint zir-kulär. Zu Metarechtfertigungsverfahren Zuflucht zu nehmen, scheintnur auf einen Regreß immer höherer Ebenen zu führen. Trotzdem istman natürlich auf den Einsatz bestimmter grundlegender Rechtferti-gungsmöglichkeiten angewiesen. Dazu untersuche ich unter anderemeine bestimmte apriorische Anwendung des Schlusses auf die beste Er-klärung, deren Schwachpunkte ich aufzeigen werde, und zu der ich eineAlternative vorschlagen möchte.

B. Wissenschaftliche Theorien und Erklärungen

Die von mir vertretene Kohärenztheorie der Rechtfertigung bestimmtKohärenz wesentlich als Erklärungskohärenz. Dabei blieb jedoch der Er-klärungsbegriff selbst noch relativ unexpliziert. Diesen weißen Fleckauszufüllen ist die Aufgabe der letzten drei Kapitel meiner Arbeit, in de-nen ich aus den bereits genannten Gründen den Schwerpunkt der Expli-kation auf die wissenschaftlichen Erklärungen lege.

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1. Theorien und ihre innere StrukturFür sie wird noch deutlicher als etwa für Alltagserklärungen, wie sehrsie auf wissenschaftliche Theorien angewiesen sind. Allerdings zeigt sichschon in der allgemeinen Erkenntnistheorie, daß wir uns in den Begrün-dungen einer Meinung immer auf allgemeine Annahmen oder „kleineTheorien“ stützen müssen. Schon aus diesem Grund lohnt es sich, dieExplikation von „Erklärungskohärenz“ mit einer Untersuchung vonTheorien und ihren Leistungen für den Zusammenhalt unseres Wissenszu beginnen (Kap. VII). Bei der Untersuchung, was Theorien sind, prä-sentieren sie sich keineswegs als eine nahezu amorphe Menge von Sät-zen, wie es etwa noch von den logischen Empiristen oder den Popperia-nern angenommen wurde. Vielmehr weisen sie eine Vielzahl von inne-ren Komponenten auf. Die ermöglichen es ihnen, anhand eines kompli-zierten Zusammenspiels, Beobachtungsdaten aber auch andere Theorienin einen Zusammenhang zu stellen. Um die innere Struktur von Theo-rien und das Zusammenwirken der Komponenten verstehen zu können,setze ich die sogenannte strukturalistische Auffassung von Theorien ein,die auf Arbeiten von Suppes und Sneed zurückgeht und in Deutschlandvor allem durch Wolfgang Stegmüller Verbreitung fand. Diese semanti-sche Konzeption versucht anhand von Fallstudien – aus inzwischen fastallen Wissenschaftsbereichen (s. dazu Diederich/Ibarra/Mormann 1989)– die Funktionsweise von Theorien zu erfassen, indem sie den Informati-onsflüssen innerhalb von Theorien und zwischen Theorien nachgeht.Theorien sind demnach hierarchisch aufgebaute Netze, die mit Hilfe vonGrundgesetzen und Spezialgesetzen, innertheoretischen und intertheore-tischen Brückenstrukturen sowie durch die Einführung theoretischerObermodelle versuchen, eine systematische Konzentration unserer Er-kenntnisse zu erreichen. Aufgrund dieser differenzierten Sicht von Theo-rien läßt sich der empirische Gehalt, d.h. die mit einer Theorie aufge-stellte Behauptung über die Welt, präzisieren. Es werden dabei viele me-tatheoretische Phänomene zugänglich, wie z. B. die Bedeutung der allge-genwärtigen Approximationen in quantitativen empirischen Theorienfür ihren Gehalt. Der ist wiederum eng verbunden mit der Erklärungs-stärke und den Erklärungsspielräumen der Theorie, die sich in diesemRahmen ebenfalls bestimmen lassen.

2. Unterschiedliche ErklärungskonzeptionenIn den Kapiteln (VIII) und (IX) entwickle schließlich ich meine Antwortauf die Fragen, wieso wir für Erklärungen auf Theorien angewiesen sindund was unter einer Erklärung zu verstehen ist. Dazu nenne ich neben

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der epistemischen Funktion, die Erklärungen zu erfüllen haben – die imerkenntnistheoretischen Teil der Arbeit bereits ausführlich erörtert wur-de – eine andere wesentliche Funktion von Erklärungen: Sie sollen unszu einem Verständnis bestimmter Vorgänge verhelfen. Der Verstehensbe-griff ist seinerseits erläuterungsbedürftig, wobei ich an Explikationsvor-schläge von Michael Friedman und Karel Lambert anknüpfe.

Unter diesen Gesichtspunkten – und natürlich auch anhand von Bei-spielen – werden unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ansätze be-wertet, für die ich mit dem klassischen deduktiv nomologischen Erklä-rungsschema von Hempel und seinen Schwierigkeiten den Anfang ma-che. Einige grundlegende Fragen der Debatte lassen sich bereits an die-sem Schema erörtern. So argumentiere ich mit Beispielen aus der Wis-senschaftspraxis gegen Hempel dafür, daß Naturgesetze weder notwen-dige noch hinreichende Bestandteile von Erklärungen darstellen; undauch Hempels Berufung auf elliptische oder statistische Erklärungen ver-mag die nomologische Sichtweise von wissenschaftlichen Erklärungennicht zu retten.

Entsprechende Einsichten und vor allem Probleme der Kontextab-hängigkeit von Erklärungen waren der Anlaß für die Entwicklung vonpragmatischen Erklärungstheorien. Die Einbeziehung pragmatischerAspekte von Erklärungen stellt unbestritten eine fruchtbare Ergänzungeiner Explikation von Erklärung dar. Sie kann aber nicht die Aufgabe ab-lösen, objektive Beziehungen zwischen Explanans und Explanandum zuermitteln. Deshalb werden zwei prominente Ansätze zur Charakterisie-rung objektiver Erklärungsbeziehungen daraufhin untersucht, ob sie er-folgreich die Nachfolge der Hempelschen Theorie antreten können. Dasist zum einen die kausale Erklärungstheorie, für die Erklärungen einesEreignisses in der Angabe seiner Ursachen bestehen (Kap. VIII) und zumanderen die Vereinheitlichungskonzeption von Erklärung, für die Erklä-rungen zwar weiterhin Deduktionen à la Hempel sind, aber nur solcheDeduktionen eine Erklärungsleistung erbringen, die vereinheitlichendeund systematisierende Funktionen in einem bestimmten Sinn besitzen(Kap. IX).

Für die kausalen Ansätze spricht insbesondere, daß sie die Asymme-trie der Erklärungsbeziehung nachzuzeichnen gestatten und wir intuitivin vielen Fällen eine Aufdeckung von Ursachen als erklärend ansehen.Das größte Problem, vor dem jede heutige kausale Erklärungstheorie zubestehen hat, ist jedoch die Analyse von Kausalität selbst. Sie muß aufder einen Seite die meisten Fälle heutiger wissenschaftlicher Erklärun-gen abdecken können und auf der anderen Seite trotzdem noch inhalt-

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lich hinreichend bestimmt sein, daß der Ausdruck „x ist Ursache von y“nicht zu einer bloßen Leerformel verfällt. Einer der prominentesten Ver-suche, diesen Erfordernissen gerecht zu werden, der von Wesley Salmonstammt, stellt eine Analyse von kausalen Prozessen und ihren Interaktio-nen ins Zentrum. Ihn unterziehe ich einer detaillierten Kritik.

Allgemein schätze ich die Vorgehensweise der Proponenten kausalerErklärungstheorien als nicht sehr erfolgversprechend ein, wenn es dar-um geht, eine vollständige Erklärungstheorie zu entwickeln, denn es gibtbereits zu viele Beispiele von nichtkausalen Erklärungen, die als wissen-schaftliche „Erklärungen“ nicht weniger überzeugend wirken als ihrekausalen Amtsbrüder. Auf entsprechende Beispiele stoßen wir bevorzugtin bestimmten Bereichen der Wissenschaft wie etwa der Evolutionstheo-rie oder in den Gesellschaftswissenschaften. Aber auch in zentralen Fel-dern der heutigen Physik finden wir mit der Quantenmechanik eine ge-nuin statistische Theorie, die sich noch nicht einmal mehr in eine stati-stische Kausalvorstellung wie das „Common-Cause“ Modell zwängenläßt. Die kausale Erklärungstheorie deckt daher zwar einen wichtigenTeilbereich von wissenschaftlichen Erklärungen ab, kann aber nicht be-anspruchen, allgemein zu bestimmen, was unter „Erklärung“ zu verste-hen ist. Das ist auch nicht verwunderlich, denn eine Untersuchung alleinder recht unterschiedlichen in der Physik vertretenen Modelle von Kau-salität ergibt keine gehaltvollen Gemeinsamkeiten mehr, auf die eineTheorie kausaler Erklärungen aufbauen könnte. Die Kausalitätskonzepti-on erweist sich eher als ein Familienähnlichkeitsbegriff, der für eine Er-läuterung des Erklärungsbegriffs zu wenige Gemeinsamkeiten für alleTypen kausaler Beziehungen mit sich bringt.

Umfassender gelingt es dagegen den Vereinheitlichungskonzeptionen,heutige wissenschaftliche Erklärungen in einer Theorie zu erfassen. Daskonnten insbesondere Friedman und Kitcher in einer Reihe von Fallstu-dien zeigen. Für sie gibt die Systematisierungsleistung von Theorien zu-gleich an, in welchem Maß sie unser Verständnis befördern und zur Er-klärung der Welt beitragen. Beide haben denn auch in diesem RahmenExplikationsvorschläge vorgelegt, die allerdings bei genauerer Analyseebenfalls gravierende Mängel aufweisen.

Für Friedman werden in wissenschaftlichen Erklärungen typischer-weise nicht Einzelereignisse, sondern Phänomene, also allgemeinere Er-eignistypen, erklärt. Wissenschaftliche Erklärungen bewirken nach Fried-man vor allem eine Reduktion der Vielzahl von Phänomenen auf wenigegrundlegende. Das versucht er am Beispiel der kinetischen Gastheorie zubelegen. Aber seine formale Explikation von Vereinheitlichung, die auf

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eine Zählung von Phänomenen angewiesen ist, weist schwerwiegendeDefekte auf, die Kitcher schon bald aufdecken konnte. Trotzdem erfaßtFriedmans Konzeption wesentliche Ideen der Vereinheitlichung undkann als Wegweiser in die richtige Richtung dienen.

Einen anderen Weg zur Charakterisierung von Vereinheitlichung be-schreitet Kitcher selbst, für den unsere besten wissenschaftlichen Erklä-rungen gerade darauf beruhen, daß wir mit nur wenigen Argumenttypenauskommen, um eine Vielzahl von Phänomenen abzuleiten. Statt der Re-duktion vieler Phänomene auf wenige, besteht für Kitcher das Ziel derVereinheitlichung in der Reduktion der (erklärenden) Argumente auf ei-nige wenige Typen von Argumenten – Kitcher spricht hier von „Argu-mentschemata“. Diese Typen werden im wesentlichen beschrieben durchdie Grundgleichungen zentraler Theorien wie die NewtonschenAxiome. Kitcher lenkt unseren Blick von den Dingen, die vereinheitlichtwerden, stärker auf die Art und Weise, wie wir sie mit Hilfe von Geset-zen vereinheitlichen. Das ist eine hilfreiche Ergänzung der Friedman-schen Ideen.

Dabei betont auch Kitcher wie schon Friedman die Bedeutung holi-stischer Zusammenhänge für die Beurteilung von Erklärungen. Ob eineinzelner Erklärungsvorschlag eine gute Erklärung darstellt oder nicht,ist demnach nicht allein anhand seiner Struktur zu erkennen (astrologi-sche Erklärungen können dieselbe Struktur aufweisen wie vorzüglichewissenschaftliche), sondern nur an seiner Einbettung in größere Zusam-menhänge. Für seine Konzeption sprechen seine Fallstudien von wissen-schaftlichen Theorien, deren Erklärungskraft er in seinem Ansatz über-zeugend zu rekonstruieren weiß.

Probleme treten allerdings wiederum in der Präzisierung dieser Ideevon Vereinheitlichung auf. Um etwa der Gefahr durch triviale Argu-mentmuster zu entgehen – Kitcher spricht auch von „unechter Verein-heitlichung“ –, muß er für seine Argumentmuster eine gewisse „Strin-genz“ verlangen, für deren Explikation er sich auf die Inhalte der Theo-rien zu beziehen hat. Das fällt ihm ausgesprochen schwer, da seine Kon-zeption eher auf einer abstrakteren Beurteilungsebene angesiedelt istund er auch über keine ausgearbeitete Konzeption der inneren Strukturvon Theorien verfügt. Hier kann die strukturalistische Wissenschaftsauf-fassung bessere Resultate erzielen und eine Bestimmung der Stringenzvon Theorien auf eine Untersuchung ihres empirischen Gehalts zurück-führen. Dabei wird der Schritt von einer eher syntaktischen Analyse beiKitcher zu einer semantischen oder modelltheoretischen Auffassung imSinne des Strukturalismus notwendig.

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Außerdem gelingt es Kitcher nicht, ein Phänomen einzufangen, dasman besonders für hochentwickelte quantitative Theorien – die Kitchernicht untersucht – und ihre Dynamik beobachten kann, nämlich das desFortschritts durch Verkleinerung der notwendigen Unschärfemengen undApproximationen einer Theorie. Um dieses wissenschaftliche Phänomender geringeren Unschärfen korrekt zu rekonstruieren, bedarf es ebensoeiner semantischen Sichtweise auf Theorien wie an anderen Stellen. Dasspricht wiederum für eine modelltheoretische Analyse, da diese Approxi-mationen und ihre Bedeutung für den empirischen Gehalt einer Theorieexakt zu erfassen vermag.

Eine noch stärkere Abkehr von der Kitcherschen Konzeption wirdschließlich notwendig, weil Kitcher dem „Deduktions-Chauvinismus“verhaftet bleibt und nur deduktive Argumente für ihn wirklich erklärendsind. Doch viele Erklärungen in den Wissenschaften entsprechen nichtdieser Vorstellung: etwa in den Geschichtswissenschaften oder in denFällen statistischer Theorien.

Die semantische Theorienauffassung bietet dazu eine Lösung, die so-wohl deduktive wie auch nichtdeduktive Erklärungen unter eine Kon-zeption, nämlich die der Einbettung in ein Modell, bringen kann. Das istdie Erklärungstheorie, die ich im letzten Kapitel der Arbeit ausarbeite.Sie ist nicht mehr dem Deduktions-Chauvinismus verpflichtet und kannvon Einbettungen nicht nur im logisch präzisen Begriffsapparat der Mo-delltheorie sprechen, sondern auch in informellen Kontexten, in denenwir Erklärungsmodelle nur informell beschreiben oder vielleicht nur mitAnalogiemodellen arbeiten. So läßt sich auch verstehen, inwiefern All-tagserklärungen als die informellen Vorläufer wissenschaftlicher Erklä-rungen zu betrachten sind und wo die Vorteile der letzteren liegen.Überdies gelingt es der semantischen Einbettungstheorie, die drei zentra-len Beurteilungsdimensionen einer Vereinheitlichungskonzeption vonErklärung zu bestimmen, die man als ihre Systematisierungsleistung, ihreStringenz (bzw. ihren Informationsgehalt) und ihre organische Einheit-lichkeit bezeichnen kann. In dieser Analyse kann ich weiterhin das schonerwähnte Phänomen der Approximationen präzise behandeln und dar-über hinaus eine andere in der Erklärungsdebatte schon mehrfach erho-bene Forderung einlösen, nämlich zu ermitteln, welchen Beitrag die un-terschiedlichen Theoriekomponenten zu einer Erklärung leisten. Dazupräsentiere ich eine Erklärungstheorie, die die vereinheitlichende Funk-tion der verschiedenen Teile einer (wissenschaftlichen) Theorie angibt.Sie schließt so die noch verbliebene Lücke in der diachronischen Kohä-renztheorie der Rechtfertigung, die der intuitive und nicht weiter präzi-

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sierte Gebrauch des Erklärungskonzepts dort hinterlassen hatte. Dabeilassen sich mit der neuen Erklärungskonzeption außerdem viele der al-ten Probleme lösen, auf die das DN-Schema der Erklärung keine Ant-worten geben konnte.

Es ist das Ziel dieses Buchs, ein Forschungsprogramm vorzustellen,das in konstruktiver Weise eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung ent-wickelt, einen weitergehenden Vorschlag in der Debatte um wissen-schaftliche Erklärungen gibt und darüber hinaus die engen Beziehungendieser beiden Projekte deutlich macht. Natürlich kann ein so umfassen-des Forschungsprogramm nicht mit einer Monographie als abgeschlos-sen angesehen werden, sondern bietet an nahezu allen Stellen Raum füreine weitere Ausarbeitung sowie zahlreiche Anhaltspunkte für Auswir-kungen auf „Nebenkriegsschauplätze“, denen ich hier noch nicht nach-gehen konnte. Ich bitte den Leser daher um Verständnis, daß ich die Dis-kussionen an vielen Stellen nicht vertiefe, obwohl das naheliegend er-scheint. Das habe ich vor allem dort nicht getan, wo ich den Eindruckhatte, die mir zur Zeit bekannten weitergehenden Analysen würdenzwar hilfreiche Differenzierungen vornehmen, aber keine neuen kon-struktiven Resultate für die Kohärenz- und Erklärungstheorie bieten.

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II Der metatheoretische Rahmen

Ehe ich in die erkenntnistheoretische Diskussion um konkrete Ansätzefür Rechtfertigungstheorien einsteige, sind einige Vorüberlegungen überdie Rahmenbedingungen angebracht, unter denen diese Diskussion statt-finden soll. Im Teil (A) dieses Kapitels wird es daher um den methodolo-gischen Rahmen der Arbeit gehen. Neben der Verteidigung gegen einenradikalen Skeptiker muß jede Rechtfertigungskonzeption auch gegen-über Konkurrenztheorien begründet werden. Doch wie kann man dabeivorgehen, auf welches Begründungsverfahren können wir uns berufen,wenn wir erst noch zu entscheiden haben, welches Verfahren tatsächlichWahrheitsindikatoren liefert? Zunächst weise ich einige naturalistischeStrategien zurück, die zu diesem Zweck vorgeschlagen wurden, aberschließlich trete ich für einen moderaten „methodologischen Naturalis-mus“ ein. Der Abschnitt (B) betrifft den semantisch-metaphysischen Rah-men, in dem die erkenntnistheoretischen Fragestellungen angesiedeltwerden. Den Hintergrund der klassischen Erkenntnistheorie – auf denich mich ebenfalls verpflichten werde – bilden korrespondenztheoreti-sche und realistische Auffassungen, deren erkenntnistheoretische Bedeu-tung ich anhand einer kurzen Betrachtung der Alternativen verdeutli-chen möchte. Der letzte größere Abschnitt (C) ist dem empirisch-deskrip-tiven Hintergrund gewidmet, der die grundlegende Struktur von Mei-nungssystemen auf einer phänomenologischen Ebene beschreibt und diefür mein Unternehmen wesentlichen Elemente in Erinnerung ruft. Eini-ge der Punkte, die in diesem Kapitel zur Sprache kommen, werden demeinen oder anderen recht selbstverständlich erscheinen – das hoffe ichsogar –, trotzdem werden alle genannten Punkte in der erkenntnistheo-retischen Diskussion an bestimmten Stellen vernachlässigt, übersehenoder sogar explizit abgestritten. Deshalb ist es erforderlich, diesen Rah-men noch einmal explizit anzugeben und kurz zu seinen Gunsten zu plä-dieren.

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A. Zur Naturalisierung der Erkenntnistheorie

Schon in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, daß ich mit einernaturalistischen Vorgehensweise in der Erkenntnistheorie sympathisiere,mich aber in späteren Phasen meines Projekts von einer rein naturalisti-schen Methodologie lösen möchte. Mein Verhältnis zur naturalistischenVorgehensweise genauer zu bestimmen, ist für den Fortgang derUntersuchung unerläßlich, und ich möchte deshalb den systematischenTeil meiner Arbeit damit beginnen. Unter einer Naturalisierung der Er-kenntnistheorie werden von Philosophen leider recht unterschiedlicheDinge verstanden. Der wohl radikalste Naturalist der heutigen Erkennt-nistheorie ist der amerikanische Philosoph Willard van Orman Quine,für den die Erkenntnistheorie ein Projekt ist, das die Philosophie bessergleich an die Naturwissenschaft – vermutlich die empirische Psychologie– abgeben sollte. Eine Beschäftigung mit Quines radikalen Ansichtenwird daher den Ausgangspunkt meiner Stellungnahme zum Naturalis-mus bilden.

Neben Quine firmieren allerdings auch noch moderatere Naturali-sten unter diesem Stichwort. Grundsätzlich läßt sich der epistemologi-sche Naturalismus am besten als eine Ansicht darüber klassifizieren, wieman in der Erkenntnistheorie vorzugehen hat, also als eine Art von Me-ta-Erkenntnistheorie oder Methodologie der Erkenntnistheorie. KeithLehrer (1990, 154) faßt darunter alle Positionen, die die Erkenntnis-theorie allein durch natürliche Begriffe wie den der kausalen Beziehun-gen analysieren oder sogar vollständig auf solche Begriffe reduzierenwollen. Dazu gehören dann vor allem die externalistischen Positionen,denen ich das Kapitel (III.A) gewidmet habe. Trotzdem gehört für dieseAutoren eine Analyse, wie eine dritte Bedingung für Wissen auszusehenhat, sehr wohl noch zur Erkenntnistheorie philosophischer Prägung. Sieverlangen nur, daß diese Bedingung sich wesentlich auf kausale Zusam-menhänge stützen muß. Eine Überzeugung, die Wissen darstellen soll,muß auf „zuverlässige Weise“ durch unsere Umwelt verursacht sein (s.III.A). Natürlich gehört dann die Untersuchung, ob diese Beziehung ineinem konkreten Einzelfall besteht, ganz in den Zuständigkeitsbereichdes Naturwissenschaftlers. Aber die Präzisierung der Bedingung selbstverbleibt innerhalb der Philosophie.

Devitt (1991, Kap. 5.8) bestimmt den Begriff des Naturalismus nochliberaler: Zunächst beginnt man mit einer Beschreibung der tatsächlichakzeptierten epistemischen Verfahren und Bewertungen. Das ist ein„low-level“ empirisches Unternehmen. In einem zweiten Schritt wird

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man versuchen, anhand von Konsistenz- und KohärenzüberlegungenKriterien für gute und schlechte Rechtfertigungen anzugeben. Das isteine vage Beschreibung eines Projekts, das zumindest durch seinen meta-theoretischen Status und seine eindeutig normativen Aspekte im zweitenSchritt nicht in den gewöhnlichen Zuständigkeitsbereich der Naturwis-senschaften fällt. Unter dieses Verständnis von naturalistischer Erkennt-nistheorie gehört auch das von Rawls propagierte Verfahren zur Begrün-dung normativer Aussagen, das Rawls (1979, 38) selbst als „reflectiveequilibrium“ bezeichnet. In diesem recht liberalen Sinn von Naturalis-mus, in dem man zwar mit einer Beschreibung unserer tatsächlichen epi-stemischen Begründungspraxis startet, aber dann mit Hilfe des Verfah-rens eines reflektiven Gleichgewichts zu einer normativen Theorie ge-langt, möchte auch ich mich als Naturalisten bezeichnen. Diese stellt al-lerdings eindeutig keine naturwissenschaftliche Theorie mehr dar, son-dern eine Metatheorie mit normativer Kraft. Da es sich hierbei um einenNaturalismus handelt, der unsere tatsächlichen Bewertungsmethodenzum Ausgangspunkt nimmt, spreche ich manchmal auch von „methodo-logischem Naturalismus“. Das dient zugleich einer Abgrenzung von denradikalen Naturalisierungsversuchen Quines.

1. Genese und RechtfertigungAls Ausgangspunkt der Erörterung soll die alte Unterscheidung zwischenden zwei Fragen dienen, die man beide mit einer Äußerung wie: „Warumglaubst Du das?“ meinen kann. Die eine fragt danach, wie es dazu kam,daß man eine bestimmte Meinung annahm, während die andere fragt,welche Rechtfertigungen man für diese Meinung besitzt. Daß die Ant-worten auf diese beiden Fragen keineswegs immer identisch sein müs-sen, können viele Beispiele illustrieren. Nehmen wir an, ich halte die po-litische Partei X für die beste Partei. Auf die erste Frage, wie ich zu die-ser Ansicht kam, könnte ich z. B. antworten: Meine Eltern fanden diePartei X schon immer am besten, und ich übernahm früher alle Ansich-ten von meinen Eltern, unter anderem auch diese. Das scheint eine an-nehmbare Antwort auf die erste Frage zu sein, ist aber nicht befriedi-gend als Antwort auf die zweite Frage, wie ich meine Behauptung, diePartei X sei die beste, begründen kann. Solange ich meine Eltern nichtin politischen Fragen für besonders kompetent halte – und das war hiernicht vorausgesetzt –, erwarte ich auf die zweite Frage eine Antwortganz anderer Art. Etwa eine Erklärung, wieso ich die Mietrechtspolitikund andere Vorhaben der Partei X für besonders gut halte oder Ähnli-ches. Die erste Antwort gibt mir sozusagen den kausalen Weg an, auf

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dem ich zu dieser Meinung gelangt bin und bezieht sich damit auf Ver-gangenes, während die zweite Antwort nach der Verankerung dieserMeinung in meinem heutigen Überzeugungssystem fragt. Beide exempla-risch vorgeschlagenen Antworten können daher auch nebeneinander be-stehen und zugleich wahr sein. Meine Vorliebe für die Partei X kann ein-fach aus der Übernahme der Ansichten meiner Eltern entstanden sein,aber gerechtfertigt ist sie heute durch eine detaillierte Analyse der Politikvon X.

Das Phänomen des Auseinanderklaffens der Entstehung einer Mei-nung und ihrer Rechtfertigung findet sich natürlich nicht nur im Alltag,sondern genauso in den Wissenschaften. Der Chemiker Kekulé, der dasSystem der chemischen Strukturformeln entwickelt hat, beschrieb einigeJahre später, wie er im Jahre 1865 die spezielle Strukturformel für dasvon Faraday entdeckte Benzol fand. Während einer Reise hatte er einenTagtraum, in dem Ketten aus Kohlenstoffatomen wie lebende Wesenherumtanzten und sich plötzlich zusammenrollten wie eine Schlange. Dakam er auf den entscheidenden Gedanken: Das Benzolmolekül mußteringförmig sein. Diese Überzeugung Kekulés konnte er später anhand ei-ner entsprechenden Strukturformel und vieler Daten bestätigen.1 Auchin diesem Beispiel finden wir eine Antwort auf die erste Frage, die nurwenig mit der Antwort auf die zweite Frage gemein hat.

Man sollte die Fragen der Genese einer Meinung und die ihrer Recht-fertigung wenigstens zu Beginn einer Analyse der Struktur unserer Er-kenntnis voneinander trennen, und es werden gute Argumente erforder-lich, wenn man trotzdem behaupten möchte, daß die Antworten auf diebeiden Fragen zusammenfallen. Dabei ist offensichtlich, daß die ersteFrage keine genuin philosophische Frage ist, sondern eher in den Be-reich der empirischen Psychologie fällt. Das ist für die zweite Frage aberalles andere als selbstverständlich, und Quines Plädoyer für eine natura-lisierte Erkenntnistheorie lebt zuweilen davon, daß er diese beiden Fra-gen nicht klar genug unterscheidet. Quines Position wurde motiviertdurch seine Kritik an seinen empiristischen Vorgängern – bei denen dieTrennung auch nicht immer deutlich ist –, die in ihrer ErkenntnistheorieWahrnehmungstheorien darüber vorschlagen, wie wir von bestimmtenBeobachtungen, Reizungen der Sinnesorgane oder gar Sinnesdaten zuunseren Meinungen gelangen. Dabei bedienen sie sich häufig einer Rei-he problematischer empirischer Annahmen und Konstruktionen wie Sin-nesdaten oder dem empirisch Gegebenen. Für diese Ansätze hat Quinesicher Recht, daß sie aus heutiger Sicht nicht immer als gelungene For-

1 Siehe dazu Asimov 1986, 19f.

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schungsprogramme anzusehen sind, und wir an diesen Stellen lieber aufdie empirische Forschung setzen sollten, als eine Lehnsessel-Psychologiezu betreiben.

Mit den angesprochenen Wahrnehmungstheorien ist aber nur einkleiner Teilbereich der Erkenntnistheorie in den Blick genommen wor-den. Davon, daß dieser Bereich vermutlich besser an die Psychologie de-legiert werden sollte, können wir nicht einfach schließen, auch das ange-führte Rechtfertigungsprojekt, das mit der zweiten Frage verknüpft ist,gehöre ebenfalls zur Psychologie. Die Psychologie beschreibt und erklärtnur, wie wir zu bestimmten Meinungen gelangen – jedenfalls, wenn siees schafft, so erfolgreich zu sein –, aber doch nicht, wann eine Meinungals gut begründet in unserem Meinungssystem zu gelten hat. Auch wennkonkrete empirische Theorien in der Rechtfertigung unserer Meinungeneine wichtige Rolle zu spielen haben, so klären diese Theorien dochnicht die Frage, was eine gute Rechtfertigung ausmacht und von einerschlechten unterscheidet. Das bleibt weiterhin einer metatheoretischenReflexion etwa über die rechtfertigende Rolle bestimmter Theorien ineinem bestimmten Kontext überlassen. Die Frage nach der Güte vonRechtfertigungen ist aber sicherlich sinnvoll, denn wir finden im Alltag,in der Politik und in den Wissenschaften eindeutige Beispiele für guteund schlechte Begründungen.

Man muß sich nur einmal konkret vor Augen führen, welche Folgendie Quinesche Konzeption der Abgabe der Erkenntnistheorie an die em-pirische Psychologie bezogen auf den Fall wissenschaftlicher Forschunghätte, wenn wir sie tatsächlich ernst nähmen. Um die empirische Bestäti-gung einer Theorie einzuschätzen, müßte ein Psychologe denjenigen un-tersuchen, der an die Theorie glaubt, um herauszufinden, wie der Wegder Überzeugungsbildung von den Sinnesreizungen bis hin zur Entwick-lung der Theorie bei ihm vor sich ging. Das scheint kaum ein hilfreichesVerfahren zur Bewertung wissenschaftlicher Hypothesen zu sein.2 EineZeitschrift wie Nature wird keine Psychologen zu ihren Autoren schik-ken, sondern diese eher fragen, welche Fakten und Experimente sie an-bieten können, die ihre Theorie stützen. Ob diese das tun und in wel-chem Ausmaß, ist dann Gegenstand einer logischen Analyse der Bezie-hung zwischen Theorie und Fakten und ihrer metatheoretischen Bewer-tung. Wenn die Fakten, die ein Wissenschaftler uns nennt, stimmen, was

2 Stellen wir uns ruhig einmal ernsthaft vor, jemand hätte zu Ohm einenPsychologen geschickt, um festzustellen, ob dessen Theorie über den Zusammen-hang von Stromstärke und elektrischem Feld stimmt. Was könnte der eigentlichuntersuchen?

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sich unter anderem mit Hilfe eigener Experimente überprüfen ließe,könnte uns auch die Mitteilung des untersuchenden Psychologen, daßder Wissenschaftler selbst nicht an seine Theorie glaubt und uns nur hin-ters Licht führen wollte oder alle eigenen Experimente und Ableitungennur geträumt hat, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit seiner Theoriekalt lassen – nicht so natürlich im Hinblick auf die Integrität des Wissen-schaftlers. Wieso nimmt Quine die intuitive Unterscheidung in Ursa-chenforschung und Bewertung von Meinungen trotzdem nicht ernst?

Quine scheint beispielsweise in (1975) für die Erkenntnistheorie nurein wichtiges philosophisches Projekt zu identifizieren, das man als eineForm von sprachlich gewendeter erster Philosophie beschreiben könnte:die Übersetzungsreduktion all unserer Begriffe und insbesondere die derWissenschaften auf die Begriffe einer unteren, etwa einer phänomena-len, Ebene. Das Scheitern Carnaps, der dieses Unternehmen in seinemLogischen Aufbau der Welt am weitesten vorangetrieben hat, und dieÜbersetzungsunbestimmtheit zeigen für Quine, daß dieses Unternehmennicht gelingen kann (s. Koppelberg 1987, 301ff). Auch mir scheint die-ses Projekt einer Übersetzungsreduktion auf erste Grundbegriffe nichtbesonders aussichtsreich.3 Das Reduktionsprojekt ist obendrein ein Vor-haben, das in den Bereich der rein sprachphilosophisch geprägten Philo-sophie fällt, die den Rahmen der metatheoretischen Untersuchung unnö-tig einschränkt und deren Bedeutung für die Erkenntnis- und Wissen-schaftstheorie leicht überschätzt wird.4 Andere Fragen, d.h. Fragen au-ßerhalb der Übersetzungsreduktion und formaler Gebiete wie der Logikund Mathematik, siedelt Quine hingegen in den empirischen Wissen-schaften an. Nach dem Scheitern des Reduktionsprojekts kann es für ihndaher nur noch empirische Fragen geben, die in den Fachwissenschaftenzu behandeln sind.

Die Philosophen haben zu Recht die Hoffnung aufgegeben, alles inlogisch-mathematische und Beobachtungsbegriffe übersetzen zu kön-

3 In einer Argumentation für diese Annahme würde ich mich allerdingsnicht auf eine Übersetzungsunbestimmtheitsthese berufen, sondern vielmehr aufdie konkreten Schwierigkeiten dieses Vorhabens wie die drohenden Unendlich-keiten (s. Stegmüller 1958).

4 Ich möchte mich hier eher van Fraassens (1980, 56) Diktum anschlie-ßen, daß viele Probleme der syntaktischen Sichtweise von Theorien, die sich et-wa um solche Definierbarkeitsfragen drehen, „purely selfgenerated problems,and philosophically irrelevant“ sind; zumal die Aufteilung in ein Beobachtungs-und ein theoretisches Vokabular und die damit erhoffte Bestimmung des empiri-schen Gehalts von Theorien aus unterschiedlichen Gründen nicht funktioniert.

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nen, ... Und manche Philosophen haben in dieser Irreduzibilität denBankrott der Erkenntnistheorie gesehen. Carnap und die anderen lo-gischen Positivisten des Wiener Kreises hatten schon den Begriff„Metaphysik“ in einen pejorativen, Sinnlosigkeit konnotierendenGebrauch gedrängt; der Begriff „Erkenntnistheorie“ war der näch-ste. Wittgenstein und seine Jünger vor allem in Oxford, fanden einephilosophische Restbeschäftigung in der Therapie: nämlich Philoso-phen von der Verblendung zu kurieren, es gäbe erkenntnistheoreti-sche Probleme. Aber ich meine, daß es an dieser Stelle wohl nützli-cher ist, statt dessen zu sagen, daß die Erkenntnistheorie auch wei-terhin fortbesteht, jedoch in einem neuen Rahmen und mit einemgeklärten Status. Die Erkenntnistheorie oder etwas Ähnliches erhältihren Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der empi-rischen Wissenschaften. (Quine 1975, 114f; kursiv von mir)

Doch damit übersieht Quine, daß noch Raum übrig bleibt für metatheo-retische Untersuchungen z. B. über die Methoden in den Naturwissen-schaften, die sicherlich keine definitorischen Reduktionen beabsichtigen,aber als metatheoretische Projekte zumindest zum Teil auch normativenCharakter haben und nicht zuletzt dadurch eine gewisse Eigenständig-keit gegenüber den rein naturwissenschaftlichen Fragestellungen besit-zen. Auch der Hinweis von Koppelberg (1987, 181f), daß Theoriennicht nur durch Tatsachen bestimmt werden, sondern auch „normativeIngredienzen“ in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen, entlastetQuine nicht. Die metatheoretische Untersuchung solcher Werte und ih-rer Funktionen, ihrer Begründung sowie ihrer Richtigkeit, ist zu unter-scheiden von ihrer Verwendung in den Wissenschaften. Der Naturwis-senschaftler, der sich bei seiner Theorienwahl auf bestimmte Normenstützt, wird allein dadurch noch nicht zu einem Metawissenschaftler, derdiese Normen untersucht. Ebensowenig wie der Vogel, der die Gesetzeder Aerodynamik für sein Fliegen ausnutzt, deshalb schon ein Physikerist.

Quines strikte Ablehnung einer Erkenntnistheorie mit normativenAnteilen erinnert mich an die Ansicht der logischen Empiristen, für diemoralische Normen nicht rational diskutierbar waren, und wird mitähnlich puritanischer Strenge vorgetragen.5 So wenig wie dieses Dogmader logischen Empiristen die Philosophen von einer rationalen Diskussi-on und Bewertung moralischer Normen abhalten konnte, kann Quines

5 Eine deutliche Äußerung dieser Ansicht findet sich z. B. in der sprach-philosophischen Argumentation für die Sinnlosigkeit moralischer Normen beiAyer (1970, 141ff).

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Argumentation mit der Konsequenz, normative Überlegungen seien inder Erkenntnistheorie unmöglich, eine Diskussion der zahlreichen heutevorliegenden Ansätze zu entsprechenden Erkenntnistheorien ersetzen.

Eine klare Trennung von Genese und Rechtfertigung von Meinungenerleichtert die Einschätzung von Quines Position: Wenn er die Erkennt-nistheorie an die empirischen Wissenschaften abgeben möchte, so be-deutet das eigentlich etwas anderes, als daß die bisherigen erkenntnis-theoretischen Fragen nun an eine andere Disziplin verwiesen werden.Sie werden aufgegeben und andere Fragen – eben die der empirischenWissenschaften – sollen an ihrer Statt in den Vordergrund treten. Er plä-diert für einen Themenwechsel und nicht eine andere Art, dieselben Fra-gen der klassischen Erkenntnistheorie zu beantworten. Quine selbst ver-schleiert diesen Unterschied zwischen der genetischen und der Rechtfer-tigungsfrage gern durch die Redeweise vom Erwerb von Informationen.

Die Erkenntnistheorie verwirft der Naturalismus nicht, sondern erassimiliert sie der empirischen Psychologie. Die Wissenschaft selbstsagt uns, daß unsere Informationen über die Welt auf Erregungenunserer Oberflächen beschränkt sind, und dann wird die erkenntnis-theoretische Frage ihrerseits zu einem innerwissenschaftlichen Pro-blem: Wie ist es uns menschlichen Tieren gelungen, aufgrund derartbeschränkter Informationen zur Wissenschaft zu gelangen? (Quine1985, 95)

Innerwissenschaftlich wird aber höchstens die kausale Genese unsererwissenschaftlichen Überzeugungen erforscht. Quine berücksichtigt wie-derum keine metatheoretischen Untersuchungen über die Fachwissen-schaften und ihre Normen, die auf der Ebene einer Metatheorie geradenicht innerwissenschaftlich im Sinne Quines sind. Aber was sollte unshindern, auch die Normen von Wissenschaftlern in rationaler Weise zukritisieren? Quines (1985, 94) einziges Argument dafür scheint zu sein,daß es keine erste Philosophie geben kann, von der aus sich diese Praxiskritisieren ließe.

Damit bringt er die fragwürdige Voraussetzung ins Spiel, daß solcheine Kritik nur auf der Grundlage einer ersten Philosophie stattfindenkönne. Daß das keineswegs das einzige Verfahren zur Begründung nor-mativer Sätze sein muß, ist aber längst bekannt und wird in (A.3) weiterausgeführt. Es bleiben also – auch wenn man mit Quine in der Meinungübereinstimmt, daß es keine erste Philosophie als sichere Grundlage derErkenntnis geben kann – die Fragen offen: Warum sollen die klassischenerkenntnistheoretischen Fragen nun nicht mehr weiter untersucht wer-

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den? Warum sollten wir nur noch quid-factis Fragen und keine de-jureFragen mehr stellen? Damit ist natürlich noch nicht vorentschieden, obes einen allgemeinen Kanon von Regeln der epistemischen Rechtferti-gung zu entdecken gibt oder vielleicht nur Regeln für bestimmte Gebieteunserer Erkenntnis oder sogar noch weniger. Das kann erst am Ende ei-nes derartigen Vorhabens beurteilt werden. Die neueren Arbeiten in die-sem Bereich der Philosophie geben jedoch keinen Grund für den Quine-schen Pessimismus oder sogar einen darauf gegründeten Philosophiever-zicht.

Wie steht Quine dann zum Skeptiker? In dieser Frage ist seine Hal-tung nicht immer einheitlich,6 doch in der Hauptsache betrachtet er ihnals „Überreaktion“, die sich als Reaktion auf bestimmte Irrtumsmöglich-keiten ergab. Dennoch bleibt der Skeptizismus auch für Quines eigeneDarstellung unserer Erkenntnis ein virulentes Problem, obwohl er ihnnonchalant beiseite zu schieben versucht. An verschiedenen Stellen (z. B.in 1975a) beschreibt er den kausalen Weg unserer Erkenntnis als auf derReizung unserer Sinnesorgane durch Lichtstrahlen und Molekülen beru-hend. Da er nicht wirklich zwischen Fragen der Rechtfertigung und derGenese unserer Meinungen unterscheidet und die kausale Genese unse-rer Meinungen für ihn immer bei unseren Sinnesreizungen beginnt, be-ruhen seiner Meinung nach alle unsere Überzeugungen auch im Sinneihrer Begründbarkeit auf unseren Sinnesreizungen.7 Genau auf diesesfundamentalistische Bild unserer Erkenntnis weiß der radikale Skeptikerseine Einwände aufzubauen. Er bietet uns mögliche Modelle an, in de-nen wir dieselben Wahrnehmungen oder Sinnesreizungen haben, wie inunserem jetzigen Bild der Welt, aber ihre kausalen Entstehungsgeschich-ten sind von unseren radikal verschieden. Wir sind in diesen Modellenetwa Spielbälle eines bösen Dämons oder Gehirne in der Nährlösung ei-nes üblen Wissenschaftlers, dem es mit Hilfe eines Computers gelingt, ir-reführende Sinnesreizungen vorzunehmen. Die Herausforderung desSkeptikers an Quine besagt nun: Wieso sollten wir diese Möglichkeitennicht genauso ernst nehmen, wie die von uns bevorzugten Entstehungs-geschichten, wenn doch unser einziger Zugang zur Welt in unseren Sin-nesreizungen besteht, die uns – so sind die skeptischen Modelle konstru-iert – keinen diskriminierenden Hinweis für eines der beiden Modelle

6 Für eine interessante Analyse dieses Punktes s. Williams (1990, 256ff).7 Wir werden später sehen, daß die kausale Genese unserer Überzeugun-

gen keineswegs die Rechtfertigungsstruktur unseres Wissens in dieser Weise fest-legt.

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geben können? Auch vis-à-vis dem Skeptiker hat Quine keine überzeu-genden Gründe für seine Zurückweisung dieser Fragen anzubieten.

Quine kommt dem Skeptiker mit seinem Holismus eigentlich zu-nächst ein Stück weit entgegen, denn wir können nach Ansicht Quinesunser Überzeugungssystem an vielen Stellen – im Prinzip an allen belie-bigen Stellen – umbauen, um es mit unseren Beobachtungen in Einklangzu bringen (s. Quine 1979, 47). An welchen Stellen wir Änderungenvornehmen, scheint für Quine deshalb relativ willkürlich zu sein, weil ermetatheoretische Bewertungen nicht sehr schätzt und unsere Theoriendurch die Erfahrung immer wesentlich unterbestimmt bleiben. Ein sol-cher Umbau kann nach Quine sogar die zentralsten Teile unseres Wissenwie z. B. die eingesetzte Logik betreffen. Der Skeptiker geht nun einfachnoch einen Schritt weiter und nimmt die Unterbestimmtheit auch fürseine radikalen skeptischen Hypothesen in Anspruch. Die Daten, fürQuine die Sinnesreizungen, genügen nicht, um unsere gewöhnlichenTheorien über die Welt festzulegen, aber ebensowenig, um unser übli-ches Weltbild gegenüber den radikalen skeptischen Hypothesen zu be-vorzugen. Die Sinnesreizungen enthalten keine internen Hinweise, obsie vom Computer des Wissenschaftlers erzeugt wurden, oder auf dienormale Weise. Also fragt der Skeptiker, warum wir seine Hypothesenablehnen. Quines Antwort, diese seien Überreaktionen, nennt keine An-haltspunkte, wieso diese Frage illegitim sein sollte (s. Quine 1981, 475),wo sie doch nur eine konsequente Fortführung seiner eigenen Überle-gungen darstellen. So führt Quines eigene liberale Methodologie gepaartmit seinen fundamentalistischen Tendenzen, die sich aus seiner empiristi-schen Beschreibung unseres Erkenntnisprozesses ergeben, direkt zuskeptischen Fragen, wenn man sie nur konsequent anwendet. Zumindestder radikale Naturalismus Quines ist meines Erachtens somit unbegrün-det, und wir finden weiterhin sinnvolle Fragestellungen in der Epistemo-logie, die wir nicht komplett an die Naturwissenschaften abgeben kön-nen, sondern müssen auf die Herausforderung durch den Skeptiker rea-gieren. Daher werde ich im übernächsten Abschnitt für eine andere undmoderatere Form von Naturalismus plädieren.

2. Resignation in bezug auf das Projekt einer ersten Philosophie

Ein Grund für die wachsende Popularität naturalistischer Ansätze in derErkenntnistheorie ist vermutlich die Einsicht, daß die hochgestecktenAnforderungen des radikalen Skeptikers nicht erfüllt werden können. So

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sieht sich der Erkenntnistheoretiker der Forderung Descartes aus seinerersten Meditation gegenüber:

Da ja schon die Vernunft anrät, bei nicht ganz gewissen und zweifels-freien Ansichten uns ebenso der Zustimmung zu enthalten wie beisolchen, die ganz sicher falsch sind, so reicht es für ihre Verwerfunginsgesamt aus, wenn ich bei einer jeden irgendeinen Anlaß zumZweifeln finde. (Descartes 1986, 63; kursiv von mir)

Diese Forderung nach völliger Gewißheit scheint uns heute ausgerechnetfür die interessantesten Teile unseres empirischen Wissens unerreichbarzu sein. Das gilt um so mehr, wenn man unter Gewißheit nicht nur sub-jektive Sicherheit versteht – wie es der Begriff zunächst nahelegen könn-te –, sondern sogar Unkorrigierbarkeit im Sinne von Williams (1981,31). Es genügt für das Cartesische Unternehmen, ein sicheres Funda-ment für unsere Erkenntnis zu schaffen, natürlich nicht, daß wir uns be-stimmter Meinungen sicher sind, in dem Sinn, daß uns keine Zweifelmehr bedrängen oder gerade einfallen. Das mag vielleicht schon anhandmangelnder Phantasie oder posthypnotischer Befehle gelingen. Es sollvielmehr aus unserer Überzeugung, daß p, auch tatsächlich folgen, daßp. Unsere Überzeugung soll ihre Wahrheit garantieren. Im Sinne der sub-jektiven Sicherheit waren sich einige Gelehrte des Mittelalters sicher,daß die Erde den Mittelpunkt der Welt darstellt und die Sonne sich umdie Erde dreht, aber diese Überzeugungen waren nicht unkorrigierbarund bildeten daher keine sichere erste Grundlage unseres Wissens.

Doch im Bereich der Wissenschaften, aber auch für weite Teile unse-res Alltagswissens, gerät die Forderung Descartes in einen massiven Kon-flikt mit unseren übrigen metatheoretischen Ansichten. So sind wohl diemeisten heutigen Wissenschaftler Fallibilisten, die metatheoretischeÜberzeugung teilen, daß unsere wissenschaftlichen Theorien immer ei-nen hypothetischen Charakter behalten und damit immer die Möglich-keit offen bleibt, daß sie falsch sind.8 Der Fallibilismus impliziert, daßwir die Forderung Descartes nach einer sicheren Grundlage unserer Er-kenntnis nie werden einlösen können. Einige Erkenntnistheoretiker ha-ben sich deshalb mit einer gewissen Resignation von dem klassischenUnternehmen Erkenntnistheorie abgewandt. So beschreibt auch Devitt(1991, 75) in etwa seine Hinwendung zum Naturalismus. Die Suchenach Gewißheit paßt nicht mehr zu unseren anderen epistemischen

8 Das mag sogar auf der Objektebene bei der Betrachtung einzelner Theo-rien durchaus mit völliger subjektiver Sicherheit, daß eine bestimmte Theoriewahr ist, einhergehen.

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Überzeugungen, die stark durch die Überlegungen Poppers beeinflußtwurden.

Ein ähnliches Motiv fanden wir auch bei Quine für seine naturali-sierte Erkenntnistheorie. Gerade die empiristisch geprägten fundamenta-listischen Erkenntnistheorien – in deren Tradition Quine steht, die eraber auch kritisiert – sind seiner Ansicht nach in dem Versuch einerGrundlegung unseres Wissens gescheitert.9 Quine veranlaßte das zu ei-nem allgemeinen Verzicht in bezug auf Fragestellungen der Erkenntnis-theorie kombiniert mit einer gewissen Form von Wissenschaftsgläubig-keit. Er scheint manchmal davon auszugehen, mit dem Scheitern einerersten Philosophie sei keine Form von Erkenntnistheorie mehr möglich.Diese zwei Optionen, Suche nach absoluter Gewißheit oder Aufgabe derErkenntnistheorie, sind aber sicher nicht erschöpfend, was große Teileder heutigen Erkenntnistheorie beweisen. Auch in dieser Arbeit soll eindritter Weg für die Erkenntnistheorie beschritten werden.

3. Methodologischer Naturalismus

Während der Quinesche Naturalismus in der Erkenntnistheorie sich inerster Linie der kausalen Entstehungsgeschichte unserer Meinungen zu-wendet und nicht dem Problem, wie sie gerechtfertigt werden können,möchte ich einen anderen naturalistischen Ansatz vorschlagen. Statt dieempirische Frage zu stellen, welche Mechanismen unsere Überzeugun-gen hervorgerufen haben, beginne ich mit der ebenfalls empirischen Fra-ge, welche Rechtfertigungen und Rechtfertigungsverfahren wir gewöhn-lich als gut anerkennen. Diese Beurteilung von konkreten Rechtfertigun-gen als mehr oder weniger gut hat immer schon normativen Charakter,der sich in der rein naturwissenschaftlichen Aufklärung der kausalen Zu-sammenhänge zwischen unseren Überzeugungen und den sie verursa-chenden Ereignissen allein nicht wiederfinden läßt. Wir sollten uns viel-mehr auf unsere Werturteile beziehen, wie überzeugend eine bestimmteBegründung unserer Meinungen ist. Sie bieten uns erste Anhaltspunkte,in welchen Fällen, wir von erfolgreichen und in welchen wir von min-derwertigen Rechtfertigungsversuchen sprechen sollten.

Derartige Einschätzungen von Begründungen manifestieren sich imAlltagsleben und ebenso in politischen Kontexten, wo wir unsere jeweili-gen Behauptungen zu begründen haben und diese Begründungen vonden Zuhörern oder Wählern je nach Bewertung goutiert oder abgelehnt

9 Die Lebensfähigkeit einer empiristischen Erkenntnistheorie wird einThema des nächsten Kapitels sein.

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werden können. Ähnliche Beispiele finden wir um so mehr in stärker in-stitutionalisierten Rechtfertigungsverfahren wie der Wahrheitsfindungvor Gericht oder in den Wissenschaften, bei denen unsere Vorstellungenvon einer gelungenen Rechtfertigung noch stärker ausgeprägt sind. In ei-nem ersten Schritt der Untersuchung werde ich unsere üblichen epi-stemischen Bewertungen und die Rechtfertigungsstruktur unserer Er-kenntnis auf einem recht allgemeinen Niveau beschreiben. Dabei geht esnur um relativ schwache und allgemein akzeptierte Vorstellungen zurRechtfertigung und nicht so sehr um die idiosynkratischen Konzeptio-nen von Rechtfertigung einzelner Personen. Es handelt sich aber bereitsan dieser Stelle um ein hermeneutisch geprägtes und rekonstruktives Un-ternehmen, denn wir alle verwenden zwar ständig Rechtfertigungen undBegründungen und bewerten sie, aber nur die wenigsten Menschen ha-ben explizite Ansichten darüber, was gute Rechtfertigungen ausmacht.

Hier ist die metatheoretische Theoriebildung gefragt, die ein Inter-pretationsmodell vorlegt, in das unsere Begründungspraxis eingebettetwerden kann und durch das sie verstehbar wird. Natürlich können auchdie in dieser Metatheorie ermittelten Bewertungen, die unsere her-kömmlichen Bewertungen zum Ausgangspunkt nehmen, nicht als sakro-sankt erklärt und schlicht übernommen werden, sondern sind jeweils ei-ner philosophischen Reflexion oder Metabewertung zu unterziehen. Ankeiner dieser Stellen geht es um eine rein empirische Theorie, sondernimmer auch um eine normative Klärung und Weiterentwicklung unsererepistemischen Ansichten. Eine solche kritische Weiterentwicklung undAuseinandersetzung mit unserer Rechtfertigungs- und Begründungspra-xis wird aber erst durch ein Offenlegen und Explizitmachen wesentli-cher Teile dieser Praxis ermöglicht.

In der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftsphilosophie treffenwir aber auch immer wieder auf eine grundsätzlich andere Vorgehens-weise, die eben nicht die konkrete Wissenschaftspraxis zum Ausgangs-punkt nimmt. Man verfolgt statt dessen eine stärker aprioristische Stra-tegie und beruft sich auf allgemein plausible erkenntnistheoretische An-nahmen, ohne sie laufend an konkreten Beispielen zu überprüfen. Wel-che Gefahren das in sich birgt, möchte ich durch einen kleinen Exkursenthüllen, der den Unterschied von naturalistischen und aprioristischorientierten Methodologien verdeutlicht. In der Wissenschaftsphiloso-phie finden wir viele schöne und berühmte Beispiele für metatheoreti-sche Plausibilitätsüberlegungen ohne Rückbindung an konkrete Fallstu-dien. Ulrich Gähde hat dafür einmal das Schlagwort „Wissenschaftsphi-losophie ohne Wissenschaft“ geprägt. Nun gibt es sicher „schwere Fälle“

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dieser Vorgehensweise, mit denen zu beschäftigen geradezu unfair er-schiene, weshalb ich mich einem versteckteren Fall zuwenden möchte,der noch dazu eine große anfängliche Plausibilität auf seiner Seite hat,nämlich Poppers Falsifikationismus. Der Wissenschaftshistoriker Kuhnhat sicher schon einiges dazu beigetragen, unsere Wachsamkeit gegen-über der recht einfachen erkenntnistheoretischen Auffassung Poppersvon der Wissenschaftsdynamik zu schärfen. Er argumentiert dafür, daßPoppersche Falsifikationen in der Wissenschaftsgeschichte so gut wie nievorkommen. Doch woran liegt das? Verhalten sich die Wissenschaftleraus Gründen des persönlichen Ehrgeizes oder anderen externen Motiva-tionen erkenntnistheoretisch skrupellos oder sogar irrational? Der„Apriorist“ stimmt solchen Vermutungen vorschnell zu, während derNaturalist zunächst die Hypothese verfolgen wird, daß die Wissenschaft-ler sich in den meisten Fällen durchaus einigermaßen vernünftig ent-schieden haben, aber die Poppersche Rationalitätskonzeption defizitärsein könnte. Um diese Vermutung zu testen, hat er die tatsächlichen wis-senschaftlichen Entscheidungssituationen ausführlicher zu analysieren,als das durch kurze Verweise auf Beispiele – wie wir sie auch bei Popperfinden – möglich ist.10 Wie ein derartiges Verfahren aussehen kann,möchte ich zumindest an einem Kritikpunkt an der Popperschen Wissen-schaftsmethodologie exemplarisch vorführen.

a) Poppers Falsifikationismus

Das Beispiel von Poppers Logik der Forschung und der großen Resonanz,die Kuhns Kritik daran gefunden hat, bringt eindeutige naturalistischeTendenzen unserer Metaphilosophie zum Ausdruck. Popper kann zwargute Argumente zugunsten seiner falsifikationistischen Anschauung derWissenschaften beibringen, aber wenn sich die Wissenschaftler tatsäch-lich ganz anders verhalten, als er es vorschreibt, betrachten wir das alseinen bedeutsamen Einwand gegen seine Theorie, der Poppers apriori-schere Argumente dafür aus dem Felde schlagen kann. Auch Popper istnatürlich von seiner Kenntnis konkreter wissenschaftlicher Theorienausgegangen, als er seine Wissenschaftskonzeption entwickelt hat. Aberer hat von Beginn an normativen Zielen – wie zu zeigen, daß die Astro-logie oder die Psychoanalyse keine wirklich wissenschaftlichen Theorienseien – großes Gewicht in seiner Vorstellung von wissenschaftlicher Ra-

10 Natürlich ist damit auch das mögliche Ergebnis, daß trotz aller wohl-wollenden Interpretation des Wissenschaftlerverhaltens sich keine Rationalisie-rung finden läßt und somit schließlich die Vermutung, er handele unvernünftig,als richtig erweist, nicht von vornherein ausgeschlossen.

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tionalität eingeräumt. Seine Falsifikationstheorie der empirischen Wis-senschaften, wonach Theorien als gewagte Hypothesen ins Leben tretensollen und sich dort empirischen Falsifikationsversuchen zu stellen ha-ben, wenn sie sich bewähren möchten, scheint für eine idealisierte Sichtder Wissenschaften zunächst ausgesprochen plausibel zu sein. Auch dieForderung, daß Theorien im Prinzip falsifizierbar sein sollten, um über-haupt empirischen Gehalt zu besitzen und dann bei tatsächlichem Auf-treten von Widersprüchen mit der Erfahrung als falsifiziert zu gelten ha-ben und aufgegeben werden müssen, wirkt recht überzeugend. Schließ-lich besitzen nur falsifizierbare Theorien auch prognostische Fähigkeitenund sind nicht ausschließlich auf post hoc „Erklärungen“ vergangenerEreignisse beschränkt. Eine Wettertheorie, die nur für das Wetter derletzten Tage sagen kann, wie es zu erklären ist, und dabei darauf festge-legt ist, jedes Wetter zu akzeptieren, ist kaum als interessante empirischeTheorie zu betrachten. Sie bringt als Prognose nur Tautologien wie:„Morgen regnet es oder es regnet nicht“ zustande. Gestattet die Theoriedagegen auch nur eine gehaltvolle Vorhersage über das morgige Wetter,die jedenfalls irgendein Wetter für den nächsten Tag ausschließt, ist sienatürlich auch falsifizierbar im Sinne Poppers. So weit so gut. Die aufge-zeigte Plausibilität der Popperschen Methodologie betrifft aber nur dieeher apriorisch zu nennende Betrachtungsweise. Sobald man sich me-taempirischen Untersuchungen der Wissenschaften zuwendet, verliertdie Poppersche Metatheorie schnell an Glaubwürdigkeit.

Im Fall der Popperschen Theorie geschah das auf zwei Weisen. Kritikging einmal von den schon erwähnten wissenschaftshistorischen Analy-sen aus, die darauf hinweisen, daß tatsächliche wissenschaftsdynamischeProzesse nicht die Gestalt von Popperschen Falsifikationen besitzen.11

Man muß schon einen gesunden popperianischen Dogmatismus aufwei-sen, um darauf mit einem Achselzucken und der Bemerkung: „Um soschlimmer für die Wissenschaften“, zu reagieren. Der naturalistisch ge-sinnte Wissenschaftsphilosoph wird dagegen jetzt hellhörig, denn wis-senschaftliche Vorgehensweisen sind, wenn auch selbstverständlich nichtin jedem Einzelfall, zunächst unsere paradigmatischen Vorbilder wissen-schaftlicher Rationalität. Sie können als solche nicht ohne eingehendereDiagnose als irrational eingestuft werden, wollen wir uns mit unseremRationalitätsbegriff nicht jeglicher Anbindung an unseren gewöhnlichenBegriff von Rationalität begeben. Ein völlig neu eingeführter Rationali-tätsbegriff wäre ein reines Kunstprodukt und der Wissenschaftler könntezu Recht fragen, wieso er sich dafür interessieren sollte. Das gilt dann

11 Für Diskussionen dieser Art s. Kuhn, Lakatos, Feyerabend.

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nicht mehr, wenn man ihm zeigt, daß er gemäß einer konsequenten An-wendung seiner eigenen Normen nicht mehr rational handelt. Erst beieiner solchen Anbindung unserer normativen Methodologie an seine ei-gene Praxis kann diese Methodologie ihm auch Hinweise auf Inkonsi-stenzen oder Inkohärenzen in seiner eigenen Vorgehensweise aufzeigen.

Doch der alleinige Hinweis der Wissenschaftshistoriker, daß die Wis-senschaften nicht falsifikationistisch verfahren, bleibt höchst steril, so-lange nicht aufgeklärt wird, wieso Poppers Methodologie nicht befolgtwird und auch nicht so zwingend ist, wie sie zunächst wirkt. Die neuereWissenschaftsphilosophie bietet anhand differenzierterer metatheoreti-scher Modelle wissenschaftlicher Theorien tiefergehende Einblicke indie Struktur und Funktionsweise von Theorien. Sie ermöglichen unteranderem eine präzise Diagnose, woran der Falsifikationismus krankt undweshalb das tatsächliche Vorgehen der Wissenschaftler weder als falsifi-kationistisch noch als irrational anzusehen ist.

An dieser Stelle setzt die zweite Kritik an Popper an, die die Popper-sche Theorie in bezug auf ihre methodologische Brauchbarkeit für dieBeschreibung wissenschaftsdynamischer Prozesse analysiert. PoppersFehler, aber auch der einiger Vorgänger wie der logischen Empiristen istes, von einer zu einfachen und zu stark idealisierten Konzeption dessenauszugehen, was eine empirische Theorie ausmacht. Seine metatheoreti-sche Konzeption empirischer Theorien ist der Metatheorie der Mathe-matik entlehnt, nach der Theorien einfach aus deduktiv abgeschlossenenSatzklassen bestehen, die weitgehend amorph und ohne innere Struktursind. Popper geht sogar noch weiter und behauptet, es handle sich dabeinur um Allsätze. Diese können dann durch Beobachtungen, die in Formsingulärer Existenzsätze niedergelegt werden, mit Hilfe des Modus Tol-lens widerlegt werden. Daß es zumindest auch Existenzsätze in empiri-schen Theorie gibt, die dort eine wesentliche Funktion übernehmen, isteigentlich zu offensichtlich, um hier noch einmal erörtert zu werden.12

Aber die metamathematische Sicht auf Theorien ist auch aus anderenGründen unangemessen. Empirische Theorien besitzen zunächst einereichhaltige innere Struktur mit mehreren Komponenten, die aufzuklä-ren erforderlich ist, um die empirische Behauptung der Theorie zu expli-zieren und zu verstehen. So wird in vielen metatheoretischen Konzeptio-nen für solche Theorien zwischen zwei Typen von Begriffen unterschie-den: Beobachtungsbegriffe oder empirische Begriffe und theoretische

12 Man denken dazu nur an die in Gesetze auftretenden Naturkonstantenwie die Newtonsche Gravitationskonstante, die Lichtgeschwindigkeit oder dasPlancksche Wirkungsquantum.

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Begriffe. Während die empirischen Begriffe bereits ohne die Theorie zurVerfügung stehen, werden die theoretischen erst durch die Theorie ein-gebracht und eventuell implizit definiert. Das ist nur eine vorläufige undallein unzureichende Unterscheidung, um zu verstehen, wie empirischeTheorien aufgebaut sind. Sie zeigt aber schon einen wichtigen Unter-schied zwischen empirischen und mathematischen Theorien, den man ineinem rein metamathematischen Konzept nicht wiedergeben kann.

Die sogenannte strukturalistische Auffassung von empirischen Theo-rien, die an Patrick Suppes semantische Darstellung von Theorien an-knüpft und von Sneed, Stegmüller, Moulines und anderen weiterentwik-kelt wurde, hat dazu eine Reihe weiterer interessanter Angebote ge-macht, auf die ich in Kapitel (VII) ausführlicher eingehen werde. Eineinfacher Punkt soll jedoch schon an dieser Stelle Erwähnung finden:Für mathematische Theorien ist ihr Anwendungsbereich vorgegeben. Sietreffen auf alle Strukturen zu, die die Definition ihrer Grundelementeerfüllen. Das heißt z. B., daß die Theoreme der Zahlentheorie von allenGegenständen erfüllt werden, die den Peano Axiomen genügen. Empiri-sche Theorien funktionieren in diesem Punkt vollkommen anders. IhrAnwendungsbereich wird nicht anhand einer formalen Definition allge-meiner Strukturen festgelegt, sondern wird außerhalb der mathemati-schen Theorie etwa durch Angabe paradigmatischer Elemente oder Ty-pen von physikalischen Systemen beschrieben. Die Newtonsche Partikel-mechanik soll z. B. auf Pendel, Billiardbälle, Planeten, das Erde-MondSystem, Kanonenkugeln usw. angewandt werden. Diese realen Systeme(oder Typen von solchen) können zunächst vorgängig zur Behandlungdurch die Theorie und unabhängig von der Begrifflichkeit der mathema-tisch formulierten Gesetze der Theorie identifiziert werden.

Es ist auch keineswegs intendiert, daß alle realen Systeme, die sichmit der Begrifflichkeit der Newtonschen Theorie wie Kräften und Mas-sen beschreiben lassen, deshalb gleich als Anwendungen dieser Theoriezu betrachten sind. Selbst wenn es gelingt, einen wirtschaftlichen Bin-nenmarkt mit Hilfe von „Kräften“ und sogar „Massen“ in irgendeinerWeise zu beschreiben, wird er dadurch noch nicht zum Anwendungsob-jekt der Newtonschen Mechanik – oder sogar zu einem Testfall für dieBrauchbarkeit dieser Theorie. Hier sind bestenfalls heuristisch hilfreicheAnalogiebeziehungen zu erkennen. Diese Einsicht, daß der Bereich derintendierten Anwendungen einer Theorie ein relativ selbständiger Be-standteil in einer empirischen Theorie ist, zeigt schon einen, historischtatsächlich oft beschrittenen, Weg auf, der Popperschen Falsifikation aufsinnvolle Weise zu entkommen. Newton hatte ursprünglich angenom-

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men, seine Theorie noch auf viele andere als die oben genannten Phäno-mene erfolgreich anwenden zu können, wie z. B. die Bereiche chemi-scher und optischer Phänomene und Ebbe und Flut. Als sich diese Ge-biete und später noch andere Bereiche, in denen wir elektrische odermagnetische Kräfte finden, nicht im Rahmen der Newtonschen Theoriebehandeln ließen, haben Newton und seine Anhänger nicht seine Theo-rie verworfen, sondern – und wem scheint das nicht sinnvoll zu sein? –schlicht auf „mechanische“ Phänomene eingeschränkt. Selbst im Bereichder mechanischen Phänomene war die Geschichte nicht ganz so einfach,und es mußten zwischenzeitlich noch verwegenere Abgrenzungen vorge-nommen werden (s. Moulines 1979), die in der Popperschen Methodo-logie keinen angemessenen Platz finden.

Ein weiteres Beispiel für dynamische Entwicklungen in der Wissen-schaft, die sich am besten als Veränderungen des Bereichs der intendier-ten Anwendungen beschreiben lassen, findet sich in der Elektrodynamik.Obwohl die klassische Maxwellsche Elektrodynamik hervorragend funk-tionierte, zeigte sich zu Anfang dieses Jahrhunderts, daß sie für die elek-trisch geladenen Teilchen innerhalb eines Atoms nicht eingesetzt werdenkonnte. Hier waren es auf der einen Seite die Abstrahlungsphänomeneder schwarzen Körperstrahlung und der photoelektrische Effekt, die die-sen Ausschluß nahelegten und auf der anderen Seite die intertheoreti-schen Verbindungen des Bohrschen Atommodells, die ihn sogar verlang-ten, um Inkonsistenzen zu vermeiden. Das war Bohr bei dem Erarbeitenseiner Atomtheorie auch bewußt, wenn auch vielleicht nicht unter genauderselben Beschreibung, wie ich sie gegeben habe (s. dazu Bartelborth1989). Für ihn gehörten daher die gebundenen Elektronen nicht mehrzum Anwendungsbereich der klassischen Elektrodynamik.

Natürlich sind derartige Immunisierungen von Theorien – die wider-spenstige intendierte Anwendungen schlichtweg aufgeben – nicht in al-len Fällen sinnvoll. So hilfreich das Streichen der Chemie aus der New-tonschen Theorie auch war, so blieb es doch unbefriedigend, die gebun-denen Elektronen im Atom einer Behandlung durch die Elektrodynamikzu entziehen, während freie Elektronen weiterhin der MaxwellschenTheorie gehorchen. Dieser unbefriedigende Zustand war der natürlicheAusgangspunkt der Suche nach einer beide Fälle umfassenden Theorie,die letztlich zur Entwicklung der Quantenelektrodynamik geführt hat.Trotzdem scheint auch vom heutigen Kenntnisstand die Forderung maß-los, die klassische Elektrodynamik hätte bei Bekanntwerden der wider-spenstigen Phänomene eigentlich vollständig aufgegeben werden müs-

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sen. Sie ist selbst heute noch eine durchaus zutreffende Theorie für sehrviele Anwendungsbereiche.

Popper hat sich mit seiner zu idealisierten Sichtweise von Theorienden Blick auf eine Analyse dieser Phänomene selbst verstellt und kanndiese Beispiele in seiner Auffassung von Theorien nicht erfassen. Nurwenn man Poppers einfache Konzeption von Theorien akzeptiert, bleibtseine Forderung des Falsifikationismus damit noch so intuitiv überzeu-gend wie zunächst angenommen.13 Eine Metatheorie, die demgegenüberin enger Anbindung an konkrete Beispiele die Struktur von Theorienund ihrer Bedeutung in der Theoriendynamik ermittelt, wird Theorie-komponenten wie den Anwendungsbereich einer Theorie und ihre empi-rische Funktion in den Blick nehmen. Die strukturalistische Auffassunghat tatsächlich noch eine ganze Reihe weiterer innerer Strukturen vonTheorien offengelegt, die ebenfalls verständlich machen, weshalb dieWissenschaften nicht falsifikationistisch verfahren und trotzdem rationalbleiben können. Zu dem methodologischen Naturalismus – wie ichmeine Metaphilosophie nenne – gehört es also, unsere tatsächliche Me-thodologie und ihre Bewertung zum Ausgangspunkt einer metatheoreti-schen Untersuchung zu nehmen, und sie anhand von Beispielen immerwieder in bezug auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Demgegenüberfällt der Apriorist zu schnell dem Fehler anheim, seine normativen An-sichten für verbindlich zu erklären, ohne ihre Anwendbarkeit zu über-prüfen.

b) Reflektives Überlegungsgleichgewicht

In der Erkenntnistheorie wiegen die methodologischen Probleme sogarnoch schwerer als in der Wissenschaftstheorie, denn auf welche Begrün-dungsformen soll man sich beziehen, wenn man erst eine allgemeineTheorie der Begründung aufstellen und selbst rechtfertigen möchte?Wenn wir nicht über eine erste Philosophie verfügen, die ohne jede eige-ne Voraussetzung als Basis für die Begründung der Rechtfertigungstheo-rie dienen kann, sind wir daher bei der Konstruktion erkenntnistheoreti-scher Theorien mehr denn je auf einen methodologischen Naturalismusangewiesen. Doch wie kann der in diesem Fall aussehen? Chisholm(1979, 171) unterscheidet zwei Fragen, die auf verschiedene Vor-gehensweisen für die Erkenntnistheorie deuten:

13 Das Beispiel der Popperschen Methodologie zeigt allerdings auch, wieeine falsche aber gut verständliche und intuitive Theorie einen wichtigen Anstoßfür die metatheoretische Forschung darstellen kann.

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1. Welchen Umfang hat unser Wissen? und2. Was sind die Kriterien des Wissens?

Für den Empirismus ist es charakteristisch anzunehmen, wir hätten eineAntwort auf die zweite Frage und könnten auf dieser Grundlage versu-chen, die erste zu beantworten. Chisholm sieht sich dagegen mit Mooreauf der anderen Seite. Er betont die Gewißheit unserer Common-SenseÜberzeugungen, denen wir gegen skeptische Spitzfindigkeiten vertrauensollten, und versucht Kriterien für Wissen auf eine Weise anzugeben,daß unsere bisherigen Annahmen über den Umfang unseres Wissens auf-rechterhalten werden können. Doch diese Vorgehensweise ist sicher vielzu blauäugig, denn der Common-Sense hat zu allen Zeiten viele offen-sichtlich falsche und ungerechtfertigte Ansichten enthalten. Warumsollte also gerade er für philosophische Reflexionen sakrosankt sein?

Da auch die empiristische Vorgehensweise schließlich nicht überzeu-gend wirkt (s. dazu III.B) sollte ein metaphilosophisches Verfahren ir-gendwo dazwischen zu suchen sein. Eine erste schon relativ klare Be-schreibung, wie es aussehen kann, bietet uns Russell in seiner Erörterungder Bedeutung von Wahrheit:

Der Vorgang, den wir zu durchlaufen haben, ist seinem Wesen nachder einer Analyse: wir haben verschiedene komplexe und mehr oderweniger verworrene Meinungen über das Wahre und das Falscheund müssen sie auf Formen zurückführen, die einfach und klar sind,ohne einen Widerstreit zwischen unseren ursprünglichen komplexenund verworrenen Meinungen und unseren zum Schluß einfachenund klaren Behauptungen hervorzurufen. Diese schließlichen Be-hauptungen sind teils nach ihrer eigenen Evidenz, teils nach ihremVermögen zu prüfen, das ‘Gegebene’ zu erklären; und das ‘Gegebe-ne’ sind bei einem solchen Problem die komplexen und verworrenenMeinungen, mit denen wir beginnen. Diese Meinungen müssen beiihrer Klärung notwendig einer Veränderung unterliegen, aber dieseVeränderung sollte nicht größer sein als durch ihre anfängliche Ver-wirrung gerechtfertigt ist. (Russell 1910, 100)

Eine entsprechende Darstellung findet sich bei Nelson Goodman (1988)in seiner Rechtfertigung des von Hume so gebeutelten Induktionsschlus-ses. Dabei zieht er die Rechtfertigung deduktiver Schlüsse zum Vergleichheran und kommt zu dem Ergebnis:

Das sieht eindeutig zirkulär aus. Ich sagte, deduktive Schlüsse wür-den aufgrund ihrer Übereinstimmung mit gültigen allgemeinen Re-

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geln gerechtfertigt, und allgemeine Regeln würden gerechtfertigtaufgrund ihrer Übereinstimmung mit gültigen Schlüssen. Doch dasist ein guter Zirkel… Eine Regel wird abgeändert, wenn sie zu einemSchluß führt, den wir nicht anzuerkennen bereit sind; ein Schlußwird verworfen, wenn er eine Regel verletzt, die wir nicht abzuän-dern bereit sind. Der Vorgang der Rechtfertigung besteht in feinengegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und anerkanntenSchlüssen; die erzielte Übereinstimmung ist die einzige Rechtferti-gung, derer die einen wie die anderen bedürfen. (Goodman 1988,86f)

Sowohl unsere anerkannten Schlüsse wie auch unsere Schlußverfahrenkönnen nach Goodman in einem Prozeß der gegenseitigen Abstimmungschließlich als ungültig verworfen werden; wir müssen uns nicht, wieChisholm vorschlägt, für eine Seite entscheiden, und diese als ohnewenn und aber gegeben voraussetzen. Neben den deskriptiven Aspektenkommen in diesem Verfahren normative ins Spiel, denn man begnügtsich nicht mit einer unkritischen Beschreibung und Übernahme der bis-herigen Schlüsse und Regeln, sondern versucht in mehreren Arbeitsgän-gen die guten von den schlechten Rechtfertigungen zu trennen und dieschlechten Regeln und Schlüsse auszufiltern. Schlüsse und Regeln, diediesen Prozeß überstehen, gelten dadurch als begründet.

Es ist daher kein Zufall, daß dieses Verfahren auch für ethischeTheorien, die als ein Paradebeispiel für normative Theorien stehen, An-wendung findet. Rawls (1975, 65ff) machte das Goodmansche Verfah-ren unter dem Namen des reflektiven Gleichgewichts bekannt und be-gründete mit seiner Hilfe seine Theorie der Gerechtigkeit. In der Er-kenntnistheorie können wir nicht umhin, in ähnlicher Weise zu verfah-ren und mit bestimmten anerkannten Rechtfertigungen zu beginnen, umdann ihnen entsprechende Rechtfertigungsverfahren vorzuschlagen, dieuns zudem plausibel erscheinen. In deren Licht haben wir wiederum un-sere anerkannten Rechtfertigungen zu untersuchen, ob sie wirklich guteGründe bereitstellen. Anschließend müssen wir erneut überlegen, ob un-sere Rechtfertigungsverfahren im Lichte dieser Überlegungen wirklich soüberzeugend sind, wie wir zunächst angenommen haben usf. Das kannein längerer Reflexionsprozeß sein, der aber vielleicht schon nach weni-gen Schritten zu einer einigermaßen stabilen Metatheorie führt. Tatsäch-lich finden alltägliche und philosophische Dispute oft in entsprechenderWeise statt, wobei allerdings im allgemeinen nicht gleich mehrere Refle-xionsstufen durchlaufen werden. Denken wir als Beispiel an PlatonsStaat (erstes Buch 331c), wo Sokrates gegen die Ansicht argumentiert,

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Gerechtigkeit bestehe darin, die Wahrheit zu sagen und das, was manvon jemandem empfangen hat, diesem zurückzugeben. Sokrates verweistdarauf, daß wir nach dieser Konzeption von Gerechtigkeit einem Men-schen, der inzwischen wahnsinnig geworden ist, auch seine Waffen zu-rückgeben müßten, die er uns geliehen hat. Das kann aber nicht gerechtsein, und daher ist im Sinne einer reductio ad absurdum diese Gerechtig-keitsvorstellung zu verwerfen. Hier wurde eine auf den ersten Blickplausibel erscheinende Regel für gerechtes Verhalten zurückgewiesen,weil sie in Konflikt mit unseren Intuitionen über gerechtes Verhalten ineinem bestimmten Anwendungsfall steht.

Umgekehrt berufen wir uns in Diskussionen, ob eine bestimmteHandlung moralisch richtig war, meist auf allgemeinere Regeln, um un-sere Meinung zu stützen, wobei wir hoffen, daß diese Regeln so ein-leuchtend sind, daß auch unser Widerpart sich von ihnen überzeugenlassen wird. Gegen jemanden, den wir dabei beobachten, wie er aus Ver-gnügen seinen Hund schlägt, werden wir z. B. einwenden, es sei dochoffensichtlich Unrecht, einer leidensfähigen Kreatur nur zum SpaßSchmerzen zuzufügen. Ein solcher Appell wird zwar wahrscheinlich nurin den seltensten Fällen praktischen Erfolg haben, aber wenn es demTierquäler aus irgendeinem Grund um eine moralische Rechtfertigungseiner Handlung zu tun ist, ist es nun an ihm, sich gegen den Vorwurf zuwehren. Als rationaler Diskussionspartner könnte er versuchen, die ge-nannte Regel anzugreifen – etwa indem er anhand von entsprechendenAnwendungsfällen zeigt, daß sie nicht in dieser Allgemeinheit gültig ist –oder ihr zustimmen und etwa erläutern, wieso sein Verhalten trotz desAnscheins nicht unter die Regel subsumierbar sei. Und selbst wenn ernur eine fadenscheinige Ausrede daherstottert, zeigt das schon, daß ihnder Hinweis auf die allgemeine Regel nicht einfach kalt läßt.

Dieses Verfahren wirkt noch etwas spärlich und bedarf einer weite-ren Ausarbeitung. In seiner bisherigen Form wird es meist als enges Re-flektives Gleichgewicht zwischen Regeln und Einzelfällen bezeichnet, daszu einem Verfahren des weiten reflektiven Gleichgewichts zu erweiternist. Dafür werden größere Teile unseres Hintergrundwissens in die Beur-teilung mit eingebracht, die nicht nur aus den jeweiligen Bereichen stam-men, um deren Regeln es geht, wie das bisher der Fall war. Daniels hatin (1979) einen derartigen Vorschlag für die Ethik unterbreitet, den ichauf die Erkenntnistheorie übertragen möchte. Danach müssen wir demoft holistischen Charakter von Begründungen auch auf der Metaebenegerecht werden, indem wir alle relevanten Teile unseres Hintergrundwis-sens in einen solchen Reflexionsprozeß einbringen. Als Ausgangspunkt

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des Verfahrens sind dann die folgenden drei Komponenten unseresÜberzeugungssystems zu nennen:

(a) Eine Menge wohlüberlegter epistemischer Bewertungeneinzelner Rechtfertigungen,

(b) eine Menge von erkenntnistheoretischen Prinzipien und(c) unser weiteres relevantes Hintergrundwissen,

das z. B. in Form von empirischen Theorien über unsere Wahrnehmungund unsere Erinnerungsfähigkeiten und anderen typischen Hilfstheorienwie etwa der Statistik vorliegt.14 Unter den wohlüberlegten und reflek-tierten epistemischen Bewertungen sind Einschätzungen von bestimmtenrechtfertigenden Argumenten zu verstehen, bei denen wir uns relativ si-cher sind, daß die bekannten Fehlerquellen, wie besondere persönlicheBetroffenheit, mangelhafter Kenntnisstand etc., keine Rolle gespielt ha-ben und wir zu einem ausgewogenen Urteil anhand einer Abwägung alleruns bekannten relevanten Umstände gelangt sind. Wie für die Rechtferti-gung empirischer Theorien nicht einfach alle Daten unterschiedslos her-angezogen werden, sondern nur solche, die schon einen Ausleseprozeßdurchlaufen haben, werden also auch hier nicht alle epistemischen Be-wertungen, die wir vorfinden, als Ausgangsdaten zugelassen, sondernnur solche, die einen vortheoretischen Filterprozeß überstanden haben.Dabei werden die aussortiert, für die wir bereits, ohne über eine ausge-feilte Rechtfertigungstheorie zu verfügen, erkennen können, daß sie un-zuverlässig sind. Unter (b) werden verschiedene epistemische Prinzipienbetrachtet und in der Suche nach einem Reflexionsgleichgewicht darauf-hin untersucht, wie gut sie im Lichte unserer Hintergrundtheorien – diez. B. aus gewissen Metaprinzipien und relevantem empirischen Wissenbestehen – die wohlüberlegten epistemischen Bewertungen erklärenoder systematisieren können. Das Ziel besteht in einem Überzeugungssy-stem, in dem die drei Komponenten in möglichst kohärenter Form vor-liegen; d.h., wir suchen nach Prinzipien, die unsere epistemischen Be-wertungen in optimaler Form erklären, wobei aber in verschiedenen Re-flexionsschritten auch einige der wohlüberlegten Bewertungen selbstwieder aufgegeben oder revidiert werden können. Die allgemeine Strate-gie bei der Suche nach einem Reflexionsgleichgewicht wird dabei ver-mutlich eher konservativ sein und versucht mit möglichst wenig Ände-rungen im Gesamtsystem unserer Überzeugungen auszukommen, wobei

14 Sie zeigt etwa, daß viele typische Schlußweisen unseres Alltags, die stati-stische Aussagen betreffen, mit großer Vorsicht zu genießen sind (s. Tvers-ky/Kahneman 1982)

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die Größe der Änderungen sicher selbst wiederum im Lichte bestimmterMetabewertungen zu beurteilen ist.15

So werden wir im Normalfall Bewertungen unproblematisch erschei-nender Wahrnehmungsurteile als zuverlässig nicht allzu schnell aufge-ben, nur weil das unsere epistemischen Prinzipien vereinfachen könnte.Dem steht unsere Metabewertung entgegen, daß gerade Zuverlässig-keitsannahmen dieses Typs unersetzliche Eckpfeiler unserer Erkenntnissind. Bei ihrer Preisgabe würden zu wenige unserer Vorstellungen vonepistemischer Beurteilung aufrechterhalten. Trotzdem kann uns schließ-lich die epistemische Theorie auch Argumente an die Hand geben,grundlegende Bewertungen einer Reflexion zu unterziehen, und sieeventuell zu revidieren. Für diesen Vorgang, der einer kleinen erkennt-nistheoretischen Revolution gleichkäme, lassen sich bisher wohl kaumeinfache und strikte Spielregeln angeben. Jedenfalls muß das Verfahrenfortgesetzt werden, bis ein Reflexionsgleichgewicht der drei Komponen-ten erreicht ist. Das ist natürlich nur eine recht abstrakte Beschreibungdieses komplexen Verfahrens, das wir in unterschiedlichen Bereichender Philosophie zur dialektischen Begründung von Normen antreffen.

Interessant scheint mir noch der Hinweis, daß nicht nur einschlägigeempirische Theorien wie die über unsere Wahrnehmung und unsere In-formationsverarbeitung erkenntnistheoretisch bedeutsam sein können.Wir finden z. B. in der Philosophiegeschichte immer wieder Entwicklun-gen, für die ebenso das zeitgeschichtliche Weltbild naturwissenschaftli-cher und religiöser Art relevant ist. Um einige Beispiele zu erwähnen:Wenn Kant zu Beginn seiner Kritik der reinen Vernunft fragt „Wie sindsynthetische Urteile a priori möglich?“, so geschieht das aufgrund seinerAnnahme, daß ihre Existenz offensichtlich ist. Dafür spielt seine Auffas-sung der Geometrie und der naturwissenschaftliche Hintergrund derNewtonschen Mechanik als Paradigma für Wissen eine wesentliche Rol-le. Angesichts der Entwicklung der Wissenschaften seit Kant stehen unsheute eine Reihe neuer Gesichtspunkte zur Verfügung: Die mathemati-sche Geometrie gilt inzwischen eher als analytisch und die euklidischeGeometrie sowie die Newtonsche Theorie haben ihren ausgezeichnetenStatus verloren; außerdem sind ihre grundlegenden Charakteristika wieihre deterministische Vorstellung von Kausalität nicht mehr aufrecht zuerhalten. Auch die Cartesianische Erkenntnistheorie enthält eine Reihevon Annahmen, die auf der Grundlage seines Weltbildes sicher andersals heute zu bewerten sind. Da ist zunächst der Ausgangspunkt Descartes

15 Daß die konservative Vorgehensweise auch erkenntnistheoretisch zu be-gründen ist, wird in (V.A.3) zu erläutern sein.

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in einer Reflexion auf die Inhalte unserer eigenen mentalen Vorstellun-gen, für die er annimmt, daß sie uns vollkommen transparent sind. Daßdiese Annahme nicht unproblematisch ist, ist uns heute nicht nur durchdie Freudsche Redeweise vom Unterbewußten geläufig. Ebenso ist Des-cartes Idee, vermittels eines Gottesbeweises zu einer Begründung unse-rer Erkenntnis zu gelangen, heutzutage kaum noch plausibel. In diesenBeispielen, deren Liste sich leicht verlängern ließe, enthüllt sich eine ein-deutige Abhängigkeit erkenntnistheoretischer Überlegungen von unse-rem Hintergrundwissen in bezug auf physikalische, psychologische oderreligiöse Ansichten. Sie zeigt, warum die Berücksichtigung eines weitenReflexionsgleichgewichts in unserer Methodologie wichtig ist, auchwenn wir damit noch nicht die Mechanismen aufgeklärt haben, wie dieempirischen Theorien letztlich Eingang in die Erkenntnistheorie finden.

Es bleiben eine Reihe von Fragen offen, wie die, ob es immer einGleichgewicht geben wird oder ob nicht vielmehr die Inkohärenz immerso groß bleiben könnte, daß wir nicht von einem Reflexionsgleichge-wicht reden möchten; oder ob es mehrere Gleichgewichtszustände ge-ben kann. Es ist ebenso unklar, wieviele Reflexionsstufen durchlaufenwerden müssen, bis sich ein entsprechendes Gleichgewicht einstellt. Desweiteren kann der Bereich unseres Wissens, der Berücksichtigung findensoll, ständig erweitert werden oder sich durch neue Erkenntnisse verän-dern. Außerdem sind die Spielregeln nicht soweit geklärt, daß schnelleEinigung über ihre Anwendung zu erwarten ist. Aber auch wenn sich dieRegeln des Gleichgewichtsverfahrens bisher nicht allgemein explizierenlassen, scheinen seine Anwendungen in Einzelfällen oft ziemlich über-zeugend zu sein.

Schauen wir zum Abschluß noch auf zwei Einwände gegen das Ver-fahren des reflektiven Gleichgewichts, die aus einer anderen Richtungkommen. Da ist zunächst die Kritik von Stich (1988), daß die analyti-sche Erkenntnistheorie schlicht von Bedeutungsanalysen ausgeht, denenman damit eine Aufgabe zuweist, die sie nicht erfüllen können. Stich hatwohl Recht, daß es in der „ordinary language“-Philosophie Tendenzengab, handfeste philosophische Probleme, wie die moralische Frage, wasman in einer bestimmten Situation tun solle, durch eine Bedeutungsana-lyse zu entscheiden. Genügt es nicht – so dachte mancher „ordinary lan-guage“-Philosoph –, einfach zu ermitteln, wie das „soll“ in unserer Spra-che korrekt gebraucht wird, um damit auch die moralische Frage zu be-antworten? Ein bekannter Versuch, sehr direkt so zu argumentieren, fin-det sich in Searles Herleitung eines scheinbar moralischen Gebots ausrein deskriptiven Prämissen. Searle demonstriert dort (erstmals 1964) in

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einer Reihe von Einzelschritten, wie daraus, daß jemand im geeignetenKontext die Worte äußert: „Ich verspreche, Dir fünf Dollar zu zahlen“,geradezu analytisch folgt, daß er auch eine Verpflichtung übernommenhat, die fünf Dollar zu bezahlen. Doch Mackies Analyse (1981, 82ff)macht eine implizite Voraussetzung in dieser Argumentation namhaft,die offenbart, daß wir damit keineswegs eine moralische Norm alleinaufgrund sprachlicher Zusammenhänge begründen konnten. Der Schlußbasiert nämlich unter anderem auf dem Akzeptieren der Institution desVersprechengebens und ihrer Regeln. Lehnt man diese Institution, die so-gar in sprachliche Zusammenhänge Eingang gefunden hat, dagegen ab,hat auch das gegebene „Versprechen“ keine verpflichtende Kraft mehr.Die rein sprachliche Analyse entbindet einen daher nicht von der moral-philosophischen Aufgabe einer Rechtfertigung der fraglichen Norm, Ver-sprechen einzuhalten.16

Spätestens seit Moores Angriff der offenen Frage auf naturalistischeFehlschlüsse sollte die Sterilität rein sprachphilosophischer Analysen be-kannt sein (s. auch Sosa 1989). Sie können nur mit einiger Akribie er-mitteln, was der normale Muttersprachler in dieser Frage denkt,17 aberdamit ist noch keineswegs entschieden, ob diese Common Sense Ansich-ten auch begründet oder begründbar sind. Es ist z. B. noch nicht einmalausgeschlossen, daß diese Ansichten untereinander inkonsistent sind,was sicherlich in einigen Fällen passiert. Putnam (1990, 279ff) behaup-tet sogar, daß es so etwas wie einen Nazi mit rationalen Überzeugungenüberhaupt nicht geben könne, womit der Vorwurf innerer Unstimmig-keit der Überzeugungen auf größere Gruppen einiger Gesellschaften zu-träfe. In solchen Fällen spricht alles dafür, die Ansichten des CommonSense zurückzuweisen und gegebenenfalls, sollten sie bereits im Sprach-gebrauch etabliert sein, für eine Änderung des Sprachgebrauchs einzutre-ten. Im Bereich empirischen Wissens spielen irreführende Redewendun-gen wie „die Sonne geht auf“ keine so verderbliche Rolle wie im morali-schen oder politischen, wo sie häufig genug zur Verschleierung fehler-hafter normativer Ansichten eingesetzt werden. Statt die „semantischeUmweltverschmutzung“ in diesen Fällen zu bekämpfen, wird sie durch

16 Siehe dazu auch Tugendhat (1984, 59ff), der früher einen entsprechen-den semantischen Zugang zur Moral propagiert hat und seine spätere Kritik dar-an (1984, 6).

17 Dazu hat schon Sidgwick (1962, Buch III Kap. XI, Resümee S. 360),der einige unsere Common Sense Ansichten zur Moral genauer untersucht hat,darauf hingewiesen, daß die Common Sense Moral meist auch noch viel zu vagegehalten ist, um die interessanteren Fälle entscheiden zu können.

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die bloße Sprachanalyse festgeschrieben, was kaum das Ziel aufkläreri-scher Philosophie sein kann. Stich Kritik an diesen Vorgehensweisen istdaher berechtigt, aber sie trifft die meisten heutigen analytischen Er-kenntnistheoretiker und Moralphilosophen nicht, denn sie versuchen ge-rade mit dem Gleichgewichtsverfahren eine substantielle Theoriebildungvorzunehmen, die den bisherigen Sprachgebrauch und Common Sensekeineswegs zementiert, sondern durch interne Reflexionen zu kritisierenund an einigen Stellen zu überwinden sucht. Um seinen Vorwurf auf-rechtzuerhalten, hätte Stich nachzuweisen, daß man sich in dem vorge-schlagenen Reflexionsprozeß nicht hinreichend weit von den ursprüngli-chen Positionen entfernen könne, aber das wurde bisher keineswegs be-legt.

Gewichtiger erscheint auf den ersten Blick der Einwand von Nisbettund Stich (1980), daß empirische Untersuchungen demonstrieren, welchtypische Fehlschlüsse, wie z. B. der des Spielers („gamblers fallacy“), sichin unserer tatsächlichen inferentiellen Praxis finden lassen. Kann es sinn-voll sein, diese zu Beginn des Verfahrens als Ausgangspunkt zu verwen-den? Eine erste Replik kann in dem Hinweis bestehen, daß im Gleichge-wichtsverfahren eher die geäußerten und reflektierten epistemischen Be-wertungen als Daten herangezogen werden und nicht die bloß im Ver-halten geoffenbarten. Trotzdem lassen sich vermutlich in unseren bereitsreflektierten Absichtserklärungen einige dieser Fehlschlüsse wiederfin-den, die dann in den Reflexionsprozeß mit eingehen werden. Doch ge-rade dieser Einwand dokumentiert zugleich, daß sich Fehlschlüsse durcheine Reflexion der Praxis als solche aufdecken lassen, denn darauf müs-sen sich Nisbett und Stich schon stützen, wenn sie von „Fehlschlüssen“sprechen. In einem reflektiven Gleichgewicht sind diese dann natürlichzurückzuweisen. In dem erweiterten Reflexionsprozeß können wir aufalle Informationsquellen zurückgreifen, die uns überhaupt zugänglichsind und dazu gehören dann auch Expertenmeinungen, die es auch fürInferenzverfahren gibt (s. dazu Conee und Feldman 1983). Der Fehl-schluß des Spielers ist mit den Regeln der Statistik zu konfrontieren undzurückzuweisen. Die Beispiele von Nisbett und Stich sind daher guteBeispiele dafür, wie das Gleichgewichtsverfahren tatsächlich zur theore-tischen Überwindung auch schlechter Schlußregeln durch entsprechendeReflexion geführt hat.18

18 Natürlich soll damit nicht die Behauptung verbunden werden, mankönnte durch die bloße Reflexion auch das entsprechende Verhalten ändern.Diesem Wunschdenken der Aufklärung möchte ich nicht folgen.

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Anwendungen des Gleichgewichtsverfahrens beschränken sich auchnicht auf die Erkenntnistheorie, sondern es kann sich um Explikationenvon Begriffen handeln, deren Einschränkung auf bestimmte Bestandteiledes Begriffs eine Bewertung beinhaltet, oder die Begründung einer Mo-raltheorie oder die Begründung projektierbarer Schlußregeln der Induk-tion usf. Das Verfahren kann in diesen unterschiedlichen Gebieten seinevereinheitlichende Kraft für die Metaphilosophie unter Beweis stellen,in Konkurrenz zu anderen Verfahren treten und so weiterentwickeltwerden.19 Eine weitere Ausgestaltung erfährt es im folgenden in seinempraktischen Einsatz im Verlauf der Arbeit.

4. Evolutionäre Erkenntnistheorie

Obwohl das eigentlich nicht mein Hauptthema ist, möchte ich doch ei-nige Bemerkungen dazu machen, welche Stellung der Evolutionstheoriein dem Unternehmen Erkenntnistheorie zukommt. Die „evolutionäre Er-kenntnistheorie“ ist ein aufstrebendes Gebiet in der institutionalisiertenPhilosophie und viele Autoren berufen sich nonchalant auf die Evoluti-on, als ob diese über alle Schwierigkeiten, die in ihren erkenntnistheore-tischen Systemen auftreten, in geradezu naturwissenschaftlicher Weisehinweghelfen könnte. Da sind sicher Warnungen angebracht, die Evolu-tion vorsichtiger zum Einsatz zu bringen.

Zunächst dürfte es eigentlich selbstverständlich sein, daß man dieEvolution nicht erfolgreich gegen einen radikalen Skeptiker ins Feld füh-ren kann, denn die Berufung auf Darwinistische Theorien setzt bereitseinen guten Teil unseres Wissens über unsere Vergangenheit voraus, diewir zur Begründung evolutionärer Theorien benötigen. Dazu kommenErkenntnisse aus der Molekularbiologie und anderen Gebieten wie derChemie, auf die sich Darwins Theorie zusätzlich berufen muß, wennman der Evolutionstheorie den wissenschaftlichen Status verschaffenmöchte, der ihr heutzutage zukommt. All diese Erkenntnisse stellt ein ra-dikaler Skeptiker aber bereits in Frage, so daß wir uns ihm gegenüber ei-ner petitio principii schuldig machten, würden wir sie voraussetzen. Die-sen Punkt möchte ich nicht in seine Details verfolgen, zumal entspre-chende Analysen an anderer Stelle vorgelegt wurden. Sehr klar geschiehtdas in Bieri (1987), wo auch der Rettungsversuch Vollmers (1983, 37f),daß der dabei auftretende Zirkel nicht wirklich vitiös sei, überzeugendzurückgewiesen wird (s. Bieri 1987, 132ff).

19 Daniels (1979) gibt noch eine Reihe von Punkten an, wo sich diesesVerfahren von intuitionistischen und subjektivistischen Verfahren unterscheidet.

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Kann die Evolution denn innerhalb einer „naturalisierten Erkennt-nistheorie“ eine wichtige Rolle übernehmen, wenn man die eben geäu-ßerten Einschränkungen einer solchen Wendung der Epistemologie ein-mal außer Acht läßt? Unsere Vorstellungen von Evolution sind zweifellosein wichtiger Bestandteil der internen Erklärung für die Entstehung vonTeilen unserer Erkenntnisfähigkeiten. Während wir uns im Rahmen ei-ner Naturalisierung zunächst nur nach einer internen Rechtfertigungumgeschaut haben, wieso wir annehmen, daß bestimmte Meinungen aufzuverlässigen Wahrnehmungen beruhen, und uns dazu der Sinnesphysio-logie zugewandt hatten, fragen wir nun danach, wie und wieso wir zuden Sinnesapparaten gelangt sind, die diese Zuverlässigkeit besitzen.Aber auch an dieser Stelle der Argumentation ist wiederum Vorsicht an-gebracht. Das läßt sich an einem typischen Beispiel für die Berufung aufdie Evolution verdeutlichen: Michael Devitt (1991, 78) geht auf Put-nams Bedenken gegenüber apriorischen Ablehnungen bestimmter Theo-rien in der Wissenschaft wie z. B. Dämonentheorien ein. Eine derartigeBevorzugung bestimmter Theorien ist nach Devitts Meinung angeboren,und er fragt dann: „Is the innateness worrying?“. Daß dem nicht so sei,wird mit Hilfe der Evolution begründet.

It is not, because it is explicable along Darwinian lines. If a belief-forming procedure is a good one, then it is not surprising that itshould be innate. Good procedures lead to truths which are condu-cive to survival. Thus natural selection will favour organisms withgood procedures. Devitt (1991,78)

Überlegungen dieser Schlichtheit sind leider im Umgang mit der Evoluti-onstheorie verschiedentlich anzutreffen; da ist Devitt nicht das eineschwarze Schaf.

Gegen diese Form, die Evolution ins Spiel zu bringen, lassen sicheine Reihe von Einwänden geltend machen. Gegenüber klassischen er-kenntnistheoretischen Fragestellungen liegt zunächst eine Änderung desThemas vor. Der Erkenntnistheoretiker fragt nach der Begründung ein-zelner Meinungen und nicht nach den „eingebauten“ Mechanismen derÜberzeugungsbildung. Deren möglicherweise evolutionär erworbeneZuverlässigkeit kann uns bestenfalls schwache indirekte Hinweise füreine bestimmte Meinung bieten, daß diese wahr ist. Doch lassen wir unsauf diesen Punkt einmal ein, dann möchte ich in weiteren Schritten an-dere Bedenken gegen die evolutionäre Überlegung vortragen. Zunächstwerde ich dafür eintreten, daß wir mit der natürlichen Auslese im gün-stigsten Fall auf solche eingebauten überzeugungsbildenden Mechanis-

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men schließen dürfen, die Beobachtungsüberzeugungen betreffen – wo-bei mit „Beobachtungsüberzeugungen“ Überzeugungen gemeint sind,mit denen wir wiederzugeben gedenken, was wir wahrnehmen. Nur fürdiese und eng daran angelehnte Überzeugungen können wir für be-stimmte Umgebungen einen Zusammenhang zu dem Überleben der Indi-viduen einer Art herstellen. Auf der Ebene abstrakter physikalischeroder gar mathematischer Theorien ist die Redeweise von natürlicherAuslese höchstens als sehr schwache Analogie zu betrachten. Sie sindweit von den Umständen entfernt, für die unsere Fähigkeiten durch denProzeß der natürlichen Auslese gegangen sind (s. Nagel 1992, 138ff).Was man mit „Evolution“ auf dieser Ebene meinen kann – welche Artmetatheoretischer Theorie über die Theoriendynamik – bedürfte eigenerExplikationen, und in einem zweiten Schritt müßte belegt werden, daßsolche „Evolutionen“ in der Wissenschaftsgeschichte auch tatsächlich an-zutreffen sind. Bis zu solchen metatheoretischen Resultaten ist aber nochviel Arbeit zu leisten und einige Hinweise sollen andeuten, warum icheher skeptisch bin, was den Erfolg dieses erkenntnistheoretischen Pro-jekts betrifft.

Ob das persönliche Überleben durch das Vertreten wahrer Theorienüberhaupt gefördert wird, dürfte stark von den jeweiligen Umständenabhängen. Zu Galileis Zeiten war es kaum förderlich, wahre Ansichtenüber die Stellung von Sonne und Erde zu haben und diese auch noch öf-fentlich zu verkünden. Daß es in späteren Zeiten einen Vorteil für dasÜberleben bedeutet und daß dieser Vorteil auf angeborene Meinungsbil-dungsverfahren zurückgeht, bleibt eine genauso gewagte empirische Be-hauptung. Wie sehen denn die Mechanismen aus, die verhindern, daßMenschen, die falsche Theorien vertreten, „weil sie vermutlich falscheMechanismen der Meinungsbildung haben“, an der Verbreitung ihrerGene durch Fortpflanzung gehindert werden? Eine Ablehnung derQuantenmechanik führt nach unserem jetzigen Kenntnisstand weder zufrühzeitigem Ableben noch zu erhöhter Unfruchtbarkeit. Spekulationensind eher in der anderen Richtung möglich, daß die Labors der Physikerund die Strahlenbelastungen im Umkreis der Teilchenbeschleuniger ...Außerdem verschwenden die Wissenschaftler ihre fruchtbarsten Jahremit dem Studium, statt konsequent ihre genetische Ausstattung zu ver-breiten. Die Lächerlichkeit dieser Überlegungen sollte nur deutlich ma-chen, wie weit wir von solchen Ansichten, auf die Devitt sich beruft, tat-sächlich entfernt sind.

Aber selbst für den Bereich der Beobachtungsüberzeugungen, in demes nur um Meinungen über wahrgenommene Teile unserer Umgebung

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geht, ist der Zusammenhang zwischen Mechanismen, die wahrheitsför-derlich sind, und der Überlebensfähigkeit von Individuen nicht so ein-fach, wie von Devitt unterstellt. Wir stoßen wiederum auf eine starkeAbhängigkeit von der jeweiligen Umwelt. In einer Umgebung, in derNahrung in einem einigermaßen ausreichenden Maße vorhanden ist, je-doch viele giftige Pflanzen vorkommen, die der Nahrung äußerlich ähn-lich sehen, ist eine Strategie der Vorsicht, die auch viele Pflanzen, die eß-bar wären, eher als giftig einstuft, gegenüber einer die auf Ermittlungder wahren Qualitäten ausgerichtet ist, vom Standpunkt der Überlebens-fähigkeit vorzuziehen. Die Evolution wird unter derartigen Umständenihre Individuen nicht auf Wahrheitsfindung hin auswählen, sondern aufgrößere Vorsicht hin. Zusätzlich mag der Zeitfaktor der Einschätzungvon Pflanzen im Hinblick auf ihre Genießbarkeit noch eine Rolle spie-len; so z. B., wenn natürliche Feinde existieren, die ein allzu langesNachdenken über die Frage der Eßbarkeit bestimmter Pflanzen zu eige-nen Freßzwecken mißbrauchen könnten. Auch dieser Faktor ist der Fra-ge der Ermittlung wahrer Ansichten gegenüber eher fremd.

Die Entwicklungen durch natürliche Auslese verlaufen auch nichtimmer in einer bestimmten Richtung, was das bekannte Beispiel derNachtfalter in Mittelengland belegt. Um sich der Umwelt während derindustriellen Revolution mit ihrem Ruß anzupassen, nahmen die vorherweiß-braun gesprenkelten Falter eine gräuliche Farbe an, begannen aber,nachdem die Luft in den sechziger Jahren wieder besser wurde, zu ihrerursprünglichen Farbe zurückzukehren. Das Beispiel demonstriert wie-derum die Kontextabhängigkeit und Wankelmütigkeit von evolutionärfavorisierten Eigenschaften und daß der Schluß, was die Evolution aus-gesucht hätte, müsse nach diesem langen Ausleseprozeß nun in bestimm-ter Hinsicht maximal geeignet sein, kaum plausibel ist. All die Überle-gungen der Nützlichkeit bestimmter Mechanismen der Überzeugungs-bildung für ganz bestimmte Tiere in einer ganz bestimmten Umwelt –wie etwa der Zeitfaktor – sind Überlegungen die den epistemologischen,die nur auf Wahrheit ausgerichtet sind, eigentlich fremd sind und gehö-ren deshalb nicht in eine Erkenntnistheorie. Wahrheit und Nützlichkeitvon Überzeugungen für die Individuen einer bestimmten Art müssen da-her keineswegs zusammenfallen. Ihr Zusammenhang sollte für den je-weiligen Einsatz der Evolution in der Erkenntnistheorie genauer ermit-telt werden. Das gilt natürlich in zunehmendem Maße dort, wo wir unsÜberzeugungen über unsere Umwelt zuwenden, die mit unserem Überle-ben in keinem direkt erkennbaren Zusammenhang mehr stehen, etwaAnnahmen über weit zurückliegende und für unser Überleben relativ be-

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langlos erscheinende Ereignisse oder Ansichten wie die genannten sehrtheoretischen in der Grundlagenforschung der heutigen Physik oder Ma-thematik.

Zu dieser Kluft zwischen Nützlichkeit fürs Überleben und Wahrheitkommen innertheoretischen Hindernisse für eine Verwirklichung dernützlichsten Mechanismen hinzu. Die Theorie der natürlichen Ausleseist eine statistische Theorie mit Phänomenen wie „genetic drift“ und „ge-netic hitchhiking“, die einer idealen Verwirklichung selbst der Nützlich-keit im Wege stehen. Das weist darauf hin, daß die Reichweite evolutio-närer Erklärungen auch noch einer innertheoretischen Abschätzung be-darf. „Genetic Hitchhiking“ bezeichnet den Umstand, daß ganze Genevererbt werden. Wenn ein Gen sich in einem Genpool durchsetzt, weiles bestimmte nützliche Eigenschaften kodifiziert, so werden auch alleanderen ebenfalls von dem Gen bestimmten Eigenschaften in der Popu-lation auftreten, ob diese nun nützlich sind oder nicht.20 Das kann ver-hindern, daß ideale Lösungen in bestimmten Bereichen verwirklichtwerden, selbst wenn diese in einer Art bereits genetisch vertreten sind.

Das Auftreten bestimmter Eigenschaften, die von der Natur auf ihreEignung hin geprüft werden, ist darüber hinaus ein Zufallsprozeß, indem ideale Eigenschaften nur dann instantiiert werden können, wennzunächst zufällig die geeigneten Mutationen der Gene auch auftreten.Selbst wenn das der Fall ist, bleibt es noch dem Zufallsprozeß der natür-lichen Auslese überlassen, ob sie sich auch im Genpool durchsetzen kön-nen, was man mit „genetic drift“ bezeichnet. Die Literatur zur Evoluti-onstheorie gibt auch eine Reihe von Beispielen an, in denen gerade nichtdie idealen Lösungen realisiert wurden. So nennt Dawkins (1990, 112f)uns das Beispiel der sonderbaren, asymmetrischen Verdrehung des Kop-fes bei Plattfischen, bis seine beiden Augen nach oben schauen, wenn siesich auf den Boden niederlassen. Das wirkt gegenüber der entsprechen-den Entwicklung beim Rochen unangemessen. „Kein vernünftiger Planerhätte eine solche Monstrosität erdacht, wenn er in eigener Verantwor-tung einen Plattfisch hätte schaffen sollen.“ (Dawkins 1990, 112). Dieseund schwerwiegendere „Fehler“ der Evolution – wie der menschlicheBlinddarm und der Daumen des Panda – sind z.T. dadurch zu erklären,daß die Evolution eben nicht mit einem leeren Zeichenbrett begann,sondern auf dem aufbauen mußte, was sie schon vorfand, und das sindbei den Plattfischen Vorfahren, die sich im Unterschied zum Rochen aufdie Seite und nicht den Bauch gelegt haben.

20 Sollten sie zu schädlich für das Überleben sein, wird sich dieses Gen na-türlich nicht durchsetzen.

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Neben der Verwirklichung minderwertiger Lösungen hat die evolu-tionäre Sichtweise kognitiver Prozesse mit Fragen des generellen Leib-Seele Problems zu kämpfen. Sie hat zunächst zu beschreiben, wie Über-zeugungen oder andere mentale Zustände mit semantischer Informa-tion, für deren Zuschreibung eine Rationalitätsannahme wesentlich er-scheint, in biologischen Systemen instantiiert sein können. Die Evoluti-onstheorie beschreibt die Entstehung von Organen mit bestimmten Ei-genschaften und ist ganz der materiellen Beschreibungsebene verhaftet.Daß die Redeweise evolutionärer Erkenntnistheoretiker von Informati-onsverarbeitung diesen problematischen Punkt eher verschleiert als löst,wird durch eine Reihe von Überlegungen (s. dazu Bieri 1987, 122ff)deutlich. Der Begriff „Information“ ist ziemlich mehrdeutig. Man unter-scheidet deshalb auch zumindest in syntaktische, semantische und prag-matische Information. Syntaktische Information findet sich in allen Ge-genständen. Jeder Baum trägt syntaktische Informationen über seinekausale Vorgeschichte: Sein Aufbau enthält unter anderem die Informa-tion, wie alt er ist. Um diese Information im Sinne eines sehr umfassen-den Informationsbegriffs geht es in der Rechtfertigung von Meinungenaber nicht. In der klassischen Erkenntnistheorie werden kognitive Zu-sammenhänge zwischen Überzeugungen untersucht, die spezifische In-formationen enthalten, nämlich semantische Informationen, also Entitä-ten, die wahr oder falsch sein können. Der eher schillernde allgemeineInformationsbegriff versteckt mit seiner Mehrdeutigkeit oft nur die tief-liegenden Probleme der Zuschreibung semantischen Gehalts zu den Zu-ständen eines biologischen Systems.

Auch zu dieser Problematik sind weitere Vorarbeiten notwendig, umden Wert der Evolution für eine naturalisierte Erkenntnistheorie ein-schätzen zu können. Wir sollten daher ausgesprochen vorsichtig mit Be-hauptungen über den evolutionären Wert wahrer Überzeugungen undentsprechender Veranlagungen zur Überzeugungsbildung sein. Für meinProjekt, das der klassischen erkenntnistheoretischen Problematik gewid-met ist, hat die evolutionäre Erkenntnistheorie leider keine erfolgver-sprechenden Ansatzpunkte anzubieten.

5. Resümee

Als Resignation auf das Scheitern der Versuche, dem Skeptiker Paroli zubieten und die Philosophie auf die sichere Grundlage einer prima philo-sophia zu stellen, hat in den letzten Jahrzehnten eine Naturalisierungunterschiedlicher Bereiche der Philosophie (insbesondere der Erkennt-

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nistheorie) an Boden gewonnen. Die alte Unterscheidung zwischenRechtfertigungen und Genese von Meinungen zeigt jedoch, daß eine ra-dikale Naturalisierung darauf hinausläuft, die klassischen Fragen der Er-kenntnistheorie ganz zugunsten rein naturwissenschaftlicher Fragestel-lungen aufzugeben. Dafür können die radikalen Naturalisten, allen vor-an Quine, aber keine überzeugenden Gründe angeben, denn die klassi-sche Frage danach, was ich glauben soll, bleibt weiterhin aktuell. Sie er-fährt in der analytischen Erkenntnistheorie neueren Datums mit der Me-thodologie des reflektiven Überlegungsgleichgewichts eine Wendung hinzu substantieller philosophischer Theorienbildung. Statt in den Pessimis-mus der radikalen Naturalisten einzustimmen, soll in der vorliegendenArbeit ein Methodologischer Naturalismus liberaleren Typs zur Anwen-dung kommen, der in kritischer Anknüpfung an bisherige Konzeptionenvon epistemischer Rechtfertigung eine zum Teil normative, philosophi-sche Theorie der Begründung von Meinungen vorschlägt.

B. Wahrheit und Wahrheitsindikatoren

Meine erste Charakterisierung von epistemischen Rechtfertigungen wardie von Wahrheitsindikatoren, die uns als Hinweis oder Grund dienenkönnen, anzunehmen, daß eine bestimmte Meinung wahr ist; oder mankönnte auch sagen, die für uns die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß diegerechtfertigte Meinung wahr ist. Epistemische Rechtfertigungen sindunser Lackmustest für Wahrheit. Was meint man aber in diesem Zusam-menhang mit „Wahrheit“? Um die grundlegende Intuition von Rechtfer-tigungen als Wahrheitsindikatoren einschätzen zu können, werde icheine kurze Charakterisierung des dabei vorausgesetzten Verständnissesvon Wahrheit angeben. Diese Explikation von „Wahrheit“, soll uns nocheinmal den metaphysischen Rahmen vor Augen führen, in dem erkennt-nistheoretische Fragestellungen üblicherweise angesiedelt sind.

Anfangen möchte ich mit einer Abgrenzung gegen einige heute ver-breitete Interpretationen des Wahrheitsbegriffs. Es ist in den letzten Jah-ren zunehmend in Mode gekommen, sich von realistischen Positionenabzuwenden und schwächere Konzeptionen von Wahrheit als die einerKorrespondenztheorie zu vertreten. Diese Auffassungen der Wirklichkeitund der Wahrheit sind zumeist epistemisch infiziert, d.h. Wahrheit wirdals in irgendeiner Weise abhängig von unseren erkenntnistheoretischenZugangsmöglichkeiten aufgefaßt. Diese Wendung soll oft dazu dienen,die Kluft zu verkleinern, die zwischen unseren Meinungen über die Welt

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und der Welt selbst gesehen wird, um damit die Möglichkeiten des Skep-tikers zu beschneiden, unser Wissen unter Hinweis auf diese Kluft inFrage zu stellen. Für mein Ziel, eine Theorie von epistemischer Recht-fertigung als Wahrheitsindikation zu entwerfen, sind epistemisch infi-zierte Wahrheitsdefinitionen und auch deflationäre Entwertungen desWahrheitsbegriffs aber eher ungeeignet. Das möchte ich im folgendenkurz erläutern. Die drei Hauptrichtungen in denen eine Explikation desWahrheitsbegriffs gesucht wird, werde ich dazu vorstellen und auf ihreEinsatzmöglichkeiten als Hintergrund für erkenntnistheoretische Frage-stellungen untersuchen.

1. Deflationäre Wahrheitskonzeptionen

In der philosophischen Wahrheitsdebatte stoßen wir spätestens seit Tars-kis berühmter Wahrheitsdefinition in den dreißiger Jahren dieses Jahr-hunderts auf die sogenannten deflationären Auffassungen des Wahrheits-begriffs oder Redundanztheorien der Wahrheit, die den Wahrheitsbegriffvom Sockel im Zentrum der Philosophie stürzen und für die Wirklich-keitserkenntnis entwerten möchten. Für einen Deflationisten besitzt derWahrheitsbegriff keine erklärenden Funktionen mehr und zeichnet nichtetwa Sätze aus, weil sie in einer besonderen Beziehung zur Welt stehen,sondern erfüllt nur bestimmte sprachliche Funktionen, die sich anhandder Äquivalenzthese Tarskis verstehen lassen, nach der für jede Aussagep gilt:

(ÄT) „p“ ist wahr genau dann, wenn p.

Diese Äquivalenzthese wird von Philosophen der unterschiedlichstenRichtungen als ein wesentliches Bedeutungsmerkmal des Wahrheitsbe-griffs akzeptiert, aber sie bietet ebenfalls Hinweise darauf, wie wir unsseiner entledigen können. Den Grundgedanken einer Redundanztheoriefinden wir schon in dem klassischen Aufsatz von Ramsey (1931)21, indem er sagt: „dann ist evident, daß der Satz »Es ist wahr, daß Cäsar er-mordet wurde« nicht mehr bedeutet als: Cäsar wurde ermordet.“

Der Ausdruck „ist wahr“ ist für einen Deflationisten darüber hinausrecht hilfreich, wenn wir den Behauptungen von jemand anderem zu-stimmen möchten, ohne ihn im einzelnen zu wiederholen; hier genügtdann etwa: „Alles, was er gesagt hat, ist wahr“. Viel mehr als solcheganz nützlichen sprachlichen Hilfen bietet der Wahrheitsbegriff jedoch

21 Also bereits bevor Tarski 1935 seine Wahrheitstheorie zum erstenmalauf einer Konferenz in Paris der Öffentlichkeit präsentierte.

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für einen Deflationisten nicht, ob es sich dabei um Disquotationstheo-rien wie die von Leeds (1978) oder andere Varianten der Redundanz-theorie handelt. Der Wahrheitsbegriff bezeichnet in diesem Rahmenkeine substantielle Eigenschaft von Sätzen, die bestimmten von ihneneine besondere Beziehung zur Welt zuspricht; er verkümmert zu einembloß sprachlichen Hilfsmittel.

Die meisten Auseinandersetzungen in der Erkenntnistheorie, z. B.die mit dem Skeptiker, stützen sich dagegen auf ein anspruchsvollereskorrespondenztheoretisches Verständnis des Wahrheitsbegriffs, das auchich in dieser Arbeit voraussetzen werde, denn es ist gerade Wahrheit,worauf epistemische Rechtfertigungen abzielen. Für eine deflationäreAuffassung von Wahrheit, wird es unverständlich, wieso uns dieses Zielam Herzen liegen soll. Wahrheit interessiert uns als Grundlage für Ent-scheidungen und praktisches Handeln, und in diesen Kontexten gibt unseine deflationäre Theorie kein angemessenes Verständnis, wieso Wahr-heit dafür so bedeutsam sein soll. Das kann nur eine substantiellere Kon-zeption von Wahrheit, die uns erklärt, wieso die Auskunft, daß eine Aus-sage wahr ist, so wichtig für uns ist: Die Annahme, daß ein Satz wahrist, gibt uns Informationen über die Welt und nicht nur über sprachlicheZusammenhänge. Um an diese Informationen zu gelangen, sind wirmangels einer direkten Einsicht der Wahrheit vieler Meinungen auf denindirekten Zugang über epistemische Rechtfertigungen angewiesen. Einedeflationäre Wahrheitsauffassung konnte daher kaum den Rahmen abge-ben, in dem von Aristoteles über Descartes bis in die heutige Zeit Er-kenntnistheoretiker über Wissen und Begründungen nachgedacht haben.Selbst Kant schreibt in der Kritik der reinen Vernunft (A 58/ B 82): „Wasist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich dieÜbereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hiergeschenkt, und vorausgesetzt;“ Im Kontext der Epistemologie möchteich es daher als gegeben annehmen, daß wir über eine gehaltvollere kor-respondenztheoretische Wahrheitskonzeption verfügen, denn nur sokönnen wir an die klassischen Fragestellungen dieser Disziplin anknüp-fen.

Allerdings soll damit noch nicht endgültig entschieden sein, inwie-weit die Erkenntnistheorie auf einen substantiellen Wahrheitsbegriff tat-sächlich zwingend angewiesen ist. Michael Williams (1991, 244f) be-müht sich zu zeigen, daß sogar mit einem deflationären Wahrheitsbegriffnoch kein Verzicht auf ein objektives Verständnis der Welt verbundenist. Auch der Skeptiker kann seine unbequemen Fragen nach einer Be-gründung unserer Meinungen weiterhin stellen, wenn wir mit dem Aus-

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druck „wahr“ nicht eine substantielle Eigenschaft bezeichnen. Nurmöchte ich die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung nicht unnötigmit den Komplikationen eines deflationären Wahrheitsbegriffs belasten,denn das ist kaum hilfreich für die Frage nach der richtigen Erkenntnis-theorie. Der Hauptkonkurrent korrespondenztheoretischer Auffassun-gen von Wahrheit ist auch sicherlich an anderer Stelle zu suchen: Vor al-lem in den epistemisch infizierten Wahrheitsbegriffen, die im Unter-schied zu deflationären Konzeptionen die erkenntnistheoretische Ausein-andersetzung maßgeblich beeinflussen können. Ihnen soll daher etwasmehr Aufmerksamkeit zuteil werden.

2. Epistemische Wahrheitsbegriffe

Im Kampf gegen den Skeptiker ist es verführerisch, die epistemischenWahrheitsauffassungen einzusetzen. Sie identifizieren Wahrheit mit„warranted assertibility“, rationaler Akzeptierbarkeit und ähnlichen epi-stemisch geprägten Begriffen – zumindest für den Fall idealer epistemi-scher Bedingungen oder im idealen Grenzwert der Forschung. Putnam(1978, 126) spricht sogar davon, es sei „unverständlich“, daß eine episte-misch ideale Theorie, die allen möglichen Beobachtungen entspricht undalle anderen Kriterien an Theorien wie Einfachheit, Schönheit, Plausibi-lität etc. genügt, falsch sein kann.22 Um epistemische Wahrheitskonzepteuntersuchen zu können, ist zunächst zu klären, was mit „möglichen Be-obachtungen“ oder einem „Grenzwert der Forschung“ gemeint ist. DieseFragen zu beantworten ist ein bekanntermaßen virulentes Problem füralle Ansätze in diesem Bereich. Aber auch, wenn wir von den sich dabeiauftuenden inneren Schwierigkeiten der Position zunächst einmal abse-hen, können die epistemisch infizierten Wahrheitsbegriffe nicht das lei-sten, was man sich im Kampf gegen den Skeptiker von ihnen verspricht.

Ein wesentliches Motiv für ihre Einführung innerhalb der Erkennt-nistheorie stammt aus einer Schwierigkeit im Rahmen der Korrespon-denzauffassung von Wahrheit, auf die etwa Davidson (1987, 271) auf-merksam macht. Begründungen einer Meinung sind in einer Kohärenz-theorie der Erkenntnis nur in anderen bereits von uns akzeptiertenÜberzeugungen zu suchen. Einen direkten Vergleich von Meinungen mitder Welt hält Davidson sogar für eine absurde Vorstellung. Die Wahrheit

22 Das hieße, daß die Position des radikalen Skeptikers eigentlich unver-ständlich ist. In dieser Richtung argumentiert Putnam auch in (1990, Kap. 1) inseinem berühmten Gehirn im Topf Argument. Doch das kann letztlich nichtüberzeugen (s. etwa Nagel 1992, 126ff).

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einer Meinung hängt im Rahmen einer Korrespondenzkonzeption aberausschließlich von ihrer Beziehung zur Welt ab und nicht davon, welcheÜberzeugungen wir über die Welt haben. Wie können wir dann jemalswissen, daß der Kohärenztest einer Meinung ein Wahrheitstest ist? Diean dieser Stelle immer verbleibende Lücke nutzt geschickt der Skeptikerund weist auf die Möglichkeit hin, all unsere Vorstellungen von der Weltkönnten ein komplettes Märchen sein, auch wenn sie eine noch so kohä-rente Geschichte bilden. Solange Wahrheit unsere Evidenzen transzen-diert und in einer Beziehung von Sätzen zur Welt zu suchen ist, währendRechtfertigungen immer nur Beziehungen zwischen Aussagen betreffen,können wir uns nie der Richtigkeit unserer Meinungen versichern. Esbleibt sogar das Problem, ob wir auch nur den kleinsten Grund angebenkönnen, daß epistemische Rechtfertigungen ihren Namen verdienen undWahrheitsindikatoren darstellen, wenn Wahrheit und Rechtfertigung aufso verschiedene Weise definiert werden.

Ein naheliegender Schachzug, um dem Skeptiker den Boden zu ent-ziehen, ist, ihm eine falsche Auffassung von Wahrheit und einer von un-seren Überzeugungen unabhängigen Welt zu unterstellen. Ist Wahrheitimmer nur relativ zu unseren Evidenzen oder Theorien zu definieren,wie es z. B. Rorty (1984, im englischen 281) und Putnam (1990, Kap.III) vorschlagen, verkleinert sich offensichtlich die für den Skeptiker ver-bleibende Lücke.

Daß sich auf diesem Weg der Skeptiker jedoch nicht wirklich besie-gen läßt, können die beiden folgenden Gedankengänge offenlegen: Er-stens werden auch die epistemischen Wahrheitskonzeptionen im allge-meinen Wahrheit nicht mit dem identifizieren, was zur Zeit gerade füruns gerechtfertigt ist, denn damit würde Wahrheit ein höchst instabilesGut, das zeitlich und interpersonell sehr variabel wäre. So weit wollensich auch die Vertreter epistemischer Wahrheitskonzeptionen nicht vonunserem traditionellen Wahrheitsverständnis entfernen. Sie verbindenmit dem Wahrheitsbegriff weiterhin gewisse Objektivitätsstandards. Put-nam (1990, 163ff) wendet sich z. B. vehement gegen einen Relativismusin bezug auf Wahrheit, der für ihn mit der Aufgabe der Unterscheidungzwischen recht haben und glauben, recht zu haben, einhergeht und unserSprechen damit zu einem bloßen Absondern von Geräuschen verkom-men läßt. Für ihn übersieht der Relativist, „daß es eine Voraussetzungdes Denkens selbst ist, daß es so etwas wie objektive »Richtigkeit« gibt“(1990, 168). Wahrheit ist nur mit unseren Evidenzen in einem idealenGrenzwert zu identifizieren und transzendiert demnach immer unseretatsächlich verfügbaren Evidenzen. Das ruft wiederum den Skeptiker auf

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den Plan, der an dieser Stelle mit der Bemerkung einhaken kann: Wirverfügen über keinen Anhaltspunkt, um zu entscheiden, wie weit wirvon diesem idealen Grenzwert mit unseren augenblicklichen Meinungenentfernt sind. Die Wissenschaft ist voll von Irrwegen und in einem die-ser Irrwege können wir uns gerade befinden.23 Was macht uns so sicher,daß wir im Moment nicht einer überdimensionalen Phlogistontheoriezum Opfer fallen? Allein die Wendung zu epistemischen Auffassungenvon Wahrheit offeriert noch keine Indizien, mit welchen Teilen unseresÜberzeugungssystems wir uns bereits in der Nähe dieses idealen Grenz-werts aufhalten und mit welchen wir uns auf einem möglicherweisekompletten Irrweg befinden. Daher bleibt auch für die epistemisch infi-zierten Wahrheitsbegriffe das Problem der Skepsis bestehen und eben-falls das Problem, den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Rechtfer-tigungen zu bestimmen – jedenfalls solange sie nicht bereit sind, jedenObjektivitätsanspruch für Wahrheit aufzugeben.

Ein zweiter Punkt für das Scheitern der epistemischen Wahrheitskon-zeptionen als Heilmittel gegen die Skepsis ist folgender: Auch wenn esuns mit dieser epistemischen Wendung der Wahrheitskonzeption gelän-ge, die Lücke zwischen Wahrheit und unseren Evidenzen zu schließen,hätten wir den Skeptiker damit nicht besiegt, sondern vielmehr kleinbeigegeben. In dem Maße, wie wir die Vorstellung einer objektivenWirklichkeit, die unabhängig von uns existiert, verlassen, und uns daraufzurückziehen, Erkenntnisse über eine von uns konstruierte Welt zu besit-zen, verlassen wir nämlich auch die Ausgangsposition, gegen die derSkeptiker angetreten war. Wir nähern uns dann idealistischen Auffassun-gen der Wirklichkeit, die selbst bereits grundlegend skeptisch infiziertsind.24

Epistemische Wahrheitskonzeptionen verfehlen also ihr Ziel, eineTherapie des Skeptizismus zu formulieren. Sie sind auch nicht verständ-licher als eine Korrespondenzauffassung (s. B.3) und vor allem, sie sindals Zielvorstellung für eine Erkenntnistheorie unbrauchbar, was ein klei-nes Gedankenexperiment belegen kann. Nennen wir die Rechtfertigun-gen, die der erst noch zu entwickelnden Theorie epistemischer Rechtfer-

23 Das trifft sich auch mit Putnams (z. B. 1978, 25) Argument der Meta-Induktion gegen den Realismus.

24 Eine andere Wendung, um die Lücke zwischen Wahrheit und Rechtfer-tigungen zu schließen ist die von Fundamentalisten wie Schlick gewählte, wo-nach zumindest bestimmte basale Überzeugungen direkt mit der Wirklichkeitverglichen werden können. Die Schwächen dieses zur epistemischen Wahrheits-konzeption dualen Vorstoß werden in (III.B.5.a) erörtert werden.

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tigungen in idealer Weise genügen, „ideale B-Rechtfertigungen“ (fürBartelborth-Rechtfertigungen). Eine Aussage p hieße dann im Rahmeneiner dazu passenden epistemischen Wahrheitsdefinition genau dannwahr, wenn sie ideal B-gerechtfertigt wäre. Unsere Suche nach epistemi-schen Rechtfertigungen als eine Suche nach Wahrheitstests oder Wahr-heitsindikatoren zu beschreiben, würde damit völlig uninformativ, dennes hieße nichts anderes, als daß wir nach B-Rechtfertigungen suchen, dieIndikatoren für ideale B-Rechtfertigungen darstellen. Solange wir abernoch keine Konzeption von B-Rechtfertigungen besitzen, kann uns auchdie Aufforderung zur Suche nach Indikatoren für ideale B-Rechtfertigun-gen keine Anhaltspunkte dafür an die Hand geben, was eine gute B-Rechtfertigung ist. Die Rede von Wahrheitsindikatoren gibt in dieserWahrheitsauffassung keinen intuitiven Hinweis mehr, wonach wir su-chen sollen, weil sie keine von unseren Rechtfertigungen unabhängigenInstanz mehr darstellt.

Schlimmer noch, wir verlieren mit einem epistemischen Wahrheits-begriff auch unseren Maßstab, mit dem wir verschiedene Theorien derRechtfertigung vergleichen können. Eine andere Rechtfertigungstheorie,die mit B-Rechtfertigungen unverträgliche Rechtfertigungstypen favori-siert, nennen wir sie Theorie der A-Rechtfertigung, könnte mit demsel-ben Recht wie die Theorie der B-Rechtfertigungen für sich in Anspruchnehmen, Wahrheitsindikatoren anzubieten, wenn Wahrheit in idealerRechtfertigung besteht. Für einen Vertreter dieser A-Theorie der Recht-fertigung bestünde Wahrheit dann nämlich in idealer A-Rechtfertigung,für die selbstverständlich gerade A-Rechtfertigungen einen guten Indika-tor abgeben und nicht B-Rechtfertigungen. Die Wahrheitssuche verliertso ihre anleitende Funktion für die Epistemologie, und die Auskunft,epistemische Rechtfertigungen seien Wahrheitsindikatoren wird zu einerrelativistischen Auskunft. Ihre Bedeutung hängt von der jeweils vertrete-nen Rechtfertigungskonzeption ab. Ein Leitbild für die Erkenntnistheo-rie und einen neutralen Schiedsrichter für verschiedene Rechtfertigungs-theorien kann der Wahrheitsbegriff dagegen nur dann verkörpern, wenner von epistemischen Verunreinigungen befreit und damit auch neutralgegenüber verschiedenen Ansätzen der epistemischen Begründung ist.Gerade für die Erkenntnistheorie ist es daher notwendig, die Wahrheiteines Satzes und unsere Indizien dafür strikt auseinanderzuhalten. Es istauch nicht schwer, einen derartigen von unseren Rechtfertigungstheo-rien unabhängigen Wahrheitsbegriff zu finden.

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3. Eine Korrespondenztheorie der Wahrheit

Die naheliegendsten Kandidaten dazu sind Korrespondenzkonzeptionender Wahrheit, für die die Wahrheit einer Aussage in ihrer Übereinstim-mung mit den Tatsachen besteht. Dieses Verständnis des Wahrheitsbe-griffs entspricht unserem umgangssprachlichen Umgang mit „Wahrheit“und erscheint uns meist so selbstverständlich, daß die damit verbundeneCharakterisierung von Wahrheit gern als trivial bezeichnet wird. Dasstört mich keineswegs. Ich möchte nur eine besonders schwache und in-tuitiv verständliche Form der Korrespondenztheorie der Wahrheit ver-treten, die, gerade wenn sie als trivial betrachtet wird, als Ausgangs-punkt und metaphysischer Hintergrund der Untersuchung akzeptiertwerden kann. In der hier vertretenen Version der Korrespondenzkon-zeption möchte ich mich auch nicht damit beschäftigen, wie sich dieKorrespondenzbeziehung weiter explizieren läßt. Das könnte etwa ge-schehen anhand einer Tarskischen Wahrheitstheorie, die zunächst dieWahrheit von Sätzen auf die Referenzbeziehungen seiner Komponentenund die Erfüllungsrelation zurückführt. Sie ließe sich ergänzen durcheine Referenztheorie für die Komponenten, für die ich eine Kombinati-on aus einer Kennzeichnungstheorie und einer kausalen Referenztheoriewählen würde. Doch die erkenntnistheoretischen Untersuchungen dieserArbeit möchte ich nicht mehr als unbedingt notwendig mit sprachphilo-sophischen und metaphysischen Annahmen aus anderen Gebieten bela-sten und deshalb soll nicht von semantischen Beziehungen der Teile ei-nes Satzes zu Teilen der Wirklichkeit die Rede sein. Ebensowenigmöchte ich die Metaphern von Abbildung der Wirklichkeit oder Über-einstimmung mit der Wirklichkeit überbeanspruchen. Daher werde ichnicht für eine Form von Ähnlichkeitstheorie zwischen der Wirklichkeitund bestimmten sie abbildenden Aussagen eintreten.

Tatsächlich anknüpfen möchte ich dagegen an Aristoteles schlichteKennzeichnung von Wahrheit: „Von etwas, das ist, zu sagen, daß es nichtist, oder von etwas das nicht ist, daß es ist, ist falsch, während von et-was, das ist, zu sagen, daß es ist, oder von etwas, das nicht ist, daß esnicht ist, ist wahr.“ In Anlehnung an eine solche semantisch und meta-physisch bescheidenere Konzeption von Korrespondenz, nenne ich eineAussage p dann wahr, wenn die Dinge so sind, wie es in p behauptetwird. Moser (1991, 26) zeigt, daß diese intuitive Konzeption von Wahr-heit die Tarski-Äquivalenz impliziert, aber nicht mit ihr äquivalent ist,was man von einer Korrespondenzauffassung auch erwarten sollte. Be-reits BonJour (1985, 167f) hält für erkenntnistheoretische Untersuchun-gen eine entsprechende Wahrheitsdefinition für ausreichend. Er ergänzt

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sie für empirisches Wissen allerdings noch um eine Relativierung aufeine raumzeitliche Einordnung. Mit dieser Formulierung der Korrespon-denzauffassung von Wahrheit, die in erkenntnistheoretischen Debattenhäufiger zugrundegelegt wird, sollen die Probleme anspruchsvollererWahrheitskonzeptionen für das vorliegende Projekt ausgeklammert wer-den. Das soll nicht die Frage präjudizieren, ob anspruchsvollere Konzep-tionen von Korrespondenztheorien möglich sind. Entsprechende Expli-kationen der Korrespondenzvorstellung sind eben nur nicht mein The-ma. Da es mir hier nur um empirisches Wissen geht, ist eine solchschwache Korrespondenztheorie der Wahrheit auch gut verständlich,denn für diesen Bereich sind in geradezu paradigmatischer Weise unsereIntuitionen geprägt worden, was unter einer wahren Aussage zu verste-hen ist.25 Insbesondere sollen durch eine Einschränkung auf nichtreflexi-ve empirische Aussagen auch technische Komplikationen ausgeklammertwerden, die durch die Paradoxien wie die Lügner-Paradoxie für einevollständige Wahrheitstheorie zu berücksichtigen wären.

Damit die Wahrheitskonzeption inhaltlich einen gewissen Gehalt be-hält, sollte sie allerdings zumindest die Zielvorstellung beinhalten, daßdie Wendung „wenn die Dinge so sind“ realistisch zu verstehen ist – alsoals eine Aussage über eine von unseren Ansichten dazu unabhängigeWirklichkeit.26 Wenn man sich in der Korrespondenztheorie nicht aufeine von uns unabhängige Wirklichkeit bezieht, würde die Klausel„wenn die Dinge so sind“ in der Wahrheitsdefinition in unübersehbarerWeise abgeschwächt und eventuell auch mit idealistischen Auffassungender Wirklichkeit verträglich sein, die zu verteidigen Erkenntnistheoreti-ker im allgemeinen nicht so spannend finden.

Diese einfache Korrespondenzauffassung der Wahrheit scheint mirals Hintergrund für erkenntnistheoretische Analysen relativ unproblema-tisch zu sein, wenn wir weiterhin offen dafür sind, auch die realistischenAnnahmen zur Disposition zu stellen. Trotzdem gibt es natürlich eineganze Reihe von Einwänden sowohl gegen den Realismus wie auch dieKorrespondenzkonzeption der Wahrheit, die zu einem großen Teil vonHilary Putnam kommen, der eine Art Galionsfigur des Antirealismus ge-

25 Für mathematische oder moralische Aussagen würde es natürlich schonschwieriger – wenn nicht unmöglich –, eine entsprechende Korrespondenzkon-zeption zu entwickeln.

26 Über den Zusammenhang zwischen Realismus und Wahrheit und eineweitergehende Explikation des Realismus siehe Devitt (1991). Wie ein weiterge-hender Realismus, der sich etwa auf wissenschaftliche Gegenstände bezieht, zuexplizieren ist, ist in Bartelborth (1993a) nachzulesen.

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worden ist, vielleicht, weil er sich selbst in der Frage des Realismus vomPaulus zum Saulus gewandelt hat. Diesen Einwänden nachzugehen bleibtallerdings anderen Arbeiten überlassen, in denen der Realismus dasHauptthema darstellt, während es an dieser Stelle genügen mag, denRahmen zu benennen, in dem die Diskussion stattfinden soll.

4. Resümee

Was kann und sollte der Erkenntnistheoretiker unter „Wahrheit“ verste-hen? Wenn er eine für epistemologische Projekte informative Antwortgeben möchte, mit der er an klassische erkenntnistheoretische Fragestel-lungen anknüpft, kann die Antwort meines Erachtens nur in einer korre-spondenztheoretischen Konzeption von Wahrheit zu suchen sein. Daßdiese trotz zahlreicher antirealistischer Kritiken durchaus hoffähigbleibt, versuchte ich auf zwei Wegen plausibel zu machen: Erstens wei-sen andere Auffassungen von Wahrheit trotz einer Verwässerung desWahrheitsbegriffs genügend eigenständige Probleme auf. Zweitens stützeich mich nur auf eine schwache und intuitive Wahrheitskonzeption, diegegen viele Einwände von antirealistischer Seite relativ immun erscheint,weil diese sich oft auf weitergehende Behauptungen einer stärkeren rea-listischen Position beziehen. Gegen diese Korrespondenzauffassung vonWahrheit läßt sich zumindest nicht mehr einwenden, sie sei völlig unver-ständlich oder unmöglich, so daß es keinen Sinn hätte, an klassische Er-kenntnisprobleme anzuknüpfen, ohne zunächst den metatheoretischenRahmen völlig zu verändern, in dem sie formuliert wurden. Eine Vertei-digung einer realistischen Korrespondenztheorie der Wahrheit erscheintvor allem dann aussichtsreich, wenn wir nicht den Strohmann betrach-ten, der uns von Antirealisten häufig als Realismus präsentiert wird, son-dern eher an unsere „gewöhnlichen“ Vorstellungen von Realität anknüp-fen und versuchen, diese zu präzisieren.

C. Zur Struktur unserer Erkenntnis

Eine der metatheoretischen Grundlagen meiner Überlegungen zur Er-kenntnistheorie, aber auch zur Wissenschaftstheorie, soll eine Bestands-aufnahme der Struktur unseres Wissens und gerade unseres empirischenWissens bilden. Dieses Vorgehen erwies sich als der einzig gangbare me-thodologische Weg (s. II.A) zur Begründung normativer Theorien derepistemischen Rechtfertigung. Die dafür notwendigen Untersuchungen

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unserer Vorstellungen von guter Rechtfertigung und paradigmatischenBeispielen von epistemischen Rechtfertigungen sind, was ihren empiri-schen Gehalt betrifft, auf einem recht allgemeinen Niveau angesiedelt.Es geht primär um Grundzüge unseres Wissens oder unserer Rechtferti-gungspraxis und nicht etwa um Einzelheiten der Rechtfertigungsstrukturbestimmter Individuen, die zu erforschen natürlich in das Gebiet derempirischen Psychologie fällt. Im Vordergrund dieses Abschnitts stehtdaher die Einführung und Explikation allgemeiner Unterscheidungenund das Erarbeiten einiger terminologischer Hilfen dazu. Insbesonderewird auch das wissenschaftliche Wissen einbezogen. Dazu finden wir inder Wissenschaftstheorie bereits eine Vielzahl von Untersuchungen undkonkreten Fallstudien vor, auf die ich mich im Verlauf der Arbeit immerwieder beziehen werde. Ihre systematische Analyse wird allerdings vor-nehmlich in den dritten eher wissenschaftsphilosophisch orientiertenTeil fallen. Die zu Beginn entwickelten begrifflichen Klärungen unseresWissens und seiner Zusammenhänge sollen an geeigneter Stelle im Ver-lauf der Arbeit verfeinert werden. Da das Ziel der Untersuchung eineTheorie der Rechtfertigung ist, sind besonders die Rechtfertigungszusam-menhänge und unsere intuitive Metatheorie dieser Zusammenhänge dieSchwerpunkte dieses Abschnitts.

1. Epistemische Subjekte

Wenn wir uns fragen, ob eine bestimmte Aussage oder Überzeugung ge-rechtfertigt ist oder wie sie zu rechtfertigen sein könnte, beziehen wiruns dabei immer – wenn auch manchmal nur versteckt – auf ein be-stimmtes Aussagensystem relativ zu dem die Rechtfertigung zu denkenist. Betrachten wir nur die oben genannten Beispiele, in denen jemandaufgefordert wird, eine Behauptung zu begründen. Er hat dann andereseiner Meinungen zu zitieren, wenn er diesem Verlangen nachkommenmöchte.27 Rechtfertigung von Meinungen ist daher nicht absolut zu den-ken, sondern immer relativ zu anderen Meinungen, auf die ich mich zuZwecken ihrer Rechtfertigung berufe.28 Gerechtfertigt sein per se könntedann vielleicht als ein Spezialfall verstanden werden und hieße etwa „ge-rechtfertigt sein für ein allwissendes Wesen“ oder „gerechtfertigt sein re-

27 Die bekanntesten und meines Erachtens erfolgversprechendsten Gegen-vorschläge zu dieser Ansicht werden in den Kapiteln (III.A) und etwa (III.B.5.b)behandelt und zurückgewiesen.

28 Als Spezialfall soll hier auch zugelassen werden, daß die Aussage sichselbst rechtfertigt oder die Rechtfertigungsmenge sogar leer ist.

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lativ zur Menge aller wahren Aussagen“. Daß dieser „Spezialfall“ nichtunproblematisch ist, ist offensichtlich.

Als rechtfertigende Aussagensysteme denken wir uns im allgemeinennicht beliebige Mengen von Aussagen, sondern solche Systeme, die wireinem epistemischen Subjekt S zuschreiben können. Wir fragen also nor-malerweise nicht, ob eine Überzeugung p per se gerechtfertigt ist, son-dern ob p für S gerechtfertigt ist. Es scheint mir geradezu selbstverständ-lich zu sein, daß nur eine solche Frage Sinn hat. Man wird sogar nochweiter relativieren müssen und sagen: p ist zum Zeitpunkt t für S ge-rechtfertigt. Natürlich sind für verschiedene mögliche epistemische Sub-jekte wie z. B. bestimmte Menschen oder Götter in verschiedenen Situa-tionen zu verschiedenen Zeiten andere Aussagen gerechtfertigt. In einererkenntnistheoretischen Untersuchung ist man dabei in erster Linie anbegründenden Zusammenhängen interessiert, die nicht mit den Eigen-heiten verschiedener Personen variieren sollten, sondern interpersonelleGültigkeit besitzen. Demnach könnte man von den jeweiligen Subjektenund ihren speziellen Eigenschaften auch abstrahieren und etwa von epi-stemischen Zuständen sprechen, wie das in einigen Bereichen der epi-stemischen Logik geschieht. Da ich mich aber nicht bei den zahlreichenzum Teil recht technischen Problemen einer Beschreibung oder gar for-malen Explikation epistemischer Zustände aufhalten möchte (und for-male Präzisierungen epistemischer Zustände an dieser Stelle auch fürverfrüht halte), belasse ich es dabei, in der anschaulicheren Redeweisevon epistemischen Subjekten und ihren Überzeugungen zu sprechen.29

Insbesondere sollen der Einfachheit halber nur Überzeugungen ohneweitere Qualifizierung wie etwa probabilistische Abschwächungen(Glaubensgrade) betrachtet werden, die eine vorerst unnötige Komplika-tion ins Spiel brächten.

Im folgenden ist also die genannte Relativierung von Rechtfertigun-gen auf ein Aussagensystem immer mit zu denken, auch wenn sie nichtexplizit angegeben wird. Dieser Punkt erscheint selbstverständlich undseine Erwähnung fast überflüssig, wenn er nicht in bestimmten erkennt-

29 Einige Erkenntnistheoretiker wie Chisholm und Lehrer, sprechen stattvon den Überzeugungen einer Person lieber davon, welche Aussagen sie als wahrakzeptiert. Was jemand tatsächlich glaubt oder überhaupt zu glauben bereit ist,ist vielleicht eher eine Frage seiner emotionellen und motivationellen Situation,während das Akzeptieren von bestimmten Aussagen als wahr, stärker unsere epi-stemische Bewertung zum Ausdruck bringt. Der Einfachheit halber möchte ichauf diese Möglichkeit der Differenzierung verzichten und spreche nur schlichtvon den Überzeugungen und Meinungen einer Person.

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nistheoretischen Debatten wieder vergessen würde, was mich späterzwingen wird, auf ihn zurückzugreifen.

Hauptsächlich werde ich unter „epistemischem Subjekt“ an Men-schen und ihre Überzeugungen denken, aber auch andere Möglichkeitenwerden keineswegs ausgeschlossen. So könnten Gruppen von Menschen– man denke nur an die vielbeschworene „scientific community“ –, Tie-re, Computer oder Gott als epistemische Subjekte auftreten. Das istauch nicht unüblich, so spricht etwa Lehrer in (1987) von „social know-ledge“, für das er nahezu dieselben Bedingungen wie für individuellesWissen postuliert.

2. Inferentielle Rechtfertigungen

Eine weitere Abgrenzung, die bisher schon implizit vorausgesetzt wurde,soll noch explizit angegeben werden. Wenn ich von Überzeugungen oderWissen oder unserem Wissenskorpus spreche, so beziehe ich mich damitimmer auf Entitäten, die die Struktur von Aussagen (Propositionen) ha-ben, also wahrheitswertfähig sind. Für die zu rechtfertigenden Aussagenist das naheliegend, denn wir suchen nach Wahrheitsindikatoren für sie,was zumindest voraussetzt, daß sie selbst wahrheitswertfähig sind. Aberauch die Rechtfertigung besteht wiederum aus Aussagen und ihren infe-rentiellen Beziehungen zur rechtfertigenden Aussage. In der Diskussionfundamentalistischer Ansätze der Epistemologie (III.B) werde ich dane-ben zwar auch Vorschläge für andere Rechtfertigungsverfahren untersu-chen, aber auf ein generelles Problem solcher Ansätze, die etwa von ei-ner direkten Konfrontation bestimmter Aussagen mit unserer Wahrneh-mung sprechen, sei schon an dieser Stelle hingewiesen. Wenn ein be-stimmter Wahrnehmungszustand zur Rechtfertigung herangezogen wird,so läßt sich immer die Frage stellen, ob er vielleicht neben anderem auchkognitiven Gehalt besitzt, d.h. ob er bestimmte Aussagen beinhaltet, wiedaß das Haus vor mir rot ist. Ist das der Fall, so können wir die Recht-fertigung natürlich auf diese Aussagen beziehen, die er beinhaltet. Ist dasaber nicht der Fall und der Wahrnehmungszustand, wird von uns so cha-rakterisiert, daß er keine begrifflich bestimmten und behauptenden Be-standteile enthält, so bleibt es ein offenes Problem, wie ein solcher Zu-stand überhaupt rechtfertigend für eine Aussage wirken kann.

Der Hinweis auf die propositionale Struktur von Meinungen sollMeinungen unter anderem von anderen Arten von Informationsbesitzabgrenzen (vergleiche dazu Bieri 1987, 17ff). Auch Thermostaten habenin einem gewissen Sinn bestimmte Informationen über die Temperatur

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ihrer Umgebung. Doch ich möchte den Begriff der Überzeugung so an-spruchsvoll benutzen – und das ist meines Erachtens in der Erkenntnis-theorie auch erforderlich (s. dazu III.A.1.d) –, daß man ihnen in diesemSinne keine Überzeugungen zusprechen darf. Das scheint schon deshalbsinnvoll, weil sie ihre Informationen nicht in einer Weise intern reprä-sentieren, die zu unseren Zuschreibungen von Überzeugungen paßt.Ohne daß ich mich zu weit in die Gefilde der Philosophie des Geistesoder der Sprachphilosophie vorwagen möchte, seien doch einige Intui-tionen genannt, die meine Verwendung des Überzeugungsbegriffs leiten.Dazu gehört, daß derjenige, der eine Überzeugung hat, über eine Spra-che verfügt und die in Frage stehende Überzeugung auch in dieser Spra-che repräsentiert werden kann. Die Formulierung ist bewußt so vorsich-tig gewählt, weil ich keineswegs behaupten möchte, daß die interneSpeicherung dieser Überzeugungen ebenfalls immer in propositionalerForm erfolgen muß. Aber auch wenn sie z. B. für die uns gerade nichtbewußten Überzeugungen, die den überwältigenden Anteil an unserenÜberzeugungen ausmachen, in nicht propositionaler Struktur vorgenom-men würde, so können wir sie doch nur in propositionaler Form alsGrundlage für unser erkenntnistheoretisches Räsonieren verfügbar ma-chen – jedenfalls, wenn es uns um bewußte Rechtfertigungen von Über-zeugungen handelt, wie sie für Wissen erforderlich sind. Für kognitiveRechtfertigungen wird man weiterhin verlangen, daß das epistemischeSubjekt die fraglichen Überzeugungen auch verstehen kann und nichtnur nachplappert wie ein Papagei. Die zuletzt genannte Bedingung ist of-fensichtlich sinnvoll, aber ihre Explikation ist wiederum ein eigenständi-ges und sicher schwieriges Thema der Philosophie des Geistes. In mei-nem Projekt soll es nur um kognitive epistemische Rechtfertigungen ge-hen, wie sie der menschlichen Erkenntnis eigentümlich sind, und dieForderung nach inferentiellen Rechtfertigungen, bei denen die Rechtfer-tigungen im wesentlichen aus Aussagen bestehen, ist ihm daher angemes-sen.

Bezogen auf den Thermostaten dürfte diese Bemerkung verhältnis-mäßig leicht nachvollziehbar sein.30 Er besitzt zwar Informationen, aberer verfügt nicht in irgendeinem anspruchsvolleren Sinn über Rechtferti-gungen und noch nicht einmal über Überzeugungen. Neben solchen kla-ren Fällen stoßen wir auf eine Reihe anderer Beispiele, für die unsere In-tuitionen nicht so einmütig sind. Man kann vermutlich zwischen dem

30 Trotzdem werden wir in (III.A) noch Erkenntnistheorien kennenlernen,für die gerade der Informationserwerb von Thermostaten das Vorbild menschli-cher Erkenntnis abgibt.

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Thermostaten und dem Menschen eine Kette von Fällen konstruieren,für die Informationsbesitz relativ kontinuierlich an Überzeugungsähn-lichkeit gewinnt. Die Informationen werden immer stärker in einer se-mantisch zu nennenden Form abgelegt. Von diesen denkbaren Kettenkann ich nur einige Glieder anführen, die jeweils einige der für Überzeu-gungen notwendige Bedingungen erfüllen: Unsere Chromosomen spei-chern oder beinhalten hochkomplizierte Informationen in den DNS-Strängen. Man kann sogar wie Baines (1989) von einer genetischen Spra-che mit Sätzen und einer Grammatik sprechen, die aus vier Grundbau-steinen – Wörtern oder Buchstaben – ihre Informationen zusammensetztund sie mit Hilfe von Satzzeichen strukturiert. Das werde ich nur alsanaloge Verwendungen des Ausdrucks Sprache bezeichnen und möchtein derartigen Fällen nicht von Überzeugungen sprechen, die in unserenGenen niedergelegt sind. Dabei ist für mich die Intuition im Spiel, daßes so etwas wie eine bewußte Verarbeitung der Informationen in Formvon Propositionen geben muß, damit Überzeugungen vorliegen können.

Etwas schwieriger wird die Entscheidung schon im Falle von Schach-computern, bei denen eine Art inferentieller Verarbeitung der Informa-tionen stattzufinden scheint. Nach Dennett (z. B. 1987) sollten wir ih-nen Überzeugungen zuschreiben. Sein Argument dafür ist, daß wir unsauf diese Weise ihre Züge am besten erklären und sie am zuverlässigstenvorhersagen können. Diese Art der Zuweisung bestimmter Eigenschaf-ten zu Gegenständen der Welt scheint dem auch von mir geliebtenSchluß auf die beste Erklärung zu entsprechen. Daß ich Dennett darintrotzdem nicht folgen möchte, verlangt eigentlich nach einer umfangrei-cheren Diskussion, die aber eher in den Bereich der Philosophie des Gei-stes gehört. Hier mögen einige Bemerkungen ausreichen. Wenn wir nacheiner Erklärung suchen, so wünschen wir uns eine wahre Erklärung, diedie tatsächlichen Ursachen für ein Ereignis namhaft macht. Doch es istunklar, ob unsere propositionale Beschreibung des Computers das lei-sten kann. So paßt zu unserer Vorstellung von den jetzt konstruierbarenSchachcomputern – darüber was in einer sehr phantasievollen ScienceFiction Geschichte möglich sein könnte, möchte ich nicht weiter speku-lieren – eine Beschreibung, nach der ihre Strategien propositional reprä-sentiert werden, nicht kohärent hinein. Das wird schon in einer Betrach-tung des Schachprogrammbeispiels deutlich. Für Schachcomputer wissenwir, daß sie von ihrem Programmaufbau her anhand recht einfacherStellungs- und Variantenberechnungsverfahren arbeiten, die uns eher aneinen komplizierten Thermostaten als an bewußte Informationsverarbei-tung erinnern. Unsere Beschwörung: „Er plant einen heimtückischen

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Königsangriff“ werden wir daher als eine typische „als ob“ Beschreibungverstehen. Wir wählen dieses „als ob“ Vorgehen, nicht als beste Erklä-rung, sondern eher wegen seiner Prognosemöglichkeiten. Es erlaubt unswenigstens einige oberflächliche Vorhersagen, wie der Computer wohlweiterspielen wird. Aber wenn uns auch Schachcomputer intuitiv kaumgeeignete Kandidaten für die Zuschreibung von Überzeugungen zu seinscheinen, werden wir schwankend, wenn wir an höher entwickelteComputer oder Roboter denken. Spätestens bei Computern, die einenTuring-Test bestehen, d.h. mit denen man sich unterhalten könnte, ohnean der Unterhaltung selbst zu bemerken, daß es sich um einen Computerund nicht einen Menschen handelt, scheiden sich bekanntlich die Gei-ster.

Zugegeben, es handelt sich dabei zumindest zum Teil um eine termi-nologische Frage. Unser Überzeugungsbegriff ist zu einem gewissenGrad anthropomorph und widersetzt sich schon daher einer solchen Zu-schreibung. Das möchte ich aber an dieser Stelle nicht zu stark machen.Man könnte ja auch für eine sinnvolle Revision dieses Begriffs im Rah-men einer Theorie des Geistes plädieren, die uns von einem derartigenArten-Chauvinismus befreit. Die Frage, ob auch Computer Überzeugun-gen haben, wird hier also nicht entschieden.

Ein anderer Schritt, der unsere Ansicht, ob echte Überzeugungenvorliegen, auf die Probe stellt, ist der zum Tier. Bei manchen höher ent-wickelten Arten gibt es sicher Ansätze für eine Sprache. Wie dieser Fallletztlich einzuschätzen ist, ist hauptsächlich eine Frage an den Fachwis-senschaftler und nicht an den Philosophen. Daher kann ich bestenfallseine laienhafte Ansicht anbieten, die sich auf mein geringes Wissen zudiesem Problem stützt und eher als Klärung meiner Verwendung desWortes „Überzeugung“ dienen soll. Demnach scheinen mir Verständi-gungsmöglichkeiten bei Tieren im allgemeinen noch nicht hinreichend,um von einer Sprache mit Aussagen in dem vollen Sinne zu sprechen,den ich hier verwende, da es auch bei ihnen keine entsprechend reflek-tierte Verwendung von Überzeugungen zu geben scheint. Doch daranhängt für mein Projekt nicht viel. Wenn wir ihnen Überzeugungen zu-schreiben möchten, kommen wir allerdings zunächst in Schwierigkeiten,weil uns ihr Repräsentationssystem dazu nicht ausreichend vertraut ist.Schon aus diesem Grund werde ich mich auf Überzeugungen beschrän-ken, die in einer uns bekannten menschlichen Sprache formuliert sind.

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3. Implizites Wissen

Ein weiterer Punkt, der ebenfalls den Fragenkomplex betrifft, inwieweitman davon sprechen darf, daß reale epistemische Subjekte also z. B.Menschen in bestimmten Überzeugungen gerechtfertigt sein können,soll noch gestreift werden. Die Zuschreibung von Überzeugungen undinferentiellen Rechtfertigungen ist mit vielen aus der Philosophie desGeistes bekannten Problemen behaftet. Diese stehen meist deshalb nichtim Vordergrund meiner Aufmerksamkeit, weil ich eher die Frage unter-suche, ob für ein vorgegebenes Überzeugungssystem S eine bestimmteÜberzeugung p gerechtfertigt ist, statt die, wann und wie man jemandem(gerechtfertigte) Überzeugungen zuschreiben kann. Trotzdem tauchenim Zusammenhang mit Erkenntnistheorien immer wieder Fragen da-nach auf, wie realistisch ihre Rechtfertigungskonzeptionen sind und obMenschen in diesem Sinn überhaupt über Begründungen für irgendwel-che ihrer Überzeugungen verfügen. Auch wenn dieser Aspekt nicht zen-tral für mein Vorhaben ist, sind dazu einige Bemerkungen angebracht.

Unsere Zuschreibungen von Überzeugungen und Rechtfertigungenbeziehen sich nicht nur auf unsere jeweils bewußten Überzeugungen –das sind im Normalfall auch nur sehr wenige –, sondern müssen eben-falls unsere impliziten Überzeugungen mit umfassen. Schon unser eigenerName oder unser Geburtsdatum und vieles mehr, das uns ganz vertrautist, sind uns in vielen Augenblicken nicht bewußt. Das sollte natürlichnicht in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen dazu führen, daßwir auf die Behauptung festgelegt sind: Wir wüßten nicht, wie wir hei-ßen. Es erscheint erkenntnistheoretisch relativ unproblematisch, uns ent-sprechende unbewußte Überzeugungen zuzuschreiben.31 Das gilt in ähn-licher Weise für viele Überzeugungen unseres Alltagslebens. Etwa daßTelefone im allgemeinen nicht eßbar sind, Treppen unser Gewicht tragen– wohlgemerkt hier ist vom Normalfall die Rede –, und unzählige ande-re Dinge dieser Art.32 Diese impliziten oder unbewußten Überzeugungensind am ehesten als Dispositionen zu bestimmten bewußten Überzeugun-gen oder einem entsprechenden etwa sprachlichem Verhalten zu verste-hen. Wenn wir von einer realistischen Auffassung von Rechtfertigung re-den möchten, sollten tatsächlich zumindest einige unserer gewöhnlichen

31 Diese impliziten oder unbewußten Überzeugungen haben natürlichnichts gemein mit den unterbewußten Überzeugungen, von denen in der Psycho-analyse die Rede ist, die uns ja gerade nicht so leicht zugänglich sind.

32 Wie umfangreich dieses Wissen ist, ist wohl erst durch die „frame"-Pro-bleme in der KI Forschung richtig deutlich geworden.

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Überzeugungen gerechtfertigt sein. Das kann aber nur der Fall sein,wenn wir die impliziten Überzeugungen und Rechtfertigungen, die wirdispositionell besitzen, mit einbeziehen. Das entspricht unserem alltägli-chen Sprachgebrauch und sollte uns daher vertraut erscheinen.

Sicherlich lassen sich Grenzbereiche angeben, wo schwer zu ent-scheiden ist, ob jemand eine bestimmte Überzeugung implizit besitzt.Das Ergebnis von mathematischen Berechnungen, ist uns im allgemeinenvorher nicht bekannt. Haben wir dann schon vor unserer expliziten Be-rechnung die Überzeugung, daß 1235+4234=5469 ist? In diesen Fällengibt es eine nachprüfbare Disposition zuzustimmen, aber oft verlangtman von Überzeugungen mehr, etwa, daß wir sie zumindest irgendwannschon einmal bewußt gehabt haben. Diese Forderung erscheint mir je-doch zu stark, wenn wir an andere Fälle denken. Dann gehörten näm-lich auch selbstverständliche Meinungen, die auch in unserem Verhaltendokumentiert werden, wie die, daß Telefone meistens nicht eßbar sind,nicht zu unseren impliziten Überzeugungen, auf die wir bei der Suchenach einer Rechtfertigung bezug nehmen dürfen. Wenn wir uns in einerRechtfertigung unserer Ansichten jedoch nur auf derartig selbstverständ-liche Meinungen zu stützen haben, wird kaum jemand einwenden, manwäre in seiner Ansicht deshalb nicht gerechtfertigt gewesen, weil mannie vorher bewußt gedacht hatte, daß Telefone nicht eßbar seien. Damitsollen unter „implizite Überzeugungen“ sowohl die momentan unbe-wußten Überzeugungen wie auch einfache Ableitungen aus unserenÜberzeugungen, die wir bei kurzer Reflexion ziehen, subsumiert wer-den. Gewisse Vagheiten der Zuschreibung impliziter Meinungen könnenhier nicht ausgeräumt werden, sind aber tolerierbar, denn im Vorder-grund stehen Fragen nach der Natur des Rechtfertigungszusammen-hangs und nicht in erster Linie Fragen danach, ob man von bestimmtenPersonen sagen kann, sie seien in ihren Meinungen gerechtfertigt.

Ebenso wie man viele Überzeugungen nur als implizite Überzeugun-gen zuschreiben kann, darf man natürlich auch von vielen Rechtferti-gungen nur impliziten Besitz erwarten. D.h., wir sind nach einer gewis-sen Reflektion auf das Ersuchen um eine Rechtfertigung in der Lage,eine solche zu produzieren (s.a. BonJour 1985, 20).33

Schon Descartes, der in den Meditationen von einer weitgehendenTransparenz unseres Geistes gegenüber sich selbst ausging, kannte das

33 Für unsere Überlegungen zur Rechtfertigungsstruktur unseres Wissensstehen viele langfristige Überzeugungen zur Verfügung. Gerade diese Überzeu-gungen können uns nicht immer bewußt sein, sondern sind meist nur implizit ge-geben.

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Problem impliziten Wissens. Allerdings birgt für Descartes das impliziteWissen immer eine Irrtumsmöglichkeit, die für bewußte Meinungennicht gegeben ist, denn implizites Wissen ist für ihn nicht klar und deut-lich. Klar und deutlich können stets nur unsere momentan bewußtenVorstellungen sein. Selbst für die mathematischen Wahrheiten gilt: So-bald wir nicht mehr an sie denken, sind wir uns ihrer nicht mehr sicher,weil sie uns in dem Moment auch nicht mehr klar und deutlich gegebensind. Um so mehr bedroht dieses Problem, daß wir unsere Aufmerksam-keit immer nur auf einen Teil unserer Meinungen richten können, jedenanderen Bereich unseres Wissens, so daß wir nach Descartes zur Über-windung des Zweifels immer auf Gott angewiesen sind:

Da ich von einer solchen Natur bin, daß ich, solange ich etwas ganzklar und deutlich erfasse, an dessen Wahrheit glauben muß, und daich aber auch von einer solchen Natur bin, daß ich nicht mein geisti-ges Auge immer auf dieselbe Sache richten kann, um sie klar aufzu-fassen, und die Erinnerung an die früher gebildete Meinung oft wie-derkehrt, so können, wenn ich nicht mehr auf die Gründe achte, de-rentwegen ich so geurteilt habe, mir andere Gründe entgegentreten,die mich, falls ich nicht wüßte, daß Gott existiert, leicht von derMeinung abbringen würden, und so hätte ich niemals von irgendei-ner Sache ein wahres und sicheres Wissen, sondern nur unbestimmteund veränderliche Meinungen. (Descartes 1986, 173)

Die mathematischen Wahrheiten sind implizit verfügbar und jederzeitins Bewußtsein zurückzurufen. Aber Descartes muß Gott bemühen, umsich solcher impliziten Wahrheiten auch in ihrem impliziten Zustand ge-wiß zu sein. Descartes Konzeption von Rechtfertigung ist damit deutlichanspruchsvoller, als die hier vertretene, da er für Rechtfertigungen Ge-wißheit verlangt, die uns momentan bewußt ist, während ich auch impli-zite rechtfertigende Überzeugungen und Rechtfertigungen gelten lasse.Das hängt natürlich mit seiner strengen Forderung nach Sicherheit oderUnkorrigierbarkeit (s.a. III.B) zusammen, der ich mich nicht anschließenwerde. Sie stellt für implizite Überzeugungen das Problem des Erinne-rungsirrtums in den Vordergrund, auf dessen Bedeutung für die Erkennt-nistheorie ich in (IV.B.4) zu sprechen komme.

4. Epistemische Arbeitsteilung

Ein grundlegendes Phänomen realer epistemischer Begründungen wirddurch eine überwiegend vereinfachende und stark von historischen Posi-

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tionen geprägte Erkenntnistheorie außer acht gelassen. Gegen das einfa-che Bild der Empiristen – und das entsprechend einfache auf Seiten derRationalisten –, daß eine einzelne Person auf sich allein gestellt be-stimmte Beobachtungen macht, dann Theorien dazu entwickelt und siedurch diese Beobachtungen rechtfertigt, soll eine Konzeption von Wis-sen und Rechtfertigungen konstruiert werden, die besser zu unserem of-fensichtlich arbeitsteiligen Wissenserwerb paßt. Daß unser Wissenserwerbim Regelfall kein Unternehmen für Einzelgänger ist, beschreibt GilbertHarman in der folgenden Form:

Learning about the world is a cooperative enterprise. One comes toaccept things as a member of one’s family or society of profession orculture. It is only when people become methodologically self-con-scious that they distinguish their own private opinions from thethings they accept as members of a group. (Harman 1986, 51)

Für naturalistische Vorgehensweisen haben diese evidenten soziologi-schen und psychologischen Tatsachen auch erkenntnistheoretische Kon-sequenzen, die eine Beschränkung auf eine solipsistische Position – undinsbesondere eine Beschränkung auf einen Solipsismus der Gegenwart,wie wir ihn z. B. bei Descartes als erkenntnistheoretischen Ausgangs-punkt finden – nicht einfangen kann. In unserem Wissenskorpus stoßenwir an zahlreichen Stellen auf Überzeugungen, deren wir uns mit gutenGründen sicher sind, die wir jedoch nicht allein begründen können, jafür die wir nicht einmal über implizite Rechtfertigungen verfügen. Zuihrer Rechtfertigung sind wir wesentlich auf das Zeugnis und die Kennt-nisse anderer Leute angewiesen. Das betrifft bereits die einfachsten Mei-nungen über alltägliche Dinge, die in der Nachbarschaft, der Politik, inanderen Ländern oder schlicht in unserer Abwesenheit passieren, istaber viel brisanter für den Bereich wissenschaftlichen Wissens.

Bei Überzeugungen über die Schädlichkeit von Cholesterin, die Wir-kungen von Vitaminen, das Verhalten von Atomen oder Computern etc.sind wir auf die Urteile von medizinischen und anderen Fachleuten undihre Rechtfertigungen für diese Meinungen angewiesen. Unsere Über-zeugungen, daß die Sonne morgen wieder aufgehen wird, daß der Mondsich um die Erde bewegt usw., sind sicher nicht unbegründet, so daß wirsogar höhere Wetten darauf abschließen würden. Und wer möchte wohldagegen halten? So wettete der Mathematiker G.H. Hardy täglich, daßdie Sonne wieder aufgeht, sein Vermögen gegen einen halben Penny(nach Dawkins 1990, 137). Was könnten die meisten von uns aber alsBegründung dieser Ansicht anführen? Wohl nicht viel, wenn sie nicht

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auf Fachbücher und Experten verweisen. Direkt zugänglich bleiben fürviele nur Rechtfertigungen wie: Daß es schon immer so war, wobei siedas aus eigener Anschauung nur für sehr wenige Tage der Erdgeschichtebehaupten können, und vielleicht noch, daß die Erde sich dreht.

Aber selbst ein heutiger Physiker, der sich guten Gewissens auf seineKenntnisse der Mechanik bei der Erklärung der Bewegung von Sonne,Erde und Mond stützen kann, hat damit direkten kognitiven Zugangnur zu einem recht kleinen Teil der gesellschaftlich verfügbaren Daten.Er kann unmöglich die vielen Meßdaten über die Umlaufbahnen im Ge-dächtnis haben. Ohne die enorme Zahl von Daten sind die mechani-schen Theorien allein aber noch keine gute Begründung unserer Annah-men. Sollen wir nun sagen, daß wir uns geirrt haben über die Güte deruns zur Verfügung stehenden Rechtfertigungen? Womöglich gibt es kei-nen einzigen Menschen, der auch nur einen kleinen Teil unserer Gründefür unser Modell des Sonnensystems in der Form parat hat, daß man sieihm als eine Form von impliziten Wissen zuschreiben könnte. Sie sindinzwischen vielmehr in Computern gespeichert. Gibt es daher nieman-den, der in den genannten Annahmen im starken Sinn des Wortes ge-rechtfertigt ist? Das scheint keine plausible Beschreibung unserer epi-stemischen Situation zu sein. Einige Wissenschaftler etwa der Nasa ha-ben Zugriff auf diese Daten und können sie im Prinzip zum Test unsererVorstellung vom Planetensystem heranziehen und tun das bei vielen Ge-legenheiten auch. Wir dürfen darauf verweisen, daß bestimmte Daten anbestimmten Stellen im Prinzip verfügbar sind und von Wissenschaftler-gruppen ausgewertet werden, auch wenn wir sie selbst nicht parat habenund noch nicht einmal wissen, welchen Umfang und welcher Art dieseDaten sind. Sollten wir diese Möglichkeiten zur Rechtfertigung unsererAnsichten ausschließen, weil sie nicht der klassischen stark solipsistischgeprägten Vorstellung vom Erkenntniserwerb im Rahmen eines metho-dologischen Solipsismus entsprechen, würden wir auf die umfangreich-ste Wissensquelle verzichten, die uns zur Verfügung steht. Dann erhaltendie Skeptiker sofort die Oberhand, die uns vorwerfen, daß wir auchschwächere Anforderungen als absolute Gewißheit niemals erreichenwerden.

Eine Aufgabe der heutigen Erkenntnistheorie ist zu untersuchen, wiedas sozial verfügbare Wissen in die Begründungen unserer Meinungeneingehen kann. Worüber wir zunächst verfügen, sind Einschätzungendarüber, wie bedeutsam die von der Gesellschaft gesammelten Datensind und darüber hinaus Einschätzungen, aus welchen Quellen wir überwelche Dinge mit welchem Zuverlässigkeitsgrad Auskunft erlangen kön-

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nen. Unsere Ansichten über die Bewegungen der Planeten sind durch dieimmensen wissenschaftlichen Datensammlungen tatsächlich begründe-ter, als es entsprechende Ansichten der Menschen früherer Jahrhundertewaren, obwohl das neu hinzugekommene Wissen eher ein Expertenwis-sen ist, das für keinen Menschen mehr direkt zugänglich ist. Daß die ge-sellschaftlich verfügbaren Theorien und Daten eine begründete Sicht derPlanetenbewegung abgeben, ist für uns auch anhand der Erfolge derRaumfahrt indirekt erkennbar. Erfolgreiche Flüge zum Mond, Erd- undandere Satelliten sind für uns am ehesten verständlich, wenn wir davonausgehen, daß unsere wissenschaftlichen Theorien über ihre Bewegun-gen und Anziehungskräfte im wesentlichen richtig sind. Indizien dafür,daß die wissenschaftlichen Theorien der Mechanik ein richtiges Bild derWelt zeichnen, finden wir noch in vielen anderen Bereichen.

Wir können uns an unzähligen Stellen – die Beispielliste zeigte nureinen sehr kleinen Ausschnitt – auf Rechtfertigungen für unsere Über-zeugungen stützen oder berufen, die wir nicht direkt zur Verfügung ha-ben und die überhaupt keine Einzelperson zur Gänze parat haben kann,die aber in unserer Gesellschaft verfügbar sind. Das bezeichne ich, inauch inhaltlich enger Anlehnung an Putnams Überlegungen zur Bedeu-tungstheorie (s. Putnam 1979, 37ff), als epistemische Arbeitsteilung. DieRechtfertigungen lassen sich stückweise zusammensetzen, wobei dieStücke verschiedenen Personen verfügbar sind. Trotzdem können sich inbestimmter Weise auch andere oder sogar alle Mitglieder der Gesell-schaft darauf berufen. Man kann zu Zwecken der Abgrenzung Begrün-dungen dieser Art als indirekte Rechtfertigungen durch epistemische Ar-beitsteilung bezeichnen. Erst wenn wir sie berücksichtigen, erhalten wirMenschen, die nicht nur mit lauter unbegründeten Meinungen ausge-stattet sind. Ein Projekt einer heutigen Erkenntnistheorie sollte es somitsein, den Formen gesellschaftlichen Wissens und unseren indirekten Zu-griffsmöglichkeiten darauf im Hinblick auf Rechtfertigungen weiternachzuspüren. Dieses Vorhaben ist natürlich zu einem guten Teil ein em-pirisches Forschungsprogramm, für das sich eine Zusammenarbeit etwamit der Wissenschaftssoziologie anbietet.

In dem Sinne, daß wir uns nicht direkt auf eigene Überzeugungen inunseren Rechtfertigungen stützen, habe ich Rechtfertigungen, die sichwesentlich auf gesellschaftlich verfügbares Wissen stützen, „indirekte Be-lege“ für die Wahrheit unserer Meinungen genannt. Indirekte Belege be-handeln wir häufig mit einer gewissen Skepsis. Oft mit größerer Skepsisals die meisten anderen Indizien. Man denke nur an die Einschätzungvon Behauptungen, die man nur vom Hören-Sagen kennt, vor Gericht.

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Epistemisch problematisch ist in diesen Fällen meist, daß wir nur wenigüber die epistemische Zuverlässigkeit der Quellen dieser Behauptungaussagen können. Jede indirekte Rechtfertigung, die sich auf gesell-schaftlich verfügbares Hintergrundwissen bezieht, bedarf aus diesemGrund einer besonders sorgfältigen Einschätzung der Zuverlässigkeit ih-rer Quelle, die über ihren rechtfertigenden Charakter mitbestimmt. Sol-che Einschätzungen müssen sich ihrerseits im allgemeinen wieder aufnur sozial verfügbare, ebenfalls recht indirekte Belege stützen, ohne daswir die Begründungsstrukturen, die diesem gesellschaftlichen Wissen zu-grunde liegen selbst überprüfen könnten. Daneben werden wir zur Be-wertung indirekter Belege prüfen, wie kohärent sie sich in unser bisheri-ges Hintergrundwissen einpassen lassen. Die Belege, die wir dafür her-anziehen sind vielfältig, und die verlangten Einschätzungen stehen in ei-nem umfangreichen Netz von anderen Überzeugungen und Metaüber-zeugungen, anhand dessen sie in holistischer Weise vorgenommen wer-den.

Ähnliches trifft aber auch für unsere eigenen Erinnerungen zu, wennwir sie in epistemisch verantwortlicher Weise einschätzen wollen. Wirmüssen uns dazu ganz analog überlegen, unter welchen Bedingungen wirunseren Erinnerungen trauen können (s. dazu IV.B.4). Sicherlich sindviele Teile des gesellschaftlich begründeten Wissens epistemisch eindeu-tig unproblematischer, als z. B. viele unserer Erinnerungen, von denenwir oft genug erfahren müssen, daß sie uns trügen. Trotzdem lassen wirMeinungen, die sich auf Erinnerungen berufen, meist ohne große Be-denken für Rechtfertigungen zu. Daher sollten wir auch die indirektenRechtfertigungen durch epistemische Arbeitsteilung nicht schlechter be-handeln und mit entsprechenden Vorbehalten, was ihre Zuverlässigkeitbetrifft, ebenfalls akzeptieren.

Ein ganz anderer Zugang zur epistemischen Arbeitsteilung findetsich noch außerhalb erkenntnistheoretischer Überlegungen in sprachphi-losophischen Positionen, die den sozialen Beitrag zur Bedeutung unsererÄußerungen und Überzeugungen betonen. Wenn wir z. B. als einzigesHeilmittel gegen Probleme um „private Sprachen“ im Sinne Wittgen-steins wesentlich auf die Sprachgemeinschaft angewiesen sind, so wirddie gesellschaftliche Arbeitsteilung bereits für die Festlegung, was wirmeinen, konstitutiv und natürlich um so mehr für alles, was darauf auf-baut. Doch diesen sprachphilosophischen Zusammenhängen kann ich andieser Stelle nicht weiter nachgehen, sondern möchte mich statt desseneinem engen Anknüpfungspunkt zur Argumentationstheorie zuwenden.

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Die epistemische Arbeitsteilung trifft sich mit einer Argumentform,die in der Argumentationstheorie gut bekannt ist, nämlich dem Argu-ment aus der Autorität. Zwischen epistemischen Rechtfertigungen undArgumenten gibt es eine enge Beziehung, aber doch Unterschiede in derBetonung (s. Kap I). Während es für Rechtfertigungen nur auf den tat-sächlichen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und gerechtfertigterMeinung ankommt, spielt für Argumente stärker ihr pragmatischer Kon-text eine Rolle; an wen sie adressiert sind, welches Hintergrundwissender jeweilige Adressat mitbringt und ob sie so formuliert sind, daß sieÜberzeugungskraft besitzen. Trotzdem sollte sich im Prinzip aus jederguten Rechtfertigung ein Argument gewinnen lassen, indem man sie di-daktisch so aufbereitet, daß sie den Adressaten überzeugt. Andererseitsgehört zu einem guten Argument meines Erachtens ebenfalls, daß esnicht nur gut ankommt, sondern auch sachlich richtig ist, also eine guteRechtfertigung dahinter steht. Den Rechtfertigungen per epistemischerArbeitsteilung entsprechen dabei in etwa die Argumente aus der Autori-tät, in denen man sich für eine Behauptung auf Autoritäten beruft. DieseArgumentform hatte lange Zeit keinen guten Ruf, stand sie doch auf denersten Blick dem Fehlschluß eines argumentum ad hominem verdächtignahe, aber eine Präzisierung zeigt auch deutlich die erkenntnistheore-tisch bedeutsamen Unterschiede. Für die prinzipielle Zulässigkeit vonArgumenten aus der Autorität tritt Salmon überzeugend ein:

Nur ein notorischer Besserwisser kann annehmen, daß es niemals er-laubt ist, sich auf Autorität zu berufen, denn bei der Aneignung undAnwendung von Wissen kann man nicht darauf verzichten, sich inangemessener Weise einer Autorität zu bedienen. Wenn wir jede Be-rufung auf Autorität ablehnen würden, dann müßten wir zum Bei-spiel behaupten, daß niemand jemals Grund hat, das Urteil eines er-fahrenen Arztes über eine Krankheit zu akzeptieren. Man müßtevielmehr versuchen, selbst ein erfahrener Arzt zu werden, würdeaber dabei der unlösbaren Aufgabe gegenüberstehen, sich niemalsauf die Ergebnisse anderer Experten verlassen zu dürfen. Anstatt dieBerufung auf Autorität vollkommen abzulehnen, müssen wir versu-chen, die berechtigten von den unberechtigten Berufungen auf Auto-rität zu unterscheiden. (Salmon 1983, 184)

Als eine korrekte Argumentationsform für diesen Argumenttyp nenntSalmon dann (1983, 185) den Schluß:

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Das Argument aus der Autoritätx ist bezüglich p eine verläßliche Autorität.x behauptet, daß p.Also: p

Wichtig für die Anwendung einer Berufung auf eine Autorität, ist im-mer, daß sie gerade für dieses Gebiet eine Autorität ist, und außerdem istnatürlich kein umgekehrter Schluß – im Sinne eines argumentums ad ho-minem – zulässig, nach der jemand keine Autorität darstellt und wir des-halb seiner Ansicht für falsch halten sollten. Auch das angegebene Sche-ma für die Bezugnahme auf Autoritäten weist viele Analogien zu denRechtfertigungen auf, die wir in (IV.B) für Beobachtungsüberzeugungenkennenlernen werden. Weiterhin nennt Salmon schon die wichtigstenFehlerquellen für Schlüsse aus der Autorität, die uns Hinweise bieten,wie das Argument in umfangreicheren Rechtfertigungszusammenhängeneingeschätzt werden kann. In dieser Richtung können wir auch über in-direkte Rechtfertigungen weiter nachdenken. Das muß aber späteren Ar-beiten überlassen bleiben.

Auf eine Konsequenz der epistemischen Arbeitsteilung möchte ich andieser Stelle wenigstens noch aufmerksam machen. Spätestens durch dieepistemische Arbeitsteilung gewinnt das wissenschaftliche Wissen einegrundlegende Bedeutung für all unser Wissen und unsere Rechtfertigun-gen. Man kann sagen – und das ist zunächst einfach als Tatsachenbe-hauptung und nicht als Bewertung gemeint –, daß die Wissenschaftendas Rückgrat des gesellschaftlichen Wissens darstellen, sind sie dochauch von der Gesellschaft mit der systematischen Sammlung von Er-kenntnissen beauftragt. Jeder, der sich in Widerspruch zu diesem Wissenbegibt, hat Schwierigkeiten, seine Überzeugungen in einer offenen Dis-kussion gesellschaftlich durchzusetzen. Das zeigt deutlich den geradezubasalen Charakter dieses Wissens in den modernen Gesellschaften.Selbst von Sekten und okkulten Bewegungen wird dieser Primat des wis-senschaftlichen Wissens zunehmend – wenn auch häufig nur implizit –anerkannt. Sie bemühen sich zum einen darum, die meist vorhandenenWidersprüche zu wissenschaftlichen Auffassungen zu beseitigen oderherunterzuspielen und zu verschleiern, und andererseits bemühen siesich sogar häufig, sich einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, indem sie behaupten, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen.

In jedem Fall findet das wissenschaftliche Wissen auf dem Wege überdie epistemische Arbeitsteilung Eingang in die impliziten Rechtfertigun-gen aller Mitglieder der Gesellschaft. Darauf hingewiesen, daß sie sichdazu in Widerspruch befinden, werden sie es in aller Regel als Anfech-

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tung empfinden, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Was natür-lich keineswegs bedeutet, daß man seine liebgewonnen Überzeugungenzugunsten dieser Erkenntnisse einfach aufgibt, denn dazu gibt es zu vieleImmunisierungsmöglichkeiten für unsere Meinungen. Auch für politi-sche Entscheidungen bildet das wissenschaftliche Wissen die bestim-mende Wissensgrundlage, soweit es denn verfügbar ist und nicht aus be-stimmten Gründen unterdrückt wird. Das belegen unter anderem die re-gelmäßigen Anhörungen von Experten, Enquete-Kommissionen etc.,was natürlich ebensowenig wie im individuellen Fall bedeuten muß, daßes in entsprechenden politischen Entscheidungen auch tatsächlich umge-setzt wird. Doch zumindest zeigen diese Analysen die große Bedeutung,die speziell dem wissenschaftlichen Wissen für unser Überzeugungssy-stem in unserer intuitiven Einschätzung beigelegt wird.

Das Problem, wie sich gesellschaftliches Wissen definiert, ist mit demHinweis auf die institutionalisierten Wissenschaften natürlich nochlängst nicht gelöst, denn auch wissenschaftliches Wissen ist ja selbst wie-der Gruppenwissen. Dazu, wie wissenschaftliches Wissen zu charakteri-sieren ist, gibt es verschiedene Vorschläge, die ich im dritten Teil der Ar-beit ansprechen möchte.

5. Hierarchische Strukturen

Unser Überzeugungssystem ist alles andere als eine amorphe Menge vonisoliert nebeneinanderstehenden Einzelerkenntnissen, sondern besitzt imGegenteil vielfältige innere Struktur. Auf einige Unterscheidungen, die inder Erkenntnistheorie eine gewisse Bedeutung besitzen, komme ich nunzu sprechen. In unserem Netz von empirischen Überzeugungen über dieWelt – von mathematisch/logischen, ästhetischen, religiösen oder morali-schen Überzeugungen soll hier nicht die Rede sein – finden sich zuersteinmal verschiedene Grade der Allgemeinheit unserer Meinungen, Über-zeugungen über andere Überzeugungen, darunter insbesondere Ansichtenüber den Grad der Rechtfertigung bestimmter Meinungen und anderesmehr. An diesem Punkt möchte ich anhand einiger klassifizierender Be-griffe den Blick auf die Vielfalt unseres Überzeugungssystems und einigeseiner strukturierenden Dimensionen richten, bin aber weit davon ent-fernt, dafür Vollständigkeit zu beanspruchen. Wie wichtig die Beachtungder Komplexität gewöhnlicher Überzeugungssysteme gerade für eine Be-wertung der Kohärenztheorien ist, soll schon an dieser Stelle ein Beispielerläutern.

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Kritiker von Kohärenzkonzeptionen der Erkenntnis übersehen oftdiese Vielfalt und schätzen daher die Wirksamkeit von Kohärenztests inunserem Meinungssystem völlig falsch ein. So lautet ein in verschiede-nen Varianten immer wiederkehrender Einwand gegen Kohärenz alsMaßstab für den Umbau unseres Überzeugungssystems: Wir können dieKohärenz unserer Meinungen ganz einfach dadurch erreichen, daß wirBeobachtungen, die nicht kohärent zu unseren Überzeugungen passen,zurückweisen. Damit bliebe, so der Einwand, unser Meinungssystem ko-härent. Dieser Einwand übersieht gleich zwei wichtige Dinge. Erstensliegt ihm die Verwechslung von Kohärenz mit Konsistenz zugrunde. Aufdie beschriebene Art mögen wir ein konsistentes Meinungssystem behal-ten, aber Kohärenz verlangt auch positive Bestandteile, also etwa infe-rentielle Beziehungen der Meinungen untereinander, die durch das Vor-liegen von Konsistenz keineswegs gewährleistet werden können (s.IV.A.1). Das einfache Abweisen von Beobachtungsüberzeugungen ist da-her kaum geeignet, zur Kohärenz eines Meinungssystems beizutragen.Kohärenz verlangt vielmehr, daß man sich darum bemüht, weitere Über-zeugungen zu gewinnen, die eine stärkere Vernetzung der Meinungenzur Folge haben. Kohärenzforderungen wirken in einem komplexenÜberzeugungssystem also sicherlich auf eine völlig andere Art als ein ein-facher Inputfilter.

Der zweite Aspekt, an dem der Vorwurf die innere Vielfalt unsererÜberzeugungssysteme übersieht, ist der unserer epistemischen Überzeu-gungen. Die meisten Menschen haben bestimmte Metaüberzeugungendergestalt, daß normale Beobachtungen für uns den wichtigsten Input anInformationen über die Außenwelt bieten. Es paßt dann eben nicht ko-härent in unser Überzeugungssystem hinein, diese schlicht abzulehnen.Sobald wir überhaupt die Augen aufmachen, nehmen wir unwillkürlichwahr und erwerben – ob wir es nun wollen oder nicht – bestimmte Be-obachtungsüberzeugungen. Indem wir diese zurückweisen, verletzen wirauf eklatante Weise unsere Vorstellungen von der Welt und unserer Stel-lung in ihr, wenn wir nicht wenigstens eine passende Geschichte darübererzählen können, wieso es sich gerade bei diesen Wahrnehmungen umeine Sinnestäuschung gehandelt hat. Damit paßt dieses Vorgehen nichtkohärent zu unseren epistemischen Anschauungen darüber, wie grundle-gend und zuverlässig derartige Beobachtungsüberzeugungen über dieWelt Auskunft geben. Der Kritiker eines Kohärenztests hat diese Meta-überzeugungen nicht beachtet und scheint einer zu einfachen Vorstellun-gen unserer Überzeugungssysteme aufgesessen zu sein. Um dem wenigs-

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tens etwas entgegenzuwirken, möchte ich einiger Dimensionen der Ein-teilung unserer Erkenntnisse auflisten.

a) Grade von Allgemeinheit

Wir haben Überzeugungen über das, was wir gerade wahrnehmen: überGegenstände unserer Umgebung und auch über unseren eigenen Zu-stand (Schmerz, Müdigkeit, Freude etc.). Diese bezeichne ich häufig alsBeobachtungsüberzeugungen oder manchmal (hoffentlich selten) auchnachlässiger als Beobachtungen. In Beobachtungsüberzeugungen geht esim allgemeinen um Einzeldinge, etwa konkrete Gegenstände unsererUmgebung oder bestimmte Personen, mit denen wir in Kontakt kom-men. Daneben verfügen wir über viele allgemeinere Annahmen oder so-gar kleine Alltagstheorien, auf die wir uns im Alltag verlassen, die mitunseren Beobachtungen auf viele Arten zusammenhängen. So glaubenwir vielleicht, daß Fritz ein jähzorniger Mensch ist. Das betrifft dannnicht nur unsere momentanen Beobachtungen, sondern auch Vergange-nes und Zukünftiges. Dabei besitzen wir nicht nur Minitheorien überEinzeldinge, sondern natürlich auch eine Vielzahl von Ansichten überGegenstandstypen. Das sind Theorien, die schon auf einem etwas höhe-ren Allgemeinheitsniveau liegen. Etwa, daß man Menschen, die zumJähzorn neigen, besonders in Streßsituationen nicht reizen sollte (hiergleich als Handlungsanweisung formuliert, aber die zugrundeliegendenÜberzeugungen kann jeder erraten), daß Zucker sich in Wasser auflöst,daß Sonnenbaden und Sonnenbrände unser Hautkrebsrisiko erhöhen,daß Zinssenkungen die Inflation anheizen können u.v.m. Einige der Bei-spiele stammen aus dem wissenschaftlich technischen Bereich, wie auchbei vielen anderen ersichtlich ist, daß bestimmte wissenschaftliche Theo-rien hinter ihnen stehen. Da sind sicherlich psychologische Theorien zunennen, wie die Freudsche, die zum Teil auch in unsere Alltagsansichtenüber andere Menschen Eingang gefunden hat, politische, medizinischeund biologische Theorien oder auch Theorien über die Entwicklung un-seres Sonnensystems und die Entstehung von Leben auf der Erde, sowieüber unsere eigene Entwicklungsgeschichte. Gerade die letzteren hattenbekanntlich wieder starke Auswirkungen auf bestimmte religiöse Auffas-sungen, was zeigt, wie auch inhaltlich zunächst entferntere Bereiche un-tereinander vernetzt sein können.

In der nächsten Allgemeinheitsstufen über diesen Theorien findenwir dann z. B. Theorien der Chemie oder Physik über allgemeine Zu-sammenhänge zwischen Stoffen oder über Phänomene aus der Elektro-dynamik, Thermodynamik, Mechanik und dem atomaren Bereich. Diese

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sind für die meisten Menschen wohl nur noch als gesellschaftliches Wis-sen verfügbar, übernehmen aber in unserer Wissensvernetzung trotzdemwesentliche Aufgaben. Dazu kommen allgemeine Annahmen, die aufverschiedenen Ebenen in verschiedenen Interpretationen anzutreffensind. Etwa die, daß bestimmte Ereignisse Ursachen einer bestimmten Artbesitzen, daß gewisse Kontinuitäten in allen natürlichen Prozessen zufinden sind und sich Dinge nur mit bestimmten Geschwindigkeiten kon-tinuierlich ändern. Das mag als kleiner Potpourri genügen, der ein wenigder Vielfalt unsere Überzeugungssysteme und ihrer Hierarchie von All-gemeinheit aufzeigt.

Einem weitverbreiteten Irrtum möchte ich in diesem Zusammenhanggleich vorbeugen. Zumindest handelt es sich um eine Frage, die ichnicht vorentschieden wissen möchte, weil sie gerade zwischen funda-mentalistischen Ansichten von Rechtfertigung und Kohärenztheorienstrittig ist. Sie wird oft genug als unbemerkte Voraussetzung einge-schmuggelt, wenn man sich anschickt, dem Skeptiker Paroli zu bieten.Bei Watkins (1984, 79) finden wir zunächst fünf Ebenen von Aussagen,die ich etwas verkürzt wiedergebe:34

level-0: perceptual reports of a first person, here-and-now type.level-1: singular statements about observable things or events.level-2: empirical generalisations about regularities displayed by

observable things and events.level-3: exact experimental laws concerning measurable physical

magnitudes.level-4: scientific theories that are not only universal and exact but

postulate unobservable entities.

Gegen eine entsprechende Einteilung unserer Überzeugungen habe ichnichts, nur gegen eine Beschreibung dessen, was ein Erkenntnistheoreti-ker zu leisten hat, anhand dieser Beschreibung. Nach Watkins muß erdem Skeptiker entgegentreten, der uns fragt: Wie kann denn eine Aussa-ge eines höheren Typs durch Aussagen niedrigerer Typen begründet wer-den? Der Skeptiker macht dann meist eine Unterbestimmtheit der höhe-ren Ebenen durch die niedrigeren Typen geltend und fragt weiter, wiewir denn die induktiven Verfahren begründen wollen, mit denen wiraufzusteigen gedenken. Wenn wir uns nun brav ans Werk machen undetwa entscheidungstheoretische Überlegungen zur Begründung eines In-duktionsprinzips entwickeln, so haben wir schon eine Voraussetzung ge-schluckt, die ich mit einer Einteilung dieser Art noch nicht verbinden

34 Für Beispiele zu den Ebenen muß ich auf Watkins (op. cit.) verweisen.

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möchte: Rechtfertigungen laufen nur von unteren Ebenen zu höherenund nicht umgekehrt. Dadurch würden die unteren Ebenen in irgendei-ner Form als erkenntnistheoretisch primär gegenüber den unteren Ebe-nen ausgezeichnet. Meist denkt man daran, daß sie auch sicherer sindund der Skeptiker räumt uns – wenn er versöhnlich gestimmt ist – zu-mindest für die Ebene 0 oder sogar 1 ein, daß sie unproblematisch sei.Diese Voraussetzung möchte ich nicht unterschreiben, und ich werdespäter (s. III.B) sogar explizit gegen sie argumentieren.

b) Metaüberzeugungen

Zusätzlich zu unseren Überzeugungen über die Welt haben wir auchviele Überzeugungen über unsere Überzeugungen, also Metaüberzeugun-gen. Dazu gehören zunächst schlicht Überzeugungen darüber, welcheÜberzeugungen wir haben. Auf diese etwas paradox anmutenden Metaü-berzeugungen und die speziellen Probleme ihrer Begründung gehe ich inAbschnitt (IV.B.4) ein. Weiterhin haben wir verschiedene Arten von Ein-teilungen und Bewertungen unserer eigenen Überzeugungen, die selbstwieder als Metaüberzeugungen einer bestimmten Art zu beschreibensind. Darunter fallen z. B. Bewertungen, welches Wissen für uns wichtigist, welches wir geheimhalten sollen, welche unserer Überzeugungenvielleicht unmoralisch sind, aber auch Einschätzungen – und die sind fürdie Erkenntnistheorie besonders interessant – epistemischer Art darüber,in welchen unserer Meinungen und in welchem Ausmaß wir in diesenMeinungen gerechtfertigt sind, wie sie entstanden sind, wie Begründun-gen für sie überhaupt auszusehen haben etc. Auch Theorien darüber,was eine gute Rechtfertigung oder Erklärung ist, wird man hier ansie-deln. D.h. übrigens auch, daß ein großer Teil der Philosophie in den Be-reich dieser Metaüberzeugungen einzuordnen ist. Darunter fallen eben-so unsere Ansichten über induktive Zusammenhänge wie die Kenntnisder Paradoxien, die sie bedrohen (Hempel, Goodman); ebenso unsereMeinungen zu wissenschaftsphilosophischen Themen wie die, daß unse-re Theorien fallibel sind, wie auch unsere Ansichten zur Wissenschafts-geschichte, die vielleicht in einem kumulativen Fortschrittsbild oder eherin Kuhnschen wissenschaftlichen Revolutionen zu sehen sind.

c) Rechtfertigungshierarchien

Das für uns spannendste Thema im Rahmen der Metaüberzeugungensind natürlich die epistemischen Überzeugungen und vermutete und tat-sächliche Rechtfertigungsverhältnisse in unserem Wissenskorpus. Gibt es

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so etwas wie basale Überzeugungen, für die wir keine Rechtfertigungenannehmen und auch keine benötigen, wie das die Fundamentalisten be-haupten; oder finden wir zumindest asymmetrische Verhältnisse, wo-nach bestimmtes Wissen zur Rechtfertigung anderer Teile unseres Wis-sens benutzt wird und nicht umgekehrt? Am besten zugänglich ist hierwiederum der große Bereich des gesellschaftlich verfügbaren Wissens in-nerhalb der Wissenschaften, da dieses Wissen größtenteils explizit nie-dergelegt und damit für eine Analyse relativ gut zugänglich ist. In demweiten Gebiet der Wissenschaften von historischen Kenntnissen bis hinzu Erkenntnissen über unsichtbar kleine Teilchen findet sich zudem eineAnzahl verschiedener epistemisch interessanter Phänomene, die in spe-zielleren wissenschaftsphilosophischen Arbeiten besprochen werden, aufdie ich mich zu gegebener Zeit beziehen werde.

Einige informelle Aspekte möchte ich jedoch noch kurz erwähnen.Da sind zum einen gewisse typisch asymmetrische Zusammenhänge derBegründung und der epistemischen Priorität. Etwa eine im allgemeinenerkenntnistheoretisch grundlegende Stellung der Physik. Man sprichtzwar viel über den grundlegenden Status der Physik in den Naturwissen-schaften, aber es ist oft nicht klar, in welchem Sinn das geschieht. DieFrage etwa, ob sich andere Disziplinen definitorisch auf die Physik redu-zieren lassen, ist mindestens sehr umstritten. Andererseits scheint es ei-nen wahren Kern in der Redeweise von einer grundlegenden Stellungder Physik zu geben, den man genauer bestimmen kann. Am deutlich-sten wird er meines Erachtens in der epistemisch herausgehobenen Stel-lung der Physik. Die Physik steckt geradezu den Rahmen ab, innerhalbdessen die anderen Wissenschaften sich zu bewegen haben. Wenn wir inder Biologie auf Phänomene stoßen, die gegen ein allgemeines Ener-gieerhaltungsprinzip zu verstoßen scheinen, so werden wir zunächst da-von ausgehen, daß wir den fraglichen Vorgang noch nicht richtig ver-standen haben und bestimmte Energieformen bisher unseren Messungenentgangen sind. Hier wird den Gesetzen der Physik eindeutig Prioritätgegenüber denen der Biologie eingeräumt. Solche Vorrangregeln sind si-cher nicht dogmatisch und starr zu befolgen, aber sie haben doch großesGewicht für unsere epistemischen Einschätzungen von wissenschaftli-chen Hypothesen.

Ähnlich sieht der Vergleich mit anderen Disziplinen aus. Die Gesetzeder Physik werden in den Geschichtswissenschaften herangezogen – et-wa um das Alter bestimmter Objekte zu bestimmen – um bestimmte hi-storische Hypothesen zu begründen, aber umgekehrt werden historische

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Theorien kaum zur Untermauerung physikalischer Gesetze eingesetzt.35

Man erinnere sich nur daran, wie rasch der Streit der Historiker um dieEchtheit der „Hitler-Tagebücher“ des Stern beendet wurde, als eine phy-sikalisch chemische Analyse zu dem Ergebnis kam, das Papier wäre nichtalt genug für echte Tagebücher. Den Ergebnissen der physikalischen Un-tersuchungen vertraute man hier schneller und hielt sie für zuverlässiger,als die historischer oder sprachlicher Analysen. Dabei stoßen wir auchauf epistemische Voraussetzungsverhältnisse, wonach bestimmte Theo-rien sich auf die Richtigkeit anderer Theorien stützen müssen. Das giltauch innerhalb der Einzeldisziplinen dort, wo man die Frage nach einerepistemischen Schichtung oder Hierarchie versus holistischen Zusam-menhängen aufwerfen kann.36 Des weiteren stoßen wir in den Wissen-schaften auf epistemische Einschätzungen und Kategorisierungen, die al-lerdings nicht immer explizit vorgenommen werden. Penrose (1989,152) gibt dazu eine explizite grobe Kategorisierung von Theorien in „su-perb“, „useful“ und „tentativ“ an, wobei wir den physikalischen Theo-rien der ersteren Kategorien weit mehr vertrauen und etwa auch davonausgehen, daß wir sie nicht so bald aufgeben werden, als denen, die wirnur für vorübergehend nützlich halten, die Penrose unter „tentative“einordnet.37

6. Resümee

Im Rahmen eines methodologischen Naturalismus ist ein ausgefülltesBild der Struktur unserer Erkenntnis der natürliche Ausgangspunkt zurEntwicklung einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung. Einigewichtige Elemente dieses Bildes wurden dazu vorgestellt. So sind Recht-

35 Auf einen möglichen Ausnahmefall hat mich Ulrich Gähde aufmerksamgemacht. Um 1844 benannte der Earl von Rosse ein Gebiet entsprechenderForm im Sternbild Stier „Krabben-Nebel“ oder Krebsnebel, in dem nach histori-schen Aufzeichnungen um 1054 ein neuer Stern aufgetaucht war. Aus der Aus-dehnungsgeschwindigkeit dieser Nebelwolke konnte er auf den Zeitpunkt einerSupernovaexplosion zurückrechnen, der gut mit den historischen Daten überein-stimmte. In einem solchen Beispiel, wird man die historisch überlieferten Datenden astronomischen Berechnungen als epistemisch überlegen betrachten, denndie astronomischen Berechnungen geben uns keine sehr eindeutigen Anhalts-punkte für das Auftreten zurückliegender Supernovaexplosionen und ihrer ge-nauen Zeitpunkte.

36 Für die Frage nach einer epistemischen Hierarchie im Rahmen der Re-lativitätstheorie s. Bartelborth 1993a.

37 Dazu zählt er übrigens auch seine eigenen Twistortheorien.

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fertigungen immer zu relativieren auf ein epistemisches Subjekt oder einÜberzeugungssystem, das sich im wesentlichen als Aussagenmenge cha-rakterisieren läßt, und haben die Form von inferentiellen Zusammen-hängen. Um zu einem einigermaßen realistischen Bild auch individuellerepistemischer Rechtfertigungen zu gelangen, sind dabei ebenso impliziteMeinungen und Begründungen zu berücksichtigen, wie auch das Phäno-men gesellschaftlichen Wissenserwerbs, das ich „epistemische Arbeitstei-lung“ genannt habe. Außerdem lassen sich verschiedene eventuell sogarepistemisch bedeutsame Hierarchien in unseren Überzeugungssystemenidentifizieren. Zum einen kommen unsere Überzeugungen in unter-schiedlichen Abstufungen von Allgemeinheit daher, von Beobachtungs-überzeugungen bis zu allgemeinsten Theorien, aber darüber finden wirMetaüberzeugungen, und andere epistemische Bewertungen der unter-schiedlichen Bereiche empirischer Erkenntnis, die in jeder umfassendenkohärentistischen Analyse unserer Überzeugungen eine Rolle für die Be-wertung eingehender Informationen zu übernehmen haben.

III Begründungsstrategien

Ehe ich mich einem konkreten Verfahren zur Rechtfertigung von Über-zeugungen und seinen Details zuwenden kann, müssen in diesem Kapiteleinige generelle Weichenstellungen vorgenommen werden. EpistemischeRechtfertigungen können in recht unterschiedlichen Richtungen gesuchtwerden, die jeweils allgemeine, aber bindende Vorgaben abgeben, wieeine Rechtfertigung auszusehen hat. Diese Richtungen möchte ich kurzals unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien bezeichnen. Einige werdeich in diesem Kapitel vorstellen und auf ihre Brauchbarkeit für die Ent-wicklung einer angemessenen Rechtfertigungstheorie prüfen. Dabei sol-len zwei Rechtfertigungsstrategien – und zwar die externalistische unddie fundamentalistische – zurückgewiesen werden. Beide Strategien ver-suchen ein vollkommen anderes Bild von der Struktur unserer Begrün-dungen zu zeichnen, als ich es vertreten werde. Mit ihrer Widerlegungwird daher der Weg erkennbar, auf dem schließlich die gesuchte Theorieder epistemischen Rechtfertigung zu entwickeln ist. Das muß eine inter-nalistische Kohärenztheorie einer bestimmten Form sein, die ich aber erstim nächsten Kapitel vorstelle. Da die plausibelsten und heutzutage ge-bräuchlichsten fundamentalistischen Positionen externalistische Varian-

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ten des Fundamentalismus sind, wende ich mich als erstes generell gegenden Externalismus, was die Diskussion der dann noch verbliebenen fun-damentalistischen Rechtfertigungskonzeptionen erheblich erleichternwird.

A. Externalistische Strategien

Eine wesentliche Unterscheidung, nach der Erkenntnistheorien eingeteiltwerden, ist die von externalistischen und internalistischen Elementen inRechtfertigungen. Diese Einteilung wird allerdings nicht einheitlich vor-genommen, weshalb es auch nicht zweckmäßig erscheint, eine ganz prä-zise Formulierung für die Unterscheidung anzubieten. Die würde einigenAnsätzen nicht gerecht werden. Statt dessen möchte ich nur die Ideendieser Unterscheidung nennen.38

Interne Elemente von Rechtfertigungen für ein epistemisches Sub-jekt S sind solche Elemente, die für S selbst kognitiv zugänglichsind.

Dabei ist „kognitiv zugänglich“ in dem Sinn zu verstehen, daß es sich umsemantische Informationen handelt, zu denen das Subjekt bewußten, dis-positionellen oder einfachen inferentiellen Zugang hat. Darunter sindwiederum die impliziten Überzeugungen, die wir uns im Prinzip ins Be-wußtsein rufen können, mitgemeint.39

Externe Elemente einer Rechtfertigung für S sind solche, die für Snicht intern sind.

Externalistische Positionen in der Rechtfertigungsdebatte, d.h. Rechtfer-tigungstheorien, für die Rechtfertigungen wesentlich externe Elementeenthalten, beziehen sich auf Bedingungen, die für das Subjekt der Über-zeugung in dem Sinn extern sind, daß sie nicht zu seiner Beschreibung

38 Speziellere Charakterisierungen dieser Positionen finden sich z. B. beiMoser (1990, 69ff).

39 Auf eine Position, die sich als eine Ausnahme zu dieser Regel versteht,den Fundamentalismus Mosers, für den die basalen Überzeugungen durch in-terne Zustände gerechtfertigt werden, die keine semantische Information haben,werde ich in (III.B.5.b) gesondert eingehen. Auch Moser fällt allerdings unter dieallgemein gehaltene Bestimmung von internalistischen Elementen, wenn man„kognitiv zugänglich" nicht ganz so anspruchsvoll versteht, wie das in der gege-benen Erläuterung der Fall ist.

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oder Kenntnis der in Frage stehenden Situation gehören. Die Überzeu-gungen müssen nur in einer besonderen Beziehung zu den Tatsachen ste-hen, von denen die Überzeugungen handeln. Dabei ist an natürliche ob-jektive Beziehungen gedacht, wie dem Zusammenhang zwischen einembeobachtbaren Ereignis und einer ihm entsprechenden Beobachtungsüb-erzeugung, die über geeignete Sinneswahrnehmungen miteinander ver-bunden sind. Eine solche Beziehung muß nur tatsächlich bestehen, aberdas epistemische Subjekt muß noch nicht einmal die geringste Ahnungvom Bestehen dieses Zusammenhangs haben, um in seiner Meinung ge-rechtfertigt zu sein. Derartige externe Bedingungen oder Tatsachen stel-len meist auf den kausalen oder naturgesetzlichen Zusammenhang zwi-schen den in Frage stehenden Tatsachen und der sie ausdrückendenÜberzeugung ab. Spätere Beispiele werden noch weitergehend erläutern,an welche Zusammenhänge und Tatsachen ein Externalist dabei denkenmag. An der Frage, ob solche externen Elemente erkenntnistheoretischbedeutsam sind, scheiden sich die Geister. Einige Erkenntnistheoretikerfordern, Rechtfertigungen müßten vollständig intern sein (z. B. BonJour,Moser, Pollock), andere begnügen sich mit überwiegend externen Recht-fertigungen (z. B. Armstrong, Dretske, Goldman, McGinn, Nozick) undeine dritte Gruppe vereinigt beide Elemente in ihren Theorien (z. B.Lehrer, Alston, Swain) in bestimmten Mischformen.

1. Externalistische Wissenskonzeptionen

a) Eine neue Wissensbedingung

Ein zentrales Motiv für die gegenwärtige Popularität externer Bedingun-gen in der Erkenntnistheorie ist das bereits vorgestellte Gettier Problemfür die Platonische Wissensdefinition. Eine Abwandlung des in (I.A) er-wähnten Beispiels im Stile Gettiers soll dieses Motiv begreiflich machen.Besagter Student Fritz fährt wieder einen BMW, und ich habe außerdemallen Grund anzunehmen, daß Fritz dieser BMW gehört. Dann habe ichauch Grund zu schließen auf:

(*) Einer meiner Studenten besitzt einen BMW.

In dem derzeitigen Beispiel sei der Vater von Fritz jedoch nicht ganz sogroßzügig wie im ersten Fall, und Fritz gehöre der BMW diesmalnicht.40 Meine Meinung, daß einer meiner Studenten einen BMW be-

40 Auf juristische Unterscheidungen zwischen Besitz und Eigentum möchteich hier verzichten.

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sitzt, sei aber trotzdem richtig, da der Student Franz, der nur zu beschei-den ist, um damit zur Uni zu fahren und über den ich nichts weiterweiß, „heimlich“ einen BMW sein eigen nennt. Damit erfüllt auch dieMeinung (*) die Platonische Wissensbedingung, die wir jedoch abermalsnicht als Wissen einstufen würden, denn daß diese Meinung wahr ist,verdanke ich nur einem glücklichen Zufall. Harman (1973, 47) schlägtangesichts derartiger Beispiele als weitere Wissensbedingung vor, die be-treffende Meinung solle nicht wesentlich auf einer falschen Annahmeberuhen:

No False ConclusionsReasoning that essentially involves false conclusions, intermediate orfinal, cannot give one knowledge.

In meinem Beispiel wird deutlich, daß die betreffende Meinung (*) sichauf die falsche Annahme gründet, daß Fritz einen BMW besitzt. DieHarmansche Bedingung kann in diesem Beispiel also eine natürliche Er-klärung anbieten, warum es sich bei (*) nicht um Wissen handelt. Soweit so gut. Leider sind nicht alle Gettier Beispiele von dieser Art. Schonin dem in Kapitel (I.A) angegebenen Fall ist es nicht so klar, auf welchefalsche Annahme meine Überzeugung, daß ein bestimmter Student einenBMW besitzt, tatsächlich wesentlich angewiesen ist. Hängt sie etwa we-sentlich davon ab, daß der Student selber weiß, daß er einen BMW hatund daß er mich nicht täuschen will? Die Schilderung des Beispiels er-zwingt diesen Zusammenhang keineswegs.

Noch schwieriger wird es für Harman in anderen Fällen, wo es sehrkünstlich erscheint, überhaupt noch von Räsonment oder Inferenzen zureden, in deren Verlauf man sich auf falsche Annahmen stützt. Denkenwir uns den Fall, in dem jemand – nennen wir ihn Hans – auf ein Bildder Person X hinter einem Fenster schaut, aber denkt, er sieht X durchdas Fenster. Ein Spaßvogel hat ein Bild von X hinter dem Fenster ange-bracht, um Hans an der Nase herumzuführen. Hans schaut nun in dasFenster und glaubt X stünde vor ihm. Tatsächlich steht X zufällig in die-sem Moment wirklich hinter seinem Bild hinter dem Fenster, nur daßHans ihn nicht sehen kann. Man kann nun kaum behaupten, Hanswüßte, daß X vor seinem Fenster steht, denn dieses Zusammentreffen isthöchst zufällig. Trotzdem erfüllt auch diese Meinung von Hans die Pla-tonischen Wissensbedingungen, denn das Vorsichsehen einer Person,muß man wohl als guten Grund für die Meinung, daß diese Person tat-sächlich vor uns steht, betrachten. Da die Meinung sehr unwillkürlich inHans durch seine Wahrnehmung hervorgerufen wurde, erscheint es ge-

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zwungen, diesen Wahrnehmungsvorgang als eine Form von Ableitung zurekonstruieren, in der falsche Annahmen auftreten. Das muß Harman je-doch tun, will er derartige Beispiele innerhalb seiner Wissensanalyse ab-weisen.

Weit natürlicher ist da schon die Antwort der sogenannten Reliabili-sten (vom englischen „reliable“), die mit einigem Vorsprung die Haupt-gruppe der Externalisten stellen. Das Problem, das ihrer Ansicht nachalle genannten Gettier Beispiele kennzeichnet, ist, daß der (kausale) Pro-zeß, der zu der betreffenden Überzeugung geführt hat, kein zuverlässigerVorgang war, um wahre Meinungen zu produzieren. Hätte Franz nichtheimlich einen BMW besessen oder hätte X nicht zufällig vor dem Fen-ster gestanden, wären trotzdem die betreffenden Überzeugungen ent-standen, dann aber falsch gewesen. Ihre Wahrheit war somit nur ein be-sonderer Zufall der ganz speziellen Umstände des Beispiels. Normaler-weise würden wir dagegen in entsprechenden Situationen zu falschenMeinungen gelangen. Der ganze Vorgang der Überzeugungsbildung hatalso nur glücklicherweise zu einer wahren Meinung geführt und ist da-mit keineswegs ein „zuverlässiger Prozeß“ der Überzeugungsbildung.Das macht ihn ungeeignet, Wissen zu begründen. Die Reliabilisten for-dern als Konsequenz dieser Analyse die neue Wissensbedingung, daß derProzeß der Überzeugungsbildung zuverlässig sein muß. Das macht in ih-ren Augen oft sogar die Forderung nach einer Begründung der Meinungim herkömmlichen Sinn in der Wissensdefinition überflüssig. DieseÜberlegungen waren in verschiedenen Varianten der Ursprung externali-stischer Theorien des Wissens.41

b) Was heißt „zuverlässige Überzeugungsbildung“?

Ehe ich die Positionen der Reliabilisten weiter diskutieren kann, muß ichmich kurz der durchaus nicht einfachen Frage zuwenden, wie sich diezentralen Begriffe reliabilistischer Positionen explizieren lassen. Die Ant-worten darauf sind denn auch unterschiedlich, weisen aber zumindest ineine gemeinsame Richtung. Stellvertretend und illustrierend für vielePhilosophen, die externalistische Positionen verteidigen, sollen hier dietypischen Konzeptionen von zwei prominenten Vertretern, D.M. Arm-strong und A.I. Goldman, zur Sprache kommen. Armstrong hat als Ana-logie für seine externalistische Konzeption von Rechtfertigung das Ther-mometer als Anzeiger bestimmter Informationen gewählt. Damit die An-

41 Z. B. von Goldman (1967), Armstrong (1973), Nozick (1981), McGinn(1984) und anderen.

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gaben des Thermometers zuverlässig sind, muß es einen gesetzesartigenZusammenhang zwischen Temperatur und der Anzeige des Thermome-ters geben. Ähnlich muß man sich nach Armstrong auch den Zusammen-hang im Fall unserer Überzeugungen vorstellen:

Er verlangt einen gesetzesartigen Zusammenhang zwischen der Mei-nung von S, daß p, und dem Sachverhalt, daß p, der so beschaffenist, daß die Meinung nur auftritt, wenn der Sachverhalt auch tatsäch-lich vorliegt (Armstrong 1973, 166).

Dagegen stellt Goldman (1979, 10; 1986, 103ff) relativ direkt auf dieZuverlässigkeit des kognitiven Prozesses ab, der zu der Überzeugung ge-führt hat. Für ihn ist das eine Frage der Wahrheitsquote mit der der Pro-zeß zu wahren Meinungen führt.42 Das scheint mir auch der Kerngedan-ke des Reliabilismus zu sein, auf den letztlich alle anderen Spielarten inirgendeiner Weise zurückgreifen sollten. Weshalb das so ist, kann ichhier nur andeuten. Denken wir etwa an kausale oder gesetzesartige Va-rianten wie die von Armstrong, so haben die alle mit einem Problem zukämpfen: Die Redeweise von Naturgesetzen oder Kausalität wird kaumverständlicher oder leichter explizierbar sein als die von Wahrheitsquo-ten. Für die Frage nach der Gesetzesartigkeit zeigen das die Diskussio-nen um Goodmans „grue“-Paradox, für die Kausalität werde ich dasselbst in Kapitel (VIII.D.2) ausführen. Beide Varianten stellen bestenfallsSpezialfälle des Wahrheitsquoten-Ansatzes dar, die sich zudem nurschwer auf Fälle mathematischen Wissens oder Wissens um allgemeineZusammenhänge ausdehnen lassen. Deshalb werde ich mich direkt denErfolgsaussichten der Wahrheitsquotenkonzeption zuwenden.

Sie hat zunächst zwei Dinge genauer anzugeben, nämlich wie manden Prozeß zu beschreiben hat, der zuverlässig sein sollte, und für wel-che Situationen wir diese Zuverlässigkeit von ihm erwarten können. Zu-nächst zur Beschreibung, unter der ein Prozeß betrachtet wird, bzw. derAuswahl eines Prozeßtyps. Es geht natürlich nicht nur darum, ob daskonkrete Ereignis der Meinungsbildung ein wahres oder falsches Resul-tat ergeben hat, sondern, ob es zu einem Typ von Vorgang gehört, derim allgemeinen vertrauenswürdig ist. Hier liegt eine Gefahr der Triviali-sierung des ganzen Ansatzes. Hat eine Meinungsbildung zu einer fals-chen Meinung geführt, waren dafür ganz bestimmte Faktoren verant-

42 Eine ausführliche und kritische Diskussion der verschiedenen Ausgestal-tungen des Reliabilismus durch Goldman gibt Haack (1993,139ff).

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wortlich,43 von denen wir sagen könnten, daß sie einen unzuverlässigenProzeßtyp charakterisieren. Jedenfalls sind wohl alle Meinungsbildun-gen, an denen sie in entsprechender Weise beteiligt sind, unzuverlässig.Als zuverlässig würden dann nur noch Prozesse gelten, in denen keinederartigen Faktoren mehr zu finden sind. Doch das heißt schlicht, daßnur noch solche Prozesse als zuverlässig gelten dürfen, die tatsächlich zuwahren Meinungen führen. Das erscheint überzogen und liefe auch derIdee des Reliabilismus zuwider. Reliabilisten verlangen nicht nach wahr-heitsgarantierenden Prozessen – welche sollten das auch sein? –, sondernnur nach im allgemeinen tatsächlich zuverlässigen.

Pollock (1986, 114ff) verdeutlicht das Problem von der Seite realisti-scher Bedingungen her: Kein Prozeß von Überzeugungsbildung ist per seund unter allen Umständen zuverlässig. Prozesse, die wir normalerweisefür zuverlässig halten, wie solche, die auf Sinneswahrnehmungen visuel-ler Art beruhen, sind es nur unter bestimmten Lichtverhältnissen wennwir keine Drogen konsumiert haben und die skeptischen Hypothesenfalsch sind. D.h., wir werden dabei nicht von einem Cartesischen Dä-mon hinters Licht geführt und unser visueller Kortex wird nicht von ei-nem Computer in der Hand eines bösen Wissenschaftlers stimuliert, son-dern auf die „normale“ Weise. Der Reliabilist steht vor der Aufgabe, denSituationstypus so spezifisch zu beschreiben, daß klar wird, wieso einentsprechender Vorgang der Sinneswahrnehmung zuverlässig ist, abernicht so spezifisch, daß nur noch die eine in Frage stehende Sinneswahr-nehmung darunter fällt. Außerdem wird jeder realistische Prozeßtyp,den wir nennen können, immer auch Fälle beinhalten, in denen er zufalschen Meinungen führen kann. Hier drohen natürlich gleich wiederGettier Beispiele.

Als weiteres Erschwernis kommt hinzu, daß auch das Umgekehrtegilt: Prozesse, die wir normalerweise als lächerlich betrachten, könnenin bestimmten Situationen durchaus sinnvoll sein. Wittgensteins Beispiel,daß man sich nicht zum zweitenmal dieselbe Zeitung kauft, um das zuüberprüfen, was in der ersten steht, erscheint uns normalerweise alsselbstverständlich. Aber es gibt Umstände, unter denen das ein recht zu-verlässiges Prüfverfahren ist. Ein in manchen Krimis beliebter Trick istes, in einzelne Ausgaben einer Zeitung getürkte Artikel einzufügen, etwaum einem Agenten vorübergehend eine glaubwürdige Fassade zu verpas-sen. Das würde aber sofort auffallen, wenn man sich am nächsten Zei-tungsstand eine anderes Exemplar derselben Zeitung kaufen würde, um

43 Dem sollten jedenfalls die Reliabilisten zustimmen, die sich den Prozeßals einen determinierten Kausalvorgang denken.

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damit die Meldung zu überprüfen. Selbst für dieses scheinbar absurdeVerfahren gibt es also durchaus geeignete Anwendungsbedingungen. Indiesem Beispiel wird die starke Situationsabhängigkeit dieser Verfahrendeutlich. Wieviel davon soll in die Auszeichnung eines Prozeßtyps einge-hen?

Um der trivialen und uninformativen Charakterisierung von zuver-lässigen Prozessen als denen, die immer nur zu wahren Meinungen füh-ren oder solchen, die alle Eigenschaften eines einzelnen konkreten Pro-zesses aufweisen, zu entkommen, sind wir gezwungen, von epistemischähnlichen Prozessen zu sprechen. Wie bestimme ich aber, was als episte-misch ähnlich zu gelten hat? Ist in unserem Gettier Beispiel das durchein Fenster schauen ein unzuverlässiges Verfahren oder das durch einFenster schauen mit einem Bild davor oder das durch das Fenster schauenmit einem Bild einer bestimmten Person davor...? Es ist schwer, einenTyp von Überzeugungsbildung in nicht willkürlicher Weise so zu charak-terisieren, daß „unzuverlässiger Prozeß“ nicht einfach bedeuten soll, dieentstandene Überzeugung sei falsch und zuverlässige Prozesse gerade diewahrheitsgarantierenden sind.

Dazu ist zu bedenken, wie stark die Umstände variieren dürfen, un-ter denen unser Prozeß eine hohe Wahrheitsquote haben soll. Dürfenwir dabei nur an unsere tatsächliche Welt denken? Das scheint eine zustrenge Anforderung zu sein – jedenfalls wenn wir auch nach einerTheorie der Rechtfertigung suchen, was für Goldman der Fall ist. So ge-steht er zum Beispiel zu, daß wir auch in den Fällen, in denen wir nurGehirne im Topf eines geschickten Neurochirurgen sind, der unsereWelt durch einen Computer simulieren läßt, in unseren Meinungen in-tuitiv gerechtfertigt sind. Und das, obwohl sie in diesem unangenehmenFall kaum Zuverlässigkeit im Sinne hoher Wahrheitsquoten beanspru-chen dürfen. Wären wir also in der bedauerlichen Lage der Gehirne imTopf, würde Goldmans Theorie – zumindest für Rechtfertigungen – zuantiintuitiven Ergebnissen führen. Goldman (1986, 106f) fordert daher,daß der Prozeß in „normalen Welten“ zuverlässig sei. D.h. in Welten(oder in Situationen), in denen unsere allgemeinen Überzeugungen überdie üblichen Gegenstände und Ereignisse in unserer Welt wahr sind. Da-mit nähert er sich allerdings bereits wieder internalistischen Positionen,denn die Wahrheitsquote eines Prozesses wird nicht nach rein objektivenMerkmalen beurteilt, sondern wesentlich anhand unserer internen unddamit subjektiven Vorstellung davon, was eine normale Welt ist. Ande-rerseits verlangt Goldmans Ansatz auch zu wenig, doch davon spätermehr.

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Es verbleibt damit zunächst ein wichtiges, noch nicht gelöstes Desi-derat reliabilistischer Ansätze, eine brauchbare Explikation für „zuver-lässiges Verfahren“ anzugeben, weil ohne eine solche der ganze Ansatzunterbestimmt ist. Das könnte eine weitergehende Analyse der verschie-denen externalistischen Vorschläge noch besser demonstrieren, aber ichmöchte nicht zu lange auf diesem Punkt herumreiten und nehme im fol-genden zugunsten der Externalisten an, wir hätten schon eine brauchba-re Explikation von „zuverlässig“. Um zu erfahren, ob sich der Aufwand,nach einer Explikation zu suchen, auch lohnen würde, frage ich zu-nächst: Was hätte der Externalist damit gewonnen?

c) Eine Antwort auf den Skeptiker?

Die Reliabilisten möchten natürlich eine Antwort auf den radikalenSkeptiker geben, der uns fragt, wie denn Wissen überhaupt möglich ist.Skeptische Hypothesen wie die Cartesischen, wonach wir alles nur träu-men könnten oder ein böser Dämon uns in die Irre führt, oder auch mo-dernere Versionen davon, scheinen die Möglichkeit von Wissen zu be-drohen. Solange wir keinen Weg finden, dergleichen alternative Erklä-rungen für unsere Wahrnehmungen zurückzuweisen, oder sie wenigstensals in irgendeiner Weise minderwertig gegenüber unseren gewöhnlichenAnsichten über unsere Wahrnehmungen auszuweisen, bleibt nach An-sicht des Skeptikers unklar, wie wir überhaupt zu Wissen gelangen kön-nen. Die Reliabilisten haben darauf eine recht einfache Erwiderung an-zubieten. Man betrachte die folgenden zwei Möglichkeiten:

1. Eine der skeptischen Hypothesen trifft auf uns zu. Dann sind unse-re Vorstellungen über die Außenwelt reine Chimären, und wir habenkein Wissen über sie.

2. Die üblichen realistischen Auffassungen von unserer Stellung inder Welt sind zumindest zum Teil wahr. Dann sind wenigstens einigeunserer Ansichten über die Außenwelt wahr und auf zuverlässigeWeise entstanden.

Der zweite Fall reicht in der externalistischen Sichtweise bereits dafüraus, daß jedenfalls einige unserer Meinungen über unsere Umwelt Wis-sen darstellen. Allerdings wissen wir nicht, welche der beiden Möglich-keiten auf uns zutrifft, und können nicht einmal Gründe für den einenoder anderen Fall nennen. Für einen Externalisten ist das aber für Wis-sen auch nicht erforderlich, denn es genügt, daß geeignete Beziehungenzur Welt bestehen, unabhängig von unseren Kenntnissen darüber. Die

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Möglichkeit von Wissen ist damit für ihn nachgewiesen. Ob wir tatsäch-lich Wissen haben oder nicht, ist dann „nur noch“ eine Tatsachenfragedanach, welche der beiden Möglichkeiten vorliegt.

Wir alle können wohl deutlich das Unbehagen verspüren, das beidieser Erwiderung auf den Skeptiker zurückbleibt, so gern wir auchnach Widerlegungen des Skeptizismus greifen würden. Man gewinntnicht den Eindruck, der Skeptizismus sei mit dieser Entgegnung wirklichaus dem Felde geschlagen. Es ist allerdings nicht ganz einfach, dieses Un-behagen zu präzisieren. Ein Versuch sieht folgendermaßen aus: DerSkeptiker könnte sagen, er habe danach, ob unsere Überzeugungen aufzuverlässige Weise entstanden sein könnten, nicht gefragt, sondern da-nach, welche Anzeichen wir dafür besitzen. Seine Frage ist aus der Per-spektive der ersten-Person gestellt, und er erwartet eine entsprechendeAntwort. Die Antwort des Externalisten ist aber aus einer dritten-PersonPerspektive gegeben und beantwortet deswegen nicht die ursprünglicheFrage, sondern eher die Frage, über welche Indizien ein idealer Beobach-ter, der alles über den Vorgang der Überzeugungsbildung weiß – bis aufden Punkt, ob die gebildete Überzeugung wahr sei –, für die Annahmeverfügen könnte, daß die Überzeugung wahr sei. Der Externalist könntenatürlich erwidern, die Ausgangsfrage sei eben in gewisser Weise falschgestellt gewesen, wenn wir aber schlicht nach der Möglichkeit von Wis-sen fragen, hätte er die richtige Antwort gegeben. Doch auch dabei blei-ben eine Reihe von Fragen offen. Erstens ist damit nicht wirklich ge-klärt, warum die Frage des klassischen Skeptikers unzulässig sein sollte.Er könnte sie erneut formulieren als die Frage, welche Anhaltspunktewir tatsächlich für unsere Annahme besitzen, in einer Welt mit zuverläs-siger Überzeugungsbildung zu leben. Das scheint weiterhin eine unsbrennend interessierende erkenntnistheoretische Frage zu sein, diedurchaus verständlich und berechtigt ist, selbst wenn wir uns dem Exter-nalisten anschließen würden, daß ihre Beantwortung für „Wissen“ nichterforderlich ist.

Zweitens muß der Externalist mit seiner Wissensanalyse noch eineandere bittere Pille schlucken. Der Skeptiker kann seine ursprünglicheFrage nicht nur auf einer höheren Ebene in interessanter Weise wieder-holen, sondern er kann auch auf interne Seltsamkeiten der reliabilisti-schen Wissenstheorie hinweisen. Wissen im Sinne des Reliabilisten istz. B. nicht abgeschlossen unter bekannter, logischer Implikation.

Prinzip der logischen AbgeschlossenheitWenn S weiß, daß p, und weiß, daß q aus p logisch folgt, so weißer, daß q.

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Dieses Prinzip der logischen Abgeschlossenheit unseres Wissen wirktsehr plausibel. Wenn selbst logische Schlüsse nicht von Wissen wieder zuWissen führen, wird Wissen ein höchst instabiles Gut (s. dazu Williams1991, Kap.8). Akzeptiert der Reliabilist allerdings das Prinzip der logi-schen Abgeschlossenheit, gerät er sogleich wieder in direkten Konfliktmit den skeptischen Hypothesen. Aus meiner Überzeugung, an meinemSchreibtisch zu sitzen und auf meinen neuen „Notebook“ zu schauen,folgt deduktiv – oder vorsichtiger ausgedrückt – analytisch die Überzeu-gung, daß ich kein Gehirn in einem Topf bin. Diese Schlußfolgerung warauch nicht so versteckt, daß sie mir verborgen geblieben wäre. Wenn al-so meine zuerst genannte Beobachtungsüberzeugung auf reliabilistischeWeise Wissen ist – und das nehme ich einmal an –, so dürfte ich auchschließen, alle radikalen skeptischen Hypothesen seien falsch. Mit demAbgeschlossenheitsprinzip könnte ich dann sogar weiter schließen: Ichweiß, daß die skeptischen Hypothesen falsch sind. Das erscheint nunaber deshalb nicht überzeugend, weil ich in der beschriebenen Situationnichts Substantielles gegen die skeptischen Hypothesen vorgebracht ha-be. So weit, in der geschilderten Situation tatsächlich behaupten zu dür-fen, zu wissen, daß die skeptischen Hypothesen falsch sind, möchten Re-liabilisten im Allgemeinen auch nicht gehen. Sie versuchen diesen Punktmit ihrer Theorie zu umgehen und nicht direkt auf den Skeptiker zu ant-worten. Daher lehnen einige von ihnen, wie Nozick und Dretske, dasAbgeschlossenheitsprinzip explizit ab. Wie sich das rechtfertigen läßt,möchte ich nicht weiter verfolgen, zumal mein Hauptgeschäft schließ-lich nicht eine Theorie des Wissens, sondern eine Theorie der Rechtfer-tigung ist.

Eine weitere seltsame Konsequenz reliabilistischer Theorien des Wis-sens möchte ich aber noch andeuten. Insbesondere für Beobachtungs-überzeugungen erscheinen uns kausale Zuverlässigkeitstheorien nochrecht einsichtig. Sie stellen geradezu das paradigmatische Anwendungs-gebiet der reliabilistischen Wissenstheorie dar, anhand derer wir dieseTheorie überhaupt anfänglich akzeptieren. Gerade für Beobachtungs-überzeugungen gilt, daß sie nur dann als Wissen einzustufen sind, wennder Beobachtungsvorgang, der sie hervorgebracht hat, zuverlässig ist.Schwieriger wird es schon, für allgemeinere Teile unseres Wissens. Wiekönnen die in einer reliabilistischen Theorie erfaßt werden? Inwiefernkann man sinnvoll davon sprechen, unsere wissenschaftlichen Theorienseien anhand eines zuverlässigen Prozesses entstanden? Das setzt zumin-dest voraus, daß es einen derartigen zuverlässigen Prozeß gibt, der unsauf relativ sichere Weise zu entsprechenden Theorien hinführt. Das ist

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aber eine keineswegs unproblematische Voraussetzung der reliabilisti-schen Theorie, denn die Wissenschaftsphilosophie beteuert, die Entwick-lung von empirischen Theorien sei kein Prozeß, der bestimmten Regelnwie denen einer induktiven Logik gehorcht, sondern ein Vorgang, derwesentlich auf die Kreativität und Phantasie des Wissenschaftlers ange-wiesen ist. Die Phantasie von Wissenschaftlern wird man aber kaum alszuverlässigen Vorgang der Überzeugungsbildung für allgemeinere Hypo-thesen ansehen. Dazu gibt es zu viele Fehlentwicklungen, die erst nach-träglich durch empirische Tests wieder ausgeschieden werden konnten.Das angesprochene Problem wird dann noch größer, wenn das Abge-schlossenheitsprinzip abgelehnt wird. Wenn wir zunächst Beobachtungs-überzeugungen reliabilistisch als Wissen auszeichnen, stehen uns dannnoch nicht einmal logische Schlüsse zur Gewinnung weiteren Wissens,etwa von wissenschaftlichen Theorien, zur Verfügung. Induktive oderandere inferentielle Schlüsse sind aber noch schlechter dran als dedukti-ve. Wie können wir dann noch hoffen, wissenschaftliche Theorien alsWissen zu erweisen?

d) Ein nicht-kognitiver Wissensbegriff?

Die vorherigen Überlegungen führen uns unter anderem vor Augen, daßeine Wissensdefinition, die sich nur auf externalistische Bedingungenstützt und keine inferentielle Rechtfertigung einer Meinung mehr benö-tigt, nicht zu unserer üblichen Konzeption von „kognitivem Wissen“paßt. Lehrer (1990, 163) zeigt, wie sich die bekanntesten reliabilisti-schen Konzeptionen alle nach dem Thermometerbeispiel verstehen las-sen. Wissenserwerb wird dabei in Analogie zur unbewußten Informati-onsverarbeitung eines zuverlässigen Meßgeräts gesehen. Hier ist natür-lich wiederum (vgl. II.C.2) zwischen syntaktischer und semantischer In-formation in einem anspruchsvolleren Sinn zu unterscheiden. Ein Ther-mometer besitzt nur die erstere. Lehrer (1990, 163f) erläutert anhandeines Gedankenexperiments, daß wir kognitiv unzugängliche, kausaleProzesse, auch wenn sie beim Menschen ablaufen und zuverlässige Infor-mationen (im syntaktischen Sinn) liefern, im üblichen Sinn nicht als Wis-senserwerb betrachten.

Nehmen wir an, Herrn Truetemp wird ein Temperatursensor in seinGehirn implantiert, der bei ihm korrekte Temperaturüberzeugungen ver-ursacht. Truetemp denkt z. B.: „Es sind jetzt 23,4 C.“ Er weiß jedochnichts über diesen Sensor und macht sich auch keine weiteren Gedankenüber seine Temperaturüberzeugungen und weiß noch nicht einmal, daßsie immer wahr sind. Seine völlige Ignoranz gegenüber dem Zustande-

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kommen seiner Temperaturüberzeugungen hindert uns daran zu sagen,er wüßte, daß es gerade 23,4 C sind. Diese Überzeugung hat für ihn zu-nächst denselben Status wie jede andere zufällige, spontan auftretendeMeinung, wie etwa, daß übermorgen das Ende der Welt sein könnte, de-ren Herkunft sich Herr Truetemp nicht erklären kann. Selbst wenn dieseMeinungen wahr sind und durch einen uns unbekannten, aber zuverläs-sigen Mechanismus hervorgerufen werden, bezeichnen wir sie nicht alsWissen, sondern eher als ungewisse Ahnungen. Zu unserem gebräuchli-chen und anspruchsvolleren Wissensbegriff gehört es, eingehende Infor-mationen auf ihre Zuverlässigkeit hin vor unserem Hintergrundwissenzu beurteilen, und das sogar in dem Fall (s.a. IV.B), daß es sich um Infor-mationen unserer Sinne handelt.

Um den Zusammenhang zwischen Wissen und der Bewertung einge-hender Informationen anschaulich zu machen, kann eine Analogie be-hilflich sein: Wenn mir jemand etwas erzählt oder ich etwas in einer Zei-tung lese, werde ich – und das erscheint uns für Wissen unvermeidlichzu sein – mich nur dann darauf verlassen, wenn ich Grund habe anzu-nehmen, es handele sich dabei um einen vertrauenswürdigen Informan-ten oder eine seriöse Zeitung. Wir glauben vielleicht, daß Fritz, wenn esum die Qualitäten seiner neuen Freundin, seines Lieblingsfußballersoder seinem neuen Auto geht, zu Beschönigungen und Übertreibungenneigt. Dann haben wir guten Grund anzunehmen, wir wüßten nichtwirklich, daß die drei Dinge so hervorragend sind, wie Fritz es behaup-tet. In diesem Fall verhilft es uns auch nicht zu Wissen, wenn Fritz tat-sächlich ein völlig objektiv Urteilender für die besagten Dinge ist (alsoein „zuverlässiges Meßgerät“ für die fraglichen Eigenschaften darstellt)und alle seine Behauptungen, die wir für Schwärmereien hielten, voll-kommen zutreffend sind. Unsere Hintergrundannahmen über Fritz ent-werten die Behauptungen von Fritz für uns, selbst wenn diese Hinter-grundannahmen falsch sind.

Es gibt keinen guten Grund, mit den Informationen, die wir aus un-seren Sinnen erhalten, anders zu verfahren. Analog zu der Einschätzungvon Behauptungen anderer sollten wir auch unsere eigenen Annahmenund Beobachtungsüberzeugungen (kritisch) vor dem Tribunal unsererHintergrundannahmen einschätzen, wenn es uns um Wissen geht. Zu-nächst ist auch hier nicht entscheidend, wie zuverlässig sie unbekannter-weise für uns tatsächlich sind, sondern nur für wie zuverlässig wir sie hal-ten. Um das zu illustrieren, hat Lehrer (1988, 335) ein phantasievollesBeispiel anzubieten.

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Die Künstlerin Dorothy Levine fertigt aus Keramik täuschend echteImitationen von Handtaschen an. Ein Herr Trust, der um diese Spe-zialität der Künstlerin weiß, sieht nun im Vorzimmer von Frau Le-vine, eine Handtasche stehen. Da es der Künstlerin ähnlich sieht,auch ihre Gäste mit Handtaschenimitaten an der Nase herumführenzu wollen, kann Herr Trust seinen Sinneswahrnehmungen nicht ver-trauen und nicht wissen, daß es sich um eine echte Handtasche han-delt – auch wenn es sich tatsächlich um eine echte Handtasche han-delt.

Die Unwissenheit des Herrn Trust hat auch in dem Fall Bestand, wenner seinen Sinnen normalerweise traut, es auch in diesem Fall tut und sichder Meinung nicht entziehen kann, daß eine Handtasche vor ihm steht.Er hat für Wissen sein Hintergrundwissen um die Späße der Frau Levinezu berücksichtigen, die weitere Tests, etwa anfassen und hochheben derHandtasche, erfordern. Doch gerade diese erkenntnistheoretisch so ent-scheidende Bewertung unserer Beobachtungsüberzeugungen durch unserHintergrundwissen kann der Reliabilist innerhalb seiner Konzeptionnicht berücksichtigen, denn sie ist auf der Ebene der inferentiellen Bezie-hungen unserer Meinungen angesiedelt und nicht auf der der kausalenZusammenhänge, von der der Reliabilist spricht.

Externalisten können durch kognitive Zusatzbedingungen oderMischformen von externalistischen und internalistischen Elementen ver-suchen derartige Beispiele abzufangen. Aber eigentlich verschleiern siedamit höchstens die grundsätzliche Bedeutung der kognitiven Einschät-zung eingehender Informationen für Wissen und kommen im allgemei-nen dem Internalisten dabei bereits entgegen. Einen solchen Fall, den„Indikator Reliabilisten“ Marshall Swain, werde ich in Abschnitt(III.A.2.b) noch vorstellen.

Lehrer hat für diese Form der Einschätzung von eingehenden Infor-mationen das Schlagwort geprägt: Wissen sei Metawissen. Externalisti-sche Wissensdefinitionen beschreiben hingegen eher nicht-kognitive In-formationsverarbeitung und knüpfen damit nicht an unseren gewöhnli-chen Wissensbegriff an. Da sie aber im Trend naturalistischer Ansätzeliegen, schließlich wird hier Wissen als eine natürliche Beziehung zwi-schen bestimmten Überzeugungen und Tatsachen in der Welt definiert,wirken sie attraktiv, auch wenn dafür der Wissensbegriff etwas verbogenwerden muß.

Einige Autoren (z. B. McGinn 1984) sprechen deshalb auch davon,sich nicht so sehr dem herkömmlichen Wissensbegriff zuwenden zu wol-len, sondern vielmehr andere Formen von „Knowledge“ mit zu berück-

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sichtigen. Das paßt mit dem deutschen Wissensbegriff nicht besondersgut zusammen und ist eher verständlich, wenn man bedenkt, daß derenglische Begriff „Knowledge“ umfassender ist als der deutsche Wissens-begriff.44 Diese nicht-kognitive Tendenz externalistischer Epistemologiescheint noch problematischer zu sein, wenn wir uns meinem Hauptthe-ma, den epistemischen Rechtfertigungen, zuwenden und fragen, ob esfür sie ebenfalls reliabilistische Vorschläge gibt.

Für den Wissensbegriff ist es selbstverständlich, daß es sich dabei umeinen Begriff zumindest mit gewissen externalistischen Elementen han-delt, denn für ihn ist die Wahrheitsbedingung konstitutiv, die eine exter-nalistische Bedingung darstellt. Ob die rein reliabilistischen Wissenstheo-rien bei der Suche nach einer zusätzlichen vierten oder neuen drittenWissensbedingung erfolgversprechend sind, möchte ich anhand der obengenannten Probleme dieser Theorien jedoch bezweifeln. Damit ist nochnicht gesagt, daß nicht andere externalistische Theorien und insbesonde-re Mischformen zwischen internalistischen und externalistischen Theo-rien hier die überzeugendsten Lösungen anzubieten haben. In Fragekommen z. B. die Vorschläge von Lehrer oder auch von Moser. Für Leh-rer (1988) muß zur subjektiven Rechtfertigung für Wissen hinzukom-men, daß sie auch objektiv Bestand hat; in seiner Terminologie: daß sieauch eine Rechtfertigung vor dem Hintergrund des „verific systems“oder des „ultra systems“ ist. Diese beiden Aussagensysteme entstehenaus unserem Meinungssystem, indem die falschen Überzeugungen ent-fernt und einige wahre dafür eingebracht werden. Für Moser (1991,242ff) führen solche Rechtfertigungen zu Wissen, die „truth resistant“sind, d.h. die auch dann noch Bestand haben, wenn man sie mit zusätzli-chen wahren Aussagen konfrontiert.

2. Externalistische Rechtfertigungen

Den Abstecher zu den externalistischen Wissenstheorien möchte ich andieser Stelle beenden und zusehen, was sich daraus für die Frage nachepistemischen Rechtfertigungen gewinnen läßt. Für sie ist es zunächst si-cherlich noch unplausibler als für Wissen, daß es sich um einen externa-listischen Begriff handeln könnte. Dazu möchte ich noch einmal daraufhinweisen, daß hier von Rechtfertigungen in einem allgemeineren Sinndie Rede ist und nicht nur von solchen, die zu Wissen führen. DieSprachregelung ist in diesem Punkt alles andere als einheitlich. Lehrer

44 Das mag man auch als einen Hinweis ansehen, wie abhängig vonsprachlichen Eigenheiten sprachphilosophische Analysen sein können.

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scheint z. B. meist dort von Rechtfertigung zu sprechen, wo sie im Falle,daß sie wahre Meinungen rechtfertigt, auch bereits Wissen impliziert,und für Rechtfertigungen per se wählt Lehrer eher den Ausdruck „perso-nally justified“.45 Für ihn ist es daher naheliegend, auch für „Rechtferti-gungen“ nach externen Zusatzbedingungen zu den von ihm genanntenkohärentistischen internen Bedingungen zu fragen, denn für Wissen er-wartet man, daß die Rechtfertigung nicht nur allgemein ein Indikatorfür Wahrheit ist, sondern daß auch die „richtige“ Rechtfertigung vor-liegt, die tatsächlich mit der Wahrheit des Wissens in diesem Einzelfallzusammenhängt. Für diesen Zusammenhang werden daher eventuell ex-terne Bedingungen zu formulieren sein, die wir für Rechtfertigungen imallgemeinen nicht plausibel fordern können, da Rechtfertigungen auchdann bereits vorliegen, wenn wir gute Gründe für eine Meinung haben.Selbst wenn diese Meinung schließlich doch falsch ist, bedeutet das nochnicht, sie sei nicht gerechtfertigt gewesen. Das Haben einer falschenMeinung macht uns eben noch nicht zu epistemisch fahrlässigen Perso-nen. Ich kann es daher nicht oft genug betonen: Wir können die Intuiti-on, daß „Wissen“ wesentlich durch externe Bedingungen bestimmt wird,nicht einfach in eine Theorie der Rechtfertigung übernehmen.

Trotzdem wird häufig auch von externalistischen Rechtfertigungengesprochen, und ich möchte zunächst einige wahrscheinliche Motive da-für nennen. Ein erstes ist das bereits genannte, daß die meisten Reliabili-sten ihre Fragestellungen ganz aus der Wissensproblematik beziehen,und es dort naheliegend ist, nach zumindest zum Teil externalistischenLösungen zu suchen. Da ich aber nach Rechtfertigungen unabhängig voneiner Wissenstheorie suche, kann das für mich kein guter Grund sein,externalistische Elemente in eine Rechtfertigungstheorie aufzunehmen.

a) Fragen der klassischen Erkenntnistheorie

Weit interessanter ist schon die Idee, die zahlreichen in Rechtfertigungendrohenden Regresse durch externalistische Elemente stoppen zu wollen.In internalistischen inferentiellen Rechtfertigungen möchte man sich im-mer nur auf Aussagen stützen, die selbst wieder gerechtfertigt sind. Dasführt bekanntlich in einen unendlichen Regreß oder Zirkel der Rechtfer-tigung (s.a. III.B.2). Den versuchen Externalisten zu stoppen, indem siez. B. fundamentalistische Positionen vertreten, in denen die basalenÜberzeugungen externalistisch gerechtfertigt sind, etwa durch Berufung

45 Moser z. B. trennt diese verschiedenen Formen von Rechtfertigungstrikter.

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auf zuverlässige Wahrnehmungen. Doch dieser Versuch, den Regreß auf-zuhalten, kann nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn wir die basalenÜberzeugungen durch externalistische Zusammenhänge auch tatsächlichals intuitiv gerechtfertigt akzeptieren können. Genau das werde ich be-streiten, so daß damit die Grundintuition, die zu dem Regreß geführthat, rechtfertigende Aussagen müßten selbst wieder gerechtfertigt sein,in den externalistischen Ansätzen nicht eingelöst werden kann.

BonJour (1985, 38ff) hat sich dazu eine Reihe von Beispielen ausge-dacht, die uns begreiflich machen sollen, warum reliabilistische oder an-dere externalistische Rechtfertigungen eigentlich keine Rechtfertigungensind und insbesondere auch nicht für Wissen ausreichen. Um den Unter-schied zwischen internalistisch und externalistisch begründeten Überzeu-gungen zugänglich zu machen, mußte BonJour nach Beispielen suchen,in denen wir auf zuverlässige Weise zu bestimmten Meinungen gelangen,aber selbst nichts darüber wissen. Nur in solchen Fällen ergibt sich einewesentlich verschiedene Bewertung von externalistischer und internali-stischer Seite. Da wir kaum klare Fälle dieser Art finden, sondern diemeisten bestenfalls Mischformen zu sein scheinen, mußte BonJour zu et-was exotischen Beispielen greifen. Das sollte aber nicht darüber hinweg-täuschen, daß sie gut verständliche begriffliche Möglichkeiten aufzeigen,in denen die Unplausibilität der externalistischen Theorie deutlich wirdund man im Prinzip analoge Beispiele aus dem Bereich unserer Wahr-nehmung bilden könnte. BonJours Hauptpersonen nennen wir der Ein-fachheit halber Norman.

Norman ist ein sehr zuverlässiger Hellseher (hier wird also eine be-stimmte reliabilistische Bedingung erfüllt), aber Norman weiß nichtsüber seine Fähigkeit, er verfügt also nicht über eine entsprechendeEinschätzung seiner auf hellseherischem Wege entstandenen Mei-nungen (eine internalistische Bedingung für Wissen ist also nicht er-füllt). Norman glaubt aufgrund seiner Hellseherei – diese wird alsein von ihm nicht bemerkter Vorgang betrachtet –, daß der Präsi-dent gerade in New York ist.

Man kann dieses Beispiel noch auf recht unterschiedliche Weise ausge-stalten, was BonJour auch unternimmt, und sich jeweils fragen, ob manNorman das Wissen zuschreiben möchte oder eine gerechtfertigte Über-zeugung, daß der Präsident in New York ist. Der für den Externalistenungünstigste Fall ist der folgende: Norman könnte zusätzlich über guteHinweise verfügen, daß der Präsident sich in Washington aufhält undmit der festen etwa durch wissenschaftliche Theorien gestützten Ansicht

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leben, daß es Phänomene wie Hellseherei nicht geben kann. Was sollteuns dann noch veranlassen, ihm das Wissen zu unterstellen, der Präsi-dent sei in New York, wenn diese Annahme für ihn selbst keine erkenn-bare epistemische Stützung besitzt und ihm sogar als eine seltsame undunerklärliche Ahnung erscheinen muß, die gegen all seine begründetenÜberzeugungen steht. Diese Überzeugung ist dann ein Fremdkörper inseinem Meinungssystem, dessen zuverlässige Verursachung durch Hellse-herei doch wohl keine Rechtfertigung für Norman bieten kann, an die-ser Meinung festzuhalten. Wenn Norman epistemisch verantwortlichverfahren wollte, müßte er diese Meinung aufgeben.

Es sind aber auch andere Varianten dieses Beispiels denkbar. So z. B.,daß Norman keine weiteren Ansichten über den gegenwärtigen Aufent-haltsort des Präsidenten und keine über Hellseherei hat; oder daß erglaubt, hellsehen zu können, aber dafür keine Gründe hat usw. In all die-sen Varianten scheint es uns ebenfalls kaum wirklich plausibel, von Nor-man zu sagen, er sei in seiner Meinung über den Präsidenten gerechtfer-tigt oder sie sei sogar Wissen. Seine weitgehende Ignoranz gegenüberder Entstehungsgeschichte seiner Überzeugung sowie das Fehlen jederEinbindung der Hellseherei in den Korpus seiner Meinungen, machenihm eine epistemische Bewertung dieser Meinung unmöglich und ver-hindern daher, daß sie zu Wissen im Sinne eines Lehrerschen Metawis-sens werden kann oder daß wir sie als begründet ansehen können. Daswurde schon frühzeitig auch von Erkenntnistheoretikern wie Chisholmin ähnlicher Weise eingeschätzt:

So könnte jemand einwenden: „Die beste Rechtfertigung, die wir füreine Proposition haben, besteht doch darin, daß sie aus einer zuver-lässigen Quelle stammt. Was könnte vernünftiger sein, als die Äuße-rungen einer solchen Quelle zu akzeptieren – sei die Quelle einComputer, ein Sinnesorgan, oder die Wissenschaft selbst?“ Die Ant-wort ist natürlich, daß es durchaus vernünftig ist, einer Quelle Glau-ben zu schenken, vorausgesetzt man weiß, daß sie zuverlässig ist,oder man hat gute Gründe oder eine gute Evidenz zu meinen, sie seizuverlässig. (Chisholm 1979, 98)

Der Externalist kann seine Konzeption mit einer Reihe von internalisti-schen Zusatzbestimmungen gegen solche Fälle Schritt für Schritt abzusi-chern suchen.46 Doch abgesehen von einer gewissen Willkürlichkeit inder Wahl dieser Zusatzbedingungen, die den ad hoc Charakter dieserModifikationen offenbaren, bleibt immer die grundlegende Frage zu-

46 Goldman (1979) geht z. B. so vor.

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rück: Was trägt die externe Bedingung zur Rechtfertigung der Überzeu-gung überhaupt bei?

Die im Kapitel (II.C.1) als grundlegend angesehene Relativierungvon Rechtfertigungen auf ein bestimmtes Aussagensystem oder einenentsprechenden epistemischen Zustand paßt mit reliabilistischen Bedin-gungen in keiner Weise zusammen, weil diese nicht auf die inferentiellenZusammenhänge zum Hintergrundwissen des epistemischen Subjekts ab-stellen. Eine reliabilistische Rechtfertigung hat demnach ein anderesThema als die internalistische. Sie fragt nicht mehr danach, was ich tat-sächlich für Gründe für eine meiner Meinungen habe und welche ande-ren Meinungen ich für sie anführen kann, sondern danach, welche Zu-sammenhänge zwischen dieser Meinung und bestimmten Tatsachen inder Welt objektiv bestehen. Definitionsgemäß bietet sie auch keine Ant-wort mehr auf die klassische erkenntnistheoretische Frage: Was soll ichglauben? Der Externalist tut häufig so, als ob er sich den klassischen er-kenntnistheoretischen Fragen zuwenden würde, aber wenn wir ihn sointerpretieren, macht er sich einer Themaverfehlung schuldig.

b) Eine externalistisch-internalistische Mischform

Um den antiintuitiven Konsequenzen eines reinen Externalismus zu ent-gehen und trotzdem die Idee von externalistischen Elementen in Recht-fertigungen nicht vollständig aufzugeben, wurden die gemischt externa-listisch/internalistischen Rechtfertigungskonzeptionen vorgeschlagen. Sohat Marshall Swain in (1981) ein Rechtfertigungsverfahren konzipiert,das eine solche Mischform darstellt und wirft BonJour (in Swain 1989)vor, dessen Beispiele gegen Externalisten träfen jedenfalls nicht seineRechtfertigungstheorie. In Swains Theorie, die man als „Reliabilitätsin-dikatortheorie“ bezeichnen kann, besteht eine Rechtfertigung aus zweiAspekten. Zum einen einer tatsächlich zuverlässigen Überzeugungsbil-dung und zum anderen einem für das epistemische Subjekt kognitiv zu-gänglichen Indikator für diese Zuverlässigkeit, die in unseren Meinungenüber die Entstehung dieser Überzeugung auch in irgendeiner Weise re-präsentiert ist.

A belief is justified provided it is more likely to be true, given thereasons upon which the belief is based and relevant characteristics ofthe believer, than any competitor of the belief. The likelihood inquestion is objective, or external, and the characteristics of the be-liever which condition it need not be known to the believer. (Swain1989, 119)

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Auch wenn mit dieser Theorie, weil sie internalistische Elemente bein-haltet, zunächst BonJours Norman Beispiel ebenfalls als Fall von Nicht-wissen zurückgewiesen werden kann, ist damit noch nicht entschieden,ob sie einen wesentlichen Fortschritt gegenüber den rein externalisti-schen oder internalistischen Konzeptionen verkörpert. BonJour (1989,279) gelingt es nachzuweisen, daß sich sein Norman Beispiel mit leich-ten Modifikationen auch gegen Swains Theorie richten läßt.

Um nun nicht in einem Disput mit immer komplexeren Gegenbei-spielen und subtileren Ausschlußbedingungen zu versinken, möchte ichlieber darauf eingehen, warum Swain überhaupt annimmt, man müssestatt einer internalistischen Rechtfertigungstheorie etwa à la BonJour zueiner Mischform übergehen. Dazu Swain selbst:

Part of the answer is: Consider the alternative! The alternative is torequire for justified belief the accessibility of virtually everything re-levant to one’s justification, the view which BonJour seems to acceptin his book. (Swain 1989, 120)

Swain hält den Internalismus also für unrealistisch, weil er zu viel vonden epistemischen Subjekten verlange und möchte die externalistischenKomponenten nutzen, um defizitäre interne Rechtfertigungen zu voll-wertigen aufzuwerten. BonJour (1989, 280) stellt dazu als erstes dieknifflige Frage, wie defizitär Rechtfertigungen denn auf der internalisti-schen Ebene sein dürfen, um durch externe Elemente noch gerettet wer-den zu können? Aber auch wenn es Swain gelänge, diese völlige Vagheitseiner Grundidee in nicht willkürlicher Weise zu überwinden, kehrt wie-der das Problem zurück, daß gerade die externalistischen Elemente zurBeantwortung der grundlegende Frage „Was soll ich glauben?“ nichtsbeizutragen haben. Sie erscheinen daher als ungeeignetes Mittel, um De-fizite in Rechtfertigungen zu beheben. Wenn meine Rechtfertigung einerMeinung Defizite aufweist, kann ich nicht erwidern, ob sie wirklich defi-zitär ist oder nicht, werden wir vielleicht nie entscheiden können, denndazu müßten wir erst alle Tatsachenzusammenhänge zwischen meinenÜberzeugungen und der Welt kennen. Solange ich diese Zusammenhän-ge nicht in irgendeiner Form angeben oder auf sie verweisen kann,bleibt meine Rechtfertigung weiterhin unbefriedigend.

Das muß natürlich nicht heißen, daß es sich nicht wenigstens nochum eine schwache Rechtfertigung handeln kann, denn Rechtfertigungensind gradueller Abstufungen fähig.Mit diesem letzten Punkt möchte ichauch eine kurze Antwort auf Swains Vorwurf der Überforderung epi-stemischer Subjekte durch den Internalismus geben, die in den folgen-

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den Abschnitten noch ausgeführt wird. Neben idealen Rechtfertigungenkönnen uns auch schwache Gründe einen Hinweis dafür bieten, was wirglauben sollen; auch solche Gründe, die für Wissen bei weitem nicht aus-reichen. Außerdem sind die genannten Phänomene wie implizites Wis-sen und vor allem die epistemische Arbeitsteilung zu nennen, die unserBild von Rechtfertigungen in realistischer Weise ergänzen und dem Sub-jekt einen Teil seiner Rechtfertigungsarbeit abnehmen können. Der ex-ternalistische Schachzug Swains kommt mir dazu verfehlt vor.47

c) Rechtfertigung und Ursachen

An dieser Stelle ist es hilfreich, noch einmal auf ein früher schon ange-schnittenes Thema zurückzukommen. Für einige Reliabilisten ist es er-forderlich, daß die Belege, die wir für eine Überzeugung haben, zumin-dest zum Teil diese Überzeugung mitverursacht haben. Hier ist Vorsichtangebracht, denn im Hintergrund lauert wieder die Vermengung vonGenese und Rechtfertigung. Selbst wenn es im Normalfall – etwa bei derWahrnehmung – oft so sein mag, daß unsere Gründe für unsere Über-zeugungen sich auf deren Entstehung beziehen, so gibt es doch keinen(das war ein Argumentationsziel des Abschnitts III.A) inhaltlichen oderbegrifflichen Zusammenhang, der das erforderlich macht. Es sind vieleFälle denkbar, in denen Gründe und Ursachen für eine Überzeugungauseinanderfallen. Trotzdem läßt uns der Wunsch nach einer einfachen„natürlichen“ Beziehung als Rechtfertigungsrelation immer wieder Ge-fahr laufen, die natürlichen Ursachen einer Meinung für ihre Rechtferti-gung zu halten. Lehrer erläutert deshalb die Unterscheidung noch ein-mal durch eine nützliche Analogie zwischen Rechtfertigung und logi-scher Gültigkeit:

If a person validly deduces a conclusion from something he knows,this may cause him to believe the conclusion or influence his beliefin the conclusion. If valid deduction had no influence whatever onwhether a person believed the conclusion, that would not underminethe validity of the inference. Similarly, if someone justifies some con-clusion on the basis of something he knows, this may cause him tobelieve the conclusion or influence his belief in the conclusion. Thejustification of his conclusion, however, does not depend on the cau-sal influence. (Lehrer 1990, 171)

47 Ausführlicher wird dieser Typ von Einwand noch in (III.A.2.e) bespro-chen.

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Sich diesen Unterschied zwischen der Gültigkeit von Schlüssen und Be-gründungen auf der einen und kausalen Beziehungen auf der anderenSeite immer wieder klar zu machen, ist auch ein Heilmittel gegen dieAnsicht, Rechtfertigungen seien auf derartige kausale Beziehungen ange-wiesen. Unter diesem Aspekt gewinnen auch die Beispiele des Abschnittszur Unterscheidung von Genese und Rechtfertigung erneut an Bedeu-tung.

Mit diesem Rüstzeug möchte ich nun auf eine Redeweise eingehen,die einen kausalen Zusammenhang zwischen meiner Überzeugung undihren Gründen nahezulegen scheint. Schon 1970 wies Harman (1987,108ff) auf den Unterschied hin zwischen Gründen, die man hat, etwaszu glauben und solchen derentwegen man etwas glaubt. Die letzterenentscheiden für ihn darüber, ob man in seinem Glauben gerechtfertigtist. Diese Unterscheidung führt nach Harman nicht zu einer Unterschei-dung zwischen verursachenden Gründen und solchen, die das nicht tun,sondern auf eine Untersuchung der Überlegungen, die zu unseren Mei-nungen geführt haben. Nicht zu einer Analyse ihrer kausaler Strukturund dem Prozeß des Überlegens, sondern zu einer Untersuchung der„abstrakten Struktur“ aus Prämissen, Zwischenschritten und Schlußfol-gerungen (Harman 1987, 119). Das mündete in seiner „no false conclu-sions“ Bedingung der Wissensanalyse, die uns allerdings nicht zu über-zeugen vermochte.

In neueren Arbeiten versuchen Autoren erneut eine entsprechendeUnterscheidung im Hinblick auf die Bedeutung von kausalen Zusam-menhängen für unser Gerechtfertigtsein stark zu machen. Nach (Haack1993, 75ff und Koppelberg 1994, 201ff) hängt epistemische Rechtferti-gung wesentlich davon ab, warum eine Person etwas meint, und das isteine Frage der kausalen Abhängigkeit. Um dem nachzugehen, möchteich zunächst ein Beispiel von Koppelberg (1994, 210) aufgreifen: EinePerson S besitzt unter anderem die folgenden drei Meinungen:

(1) p(2) pq(3) q

Ist er dann gerechtfertigt in seinem Glauben an q? Nach Koppelberg istdas jedenfalls dann nicht der Fall, wenn S q aus Gründen glaubt, dienichts mit den anderen beiden Meinungen zu tun haben und die ihrer-seits eher irrational erscheinen. Dazu möchte ich zwei Fragen trennen,die meines Erachtens zu verschiedenen Gebieten gehören: 1. Welchessind die Gründe, derentwegen S an q glaubt? 2. Sind diese Gründe (er-

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kenntnistheoretisch) gute Gründe? Mein Interesse gilt überwiegend der2. Frage. Ich möchte wissen, wann bestimmte Meinungen gute Rechtfer-tigungen für eine Meinung abgeben können, zumal eine Antwort aufdiese Frage uns leiten kann bei der Frage, was ich glauben soll. WelcheMeinungen oder Zustände eine Person dazu gebracht haben, an q zuglauben, gehört dagegen eher in den Bereich der Philosophie des Gei-stes, oder wenn man wie ich etwas skeptisch bezüglich deren Leistungs-fähigkeit ist, in den Bereich der empirischen Psychologie oder Neuro-physiologie. Die Frage, wann eine Person S in einer konkreten Meinunggerechtfertigt ist, zerfällt somit in zwei Fragen. Wir müssen einerseitsklären – das scheint bei einer kausalen Deutung des „derentwegen“ einempirisches Projekt zu sein –, aus welchen Motiven oder tatsächlichenUrsachen S die Meinung q akzeptiert, und müssen andererseits bewer-ten, ob diese Ursachen erkenntnistheoretisch akzeptable Gründe darstel-len, an q zu glauben. In dieser Arbeit werde ich mich also der zweitenrein erkenntnistheoretischen Frage zuwenden und die erste Frage an diePhilosophie des Geistes verweisen.

Doch bevor ich mein eigentliches Projekt wieder aufnehme, möchteich mich auch noch ein wenig an den Vermutungen darüber beteiligen,ob das „derentwegen“ in der ersten Frage – also im Hinblick auf eineletztlich epistemische Fragestellung – kausal zu deuten ist. Susan Haack(1993, 76) hält die darin angesprochene Abhängigkeit für eine kausaleAbhängigkeit und meint, daß wir alle kausalen Einflüsse, die S’ Glaubenan q befördert oder gehemmt haben, wie bei einer Kräfteaddition be-rücksichtigen sollten. Um das durchzuhalten ist man auf bestimmte An-sichten in der Philosophie des Geistes festgelegt, die keineswegs unkon-trovers sind. Nämlich daß wir Meinungen auch als Ursachen wie anderebetrachten dürfen. Glaubt man dagegen, daß intentional beschriebenementale Zustände ungeeignet sind, um physikalische Ursachen zu cha-rakterisieren, so ist diese Redeweise – insbesondere zusammen mit derRedeweise der Verrechnung von Ursachen in einer Art Vektoraddition –kaum als hilfreiche Erläuterung aufzufassen.

Aber selbst wenn wir die Voraussetzung von Haack übernehmen,scheint mir Kausalität keinen geeigneten Ansatzpunkt für eine Analyseder gesuchten Meinungsabhängigkeit darzustellen. Wenn in unseremBeispiel die Meinungen (1) und (2) den Glauben an q verursacht haben,so bleibt die bloße Verursachung meines Erachtens epistemisch irrele-vant. Sie könnte zunächst eine Art „Kurzschluß“ im Gehirn sein, den wirvielleicht genauso zwischen den Meinungen „r“ und „non-r“ wiederfin-den. Ein derartiger kausaler Zusammenhang könnte unsere Ansicht S sei

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gerechtfertigt in seinem Glauben an q nicht begründen. Die Kausalitätzwischen Ereignissen kann jedenfalls dieselbe sein, ob sie Meinungen in-stantiiert, die in einem deduktiven Verhältnis oder in einem kontradikto-rischen stehen. Es kommt wiederum vielmehr auf unsere epistemischeBewertung an. S muß (1) und (2) für seine inferentiellen Gründe für (3)halten, damit wir sagen können, er sei in seinem Glauben an q gerecht-fertigt. Zu dem Glauben an (1) bis (3) sollte daher eher eine weitere (im-plizite) Metaüberzeugung treten, nämlich: „(1) und (2) begründen (3)“.Das scheint mir eine naheliegendere Explikation von „derentwegen“ indiesem Kontext zu sein und bietet sich natürlich auch als naheliegendeErgänzung der Kohärenztheorie der Rechtfertigung an, für die ich imWeiteren eintreten werde. Ob es erkenntnistheoretisch dann noch inter-essant ist, psychologische Spekulationen ins Spiel zu bringen, ob das diewahren Gründe von S für seinen Glauben an q sind, scheint mir eherfraglich.

Das soll die Analyse eines Beispiels noch ein wenig beleuchten: Kom-missar X entläßt die Mordverdächtige Y aus der Untersuchungshaft, dieseine Geliebte ist. Sein Vorgesetzter macht ihm daraufhin Vorhaltungen,daß er Y nur aus persönlichen Neigungen freigelassen und damit seineDienstpflichten verletzt hätte. Doch X kann dem zunächst Einiges entge-genhalten: Y hätte ein gutes Alibi für die Tatzeit, das mutmaßliche Motivhätte nicht wirklich bestanden und außerdem sei Y von ihrem Charakterher eine solch grausame Tat nicht zuzutrauen. Die dienstliche Rechtferti-gung des Kommissars hängt hierbei entscheidend davon ab, ob wir sagenkönnen, daß er in seiner Ansicht, Y sei nicht mehr dringend tatverdäch-tig gewesen, tatsächlich epistemisch gerechtfertigt war oder nicht. Waskann der Vorgesetzte nun X noch entgegenhalten, um den Kommissar indie Schranken zu verweisen? Kann er ihm etwa nachweisen, daß Xselbst nicht an das Alibi glaubte oder es nicht für hinreichend wasser-dicht hielt, um seine Bewertung der „Tatverdächtigkeit“ zu begründen,so hat er noch etwas in der Hand. Muß er aber zugeben, daß die Grün-de, die X für seine Handlungen zu nennen weiß, dessen Bewertung per-fekt rechtfertigen und daß X aufrichtig an diesen Zusammenhangglaubt, so scheint uns der folgender Einwand des Vorgesetzten ausge-sprochen aus der Luft gegriffen: „Sie hatten zwar sehr gute Gründe, umY frei zu lassen, an die Sie auch geglaubt haben, aber das waren trotz-dem nicht ihren wirklichen Beweggründe. Die stammten ganz aus dempersönlichen Bereich.“ Darauf kann der arme Kommissar natürlich auchnur zugeben, daß er über die kausale Verschaltung seiner Meinungennicht mehr sagen kann, als daß seine bisherigen Auskünfte ehrlich wa-

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ren. Wie will er sich jetzt noch rechtfertigen, wenn das Zitieren guterGründe, an die er glaubt und von denen er glaubt, daß sie seine Ansichtbegründen, dazu nicht ausreicht? Legen wir solche Maßstäbe an, erhal-ten wir einen ausgesprochen praxisfernen Rechtfertigungsbegriff. Nachden üblichen Standards war der Kommissar dagegen in seiner Ansichtüber den Tatverdacht von Y gerechtfertigt und die weitergehende Speku-lation, es wäre eher wohl eher seine Zuneigung zu Y kausal wirksam ge-wesen, diskreditiert X nicht, selbst wenn wir dafür Anhaltspunkte ha-ben. Für eine normale epistemische Rechtfertigung einer Überzeugungist das zuviel verlangt. Doch nun wieder zurück zur Beantwortung derzweiten Frage durch den Externalisten.

d) Rationalität und Rechtfertigung

Daß der Externalist eine Art von Themaverfehlung begeht, wird außer-dem anhand einer analytischen Verbindung zur Handlungstheorie er-kennbar. Es gibt sicher keinen ganz einfachen Zusammenhang zwischenden Konzepten von Rationalität und Rechtfertigung, aber daß es einebegriffliche Verbindung gibt, die ungefähr in der folgenden Weise be-schrieben werden kann, scheint mir relativ unproblematisch zu sein:

Rechtfertigungen und Rationalität (RR)Wenn ich mich in meinen (Handlungs-)Entscheidungen wesentlichauf bestimmte Annahmen über die Welt stütze – und das gilt insbe-sondere für wichtige Entscheidungen –, dann sollte ich gute Gründefür diese Annahmen haben, sonst handele ich irrational.

Das Prinzip (RR) ist sicher nur unter bestimmten Bedingungen gültig,wie, daß ich genügend Zeit für meine Entscheidung zur Verfügung habe,die wichtigen Informationen für mich zugänglich sind und sich auch derAufwand der Informationsbeschaffung für die Entscheidung lohnt, etwaweil diese für mich entsprechend wichtig ist. Dazu kommen vielleichtnoch weitere ceteris paribus Bedingungen. Aber wenn wir diese berück-sichtigen, drückt (RR) einen quasi-analytischen Zusammenhang aus. Dergeht für externalistische „Rechtfertigungen“ verloren. Das ist wiederuman Beispielen erkennbar, die sich bei BonJour (1985, 45) finden. Neh-men wir an, Norman, der uns schon geläufige Hellseher, wird gezwun-gen, auf eine von zwei Möglichkeiten zu wetten. Die erste ist, daß derPräsident in New York ist, und die zweite, daß der Generalstaatsanwaltin New York ist. Um das Beispiel etwas dramatischer zu gestalten, neh-men wir weiter an, für Norman stehe eine Menge auf dem Spiel, viel-leicht sogar sein Leben. Die erste Meinung sei nun aufgrund seiner zu-

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verlässigen aber ihm kognitiv völlig unzugänglichen Hellseherei entstan-den, so daß der Reliabilist ihm sogar das entsprechende Wissen zuschrei-ben würde; für die zweite hat er „nur“ einige gute inferentielle Gründe,die es wahrscheinlich machen, daß der Generalstaatsanwalt in New Yorkist, die aber nicht für Wissen ausreichen. Wenn wir uns Normans epi-stemische Situation vor Augen führen, wonach er zwar zunächst dieÜberzeugung hat, daß der Präsident in New York ist, jedoch nicht dengeringsten Anhaltspunkt benennen kann, daß es so ist, er hingegen übergute Gründe für die zweite Meinung verfügt, so ist offensichtlich, daßwir seine Wahl nur dann vernünftig nennen würden, wenn er sich für diezweite Meinung entscheidet.

Für den Reliabilisten entsteht damit eine Kluft zwischen begründetenÜberzeugungen (oder sogar Wissen) und vernünftigem Handeln, dienicht zu unserem üblichen Gebrauch dieser Konzepte paßt. Er trennt dasBegründungsgeschäft von seiner praktischen Konsequenz, handlungsan-leitend zu sein, obwohl die für uns einen wesentlichen Grund darstellt,warum wir uns um epistemische Rechtfertigungen bemühen. Der Relia-bilist kann natürlich auch in diesem Punkt für eine Änderung unseresSprachgebrauchs eintreten, aber wenn er diesen Zusammenhang zur Ra-tionalität aufgeben möchte, hat er die Frage zu gegenwärtigen, wozusein Begriff der Rechtfertigung überhaupt tauglich sein soll. In dem Be-reich, in dem er sich von unserer internalistischen Begründungskonzepti-on unterscheidet, kann er uns nicht mehr als Hilfe für Entscheidungendienen, sondern ist nur aus der Perspektive eines allwissenden Dritten zuvergeben.

e) Kritik am Internalismus

Externalisten bedienen sich natürlich nicht nur direkter Argumente fürden Externalismus, sondern auch Argumenten gegen ihre Gegenpositi-on, den Internalismus, nach dem alle Elemente der Rechtfertigung unskognitiv zugänglich sein sollen. Die meisten dieser Kritiken richten sichgegen spezielle Positionen etwa Positionen aus dem Lager der Kohärenz-theorien der Rechtfertigung, wie auch ich sie später vertreten werde,und sollen daher auch erst an späterer Stelle zur Sprache kommen. Ei-nen ziemlich allgemeinen Angriff auf den Internalismus, hatte ich schonin Abschnitt (III.A.2.b) erwähnt. Es wird behauptet, die internalistischenAnsätze wie der von BonJour stellten zu hohe Anforderungen an Recht-fertigungen. Eine Formulierung des Einwands findet sich wieder beiSwain (1989, 120): „We do not as a matter of empirical fact, have thegrasp of our belief system, implicit or explicit, required by the doxastic

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presumption.“48 Demnach sind internalistische Positionen zu anspruchs-voll und verlangen zuviel von einem epistemischen Subjekt für begrün-dete Meinungen. Das hätte, so die Kritik, zur Folge, daß wir in den mei-sten unserer Common-Sense Überzeugungen nicht gerechtfertigt seienund man aufgrund internalistischer Rechtfertigungstheorien auch nichterwarten dürfte, daß wir solche Rechtfertigungen zur Verfügung habenkönnten. Die ganze Konzeption von internalistischen Rechtfertigungenwird damit unrealistisch und schlimmer noch, wir müssen sogar befürch-ten, unsere paradigmatischen Fälle und Vorbilder für Rechtfertigungen,die doch unseren Weg zu einer Theorie der Rechtfertigung leiten sollten,zu verlieren.

In seiner Antwort auf diese Kritik am Internalismus weist BonJourals erstes darauf hin, daß natürlich auch unsere Common-Sense Ansich-ten tatsächlich nicht immer besonders gut begründet sind und keines-wegs sakrosankt sein sollen. Das allein kann andererseits kaum als Erwi-derung genügen, obwohl es eine Erkenntnis ist, die selbst bereits imCommon-Sense Wissen verankert ist.

Ein weiterer Punkt ist, daß, wenngleich das bisher nicht explizit er-wähnt wurde, gerade das Konzept der allgemeinen Rechtfertigung (dieim Falle ihrer Wahrheit nicht schon Wissen implizieren muß) Abstufun-gen erlaubt, die von sehr schlechten Begründungen, die man kaum nochals solche bezeichnen darf, bis zu sehr guten Rechtfertigungen reichen.Hier zeigt sich wiederum ein Vorteil einer von der Wissensdebatte abge-lösten Untersuchung zur epistemischen Rechtfertigung, denn für Wissenist eine solche Abstufung keineswegs ähnlich zwanglos möglich. In derAnalyse von Rechtfertigungen war das Ziel eine Theorie der idealenRechtfertigung, die sich nicht in voller Form in unseren tatsächlichenRechtfertigungen wiederfinden lassen muß. Wenn einige unserer tatsäch-lichen Rechtfertigungen sie auch nur annähernd verwirklichen, ist unse-re Theorie auch für sie aussagekräftig. Darüber hinaus sind zwei weitereSchritte zur Ehrenrettung tatsächlicher Begründungen bereits eingeführtworden. Der erste ist, nicht zu verlangen, unsere Rechtfertigungen müß-ten immer explizit verfügbar sein, sondern dispositionelle Rechtfertigun-gen und einfache Ableitungen zusätzlich als implizite Rechtfertigungenzuzulassen. Der zweite Schritt, der mindestens genauso bedeutsam ist, istdie epistemische Arbeitsteilung, die Rechtfertigungen oder Wissen alsauch gesellschaftlich bestimmt ansieht.

48 Auch bleibt nach Swain unklar, was mit „grasping a belief" gemeint ist.Zumal, wenn man auch implizite Rechtfertigungen zuläßt.

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Eine naheliegende Frage an diesem Punkt der Diskussion ist aber si-cher, ob die epistemische Arbeitsteilung nicht selbst bereits eine Formdes Externalismus darstellt. Für den Einzelnen ist es allerdings so, daßeine nur gesellschaftlich verfügbare Rechtfertigung nicht vollkommenintern ist. Doch in einem liberaleren Sinn sind uns auch die in der Ge-sellschaft verfügbaren Rechtfertigungen kognitiv zugänglich, denn wirkönnen sie etwa nachlesen oder sie uns von einem Experten erklärenlassen, wobei wir vielfach auch schon vorher gute Gründe haben anzu-nehmen, daß sich damit Wissenslücken in ganz bestimmter Weise ausfül-len lassen. Jedenfalls liegen diese Rechtfertigungen schon in propositio-naler Form vor und stellen nicht nur Berufungen auf eine „blinde“ Kau-salität dar, von der vielleicht niemand etwas weiß. Außerdem wurde imSinne des Lehrerschen Diktums, nach dem Wissen immer Metawissenist, verlangt, daß der Einzelne eine epistemische Bewertung dieser sozialverfügbaren Rechtfertigungen vornimmt. Auf einige der Probleme sol-cher Einschätzungen hatte ich schon hingewiesen. Diese diskreditierengesellschaftliche Rechtfertigungen jedoch nicht grundsätzlich, sondernführen höchstens zu einer Herabstufung in der Frage, wie gut sie im Ver-gleich zu idealen Rechtfertigungen liegen. Jedenfalls unterscheiden sicharbeitsteilige Rechtfertigungen durch ihre prinzipielle Zugänglichkeitund der damit gegebenen Möglichkeit einer Metabewertung erheblichvon „externen Rechtfertigungen“.

Wieso sie in bestimmten Problemstellungen als Beispiele internerRechtfertigungen gelten dürfen, kann auch noch ein ganz anderer Ge-dankengang nahelegen. In der Frage, welche Dinge als epistemische Sub-jekte in Frage kommen, hatte ich auch Gruppen von Personen, z. B. einebestimmte Wissenschaftlergemeinschaft oder andere Gruppen, zugelas-sen. Für sozial verfügbares Wissen ist es dann auch vertretbar, davon zusprechen, daß eine derartige Gruppe als Ganzes über dieses Wissen ver-fügt. Da sie wenigstens im Prinzip in der Lage ist, dieses Wissen in expli-ziter Form (als semantische Information) vorzulegen und darüber zu rä-sonieren, kann man sagen, die Gruppe besitze das Wissen oder dieRechtfertigungen in interner Form. Damit können wir ein epistemischesSubjekt vorweisen, das einige umfangreiche Rechtfertigungen in einerForm intern aufweist, die in manchen Fällen schon in die Nähe idealerRechtfertigungen kommt. Für die Analyse von Erklärungen werde ichspäter unter anderem auch so verfahren, daß ich mir anschaue, überwelche Erklärungen die „scientific community“ verfügt. Selbst wenn in-ternalistische Theorien also keine realistischen Modelle in bezug auf ein-zelne Menschen abgäben, könnten sie es noch in bezug auf andere epi-

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stemische Subjekte sein, deren weitergehendes Studium ebenfalls er-kenntnistheoretisch fruchtbar erscheint.

3. Eine Diagnose der intuitiven Attraktivität des Externalismus

Nach den vielen Kritiken an der externalistischen Erkenntnistheorie unddort insbesondere an ihrem Einsatz im Rahmen von Theorien der Recht-fertigung, bleibt vielleicht trotzdem noch ein Unbehagen zurück, denn esfehlt bis jetzt eine Diagnose, wieso so vielen Philosophen die Strategiedes Externalismus auf den ersten Blick einleuchtend erschien. Eine Er-klärung dieses Umstandes möchte ich kurz erwägen, die noch einmal diegrundlegende Schwäche des Externalismus aus einer etwas anderen Per-spektive beleuchtet.

Wenn uns der Externalist mit seinen Beispielen – in denen jemandüber zuverlässige Wahrnehmungen zu einer wahren Beobachtungsüber-zeugung gelangt – für sich zu gewinnen versucht, nehmen wir gezwunge-nermaßen immer die dritte-Person Sicht auf das epistemische Subjekt Sseiner Beispiele ein. Wir erfahren etwa, aufgrund welcher Kausalkettendie Person S zu der Überzeugung p gelangt ist. Daß p unter diesen Um-ständen gerechtfertigt ist, erscheint uns dann plausibel, weil wir als überden Sachverhalt aufgeklärter Betrachter in diesem Fall über eine interneRechtfertigung für p verfügen. Für uns ist S in der Schilderung des Bei-spiels nämlich ein zuverlässiger „Anzeiger“ einer bestimmten Tatsache,die in „p“ ausgedrückt wird. Da wir um seine Zuverlässigkeit wissen,können wir uns auf ihn verlassen, wie auf die Anzeige eines Thermome-ters, über dessen Zuverlässigkeit wir uns vergewissert haben. Das kannuns zunächst dazu bewegen, dem Externalisten zuzustimmen, p sei ge-rechtfertigt. Doch entscheidend ist in der Debatte zwischen Internalistenund Externalisten nicht, ob wir über eine Rechtfertigung für p verfügen,sondern ob wir plausibel behaupten können, daß auch S über eineRechtfertigung aus seiner ersten Person Sicht verfügt. Und genau das be-streitet der Internalist mit guten Gründen. Die Schwierigkeit in der Be-urteilung der externalistischen Beispiele rührt zum Teil daher, daß wirdiese Umsetzung vornehmen müssen, von unserer dritten Person Per-spektive, in der wir eindeutig über eine Rechtfertigung für p verfügen,zu der Frage, wie die epistemische Situation für S selbst ausschaut. Hierkommt der Aspekt der Relativierung jeder Rechtfertigung auf einen epi-stemischen Zustand oder ein epistemisches Subjekt, wie er bereits in(II.C.1) beschrieben wurde, ins Spiel.

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Das Auftreten dieser zwei Perspektiven mag den Umstand, daß exter-nalistische „Rechtfertigungen“ keine sind, in manchen geschickt gewähl-ten Beispielen verschleiern, aber wir sollten ihn mittels der Unterschei-dung der beiden Perspektiven im Gedächtnis behalten. In vielen Beispie-len von Sinneswahrnehmungen fällt die Trennung der beiden Perspekti-ven nur deshalb nicht ins Gewicht, weil sowohl der Beobachter wie auchdas epistemische Subjekt ähnliche Kenntnisse der Genese ihrer Meinun-gen aufweisen. Diese Fälle verleiten wieder dazu, die Trennung nicht zuberücksichtigen, was dem Externalisten sein Spiel erleichtert. Das Fazitderartiger Überlegungen drückt Nagel (1992, 122) so aus:

Obgleich neuerdings viel Mühe auf sie verwandt wurde, können unsDefinitionen des Wissens hier nicht weiterhelfen. Das Grundpro-blem der Erkenntnistheorie stellt sich als ein Problem der ersten Per-son: „Was soll ich glauben, und wie soll ich meine Überzeugungenrechtfertigen?“ Hierbei handelt es sich nicht um ein impersonalesProblem wie bei der Frage, ob man, wenn man meine Meinungenund einige Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Beziehung zu etwasbetrachtet, das faktisch der Fall ist, von mir sagen kann, ich ‘wisse’.Die Beantwortung der Frage was Wissen sei, verhilft mir nicht zu ei-ner Entscheidung darüber, was ich glauben soll.

Der Externalist entfernt sich mit seiner Strategie von diesem Grundpro-blem der Erkenntnistheorie in einer Weise, die zumindest für eine Recht-fertigungstheorie inakzeptabel ist.

Allerdings ist auch unsere Neigung, diesen Übergang von unsererdritten Person Kenntnis der Dinge zu einer ersten Person Rechtfertigungvon S mitzumachen, nur zu verständlich, entkommen wir damit dochscheinbar einem ganzen Bündel von schier unlösbaren erkenntnistheore-tischen Problemen. Außerdem entspricht es unserer Naturalisierungsten-denz, metaphysische Probleme und Fragestellungen normativer Art zu-gunsten naturwissenschaftlicher Fragestellungen aufzulösen. Mit diesemProgramm sollen Fragen über Intentionalität oder andere geistige Phä-nomene, Fragen der Erkenntnistheorie oder auch der Ethik in „einfa-che“ empirische Fragestellungen übersetzt und so einer „wissenschaftli-chen“ Behandlung zugänglich gemacht werden. Ob und inwieweit einsolches Programm – das oftmals noch mit Ansprüchen nach einer defini-torischen Reduktion der Prädikate dieser Gebiete einhergeht – erfolgver-sprechend oder überhaupt nur sinnvoll ist, läßt sich natürlich nicht in ei-nem Rundumschlag beantworten. Allerdings scheint mir die Bedeutungeines solchen Übersetzungsprogramms überschätzt zu werden. Es wer-

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den aus dem an sich ehrenwerten Motiv, sich nicht in unklaren Frage-stellungen zu verlieren, zu weitgehende Konsequenzen gezogen, die zurAufgabe sinnvoller philosophischer Probleme führen.

In der Erkenntnistheorie ist für die Neigung zu naturalistischen Lö-sungen sicher die Erfolglosigkeit bei der Bekämpfung des Skeptikers einerkennbares Motiv. Es ist trotz zahlreicher Anstrengungen nicht wirklichgelungen, dem radikalen Erkenntnisskeptiker zu antworten. Die Fixie-rung auf die andauernde Bedrohung jeder Erkenntnistheorie durch dieFragen des Skeptikers hat wesentlich dazu beigetragen, daß Teile derErkenntnistheorie praktisch ohne vorzeigbare Resultate geblieben sind.Daß die Erkenntnistheorie von der Debatte mit dem Skeptiker nicht nurprofitiert, sondern auch darunter gelitten hat, zeigt sich darin, daß diemeisten Erkenntnistheorien nicht zu subtileren Ausgestaltungen ihrerGrundposition gereift sind. So haben sich zwar schon einige Autoren alsKohärenztheoretiker verstanden, aber die meisten hatten nur wenig dar-über zu sagen, worin denn die Kohärenz eines Meinungssystems besteht.Man weiß in der Regel noch Konsistenz zu nennen und daß Konsistenznicht alles sein kann, was Kohärenz ausmacht, aber wo dieses Mehr zusuchen ist, bleibt ungeklärt, weil der Kampf gegen die skeptischen Ein-wände alle Kräfte beansprucht. Für andere Ansätze in der Erkenntnis-theorie sieht es da nicht viel besser aus. Nach einer langen Geschichte istdieses Ergebnis dürftig und scheint mir wenigstens zum Teil dadurch er-klärbar zu sein, daß man die Beantwortung der skeptischen Einwendun-gen als eine Art von Voraussetzung dafür ansah, eine erkenntnistheoreti-sche Konzeption weiter zu verfolgen.49 Um so verlockender muß es dasein, sich auf naturalistische Weise der Fragen des Erkenntnisskeptikerszu entledigen. Das ist nur leider nicht ehrlich, weil man nicht auf dieklassischen Fragen antwortet, sondern schlicht das Thema wechselt.Hier offener aufzudecken, was man zu den klassischen Fragen sagenkann und was nicht, ist redlicher und läßt gleichermaßen Spielraum da-für, für eine Änderung der Aufgabenstellung oder zumindest der Schwer-punkte epistemischer Forschung zu plädieren.

Die Überlegungen zu externalistischen Ansätzen in der Erkenntnis-theorie können natürlich keine Vollständigkeit beanspruchen, und eswar auch nicht meine Absicht, einen Überblick über ihre zahlreichenSpielarten zu geben. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß in derDebatte zwischen Externalisten und Internalisten eigentlich zwei ver-

49 Meine Antwort auf die hier angesprochene Problematik, ob es sichlohnt, eine Erkenntnistheorie auszuarbeiten, wenn man nicht auch eine direkteAntwort auf den Skeptiker bereit hält, wird in den nächsten Kapiteln deutlicher.

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schiedene Fragestellungen im Spiel sind: eine subjektive und eine objek-tive. Erstere fragt, über welche Gründe ein Erkenntnissubjekt S verfügt,an p zu glauben, letzere, welche Gründe es geben kann, die Meinung pdes S für zuverlässig zu halten. Beide sind natürlich eng miteinander ver-knüpft. Jeder der objektiven Gründe für p wird zu einem subjektiven,wenn S ihn mit guten Gründen zur Kenntnis nimmt. Das klassische er-kenntnistheoretische Problem, woran wir denn glauben sollten, ent-spricht aber eindeutig der subjektiven Fragestellung.

Für mein Projekt soll daher die internalistische Rechtfertigung ganzim Vordergrund stehen. Für sie muß man sich allerdings weiterhin mitdem klassischen Cartesischen Problem auseinandersetzen: Wieso könnenwir von den uns zugänglichen Indikatoren auf die Wahrheit bestimmterAussagen schließen, wenn wir doch zur Begründung dieses Schlusses dieInnenperspektive nicht verlassen können? Auf diesen Punkt komme ichin Kapitel (VI) zurück.

4. Resümee

Im Rahmen naturalistischer Tendenzen in der Philosophie verfolgen ei-nige Erkenntnistheoretiker eine externalistische Strategie bei der Lösungepistemologischer Probleme. Sie setzen für Wissen und Rechtfertigungenauf externe Zusammenhänge zwischen Meinungen und Tatsachen, diedem epistemischen Subjekt aus seiner Innenperspektive nicht zugänglichsein müssen. Für das Vorhaben der Wissensexplikation erhoffen sie sichdavon eine Antwort auf das Gettier-Problem und auf den Skeptiker, füreine Rechtfertigungstheorie versprechen sie sich darüber hinaus eine Lö-sung des Regreßproblems. Die größte Gruppe unter den Externalistenbilden die Reliabilisten, für die der gesuchte externe Zusammenhang inder Zuverlässigkeit der Überzeugungsbildung zu suchen ist. Neben demProblem, „Zuverlässigkeit“ in nichttrivialer Weise zu explizieren, führtder Reliabilismus zu Wissenskonzeptionen, die von unserem gewöhnli-chen Wissensbegriff deutlich abweichen. Sie sind nicht so sehr an einerbewußten Verarbeitung semantischer Informationen orientiert, sondernvielmehr an den „blinden“ kausalen Zusammenhängen, die die syntakti-schen Informationen betreffen. Sie können den Einfluß unseres Hinter-grundwissens auf die Frage, ob bestimmte Überzeugungen begründetoder sogar Wissen sind, nicht angemessen berücksichtigen. Wenn auchfür „Wissen“ externe Bedingungen sicher wesentlich sind, so ist das fürallgemeine Rechtfertigungen keineswegs so plausibel. Sie sollen im Rah-men klassischer Fragestellungen der Erkenntnistheorie Auskunft auf die

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Frage geben, was wir glauben sollen. Dabei können aber nur die demepistemischen Subjekt zugänglichen Aspekte der Situation hilfreich sein.Der Externalist wendet sich mit seinem Lösungsvorschlag von der klassi-schen Frage zu einer objektiven Beschreibung aus einer dritte PersonSicht und begeht damit eine Themaverfehlung, wenn er weiterhin be-hauptet, die klassische Frage zu beantworten. Im Hintergrund seinesVorgehens lauert dabei immer wieder der Genese-Rechtfertigungs-fehlschluß, der die Verursachung einer Meinung über ihre Rechtferti-gung entscheiden läßt.

B. Fundamentalistische Erkenntnistheorien

Eine andere Unterscheidung, die gleichermaßen grundlegende Bedeu-tung für die Erkenntnistheorie besitzt, ist die zwischen fundamentalisti-schen und kohärentistischen Begründungsstrukturen. Unabhängig vonder Unterscheidung zwischen internen und externen epistemischenRechtfertigungen gibt es zwei konträre Ansichten über die richtigeStruktur von Rechtfertigungszusammenhängen für unsere Überzeugungs-systeme. Die in der Philosophiegeschichte in der einen oder anderenVersion dominierende Vorstellung ist die des Fundamentalismus. Danachgibt es eine epistemisch ausgezeichnete Klasse von Überzeugungen, dieselbst keiner Rechtfertigung durch andere Überzeugungen bedürfen.Von diesen basalen Überzeugungen nimmt der Fundamentalist im allge-meinen an, daß sie auf eine andere Weise als inferentiell gerechtfertigtsind, und sie deshalb in der Lage sind, als Basis zur Rechtfertigung ande-rer Überzeugungen zu dienen. Die wichtigsten Spielarten des Fundamen-talismus finden sich in rationalistischen und empiristischen Erkenntnis-theorien. Für erstere bedürfen gewisse notwendige erste Prinzipien, dieunser Verstand als evident einsehen kann, keiner weiteren Begründungund für letzere sind Beobachtungsüberzeugungen, die unsere Wahrneh-mungen als wahr erweisen, keiner Rechtfertigung fähig. Gegen den Fun-damentalismus sollen in diesem Kapitel einige allgemeine Einwände er-hoben werden, mit denen all seine Varianten zu kämpfen haben. SeineDiskussion und Zurückweisung wird einen weiteren Schritt hin zu einerkohärentistischen Erkenntnistheorie ausmachen, denn der Fundamenta-lismus ist der große Konkurrent einer Kohärenzauffassung von Begrün-dung.

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1. Fundamentalistische versus kohärentistische Rechtfertigungsstrukturen

In einem ersten Schritt sollen die beiden gegensätzlichen Ansichten überRechtfertigungsstrukturen expliziert werden, wobei ihre Unterschiededeutlicher zu Tage treten. So konträr die beiden Rechtfertigungsstrate-gien in bestimmten Aspekten aber auch wirken, so hat doch SusanHaack (1982/3) Recht mit ihrer Behauptung, daß sie nur die beidenEndpunkte eines Kontinuums von Rechtfertigungskonzeptionen sindund viele Positionen eher dazwischen angesiedelt sind. Haack nennt da-her ihre eigenen Theorie aus diesem Bereich „foundherentism“. Dochbetrachten wir zunächst die „reinen“ Formen.

a) Formaler Fundamentalismus

Mit einer Unterscheidung in formalen und substantiellen Fundamentalis-mus schließe ich mich Williams (1991, 114ff) an. Der formale Funda-mentalismus macht zunächst nur Aussagen über die allgemeine Rechtfer-tigungsstruktur unserer Meinungen und behauptet die Existenz von ba-salen Meinungen, während der substantielle Fundamentalismus außer-dem hinzufügt, welche Meinungen als basal auszuzeichnen sind. EinigeProbleme fundamentalistischer Erkenntnistheorien werden schon in derstrukturellen Beschreibung unserer Rechtfertigungen erkennbar, also aufder Ebene eines bloß formalen Fundamentalismus, andere hingegen erstbeim Übergang zu einer substantiellen Ausgestaltung. Der Kern des for-malen Fundamentalismus läßt sich in den folgenden zwei Thesen zusam-menfassen:

Formaler Fundamentalismus

FU 1Es gibt basale Überzeugungen, die nicht inferentiell durch andereÜberzeugungen gerechtfertigt werden müssen, sondern anderweitiggerechtfertigt sind.

FU 2Alle nicht-basalen Überzeugungen werden inferentiell gerechtfertigtunter direkter oder indirekter Bezugnahme auf basale Überzeugun-gen.

Unter FU 2 ist meist mitgemeint, daß Rechtfertigungen gerichtet sind,d.h., daß die inferentiellen Zusammenhänge zwischen Aussagen nur in

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eine Richtung rechtfertigend wirken.50 Typisch dafür ist die Auffassungder Empiristen, nach der Rechtfertigungen angefangen von Beobach-tungsüberzeugungen zu allgemeineren Überzeugungen und Theorienübergehen. Epistemische Kraft besitzen in diesem Bild ursprünglich nurBeobachtungsüberzeugungen, die direkt durch Wahrnehmungen zurechtfertigen sind. Alle anderen Überzeugungen beziehen ihre epistemi-sche Stärke nur indirekt durch ihre Beziehungen zur Basis. Zum besse-ren Verständnis, was das spezielle an fundamentalistischen Rechtferti-gungshierarchien ist, seien in Abgrenzung dazu zwei allgemeine Bestim-mungsstücke für die formale Charakterisierung einer Kohärenztheorieangegeben:

Formale Kohärenztheorie

KO 1Alle Überzeugungen sind inferentiell zu rechtfertigen. Es gibt keineselbstrechtfertigenden oder anderweitig gerechtfertigten Überzeugun-gen.

KO 2Inferentielle Beziehungen zwischen zwei Überzeugungen wirken im-mer in beide Richtungen rechtfertigend.

Auch KO1 und KO2 können natürlich keine substantielle Kohärenztheo-rie vermitteln, weil sie z. B. offenlassen, wie die inferentiellen Rechtferti-gungen, von denen in ihnen die Rede ist, auszusehen haben, worin alsoKohärenz besteht. Sie geben nur allgemeine Merkmale der Struktur vonRechtfertigungszusammenhängen an.51

Die in FU 1 und FU 2 vorgeschlagene Charakterisierung des Funda-mentalismus dürfte auf alle gewöhnlichen Formen fundamentalistischerErkenntnistheorien zutreffen, da es sich um zwei minimale Forderungenhandelt, die z. B. noch offenlassen, ob die basalen Meinungen irrtumssi-cher sind oder nicht. Außerdem beantworten die Formulierungen zumin-dest noch nicht explizit die Frage, ob der Typ von Überzeugungen, derals basale Überzeugungen in Frage kommt, für alle Rechtfertigungen im-mer derselbe sein muß. Diese Annahme sollte ein Fundamentalist aller-dings unterschreiben. Erst sie trennt ihn von Kontextualisten vom Schla-

50 „Inferentiell gerechtfertigt" bedeutet dabei, daß es gerade die inhaltli-chen (etwa logisch-semantischen) Zusammenhänge zu anderen Aussagen sind,die die Rechtfertigungsleistung tragen.

51 Substantielle Kohärenztheorien werden im Kapitel (IV) behandelt.

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ge eines Michael Williams, für den zwar auch jede Rechtfertigung aufbestimmte basale Überzeugungen angewiesen ist, aber welche das sind,kann für Williams mit dem Kontext der Rechtfertigung variieren. Fügenwir also diesen Punkt der festgelegten Basistypen noch explizit zur Defi-nition des Fundamentalismus hinzu, denn gerade gegen ihn möchte ichdie ersten direkten Kritiken am Fundamentalismus richten. Hinzukommt noch, daß die Basistypen von Aussagen inhaltlich ausgezeichnetwerden; die Inhalte der Überzeugungen legen fest, ob es sich um basaleoder nicht-basale Überzeugungen handelt. Die basalen Meinungen sinddurch intrinsische Merkmale als solche für das epistemische Subjekt er-kennbar. Der Empirist wird Überzeugungen, die Beobachtungen aus-drücken, als basal einstufen, der Phänomenalist dagegen nur Überzeu-gungen, die ausschließlich die Qualitäten seiner Sinneswahrnehmungenwiedergeben.

FU 3Die inhaltlich ausgezeichneten Typen von basalen Überzeugungensind für alle Rechtfertigungskontexte (für alle Personen) dieselben.

Erst mit FU 3 erhalten wir ein klares Bild der Rechtfertigungsstruktur imFundamentalismus: Idealerweise handelt es sich um eine relativ starreSchichtenstruktur mit einer Basismenge von Aussagen, aus der jedes epi-stemische Subjekt eine Teilmenge als seine basalen Überzeugungen be-sitzt. Die Grundmenge ist zumindest dann ein für allemal festgelegt,wenn wir uns nur auf wahre Aussagen als basale Aussagen beziehen, wasoft intendiert zu sein scheint, zumal viele historische Positionen des Fun-damentalismus noch nicht einmal Irrtumsmöglichkeiten für ihre epi-stemische Basis zugestanden haben. Das ist ein geschickter Schachzug,denn räumt man Irrtumsmöglichkeiten für basale Überzeugungen ein,wird für jede konkrete basale Aussage p sofort die Frage nach einer Be-gründung laut: Warum sollte gerade p zu der Teilklasse der wahren basa-len Überzeugungen gehören? Auch Popper, der Kritiker der logischenEmpiristen, hat in der Logik der Forschung an der fundamentalistischenRechtfertigungsstruktur festgehalten. Die Basis wird zwar per Entschei-dung bestimmt und kann damit zu verschiedenen Zeiten eine anderesein, aber sie ist nicht selbst Gegenstand epistemischer Rechtfertigungen.Es sind nicht die inferentiellen Beziehungen zu anderen Meinungen, diesie begründen, sondern nur der Entschluß der Wissenschaftlergemein-schaft.

Ein ideales Bild der Rechtfertigungsstruktur eines Überzeugungssy-stems X stellt sich für einen Fundamentalisten dann ungefähr so dar: In

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X gibt es eine Teilmenge B von basalen Aussagen, die selbst kein Ziel fürinferentielle Rechtfertigungen innerhalb von X sind, und über B gibt eseine Pyramide von Überzeugungen, deren Rechtfertigungen zumindestindirekt alle auf B zurückzuführen sind. Die Teilmengen B gehören da-bei für alle epistemischen Subjekte zu demselben Typ von Aussagen. DasVerfahren für den Erkenntnisgewinn, das der empiristische Fundamenta-list empfehlen wird, ist dementsprechend einfach zu beschreiben:Sammle zunächst so viele basale Meinungen wie möglich und ziehe in ei-nem zweiten Schritt daraus so viele Schlußfolgerungen auf Theorien wiemöglich.

Es zeigt sich jedoch schon bald, daß dieses Bild unserer Erkenntniseinige nicht unproblematische Konsequenzen besitzt. So unterstützt esz. B. eine instrumentalistische Auffassung der Wissenschaften. Sind wirvon einer weitgehenden Unterbestimmtheit der Theorien durch die Ba-sis überzeugt, so daß durch die tatsächlich ermittelten Basisaussagen im-mer verschiedene Theorien in gleich guter Weise begründbar sind, ha-ben wir auch keine Gründe mehr, an die Wahrheit unserer speziellenwissenschaftlichen Theorien zu glauben, denn ihre Konkurrenten stehenerkenntnistheoretisch um keinen Deut schlechter dar. Das Argument derUnterbestimmtheit durch die Basis kennzeichnet ein sehr populäres Vor-gehen von Skeptikern unterschiedlichster Herkunft; das spezielle Argu-ment für eine antirealistische Haltung gegenüber wissenschaftlichenTheorien zieht sich z. B. durch das ganze Werk von van Fraassen (1980).Es kommt aber noch schlimmer. Akzeptieren wir das Argument einmalfür unsere Theorien, so sind wir ihm auch in bezug auf alle anderennicht-basalen Meinungen ausgeliefert. Eine entsprechende Unterbe-stimmtheit läßt sich immer aufzeigen und führt somit direkt zu skepti-schen Positionen. Für den Kohärenztheoretiker gibt es diesen fundamen-talen epistemischen Unterschied zwischen Theorien und Daten dagegennicht. Theorien haben genauso eine wesentlich rechtfertigende Wirkungwie Beobachtungsüberzeugungen; man kann in der Erkenntnistheoriekeine bedeutungsvolle Aufteilung in zwei derartige Mengen mehr vor-nehmen, womit jeder Argumentation in der oben genannten Weise vonvornherein ein Riegel vorgeschoben wird. Neben dem idealen Bild desFundamentalismus gibt es die tatsächlichen Ausgestaltungen zu substan-tiellen fundamentalistischen Positionen, die nun immerhin kurz zu Wortkommen sollen.

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b) Spielarten des Fundamentalismus

Die inhaltliche Ausgestaltung des Fundamentalismus erlaubt vielfältigeVarianten, auf die im einzelnen ausführlicher einzugehen nicht Ziel die-ser Arbeit sein kann. Aber ein kurzer Überblick über einige Spielarten,und welche Autoren dort anzusiedeln sind, soll die Diskussion um denFundamentalismus anschaulicher gestalten. Zudem gibt er zu erkennen,wie zahlreich die Fundamentalisten in der Erkenntnistheorie vertretensind. Daneben dokumentiert die Aufstellung, daß der substantielle Fun-damentalismus keine einheitliche Position darstellt. D.h. jede Spielartdes Fundamentalismus bedarf ihrerseits spezieller Begründungen überdie der hierarchischen Rechtfertigungsstruktur hinaus, in denen andereSpielarten zurückgewiesen werden müssen. Der Überblick wird dieForm von zwei Tabellen annehmen, die sich auf den Artikel von Triplett(1990) stützen und gerade auch neuere Arbeiten zu diesem Gebiet nen-nen, deren Autoren vielleicht nicht so allgemein bekannt sind wie dieder klassischen Texte.52 In der ersten Tabelle wird eine Aufteilung da-nach vorgenommen, welche Eigenschaften jeweils für die basalen Mei-nungen in Anspruch genommen werden. In der zweiten Tabelle geht esdagegen um die Frage – über die sich schon deutlich weniger Erkennt-nistheoretiker ausgelassen haben –, wie die basalen Meinungen denn dienicht-basalen begründen können. Die jeweiligen Einordnungen der Au-toren in die Tabelle und ihre Zuordnungen zu verschiedenen Formendes Fundamentalismus sind natürlich nicht immer unkontrovers undmanchmal auch durch die Werke der Autoren tatsächlich unterbestimmt.Für den Fortgang der Argumentationen zum Fundamentalismus sind dieDetails der Einordnung allerdings nicht entscheidend. Fragen alternati-ver Interpretationen einzelner Philosophen und ihre Klassifizierung ste-hen natürlich für die allgemeine Beurteilung des Fundamentalismusnicht im Vordergrund. Bei Triplett (1990) finden sich einige Hinweiseauf solche Alternativen.

52 Für ausführlichere Literaturangaben muß ich auf den Aufsatz vonTri-plett (1990) verweisen.

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Variationen der Basis

Merkmale der Basis Typische Vertreter Anderer AnsichtBasale Überzeugungengeben mentalen Zu-stand wieder(statt Zustand der Au-ßenwelt).

Descartes, früher Car-nap, Ayer, Chisholm,Lewis, Mach, Moser,Russell, Schlick.

Foley, Kekes, Quin-ton, späterer Carnap,Popper.

Basale Überzeugungensind unfehlbar.

Descartes, Lewis,Schlick, Chisholm.

Popper, Almeder,Audi, Cornman, Gold-man.

Die Basis muß ausÜberzeugungen undnicht etwa aus Wahr-nehmungszuständenbestehen.

Lehrer, Pollock, Wil-liams.

Cornman, Moser.

Basale Überzeugungensind relativ auf einenBegründungskontext(Ablehnung von FU3).

Wittgenstein, Sellars,Hanson, Feyerabend,Kuhn.

die meisten Funda-mentalisten, auchwenn sie es nicht ex-plizit erwähnen.

Variationen des inferentiellen Zusammenhangs

Art der inferentiellenBeziehungen

Typische Vertreter

Beziehungen deduktiv DescartesInduktive Zusammenhänge späterer CarnapVermittlung durch epistemischePrinzipien

Chisholm

Schluß auf die beste Erklärung Cornman, Moser, GoldmanDefinitorische Reduktion aufSinnesdaten

Mach, Russell, früher Carnap,Ayer, Lewis, Dicker.

In die erste Tabelle habe ich auch noch kontextualistische Varianten desFundamentalismus aufgenommen, die FU 3 nicht erfüllen, da sie heuterelativ viele Anhänger finden und zumindest einige wesentliche Bestim-mungsstücke des Fundamentalismus teilen. Trotzdem gehört FU 3 si-cherlich zu der herkömmlichen Auffassung der fundamentalistischen Er-kenntnistheorie. Die beiden Tabellen können natürlich nur eine kleine

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und subjektiv gefärbte Auswahl der zahlreichen fundamentalistischen Va-riationen wiedergeben, die sich in verschiedene Richtungen ergänzen lie-ße. Sie vervollständigt unser Bild des Fundamentalismus über die im er-sten Abschnitt genannten allgemeinen Annahmen hinaus.

Das wohl wichtigste Argument, das Fundamentalisten für ihre Positi-on beibringen können, bezieht sich nur auf die formale Struktur desFundamentalismus, wird aber immer durch Intuitionen unterstützt, diesich eher an bestimmten substantiellen Positionen orientieren. DiesemArgument ist der nächste Abschnitt gewidmet.

2. Das Regreßargument für den Fundamentalismus

Natürliche Kandidaten für basale Meinungen sind Meinungen über un-sere Sinneswahrnehmungen oder Wahrnehmungen innerer Zustände,denn die halten wir für relativ irrtumssicher. Außerdem können Empiri-sten an unsere Intuition appellieren, daß wir alle Informationen über dieWelt durch unsere Sinne gewinnen, diese also als der natürliche Aus-gangspunkt unserer Erkenntnis zu identifizieren sind. Ähnlich sieht esfür unsere allgemeineren Annahmen oder Theorien über unsere Umweltaus. Um sie zu entwickeln, sind wir auf Beobachtungen angewiesen.Man mag dabei an eine induktive Bestätigung von Theorien anhand ex-perimenteller Daten oder, wie Popper, an eine Bewährung von Theorienin ernstzunehmenden Falsifikationsversuchen denken. Startpunkt allerweiteren Überlegungen sind im empiristischen Bild von Erkenntnis je-denfalls immer Beobachtungen. Doch so sehr sich dieses Bild uns auchaufdrängt, es spricht in erster Linie über die Genese unserer Meinungen,und die gibt noch nicht vor, in welchen Rechtfertigungszusammenhän-gen unsere Meinungen stehen. Diesen Schwachpunkt ihrer Konzeptionerkennen natürlich auch einige Fundamentalisten und versuchen daherden eben geschilderten intuitiven Gedanken zu einem echten Argumentfür einen formalen Fundamentalismus auszubauen. Dieses Argument,das oft als erkenntnistheoretisches Regreßargument oder auch AgrippasTrilemma bezeichnet wird, bezieht sich nun nicht mehr auf die Genesevon Meinungen, sondern ihre Rechtfertigungsstruktur. Wenn ich umeine Rechtfertigung meiner Behauptung, daß p, gebeten werde, kann ichauf zwei verschiedene Weisen reagieren:

1. Ich kann andere Behauptungen q äußern, die p inferentiellstützen sollen.

2. Ich kann mich weigern, eine Rechtfertigung in Form andererMeinungen anzugeben.

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Der Fundamentalist behauptet nun, daß die erste Reaktion bestenfallseine Verschiebung des Rechtfertigungsproblems darstellt, wir aber letzt-lich immer auf eine Reaktion des zweiten Typs zurückgreifen müssen.Und das begründet er so: Eine x-beliebige Behauptung q zu Rechtferti-gungszwecken ins Spiel zu bringen, hilft uns erkenntnistheoretisch nichtweiter. Damit q tatsächlich eine Rechtfertigung darstellt, muß q selbstwieder gerechtfertigt sein, sonst könnten wir immer auf triviale Weiseeine Rechtfertigung für p finden, nämlich z. B. p&r mit beliebigem r,aus der p sogar deduktiv folgt. Also verlangt q nach weiteren begründen-den Aussagen ri, diese wiederum nach anderen si usf. Wir geraten, wennwir bei Antworten des 1. Typs bleiben, entweder in einen unendlichenRegreß von immer neuen Aussagen in einer unendlichen Kette oder ei-nen Zirkel, wo in der Begründungskette irgendwann eine Aussage auf-tritt, die schon vorher in der Kette vorkommt. Beide Ketten, die ins Un-endliche führende und der Zirkel, so argumentiert der Fundamentalist,bringen uns keinen Fortschritt für das Rechtfertigungsproblem.

Im Falle des Zirkels sind eigentlich alle Aussagen nicht gerechtfertigtworden, weil keine durch eine bereits unabhängig begründete Aussagegestützt wird. Eine Metapher kann diesen Punkt illustrieren. So wenigsich jemand selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen kann, so wenigkönnen sich zehn Männer gegenseitig aus dem Sumpf ziehen, wenn kei-ner von ihnen festen Boden unter den Füßen hat. Metaphern dieser Artscheinen uns angemessen, um unser Unbehagen mit der zirkulärenRechtfertigung auszudrücken und die Vorstellung eines Rechtfertigungs-zirkels zurückzuweisen, aber es bleiben eben doch Metaphern. Außer-dem haben sie bereits einen deutlich fundamentalistischen Beige-schmack.

Im Falle des unendlichen Regresses, sind ebenfalls alle Aussagen un-begründet – so der Fundamentalist – weil wir nie wirklich zu einer be-reits gerechtfertigten Überzeugung gelangen können, die ihre Rechtferti-gung an andere Aussagen weitergeben könnte. Beide Konzeptionen, dieder unendlichen Kette wie die des Zirkels, sind daher eindeutig intuitivunbefriedigend. Ich möchte dem Fundamentalisten in diesem Punkt zu-nächst Recht geben, ohne allzu lange mit ihm über das Regreßargumentszu streiten. Im Vordergrund soll statt dessen in den nächsten Abschnit-ten eine Bestandsaufnahme stehen, was der Fundamentalist uns seiner-seits auf das Regreßproblem anzubieten weiß.

Auf den ersten Blick ist nämlich die Antwort, eine Rechtfertigung fürbestimmte Meinungen durch Berufung auf andere Meinungen schlichtzu verweigern, auch nicht besonders überzeugend. Man könnte dem

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Fundamentalisten vorwerfen, das sei wohl der kürzest mögliche Zirkel,den er damit wählt. Der Fundamentalist verbindet im allgemeinen abereine andere Idee mit seinen basalen Meinungen. Für ihn sind sie in ir-gendeiner Weise selbstrechtfertigend oder evident.53 Jedoch auch dieserGedanke ist nicht leicht verständlich, wenn man bedenkt, daß die basa-len Meinungen der Fundamentalisten üblicherweise nicht selbstreferenti-ell sind, also keine Aussagen über sich selbst machen. Trotzdem sollendiese Startschwierigkeiten des Fundamentalismus noch nicht zu seinerAblehnung führen. Doch die Idee der Selbstrechtfertigung von Aussagenwird weiterhin als möglicherweise kritischer Aspekt des Fundamentalis-mus im Hintergrund bleiben.

Nur zwei Bedenken gegen das Regreßargument sollen noch Erwäh-nung finden, bevor ich den Lösungsvorschlag der Fundamentalisten ein-gehender untersuche. Erstens wird von begründeten Meinungen nichtverlangt, daß man eine bestimmte Rechtfertigung explizit und tatsäch-lich vollständig durchlaufen hat oder tatsächlich durchlaufen kann.Wenn diese Rechtfertigungen implizit vorhanden sind, also im Prinzipverfügbar sind, genügt das bereits, um von jemandem zu sagen, er sei inseiner Meinung gerechtfertigt. So jedenfalls wollte ich begründete Mei-nungen hier verstanden wissen (s. dazu II.C.3). Für implizite Begründun-gen könnte also die Existenz einer potentiell unendlichen Kette alsRechtfertigung durchaus ausreichen, schließlich geht es bei Rechtferti-gungsbeziehungen nicht um einen kausalen Vorgang der Rechtfertigung,der für unendliche Ketten natürlich nicht durchlaufen werden kann,sondern um eine inferentielle Beziehung zwischen Aussagen.54 Wenn esgelingt, die Kette anschaulich zu beschreiben, könnte das bereits alsschwache Begründung für eine Aussage akzeptiert werden. Ein Beispielmag belegen, daß dieser Gedanke nicht so abwegig ist, wie er dem Fun-damentalisten zunächst erscheint.

Auf einer intuitiven Ebene, die natürlich nicht den strengen Anforde-rungen an mathematische Beweise entspricht, können wir dafür argu-mentieren, daß es zu jeder geraden Zahl eine größere gerade Zahl gibt:„Zu 2 gibt es 4, zu 4 gibt es 6, zu 6 gibt es 8 usw. und ich sehe nicht,warum das irgendwo aufhören sollte.“ Eine Überlegung dieser Art ist

53 Man denke hier z. B. an Chisholms (1979, 40ff) Charakterisierung vonselbstrepräsentierenden Sachverhalten oder Propositionen.

54 Bis heute wird der Regreß allerdings immer wieder zeitlich gedeutet. Sospricht Musgrave (1993, z. B. 61) mehrfach von früheren Überzeugungen undschreibt: „Da keiner von uns immer schon gelebt hat, ist ein unendlicher Regreßunmöglich."

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durchaus verständlich und wirkt überdies manchmal überzeugender alsein abstrakter mathematischer Beweis, obwohl sie natürlich nicht dessenSicherheit bieten kann. Sie kann durchaus als ein Grund für die aufge-stellte Behauptung dienen. In jedem Fall scheint mir der bloße Hinweis,daß man schließlich nicht alle Zahlen tatsächlich durchlaufen kann,nicht auszureichen, um damit zu demonstrieren, daß man die Behaup-tung über gerade Zahlen nicht im mindesten auf diese Weise unterstüt-zen könne. Das Beispiel soll bekunden, daß unendliche Rechtfertigungs-ketten keineswegs immer völlig nutzlos sein müssen. Regreßargumentengegenüber sollten wir daher mißtrauisch bleiben. Sie sind darüber hinaus– wie wir in (V.A.2) noch sehen werden – nicht völlig voraussetzungslosund legen vielleicht sogar falsche Maßstäbe an.

Diese Skepsis gegenüber Regreßvorwürfen wird zum zweiten da-durch unterstützt, daß wir ähnliche Regreßargumente an vielen Stellenvortragen können. Auch dort, wo sie dem Fundamentalisten ebensowe-nig lieb sind wie dem Kohärenztheoretiker. Der Fundamentalist ist wieErkenntnistheoretiker anderer Provenienz auf die Konstatierung be-stimmter inferentieller Zusammenhänge angewiesen, um nicht-basaleMeinungen anhand basaler zu rechtfertigen. Wenn ich q als Rechtferti-gung für p angebe, stelle ich damit die Behauptung auf, daß hier eineepistemisch relevante Beziehung vorliegt, also q die Wahrscheinlichkeitfür p erhöht. Das kann man so zusammenfassen:

(*) q rechtfertigt p.

Auch für diese Behauptung kann man nach einer Begründung verlangen.(Das gilt sogar im Falle, daß p aus q logisch folgt, was aber nicht der Re-gelfall und nicht der interessanteste Fall sein dürfte, sondern man denkez. B. an p als Theorie und q sie stützendes Datum.) Eine Begründung derBehauptung (*) ist, wenn man nicht derartige Begründungen selbst alsbasal betrachten möchte, wiederum auf inferentielle Rechtfertigungenangewiesen, für die man erneut fragen kann, ob sie wirklich rechtferti-gend sind usf. Denn da jede dieser Rechtfertigungen eine Irrtumsmög-lichkeit aufweist – und das gilt bekanntlich sogar für logische Ableitun-gen –, können wir jedesmal zu Recht nach einer Begründung dafür ver-langen, daß sie tatsächlich zuverlässige Wahrheitsindikatoren darstellen.

Außerdem lassen sich neben solchen Regreßbeispielen, mit denenwohl alle realistischen Rechtfertigungstheorien zu kämpfen haben, auchspeziell auf den Fundamentalisten zugeschnittene Regreßargumente ent-wickeln. So hält er bestimmte Aussagen für basal und stützt sich inRechtfertigungen auf sie. Dazu muß er sich für bestimmte Aussagen dar-

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auf berufen, daß gerade sie basal sind. Er hat also etwa die Behauptungzu vertreten:

(**) p ist basal.

Nun können wir ihn danach fragen, wie er die Behauptung (**) zu be-gründen gedenkt. Im Falle von (*) hatte er zumindest noch die theoreti-sche Möglichkeit, einfach (*) selbst wieder für basal zu erklären, wenndas auch nicht unbedingt eine realistische und plausible Erkenntnistheo-rie ergeben wird. Denn während wir vielleicht bei einfachen Beobach-tungsaussagen eine gewisse Bereitschaft verspüren zu akzeptieren, daßman sie nicht unter Berufungen auf andere Meinungen weiter rechtferti-gen muß, wird das für höherstufige Fragen danach, wie er sich der recht-fertigenden Wirkung bestimmter Argumente versichern kann, nichtmehr so natürlich erscheinen. Im Falle von (**) scheint dieses Vorgehendagegen kaum weiter zu helfen, gerät man doch auch auf diesem Wegdirekt in einen neuen Regreß, da es nun darum geht:

(***) „p ist basal“ ist basal.

zu rechtfertigen usw. Diesem Regreß oder Zirkel kann er aber auch aufandere Weise nicht ausweichen, denn als überzeugter Fundamentalistmuß er sich in der Begründung für (**) letztlich auf basale Meinungenbeziehen, für die wir wieder fragen können, wie er sicher sein kann, daßes sich dabei um basale Meinungen handelt etc.

Eine solche Inflation von Regressen scheint mir die Bedeutung, diewir einzelnen Regressen beilegen sollten, zu mindern. Vielleicht genügtdoch die implizit vorhandene Möglichkeit des epistemischen Subjekts,im Prinzip auf jede neue Frage nach einer Begründung eine Antwort ge-ben zu können – auch wenn sich die Kette ins Unendliche erstreckenmag. Jedenfalls könnte ein Anti-Fundamentalist dem Fundamentalistenerwidern, daß er zwar einen bestimmten Regreß aufweist, mit dem derFundamentalist nicht zu kämpfen hat, daß aber dieser dafür mit anderenzu kämpfen hat, die auch nicht leichter aufzulösen sind. Der Fundamen-talist steht in diesem Punkt jedenfalls nicht besser da als sein Gegenspie-ler. Schauen wir nun noch, ob der Fundamentalist mit seiner Einführungvon basalen Meinungen nicht obendrein in neue Schwierigkeiten gerät.

3. Natürliche epistemische Arten und Hintergrundwissen

Die Bedingung FU 3 besagte, daß Aussagen allein nach allgemeinen in-haltlichen Merkmalen einen intrinsischen epistemischen Status erlangen;

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also etwa danach, ob sie von unseren Sinneswahrnehmungen oder äuße-ren Objekten bestimmter Größe handeln. Wenn ich eine Überzeugungüber eine Sinneswahrnehmung habe, so ist sie für einen Empiristen perse vertrauenswürdig. Williams (1991, 116ff) spricht davon, daß dieÜberzeugungen in natürliche epistemische Arten aufgeteilt werden, dieeine Form von epistemischer Hierarchie bilden. Diese Konzeption einerfür alle Kontexte festgelegten hierarchischen Schichtung von Rechtferti-gungszusammenhängen entspricht jedoch nicht unserem üblichen Vorge-hen. Schon Wittgenstein hat in Über Gewißheit55 darauf aufmerksam ge-macht, daß die Frage, welche Aussagen wir rechtfertigen und auf welchewir uns dabei stützen, vom jeweiligen Kontext abhängig ist. Der Histori-ker diskutiert nicht die Frage, ob das Universum älter als 100 Jahre ist,sondern setzt diesen Punkt selbstverständlich voraus, und wir würdenihn auch nicht für einen besonders gründlichen Historiker halten, wenner in seinen Werken zu Beginn immer erst dafür plädieren würde. Argu-mente in dieser Richtung würden wir eher von einem Geologen oder Er-kenntnistheoretiker erwarten. Wir legen zwar jeder Rechtfertigung be-stimmte Aussagen zugrunde, aber es können Aussagen ganz unterschied-lichen Typs sein. Es muß sich dabei keineswegs um Beobachtungsüber-zeugungen handeln.

Gibt es denn nicht wenigstens eine Klasse von Aussagen, die man inallen Begründungen guten Gewissens als grundlegend ansehen darf? DerEmpirist wird behaupten, das müßten doch die Wahrnehmungsaussagensein, denn wenn wir an ihnen zweifeln, wie sollen wir dann überhauptempirisches Wissen erwerben können?56 Tatsächlich haben wir eine Nei-gung, unseren Beobachtungen zu vertrauen und ziehen sie gerne zuRechtfertigungen heran, aber es gibt genauso Kontexte, in denen sieselbst begründungspflichtig werden. Der Staatsanwalt beruft sich etwaauf die Beobachtungen eines Augenzeugen, um den Angeklagten zuüberführen. Der Verteidiger zieht dagegen die Aussagen in Zweifel undverlangt nach einer Begründung, daß diese Wahrnehmungen keinen Irr-tum darstellen.57 Auch wenn wir Beobachtungen nicht generell in Zwei-fel ziehen – was wohl aus praktischen Gründen nahezu unmöglich er-scheint –, tun wir es mit guten Gründen doch in einigen Fällen; vor al-lem dann, wenn viel von der Wahrheit einer Beobachtungsaussage ab-

55 Dazu gehören etwa die Paragraphen 163, 167, 234f u.a.56 Der Empirist muß immer wieder als Paradebeispiel für einen Funda-

mentalisten herhalten, weil seine Position zumindest in vorsichtigen Formulie-rungen als der plausibelste Kandidat dieser Richtung auftritt.

57 Das wird in Kapitel IV.B erläutert.

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hängt. In diesen Fällen bezweifeln wir Beobachtungen z. B. unter Bezug-nahme auf Theorien über die Wahrnehmungsfähigkeiten von Menschen.Jedenfalls bekunden diese Beispiele keine festgelegte Hierarchie vonRechtfertigungen, nach der am Anfang einer Rechtfertigungskette im-mer Beobachtungen stehen müssen, die selbst keiner Rechtfertigung be-dürfen.

Es gehört vielmehr zu unseren Überzeugungen über Wahrnehmung,daß wir in manchen Fällen relativ zuverlässige Beobachter sind, aber inanderen Fällen unseren Sinnen nicht unbedingt vertrauen können. Fürjede Beobachtungsaussage gibt es ein Irrtumsrisiko (s. III.B.5), und wirfinden Beobachtungsaussagen auf jeder Ebene von epistemischer Sicher-heit bzw. Unsicherheit. Wie für andere Meinungen auch, können wir fürjede einzelne Beobachtungsaussage fragen, ob sie wahr und außerdemgut begründet ist oder nicht. Wir haben keinen Grund, Beobachtungs-überzeugungen gesondert zu behandeln und von jeder Begründungsver-pflichtung zu befreien. Besonders unplausibel ist die Annahme, es seienintrinsische Merkmale einer derartigen Meinung, die sie als besondersgeeignet – also etwa besonders irrtumssicher – ausweisen würden. EineÜberzeugung wie „Vor mir steht mein Bruder“ oder „Vor mir steht eineHandtasche“ kann in vielen normalen Situationen als ganz sicher undangemessene Grundlage weiterer Schlußfolgerungen dienen, aber siewird unter anderen Umständen unsicher und begründungsbedürftig. Dashängt vor allem von der Situation und unserem Hintergrundwissen ab.Halluziniere ich des öfteren, oder könnte vielleicht eine lebensgroßePhotographie meines Bruders vor mir stehen, von denen es viele gibt,oder werden Androiden nach dem Vorbild meines Bruders gebaut oderfällt mir auch nur ein, daß ich eigentlich keinen Bruder habe, obwohlich ihn mir immer so gewünscht habe, steht die zunächst unproblema-tisch erscheinende Überzeugung schon in einem ganz anderen Licht dar.Die zweite Überzeugung wäre zu überdenken, wenn ich mich wieder inder Wohnung der Künstlerin Dorothy Levine aufhielte. Der Externalistkönnte an dieser Stelle entgegnen, daß wir um diese Bedingungen nichtBescheid wissen müssen, um in unseren Wahrnehmungsüberzeugungengerechtfertigt zu sein, es genügt dafür, daß sie vorliegen. Doch diesenSchachzug hat schon das Kapitel (III.A) widerlegt. Wir sind deshalb ge-zwungen, unser Hintergrundwissen zur epistemischen Beurteilung vonWahrnehmungsüberzeugungen zu Rate zu ziehen. Die angeblich basalenMeinungen sind nicht wirklich selbstrechtfertigend, sondern in ihremepistemischen Status von unserem übrigen Wissenshintergrund abhän-gig.

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Sie haben keinen intrinsischen epistemischen Status wie FU 3 nahe-legt. In bestimmten Fällen sind Beobachtungsaussagen sicherer als ande-re, aber in anderen Situationen gibt uns unser Hintergrundwissen guteGründe, allgemeinere Überzeugungen wie, daß die Sonne jeden Tag wie-der aufgehen wird, als verläßlicher anzunehmen. In einer ähnlichenRichtung hat BonJour sein allgemeines Argument gegen den Fundamen-talismus entwickelt, in dem er danach fragt, wieso wir eigentlich von be-stimmten basalen Meinungen annehmen, sie seien gute Wahrheitsindika-toren.

4. Der Einwand des Kriteriums

Der letzte Abschnitt erklärte, wieso die üblichen Beispiele für basaleMeinungen nicht durch intrinsische Eigenschaften erkenntnistheoretischausgezeichnet sind. Wenn wir wissen wollen, ob wir einen unsicherenKandidaten oder einen nicht irrtumsgefährdeten Fall vor uns haben,sind wir daher auf zusätzliche Informationen aus unserem Hintergrund-wissen angewiesen. BonJour (1985, 30ff) stellt ein noch grundsätzliche-res Argument gegen den Fundamentalismus vor, das sogar vor der Frage,welchen Einfluß zusätzliche Informationen auf den Status basaler Über-zeugungen haben, ansetzt.58 Sein Ausgangspunkt ist die Überlegung,über welche Informationen ein Fundamentalist denn zumindest verfügenmuß, damit er behaupten kann, eine vertretbare Antwort auf das Re-greßproblem zu geben. Als Internalisten sind wir als erstes darauf ange-wiesen, daß wir die basalen Meinungen als solche auch erkennen. Siemüssen sich durch ein uns kognitiv zugängliches Merkmal M von nicht-basalen Meinungen unterscheiden, das sie zu basalen Meinungen macht.Damit der Fundamentalist über eine einsichtige Form von Rechtferti-gung verfügt, sollte das kein beliebiges Merkmal sein, wie z. B., daß dererste Buchstabe des zweiten Wortes ein B sei, sondern es muß sich dabeium ein erkenntnistheoretisch bedeutsames Merkmal handeln. D.h. dieEigenschaft M zu haben muß die Wahrscheinlichkeit einer Meinung,wahr zu sein, erhöhen. Weiterhin kann M für einen Internalisten nurdann epistemisch relevant sein, wenn dieser Charakter von M als Wahr-heitsindikator dem epistemischen Subjekt auch bekannt ist. M könntez. B. die Eigenschaft sein, direkt unsere Sinnesdaten wiederzugeben, undals Phänomenalisten könnten wir M als einen Wahrheitsindikator be-

58 Ein Argument ähnlicher Form steht auch bei Chisholm (1979, 47f), dasdieser dem Skeptiker zuschreibt und auf das er auch keine überzeugende Ant-wort weiß.

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trachten, weil wir glauben, daß zwar für unsere Überzeugungen über äu-ßere Gegenstände Irrtumsmöglichkeiten bestehen, aber nicht für unsereAnsichten über unsere direkt gegebenen Wahrnehmungsinhalte.

Die dann entstandene Situation läßt sich aber nur noch so beschrei-ben: Die in Frage stehende Überzeugung ist nicht mehr basal im Sinnevon FU 1. Sie ist nicht selbstrechtfertigend, sondern ihre Rechtfertigungals „basale“ Meinung hängt von anderen Überzeugungen ab wie der, daßsie die Eigenschaft M aufweist und daß M ein Wahrheitsindikator ist.Wir können die Rechtfertigung für eine derartige Meinung p somit in ei-nem einfachen Schema wiedergeben:

(1) Die Meinung p hat die Eigenschaft M.(2) Meinungen, die die Eigenschaft M haben, sind

wahrscheinlich wahr.Also: Die Meinung p ist wahrscheinlich wahr.

Das ist eine inferentielle Begründung für p, ohne die ein Internalist p alsunbegründet ansehen sollte. Für empirische Behauptungen p sind dieBehauptungen (1) und (2) außerdem nicht beide von rein apriorischemCharakter, was für die meisten Beispiele klar ersichtlich ist und einemEmpiristen allemal begreiflich sein sollte. Für den Common-Sense Empi-risten sollten etwa skeptische Hypothesen ausreichen, um ihm zu ver-deutlichen, daß das Merkmal Aussage über einen Gegenstand mittlererGröße zu sein, nur in bestimmten möglichen Welten ein Wahrheitsindi-kator ist und daher jedenfalls die Behauptung (2) empirischen Gehalt be-sitzt. Die als Kandidat für eine basale Meinung gestartete Überzeugung perweist sich somit als nicht-basal.

Dieses Argument, das BonJour (1985, 32) noch in einer ausführli-cheren semiformalen Gestalt präsentiert, zeigt, daß wir nicht zugleichFundamentalisten sein und ebenfalls die Gebote des Internalismus fürepistemisch relevante und irrelevante Merkmale einhalten können. Indem Moment, in dem wir die internalistischen Forderungen und unsereExplikation von epistemischen Rechtfertigungen als Wahrheitsindikato-ren ernst nehmen, sind wir auf inferentielle Begründungen für all unsereMeinungen zwingend angewiesen, wenn wir sie überhaupt als begründetbetrachten wollen.

5. Substantieller Fundamentalismus

In diesem Abschnitt sollen nun einige substantielle Ausgestaltungen desFundamentalismus ausführlicher zu Wort kommen, die in der empiristi-

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schen Tradition angesiedelt sind und auch mir früher in der einen oderanderen Variante attraktiv erschienen. Es läßt sich in solchen Beispielenkonkreter vorführen, an welchen Stellen die Theorien auf unplausibleAnnahmen angewiesen sind. Als erstes stoßen wir auf die Sinnesdaten-theorien, die unter anderem Namen schon von den britischen Empiri-sten vertreten wurden. Sie nahmen in neuerer Zeit mit dem „linguisticturn“ der analytischen Philosophie die Wende zu einer sprachphilosophi-schen Theorie: dem Phänomenalismus.

a) Sinnesdaten und der Phänomenalismus

Fundamentalistische Ansätze, die unserer Erkenntnis Beobachtungssätzewie

(1) Vor mir steht eine Handtasche.

zugrunde legen wollen, haben sofort mit dem Problem zu kämpfen, daßman sich bei solchen Beobachtungen irren kann. Wir können immersinnvoll fragen: Wieso glaubst Du, daß Du Dich gerade in diesem Fallnicht irrst? Antworten wir darauf in Form einer Rechtfertigung, sind wirauf zusätzliche Informationen angewiesen, ob es sich jeweils um eine irr-tumsträchtige Wahrnehmungssituation handelt oder nicht. Vor diesemHintergrund konnten wir Beobachtungsüberzeugungen vom Typ (1)nicht mehr als „basal“ einstufen. Um diesem Problem zu entgehen, ver-suchen Fundamentalisten Meinungen als basal auszuweisen, die schoneher als selbstrechtfertigend und irrtumssicher gelten können. Dement-sprechend wählt Chisholm (1979, 41) seine Formel für das Evidente:„Was mich zu denken berechtigt, daß a F ist, ist einfach die Tatsache, daßa F ist.“ Dabei hat für Chisholm „unser Mensch seine Rechtfertigung ei-ner Proposition einfach durch die Reiteration der Proposition gegeben“.Dieses Verfahren der Rechtfertigung ist natürlich nicht für alle Meinun-gen sinnvoll, sondern nur für solche, die selbstrepräsentierend sind. Dassind Meinungen, die wenn sie wahr sind, notwendigerweise dem epi-stemischen Subjekt auch evident sind (Chisholm 1979, 43). Das wohlprominenteste Beispiel einer solchen Meinung ist „Ich denke“, dennwenn ich denke, ist mir das nach Descartes und Chisholm notwendiger-weise auch unmittelbar evident. Doch letzteres Beispiel gibt noch keinesehr gehaltvolle Basis für weitere Annahmen ab – jedenfalls wenn ich da-von ausgehe, daß wir dem Cartesischen Weg, über einen Gottesbeweisweiterzukommen, nicht mehr folgen wollen. Deshalb haben Empiristenversucht, eine gehaltvollere Beobachtungsbasis zu finden. Einen Auswegaus dem Problem des Satzes (1) scheint der Rückzug auf die subjektiven

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Elemente der Beobachtung zu bieten. Statt die „riskante“ Behauptung(1) zu wagen, zieht sich der Sinnesdatentheoretiker etwa auf eine Be-hauptung vom Typ:

(2) Ich habe eine handtaschenartige Sinneswahrnehmung.

oder besser:

(2’)Ich habe eine Wahrnehmung, als ob eine Handtasche vor mirsteht.

zurück. (2) und (2’) sind nur als Aussagen über unsere subjektiven Sin-neseindrücke gemeint und stellen keine Behauptungen über äußere Ge-genstände mehr auf. Die gewöhnlichen Irrtumsmöglichkeiten entfallendamit; aber auch der gewöhnliche Gewinn, den wir uns von unseren ba-salen Aussagen erhoffen, nämlich daß sie uns Informationen über dieAußenwelt vermitteln. Es tritt nun die Frage stärker in den Vordergrund,wie man mit Sätzen vom Typ (2) überhaupt Überzeugungen vom Typ (1)und schließlich die darauf aufbauenden wissenschaftlichen Theorien be-gründen kann. Erkenntnistheoretiker verschiedener Couleur haben Vor-schläge unterbreitet, die den Zusammenhang zwischen Sätzen vom Typ(1) und solchen vom Typ (2) erklären sollen. Dazu haben sie die Termi-nologie vom „Sinnesdatum“ eingeführt. Was unter „Sinnesdatum“ ver-standen werden soll, variiert von Autor zu Autor und wird auch nichtimmer deutlich ausgesprochen. Sinnesdaten sind in den meisten Fällenungefähr zu beschreiben als der subjektive Wahrnehmungsinhalt, denwir bei einer Beobachtung haben und werden in etwa durch Sätze vomTyp (2) oder in anderen Fällen durch Sätze wie

(3) Hier ist jetzt rot.

zum Ausdruck gebracht; manchmal spricht man auch vom unmittelbarGegebenen in der Wahrnehmung. Gerade von den letzten Sätzen er-hoffte man sich eine besonders hohe Irrtumsresistenz.

Z. B. Schlicks „Konstatierungen“ lassen sich am ehesten durch Sätzedes Typs (3) beschreiben, die mit ihren indexikalischen Ausdrücken un-sere Wahrnehmungsinhalte am besten wiedergeben (Schlick 1934, 92ff).Doch Schlick weist darauf hin, daß seine Konstatierungen sich eigentlichnicht in objektivierte Beschreibungen übersetzen lassen, da der hinwei-sende Gehalt von Konstatierungen, der eher durch eine entsprechendeGeste zum Zeitpunkt der Konstatierung zum Ausdruck gebracht würde,dabei nicht erfaßt werden kann.

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Wenn ich die Konstatierung mache: „Hier ist jetzt blau“, so ist sienicht dasselbe wie der Protokollsatz: „M.S. nahm am soundsovieltenApril 1934 zu der und der Zeit an dem und dem Orte blau wahr“,sondern der letzte Satz ist eine Hypothese und als solcher stets mitUnsicherheit behaftet. (Schlick 1934, 97)

Allerdings hat Schlick hier nur die üblichen Protokollsätze der logischenEmpiristen im Auge, die für seine Zwecke tatsächlich ungeeignet sind.Die Schlickschen Konstatierungen lassen sich wohl eher als indexikali-sche Aussagen des Typs (3) interpretiert im Rahmen ihres jeweiligenpragmatischen Kontextes darstellen. Einen moderneren Vorschlag in die-ser Richtung, der dadurch noch nicht angemessen erfaßt wird, weil ersich nicht auf Objekte mit wesentlich semantischem Gehalt stützt, stelltMosers Fundamentalismus dar, den wir im nächsten Abschnitt kennen-lernen werden.

Den Ausdruck „Sinnesdaten“ haben Moore und Russell im Engli-schen („sense data“) eingeführt, aber mit Locke, Berkeley, Hume undMill finden sich bereits frühere Sinnesdatenvertreter, die von „ideas“oder „impressions“ sprechen. Sinnesdaten haben für repräsentative Rea-listen wie John Locke vor allem die Aufgabe, zwischen dem äußeren Ob-jekt und dem epistemischem Subjekt zu vermitteln. Sie repräsentieren dasObjekt in der Wahrnehmung. Demgegenüber streichen Idealisten wieBerkeley oder Mill gleich das Objekt und identifizieren es schlicht mitKomplexen von Sinnesdaten. Dazu hat Mill neben den tatsächlich wahr-genommenen sogar noch mögliche Sinnesdaten eingeführt, die niemandmehr tatsächlich empfunden haben muß.59

Phänomenalisten aus der analytischen Tradition wie z. B. Carnapund Ayer haben diese Überlegung im Sinn des „linguistic turn“ weiterge-führt und eine einfache Theorie über den Zusammenhang zwischen Sät-zen vom Typ (1) und solchen vom Typ (2) entwickelt. Für sie sind Aussa-gen über Gegenstände der Außenwelt in solche über Sinnesdaten über-setzbar. Wären Sinnesdaten die uns zugänglichen und irrtumssicherenBestandteile unserer Sinneswahrnehmungen und alle anderen Sätzeschließlich in Sinnesdatenaussagen übersetzbar, könnte das auf eine idea-le fundamentalistische Position hinauslaufen. Von einer infalliblen Basisaus ließen sich alle wahren Aussagen mit rein analytischen Schlüssen ab-leiten, wobei sowohl die Sinnesdaten wie auch die analytischen Schlüssenebenbei noch die Anforderungen des Internalismus erfüllen könnten.

59 Für einen Überblick über die Geschichte der Sinnesdaten in der Wahr-nehmungstheorie s. Schantz (1991).

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Das ist natürlich viel zu schön um wahr zu sein. Schwierigkeitenstellten sich denn auch sogleich ein. Eine Dingaussage wie „Vor mir stehtein Würfel“ läßt sehr viele, potentiell sogar unendlich viele, verschie-dene Hinsichten zu, aus denen der Würfel betrachtet werden kann, fürdie sich entsprechende quader- oder würfelförmige Ansichten eventuellmit verschiedenen Farben ergeben. Eine konkrete Dingaussage der ange-gebenen Art impliziert daher eine entsprechende Vielzahl von Sinnesda-tenaussagen (s. dazu Stegmüller 1958).60 Tatsächlich kann jeder Menschzu einem Zeitpunkt aber immer nur eine solche Hinsicht einnehmenund damit ihrer sicher sein. Kognitiv zugänglich wird uns deshalb fürDingaussagen nie ihre gesamte Sinnesdatenbasis sein, sondern immernur ein sehr kleiner Ausschnitt daraus. Das Bild eines infalliblen Funda-mentalismus läßt sich dann nicht mehr aufrechterhalten, weil der analy-tische Zusammenhang zwischen den wenigen tatsächlich verfügbarenDaten und unseren Behauptungen vom Typ (1) verlorengeht. Das Pro-blem wird noch dadurch verschärft, daß Dingaussagen auch Implikatio-nen für Situationen haben, in denen wir das betreffende Ding für kurzeZeit überhaupt nicht betrachten und auch über keine anderen Sinnesda-ten von ihm verfügen.61 Von normalen Gegenständen wissen wir, daß siegewisse Kontiniutäten aufweisen und können deshalb von einer Din-gaussage Schlüsse auf nichtbeobachtete Dinge ziehen, während Sinnes-daten an unsere momentane Wahrnehmung gebunden bleiben.

Trotzdem könnte der Phänomenalist weiter an seiner Übersetzungs-these festhalten, wenn er die nicht wahrgenommenen aber möglichenHinsichten als mögliche Sinnesdaten mit aufnimmt, wie es Mill getanhat. Aber auch wenn die möglichen Sinnesdaten für die Übersetzungs-these interessant bleiben, für die erkenntnistheoretischen Überlegungeneines Internalisten müssen sie außen vor bleiben, weil sie uns nicht tat-sächlich kognitiv verfügbar sind. Sie leisten daher nichts für die Begrün-dung meiner Meinungen. Der Phänomenalist könnte sich dann nur aufdie Position zurückziehen, daß die Übersetzungsthese den Zusammen-hang zwischen Dingaussagen und Sinnesdaten vermittelt und die weni-gen uns zugänglichen Sinnesdaten eben gerade unsere epistemische Basisfür unseren Schluß auf bestimmte äußere Gegenstände bilden, auchwenn dieser Schluß kein analytischer mehr sein kann.

60 Nicht nur über visuelle Empfindungen, sondern ebenso über Empfin-dungen der anderen Sinne.

61 Ayer war sich in (1984, 118ff) dieser Probleme durchaus bewußt undglaubte in seinen späteren Jahren nicht mehr an eine vollständige Reduktion vonDing-Aussagen auf Sinnesdaten.

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Doch ob die Übersetzungsthese die ihr damit zugewiesene Aufgabetatsächlich übernehmen kann, bleibt mehr als ungewiß. Auf welcheSchwierigkeiten der ernsthafte Versuch stößt, das Reduktionsvorhabenin umfassender Weise tatsächlich auszuführen, zeigt z. B. Carnaps Logi-scher Aufbau der Welt. Insbesondere in größerer Entfernung von der Ba-sis werden die reduzierenden Definitionen immer schwieriger. Einigeder entstehenden Lücken sind von Goodman (1951) angegeben wordenund andere von Carnap selbst. Auch dieses Standbein der phänomenali-stischen Fundamentalisten, die Reduktion aller nicht-basalen Dingaussa-gen auf die Sinnesdatenüberzeugungen, die uns tatsächlich epistemischzugänglich sind, muß daher als gescheitert angesehen werden.62

Wenn mir diese Pietätlosigkeit einmal erlaubt sei: Ein Gelingen die-ses inzwischen verstorbenen Projekts scheint mir erkenntnistheoretischnicht einmal besonders wünschenswert zu sein. Auch wenn es den Phä-nomenalisten vielleicht selbst nicht immer ganz klar war, weil sie ontolo-gische Fragen meist als rein sprachliche Fragen verstanden wissen woll-ten, legt ihr Übersetzungsvorhaben den Grundstein für eine idealistischeTheorie, die auf physische Gegenstände zugunsten der Sinnesdaten ganzzu verzichten gedenkt. Franz von Kutschera (1982, 223) subsumiert da-her in seiner Erkenntnistheorie die Phänomenalisten unter die neuerenIdealisten. Ein realistisch gesonnener Philosoph wird das phänomenali-stische Reduktionsprogramm deshalb immer mit großer Skepsis verfol-gen. Ein Realist bezüglich der Außenwelt wird auf Sinnesdaten sowiesonur dann zurückgreifen, wenn seine besten empirischen Theorien unse-rer Wahrnehmung Sinnesdaten für einen wesentlichen Bestandteil in un-serem Wahrnehmungsvorgang ansehen. Dann sind sie aber in einemtheoretischen Rahmen innerhalb seiner Vorstellung der Welt und unse-rer Stellung in ihr angesiedelt und nicht etwa Fundamente, auf die wiruns vor jeder empirischen Theorienbildung verlassen können.

Man kann den Phänomenalismus auch als einen Versuch betrachten,sich dem Skeptiker entgegenzustellen. Wenn der uns den subjektiven An-teil an der Wahrnehmung als infallibel erkennbar zugesteht, lassen sichauf dieser Grundlage alle anderen Aussagen als komplizierte Sinnesda-tenaussagen logisch ableiten, so daß keine epistemische Kluft mehr ent-steht, wo der Skeptiker einhaken könnte. Daß die subjektiven Wahrneh-mungsinhalte uns zunächst in unproblematischer Weise zugänglich sind,und wir uns nur fragen müssen, wie wir von dort zu Erkenntnissen überdie Außenwelt gelangen, ist tatsächlich eine Standardsituation für viele

62 Allerdings ist Carnaps Ziel im Aufbau nicht primär ein erkenntnistheo-retisches, obwohl er meist so gelesen wird (s. Bartelborth 1995).

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skeptische Fragestellungen. Das Gehirn in der Nährflüssigkeit eines bö-sen Wissenschaftlers ist sich seiner Wahrnehmungen durchaus in zuver-lässiger Weise bewußt, aber alle Schlüsse, die es daraus auf eine entspre-chende Außenwelt zieht, sind leider falsch. Nicht so für den Phänomena-listen. Der könnte nämlich entgegnen, daß diese Darstellung inkonsi-stent ist, weil Aussagen über Gegenstände einer Außenwelt bedeutungs-gleich zu Aussagen über Sinnesdaten sind. Das Gehirn im Topf macht al-so immer nur Aussagen über Sinnesdaten, und daß es sich dabei nichtirrt, war uns vom Skeptiker für diesen Fall zugestanden worden. Dochdiese Wendung des Phänomenalisten, der aus seiner Not, das Verhältnisvon Aussagen des Typs (1) zu denen des Typs (2) zu klären, eine Tugendmacht, indem er sie als identisch einstuft, verzichtet darauf, Erkennt-nisse über eine physische Welt in einem objektiven Sinn anzustreben. Siekommt deshalb dem Skeptiker bereits in wesentlichen Punkten entge-gen. Selbst ein Gelingen des phänomenalistischen Programms ist auserkenntnistheoretischer Sicht, als Antwort auf den Skeptiker, dahernicht befriedigend.

Interessanter wirkt da schon der Rückgriff auf die älteren Repräsen-tationstheorien der Erkenntnis kombiniert mit dem Schluß auf die besteErklärung. Wenn wir in Sinnesdaten eine sichere Basis finden, könnenwir auf physische Objekte als die besten Erklärungen für das Auftretendieser Sinnesdaten schließen. Ein solcher Verzicht auf eine analytischeHerleitung von nicht-basalen Überzeugungen aus der Basis wäre eher imSinne einer realistischen Auffassung des Fundamentalismus. Doch auchin dieser Version der Sinnesdatentheorie stoßen wir schnell auf neueProbleme. Die ersten betreffen den Schluß auf die beste Erklärung. Waseine bessere Erklärung ist, ist immer vor unserem jeweiligen Hinter-grundwissen zu beurteilen (s. dazu VI.B.4). Wieso sollten vor dem allei-nigen Hintergrund von Sinnesdaten, die wir zu Beginn gesammelt ha-ben, physische Dingtheorien eine bessere Erklärung für die Sinnesdatenanbieten als etwa skeptische Hypothesen, nach denen die Sinnesdatenuns von einem bösen Dämon oder Wissenschaftler eingegeben werden?Bei unserem gewöhnlichen Hintergrundwissen erscheinen sie uns als dienatürlichsten Erklärungen, aber welche Anhaltspunkte finden sich dafürin einem reinen Sinnesdatenwissenshintergrund? Es dürfte unmöglichsein, die Abduktion im Rahmen dieser Theorie sinnvoll zum Einsatz zubringen.63

63 Siehe dazu auch die Diskussion um Mosers Fundamentalismus im näch-sten Abschnitt.

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Ein anderes Problem betrifft die Basis dieses Fundamentalismus. Sieerschien uns deshalb so sympathisch, weil sie infallibel sein sollte undauf diese Weise einigen Problemen anderer fundamentalistischer Theo-rien entgehen konnte.64 Dieser Annahme bin ich bisher einfach gefolgt,ohne damit allerdings ihre Wahrheit präjudizieren zu wollen. Kann mansich bei Aussagen wie

(4) Ich habe jetzt eine Rotwahrnehmung.

nicht doch irren? Um das zu untersuchen, muß ich zwei Lesarten desSatzes unterscheiden: In einer ersten, benenne ich mit (4) nur meine au-genblickliche Sinneswahrnehmung mit einem Wort, nämlich „Rotwahr-nehmung“ – gleichgültig wie sie qualitativ beschaffen ist. Das scheintmir eine epistemisch uninteressante Lesart von (4) zu sein, denn (4) be-sagt in dieser Interpretation nicht mehr, als daß ich jetzt eine Empfin-dung irgendeiner Art habe, der ich einen Namen gebe. Es ist sicher nichtleicht zu sehen, wie man sich dann in (4) irren kann, aber es ist ebenso-wenig verständlich, wie mit (4) in dieser Lesart ein Erkenntnisgewinnverbunden sein könnte. Dazu müssen wir (4) schon so verstehen, daßmeine Farbwahrnehmung durch (4) in einen Zusammenhang mit ande-ren Farbwahrnehmungen gebracht wird, die ich ebenfalls als Rotwahr-nehmungen bezeichne. Dann meine ich mit (4) so etwas wie: Es gibteine Klasse von qualitativ ähnlichen Farbwahrnehmungen in einem grö-ßeren Farbenspektrum, die ich mit „rot“ bezeichne, und meine jetzigeWahrnehmung gehört zu dieser Klasse. Schon bei diesem geringen Ge-halt kann ich mich in (4) aber auch irren, denn ich behaupte eine quali-tative Ähnlichkeit zu anderen Farbwahrnehmungen, die nicht gegebensein könnte.

Für den Realisten genügt diese Erklärung, wie es zu einem Irrtumkommen könnte, um die Irrtumsmöglichkeit zuzugestehen. Aber auchAnti-Realisten wie Putnam sollten sie zugestehen, denn, daß ich michdabei geirrt habe, könnte mir sogar selbst bewußt werden. Der Irrtum istnicht etwa prinzipiell unentdeckbar. Wenn ich kurz nach dem Ausspruch(4) wieder eine andere Rotwahrnehmung habe und sie als solche er-kenne, könnte ich sagen: „Stimmt, das ist Rot, vorher das war danndoch nur Violett und kein richtiges Rot. Die neue Wahrnehmung erin-nert mich wieder an die Farbe Rot.“ Sobald ich also eine Aussage wenn

64 Das behauptete Ayer z. B. in (1979, II) und sogar noch in der zweitenAuflage von (1970, 15f), wo er von der Unmöglichkeit sich zu irren, außer einerrein verbalen spricht. In (Ayer 1984, 44ff) hat er dagegen dieser Behauptung be-reits abgeschworen und argumentiert überzeugend gegen sie.

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auch nur mit nur geringem Gehalt akzeptiere und nicht nur eine der Art„Dies ist jetzt hier“, gerate ich in die Gefahr des Irrtums, während ande-rerseits mit gehaltsleeren Aussagen kaum ein Erkenntnisfortschritt zu er-zielen ist. Das Fazit dieses Abschnitts läßt sich daher – und wen wundertdas eigentlich? – so zusammenfassen: Bei jeder Überzeugung mit nicht-leerem Gehalt können wir uns irren.65

Ein beliebter Schachzug in diesem Zusammenhang soll noch er-wähnt werden, obwohl ich ihn kaum plausibel finde. Es wird einge-wandt, daß ein Irrtum bei (4) nur ein Irrtum in der Bedeutung sei. Derje-nige der (4) glaubt und sich irrt, habe sich nur in der Bedeutung desWortes „Rotwahrnehmung“ geirrt. Auch wenn man lieber nicht nachfra-gen möchte, was hier „nur“ zu bedeuten hat, hat man kaum Grund, sichdieser Ansicht anzuschließen. Spätestens seit Quines Untersuchungen zuranalytisch/synthetisch Unterscheidung ist deutlich geworden, wie wenigsich rein begriffliche Bestandteile einer Aussage von inhaltlichen Be-hauptungen abtrennen lassen. Aus welchem Grund sollte man also denoben genannten Gehalt von (4), nach dem eine Ähnlichkeit behauptetwird, als bloße Angelegenheit des Satzverstehens betrachten? Die ange-gebene Ähnlichkeitsbehauptung ist zunächst eine empirische Annahme,in der man sich irren kann, ohne deshalb gleich seiner Sprache verlustigzu gehen, was durch die beschriebene Situation, in der ich meinen Irr-tum auch entdecke, noch einmal verdeutlicht wird. Ayer (1984, 66ff)gibt auch in Beispielen an, wie wir durchaus Indizien dafür haben kön-nen, in solchen Fällen einen tatsächlichen Irrtum zu begehen und nichtnur einen sprachlichen. Und so ist auch das Beispiel der Rotwahrneh-mung beschrieben worden. Der Schachzug, den Irrtum als einen reinsprachlichen abzutun, ist für die erkenntnistheoretische Debatte daherkaum hilfreich.

Gegen Sinnesdatentheorien lassen sich natürlich noch Einwändeganz anderer Art vorbringen, die darauf beruhen, daß hier von Philoso-phen seltsame psychische Entitäten postuliert werden, deren Existenzeine Frage ist, die eher in den Zuständigkeitsbereich von empirischenDisziplinen fällt, statt in den einer „armchair psychology“. Aber auchohne die Frage der empirischen Plausibilität der Sinnesdatentheorienweiter zu verfolgen, liegt bereits genügend Material vor, um von dieserspeziellen fundamentalistischen Theorie keine Lösung unserer erkennt-nistheoretischen Probleme zu erwarten. Einer modernen Variante derar-tiger Theorien möchte ich mich trotzdem noch ausführlicher widmen,

65 Ayer diskutiert in (1984,44ff) auch die (basale) Meinung „Ich existiere",für die wir bereits mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

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nämlich der von Paul K. Moser, die den meines Erachtens erfolgverspre-chendsten Weg in diesem Bereich weist.

b) Mosers Fundamentalismus

Die meisten gegenwärtigen Erkenntnistheoretiker argumentieren dafür,daß nur Überzeugungen rechtfertigende Wirkung für Überzeugungen ha-ben können und nicht auch Entitäten ohne semantischen Gehalt. Über-zeugungen können aber falsch sein, wenn sie nicht analytisch wahr sind,und daher ließ sich immer wieder berechtigterweise die Frage nach ihrerBegründung stellen, die den Fundamentalisten sofort in Verlegenheitbringt, denn wenigstens für seine basalen Meinungen möchte er geradediese Frage eigentlich zurückweisen. Da wir uns außerdem schon vonden externalistischen Lösungen des Rechtfertigungsproblems abgewandthatten, scheinen wir um eine inferentielle Begründung auch für die an-geblich basalen Meinungen nicht herumzukommen. Zu diesem Argu-ment sucht Moser (1989) einen Ausweg. Er entwirft eine fundamentali-stische Theorie, für die es auch Wahrheitsindikatoren nicht-propositio-naler Art gibt.

Mosers Fundamentalismus bleibt dabei trotzdem internalistisch indem Sinne, daß uns alle Komponenten der Begründung bewußt zugäng-lich sein müssen; nur handelt es sich dabei nicht ausschließlich um Über-zeugungen, sondern auch um nicht-propositionale Wahrnehmungszu-stände. Einen seiner zentralen Begriffe in diesem Zusammenhang, dender „direct attention attraction“, beschreibt er unter anderem wie folgt:

The sort of nonconceptual awareness most appropriate to Moderateand Radical Internalism is direct attention attraction, where one’s at-tention is directly engaged, if only momentarily, by the more or lessdeterminate features of certain presented contents. Such attention at-traction, being nonconceptual, does not itself essentially involveone’s predicating something of the presented contents; yet of courseit can be accompanied by such predicating. And such attention at-traction is different from mere sensory stimulation, since it essen-tially involves direct awareness, albeit nonconceptual awareness, ofwhat is presented in experience. (Moser 1989, 81)

Wenn man den Sinnesdatenbegriff weit faßt, verfolgt auch Moser eineForm von Sinnesdatentheorie, nur mit der Besonderheit, daß diese Sin-

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nesdaten keine propositionale Struktur haben,66 und wir uns auf die be-schränken, die im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Für dienicht-propositionale Struktur betont Moser die Unterscheidung zwi-schen einem Wahrnehmungszustand, der auf ein Objekt gerichtet ist, undseiner Beschreibung:

Clearly our describing a nonconceptual experience or the objectthereof requires our formulating a judgment about it. But this doesnot mean that the having of such an experience is essentially concep-tual. The describing of an experience is one thing, and the having ofit, another. (Moser 1989, 84f)

Für die Rechtfertigung von Meinungen stützt sich Moser nur auf densubjektiven Teil der nicht-propositionalen Wahrnehmungsinhalte. Diesesollen durch einen Schluß auf die beste Erklärung bestimmte Überzeu-gungen begründen:

My rough preliminary proposal is this: one’s subjective nonconcep-tual contents can make a proposition, P, evidentially probable tosome extent for one in virtue of those contents’ being explained forone by P in the sense that P is an essential part of an explanation forone of why those contents exists, or equivalently, why those con-tents occur as they do. (Moser 1989, 91f)

Mosers Sinnesdaten erinnern ein wenig an Schlicks „Konstatierungen“,aber Moser weiß mehr als Schlick darüber zu sagen, wie Entitäten ohnesemantischen Gehalt in Rechtfertigungen überhaupt vorkommen kön-nen. Leider kann ich hier nur eine vereinfachte Darstellung der rechtausgefeilten Wahrnehmungs- und Rechtfertigungstheorie Mosers geben,die dadurch sicher nicht so überzeugend wirkt, wie seine weitergehen-den Ausführungen; aber die Grundidee der Moserschen Theorie solltedeutlich geworden sein.

Bestimmte basale Meinungen sind bei ihm dadurch gerechtfertigt,daß sie die besten Erklärungen für gewisse subjektive Inhalte unsererWahrnehmungszustände sind. So könnte meine Annahme, daß ich miteiner Nadel gestochen werde, als beste Erklärung meiner visuellenWahrnehmungen in diesem Moment und meiner inneren Wahrnehmungeiner bestimmten Schmerzqualität gerechtfertigt werden. Die Annahmeist in dieser Beschreibung nicht weiter von anderen Aussagen inferentiellabhängig und damit basal. Ihr rechtfertigendes Element („probability-

66 Viele Sinnesdatenvertreter ließen es zumindest zu, daß die Sinnesdatendurch eine Aussage i.w. ausgedrückt werden können.

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maker“) ist selbst kein Wahrheitswertträger und daher auch nicht be-gründungspflichtig. Moser (1989, 172) ist wie andere Fundamentalistender Meinung, daß nur auf diesem Weg das Regreßproblem zu stoppenist und auch der Rechtfertigungsskeptiker Humescher Prägung nur soüberwunden werden kann (Moser 1989, 160ff). Wenn ich Moser in die-sen Behauptungen auch nicht folgen möchte, halte ich seinen Ansatzdoch für einen der aufschlußreichsten im fundamentalistischen Lager,weiß er doch als einer der wenigen einen interessanten internalistischenWeg vorzuschlagen, wie unsere Wahrnehmungen, also nicht-semantischeInformationen, bestimmte Beobachtungsüberzeugungen begründen kön-nen.

Hier, wie auch bei den anderen Sinnesdatentheorien, möchte ichnicht in die Diskussion eintreten, wie gut gestützt die empirischen Be-standteile der Moserschen Theorie sind, obwohl das für alle derartigenTheorien sicher ein nicht unproblematischer Aspekt ist. Ich möchtemich lieber gleich der Frage zuwenden, welchen Fortschritt die Erkennt-nistheorie von einer solchen Theorie zu erwarten hätte. Zunächst ist derAbstand von Mosers Begründung der Beobachtungsüberzeugungen zu ei-ner entsprechenden kohärentistischen Theorie der Wahrnehmung wieder von BonJour, die ich im Kapitel (IV.B) vorstellen werde, nicht ein-mal so groß, wie man vermuten könnte. Während BonJour die Beobach-tungsüberzeugungen als spontan auftretende Meinungen charakterisiert,für deren Auftreten die beste Erklärung im Lichte unseres Hintergrund-wissens gerade ihre Wahrheit (also das Vorliegen entsprechender beob-achtbarer Tatsachen ist) rechtfertigt Moser die Annahme von entspre-chenden Beobachtungstatsachen damit, daß sie die besten Erklärungenfür unsere Wahrnehmungszustände bieten. Während also BonJour nachErklärungen für das Auftreten bestimmter Beobachtungsüberzeugungenfragt, geht Moser einen Schritt weiter zurück und fragt nach Erklärun-gen von Sinneswahrnehmungen, die in den Beobachtungsüberzeugungenbeschrieben werden.

Was sind nun die Vorzüge des BonJourschen Vorgehens, dem ichmich in (IV.B.2) anschließen werde? Ich glaube, da finden sich einige.Zunächst scheint es mir sauberer, die Erkenntnistheorie nicht ohne Not-wendigkeit auf eine recht spezielle empirische Wahrnehmungstheoriefestzulegen und das aus mehreren Gründen. Die Aufnahme einer speziel-len Wahrnehmungstheorie in die Erkenntnistheorie führt zu einer Unfle-xibilität in bezug auf neue Wahrnehmungssituationen und neue empiri-sche Ergebnisse in diesem Bereich. Für BonJour sind Theorien derWahrnehmung Bestandteil des Überzeugungssystems des jeweiligen epi-

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stemischen Subjekts, das immer seine jeweils besten Theorien der Wahr-nehmung zur Begründung seiner Meinungen heranzieht. Dadurch kannes immer die neuesten Erkenntnisse innerhalb derselben Erkenntnistheo-rie berücksichtigen. Für Moser wird jedesmal eine Abänderung der Er-kenntnistheorie selbst notwendig, sobald sich neue Erkenntnisse in bezugauf die bewußten Bestandteile unserer Wahrnehmung ergeben. Eine Än-derung zu Wahrnehmungstheorien, die mit den Sinnesdaten im SinneMosers nicht vereinbar sind, überlebt die Mosersche Erkenntnistheorieschließlich überhaupt nicht. Die kohärentistische Rechtfertigung von Be-obachtungen ist hier zunächst im Vorteil, daß sie nicht auf empirisch soumstrittene Entitäten wie Sinnesdaten angewiesen ist. Sie bliebe unterÄnderungen oder sogar Revolutionen unserer Theorien der Sinneswahr-nehmungen relativ stabil, denn die würden sich innerhalb der empiri-schen Ebene der Überzeugungen des epistemischen Subjekts abspielen,die nicht direkt die Metaebene unsere epistemischen Überzeugungen be-einflussen muß. Die Strategie, so wenig spezielle empirische Annahmenwie möglich in die Erkenntnistheorie aufzunehmen, weil die Erkenntnis-theorie gerade die empirische Begründung von empirischen Theorienuntersuchen soll, scheint zumindest ein sinnvolles regulatives Prinzip zusein. Würden theoretische Änderungen an der Peripherie unseres Netzesauch gleich unsere Bewertungsgrundlage für Theorien ändern, stehtschnell ein Relativismuseinwand à la Kuhn vor der Tür.

Ob Moser tatsächlich dem Skeptiker etwas entgegenzusetzen hat, istauch nicht klar, wenn er sich in seiner Metatheorie bereits auf eine em-pirische Theorie verlassen muß, die zumindest der radikale Skeptiker inFrage stellt. Wir könnten sogar das Regreßproblem wiederbeleben, näm-lich auf der Metaebene, denn hier kann man nach einer Rechtfertigungfür Mosers Wahrnehmungstheorie fragen. Aber ich möchte in diesenPunkten auch nicht allzu kleinlich erscheinen und sie nur als Ansatz-punkte für weitergehende Kritiken erwähnen.

Um einem vollen Internalismus gerecht zu werden, scheint es mirauch notwendig, daß das epistemische Subjekt selbst über die entspre-chenden Wahrnehmungstheorien verfügt, in denen die von Moser be-schriebenen Wahrnehmungszustände vorkommen, denn sonst könnenwir nicht davon sprechen, daß es wirklich über die von Moser genannteRechtfertigung verfügt. Das epistemische Subjekt muß über die Stärkenund Schwächen seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten Bescheid wis-sen, um eine für einen Internalisten zufriedenstellende Einschätzung der-selben abgeben zu können. BonJour scheint in all diesen Punkten deneinfacheren und überzeugenderen Weg gegangen zu sein.

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Am schwierigsten verständlich bleibt für mich aber, wie man davonsprechen kann, daß eine bestimmte Erklärung eine bessere Erklärung ist,ohne daß man dabei schon auf ein entsprechendes Hintergrundwissenrekurriert, vor dem solche Bewertungen vorgenommen werden können.Das epistemische Subjekt Mosers kann sich für seine Rechtfertigungenseiner basalen Meinungen jedoch nur auf seine nichtkognitiven Sinnesda-ten stützen. Diese Anwendung der Abduktion widerspricht allem, waswir in unseren bisherigen Beispielen als wesentliche Elemente dieses Ver-fahrens aufzeigen konnten.

Selbst auf der Metaebene, von der der Erkenntnistheoretiker die Si-tuation beschreibt, kann sich Moser nicht auf irgendein Hintergrundwis-sen stützen, wenn er seinen Schluß auf die beste Erklärung auch gegenden Skeptiker einsetzen möchte. Der springende Punkt dieser Rechtferti-gungstheorie ist also in Mosers fundamentalistischer Vorstellung von Be-gründung seine Erklärungstheorie, die ich nun etwas genauer unter dieLupe nehmen werde.67

Moser hat für seine Zwecke eigens Ansätze einer Erklärungstheorieentwickelt. Seine Konzeption von Erklärung stützt sich vor allem auf dieIdee, Erklärungen sollten unser Verstehen befördern:

Here is an appropriate notion: one thing explains another when andonly when the former makes it to some extent, understandable whythe latter thing is as it is. (Moser 1989, 93)

Wesentlich für die Abduktion ist aber auch eine Konzeption von bessererErklärung die es gestattet, zwischen verschiedenen Erklärungsmöglich-keiten eine Wahl zu treffen. Eine Intuition, auf die Moser sich zu diesemZweck beruft, führt er anhand eines Beispiels ein. Meine momentanescheinbare Wahrnehmung eines blauen Buches kann mindestens auf zweiWeisen erklärt werden. Einmal dadurch, daß ein blaues Buch vor mirliegt, und zum anderen auch durch die Annahme eines Dämons, der mirdiesen Eindruck vorspiegelt. Moser spricht sich für die erste Möglich-keit aus, weil in ihr keine überflüssige Entität eingeführt wird:

A Cartesian demon is not represented in my experience by means ofany of its own features, whereas a blue book is: by hypothesis I nowexperience only an apparent blue book. (Moser 1989, 98)

67 Dieser Aspekt der Moserschen Theorie trifft sich auch mit den im näch-sten Kapitel zu untersuchenden Kohärenztheorien der Rechtfertigung, für dieder Schluß auf die beste Erklärung ebenfalls eine zentrale Rolle übernehmen soll.

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Überflüssige Entitäten erkennt man nach Moser also daran, daß sie inunseren Wahrnehmungen nicht repräsentiert sind. Diese positivistischanmutende Konzeption ist natürlich ausgesprochen problematisch.Wann wird denn eine Entität in unseren Wahrnehmungen repräsentiert?Muß ich sie direkt sehen können, oder genügt es auch, daß sie indirekteWirkungen hat? Im ersten Fall werden fast alle Erklärungen der Wissen-schaften anhand von Feldern, Elementarteilchen, Genen etc. ausge-schlossen. Sind wir aber vernünftigerweise liberaler, könnte der Skepti-ker versucht sein zu antworten: Der Dämon wird durch seine Wirkun-gen, nämlich die Welt, die er uns erleben läßt, repräsentiert – und insbe-sondere durch die Überlegungen über Dämonen, die wir gerade anstel-len, die er uns als besonders raffinierten Hinweis auf sich selbst gibt.

Neben der Forderung, daß Erklärungen besser werden, wenn sie aufüberflüssige Entitäten verzichten, sollten Erklärungen nach Moser nochmöglichst informativ sein. Beide Forderungen gehen in Mosers Explika-tionsvorschlag von „entscheidend besserer Erklärung“ ein:

One Proposition, P, is a decisively better explanation of subjectivecontents C than is another proposition, Q, if and only if (i) P ex-plains C, and (ii) either (a) P answers all the explanation-seekingwhy-questions about C answered by Q, but posits fewer gratuitousentities and fewer kinds of gratuitous entities than Q does, or (b)while positing no more gratuitous entities or kinds of gratuitous en-tities than Q posits, P answers all the explanation-seeking why ques-tions about C answered by Q, and still others, or (c) P and Q answerthe same why questions about C without either positing more gratui-tous entities or kinds of entities than the other, but P is information-ally more specific than Q. (Moser 1989, 99)

Diese Erklärungstheorie ist relativ stark auf Mosers speziellen Einsatzder Dämonenbekämpfung zugeschnitten, so daß es interessant ist, inwie-weit sie tatsächlich tragfähig ist.

Zunächst sieht auch Moser (1989, 101ff), daß die Güte der Erklä-rung eines bestimmten Sinnesdatums von äußeren Umständen abhängenkann. Ob auf der Straße vor uns, die weiter weg in der Hitze wie eineWasserfläche erscheint, eine tatsächliche Wasserfläche die beste Erklä-rung für unsere Wahrnehmung ist oder entsprechende Änderungen desBrechungsindex der Luft über der heißen Straße, ist nicht allein an derErklärung des einen Faktums zu erkennen. Sie bedarf der Berücksichti-gung weiterer Beobachtungen, wie z. B. der, wie die Straße dort aus-schaut, wenn wir näher hinkommen. Moser fragt deshalb nach besseren

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„overall“ Erklärungen. Doch hier scheint mir Moser die holistischenAspekte des Unternehmens Erkenntnisgewinn erheblich zu unterschät-zen. Informationen können in unseren vollentwickelten Überzeugungs-systemen über allgemeine Annahmen und wissenschaftliche Theorientransportiert werden; z. B. auch interpersonell oder über Epochen- undGebietsgrenzen hinweg. Man denke weiterhin an die epistemische Ar-beitsteilung. Mosers Projekt, nach einer wirklichen „overall“ Erklärungallein auf der Basis von Sinnesdaten muß schlicht utopisch erscheinen.Gerade wenn man von einem epistemischen Subjekt sagen möchte, daßes über eine Begründung verfügt, ist es auf allgemeine Annahmen in derBewertung von Erklärungen angewiesen. Es kann sich zwischen den ge-nannten alternativen Erklärungen für die naß erscheinende Straße in derWüste auch dann entscheiden, wenn es nicht zu besagter Stelle hingeht,weil es allgemeine Annahmen über Wasservorkommnisse in Wüsten unddas Aussehen solcher Wüstenstrassen in der Hitze besitzt. Natürlichbleibt immer eine Irrtumsmöglichkeit bei diesen Schlüssen zugestanden,doch das gilt ebenso für Mosers Vorschlag.

Er gibt sich hier einer neuen Variante des empiristischen Traums hin,daß wir im Prinzip mit reinen Wahrnehmungen und einer theoriefreienbasalen Beschreibung dieser Wahrnehmungen alles Wichtige für unsereErkenntnis beisammen haben. Aber wie der Mosersche Sinnesdatentheo-retiker allein die einfache alternative Vermutung widerlegen will, daßsich die Straße in der Zeit seiner Annäherung von einer Wasserfläche ineine Teerdecke entwickelt hat, bleibt dabei unklar. Zur Widerlegung sol-cher Spekulationen, die doch unseren Sinneswahrnehmungen in MosersBeispiel viel eher zu entsprechen scheinen als die richtige Erklärung,sind wir auf allgemeine Annahmen über die Beständigkeit von Stoffenwie Wasser und Teer angewiesen. Unsere empirischen Theorien ergebensich auch nicht wie bei Moser in einem Schritt von bestimmten Wahr-nehmungen aus, sondern sind, selbst wenn man im hierarchischen Bildbleiben möchte, eine komplizierte Stufenfolge.68

Also auch für die Einschätzung, wann wir etwas gut verstehen, benö-tigen wir ein reicheres Hintergrundwissen als nur Sinnesdaten. Wir spre-chen dann davon, daß wir etwas gut verstehen, wenn sich zeigen läßt,wie es sich in dieses Hintergrundwissen einbetten läßt. Das soll im letz-ten Teil der Arbeit thematisiert werden. Wie die Güte dieser Einbettungbeurteilt werden kann, wird in der Kohärenztheorie genauer bestimmt.

68 Das gilt in ähnlicher Weise für die Erinnerungen an frühere Wahrneh-mungszustände, auf die Moser angewiesen ist, sucht er „overall"-Erklärungen.

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Ernstzunehmende Rechtfertigungsversuche für basale Meinungenwie der von Moser geben allerdings detailliertere und interessantere Ein-blicke in die Probleme eines empiristischen Fundamentalismus, als siedie allgemeine Debatte um die Struktur von Begründungen bieten kann.Es lohnt sich daher schon aus diesem Grund, sie weiter zu verfolgen.Außerdem könnte Moser einen weiteren Schritt hin zu einer holistischenSicht wagen und von einer wirklichen „overall“-Erklärung sprechen.Statt einzelne Meinungen könnte er unser gesamtes Meinungssystem alsErklärung unseres gesamtem Wahrnehmungsinputs betrachten. Damitließen sich die eben genannten Probleme der Einschätzung bestimmterBeobachtungen anhand unseres Hintergrundwissens umgehen, denn die-ses Hintergrundwissen wird hierbei selbst Bestandteil der Erklärung. Al-ternative Erklärungen wären nun komplette neue Weltbilder wie z. B.die der radikalen Skeptiker. Moser selbst dürfte über diese Entwicklungallerdings nicht wirklich glücklich sein, denn er hätte keine fundamenta-listische Erkenntnistheorie mehr vor sich. Es würden keine einzelnenMeinungen mehr als basal und den anderen gegenüber epistemisch aus-gezeichnet betrachtet. Es handelt sich eher um eine spezielle Kohärenz-theorie, bei der jede einzelne Meinung dadurch gerechtfertigt wird, daßsie einen (kohärenten) Teil einer „overall“-Erklärung darstellt. Das ge-samte Meinungssystem wird dagegen dadurch gerechtfertigt, daß es dieGesamtheit unserer Wahrnehmungszustände am besten erklärt.

Auf diese Strategie komme ich im Zusammenhang mit den Kohä-renztheorien und ihren Antwortmöglichkeiten auf den Skeptiker wiederzurück, möchte aber schon jetzt eine gewisse Skepsis gegenüber den Er-folgsaussichten auch dieses Projekts anmelden. Für diese „overall“-Er-klärung können wir wiederum fragen, auf welcher Grundlage sie sichgegenüber alternativen Erklärungen als die bessere auszeichnen läßt. Esbleibt nun kein Hintergrundwissen als Schiedsrichter übrig. Auch dieFrage, wann wir überhaupt von einer Erklärung sagen sollen, daß sie diebessere ist, müßte noch beantwortet werden. Mosers allgemeine Erklä-rungstheorie wird dafür kaum geeignet sein, und außerdem müßten wirdiese Erklärungstheorie nun a priori rechtfertigen, was mir ebenfalls un-möglich erscheint. Ob eine Erklärung wirklich gut ist, wird zu wesentli-chen Teilen erst durch unsere Erklärungspraxis – speziell unsere wissen-schaftliche – erkennbar und ist nicht unabhängig davon vorzugeben.

Der Ansatz einer „overall“-Erklärung all unserer Sinnesdaten bein-haltet zudem die Vorstellung, man könnte Wahrnehmungszustände vorihrer begrifflichen Verarbeitung sicher speichern und sich schließlichüberlegen, wie gut sie von unserem Meinungssystem erklärt werden.

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Diese Vorstellung ist kaum realistisch und kann bestenfalls als eine sehridealisierte Rekonstruktion verstanden werden. Man fragt sich auch,woher auf der Beschreibungsebene dann die Begriffe kommen sollen.Der Ansatz geriete hier in ähnliche Schwierigkeiten, wie wir sie für Car-naps Projekt (Carnap 1928) finden. Die ganze Idee, Wahrnehmungszu-stände zunächst komplett von ihrer Weiterverarbeitung (Klassifizierungund weiterer theoretischer Einbettung) zu trennen, ist meines Erachtensverfehlt. Es kann daher nicht meine Aufgabe sein, ihn hier weiter auszu-bauen und zu verteidigen. So unsauber es auch ausschaut, beides gehtimmer Hand in Hand, und wir haben keine andere Möglichkeit als vondiesem Prozeß in seiner Komplexität auszugehen. Genau das wird die(holistische) Kohärenztheorie der Rechtfertigung, die im nächsten Kapi-tel vorgestellt wird, unternehmen.

Deutlich scheint mir auch, daß Mosers recht empiristische Erklä-rungstheorie für unsere Paradigmata von Erklärungen, die wissenschaft-lichen Erklärungen, versagen muß. Überflüssige Entitäten als solche zubrandmarken, ist in jedem Fall ein schwieriges Unterfangen. Wissen-schaftliche Theorien schätzen wir gerade für ihre theoretischen Entitä-ten, die wesentlich für Erklärungen und die Systematisierungsleistungvon Theorien sind.69 Obwohl die meisten dieser Entitäten zumindestnicht direkt in unserer Wahrnehmung repräsentiert sind, wäre es ein fa-taler Fehler, die Theorien und Erklärungen zu bevorzugen, die versu-chen sich auf Beobachtbares zu beschränken. Fast das Gegenteil ist derFall. Doch dazu später mehr.

Natürlich gibt es auch schlecht konstruierte Theorien mit überflüssi-gen Bestandteilen. Doch wie soll man von einer reinen Sinnesdatenbasisaus zwischen signifikanten und insignifikanten theoretischen Termen un-terscheiden? Das ist nach Moser notwendig, um schlechtere von besse-ren Erklärungen zu unterscheiden. Dazu gibt es bereits eine ausführlichewissenschaftstheoretische Debatte, die die zahlreichen Untiefen dieserFragestellung der signifikanten Terme aufgezeigt hat. Leider ist sie nichtmit einem so einfachen Vorschlag wie dem Moserschen abzuschließen.

Hinter der Moserschen Idee steckt eine Art von Sparsamkeitsprinzip,nach der man keine Entitäten postulieren sollte, wenn sie nicht erforder-lich sind; d.h. bei Moser, wenn sie nicht in unserer Wahrnehmung reprä-sentiert werden. Doch diese Formulierung ist viel zu unbestimmt undkeine Hilfe, wenn es um die Frage geht, welche Entitäten wir annehmensollten. Aber auch die Grundidee ist keine geeignete Maxime für die

69 Warum das so ist, welche Funktion diese theoretischen Größen inTheorien zu übernehmen haben, wird im 3. Teil ausgeführt.

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Wissenschaften. Der Physiker Richard Feynman hat uns mehrfach mit al-ternativen physikalischen Theorien beglückt, die mit weniger Entitätenauskommen als unsere gewöhnlichen. Das waren zum einen die elektro-dynamischen Theorien ohne Felder, die statt dessen mit retardiertenFernwirkungen arbeiten, und zum anderen seine berühmte Theorie desPositrons (s. Feynman 1949), in der die Positronen zugunsten von Elek-tronen eliminiert werden. Beide Theorien stießen trotzdem in der Fach-welt nur auf wenig Gegenliebe, weil sie zwar Entitäten einsparen konn-ten, aber dafür andere wesentliche Prinzipien aufgaben. In seiner Posi-tronentheorie mußten sich die Elektronen rückwärts in der Zeit bewe-gen und seine Theorie der retardierten Fernwirkungen verletzt zumin-dest lokal den Energieerhaltungssatz. Wir sind in unseren Theorien nichtso sparsam, wie Moser annimmt, und insbesondere gibt es viele anderePrinzipien, deren Erhalt uns mindestens genauso wertvoll erscheint. Ersteine sorgfältige Abwägung der Kohärenz vermag im konkreten Einzelfallzu sagen, welche Theorien besser sind: die sparsamen oder die reichhal-tigen. Daher ist es keine gute Idee, einer Erklärungstheorie eine Spar-samkeitsforderung voranzustellen.

Meine Überlegungen in der Frage der Signifikanz theoretischer Termegehen jedenfalls genau den umgekehrten Weg. Statt die Unterscheidungnach besseren und schlechteren Erklärungen auf die Unterscheidung inbenötigte und überflüssige Terme zu stützen, würde ich die signifikantenTerme als diejenigen auszeichnen, die in unseren besten Erklärungen be-nötigt werden. Diese Konzepte sind danach unverzichtbar, wenn wirnicht an Erklärungskraft einbüßen möchten. Auch diese Bewertung kannnur unter Heranziehung unseres Hintergrundwissens ermittelt werdenund setzt vor allem voraus, daß wir die Erklärungsgüte einschätzen kön-nen, ohne schon wissen zu müssen, welche Terme und Gegenstände die-ser Theorien unentbehrlich sind.

6. Resümee

Die zweite Weichenstellung dieses Kapitels betraf die Rechtfertigungs-struktur unserer Erkenntnis. Sind Rechtfertigungen letztlich lineare Ket-ten von Aussagen, die einen Startpunkt aufweisen, der selbst keiner Be-gründung durch andere Aussagen bedarf, oder ist ein holistisches Modellunserer Erkenntnis, in dem man für alle Behauptungen wiederum nachinferentiellen Rechtfertigungen fragen darf, angemessener? Für den Fun-damentalisten hat die Erkenntnis ein Fundament in basalen Aussagen,die zwar gerechtfertigt sein sollen, aber nicht unter Bezugnahme auf an-

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dere Meinungen, um nicht in einen Regreß zu geraten. Schwierigkeitenmacht allerdings die Frage, wie eine solche nichtinferentielle Rechtferti-gung aussehen kann, wenn sie nicht bloß in einem externen Zusammen-hang der Überzeugungen zu äußeren Tatsachen besteht und für das epi-stemische Subjekt erkennbare Hinweise auf die Wahrheit der basalenMeinungen geben soll. Die Antworten, die wir auf dieses Problem vonFundamentalisten erhalten, bleiben unbefriedigend, insbesondere wennsie versuchen, sich um eine Begründung herumzudrücken, indem sie denGehalt der Basisaussagen vermindern und für sie Irrtumsfreiheit behaup-ten. Doch für Aussagen mit empirischem Gehalt – und nur solche kön-nen als Basis des empirischen Wissens einen substantiellen Beitrag lie-fern – verbleibt immer ein Irrtumsrisiko, das eine Begründung erforder-lich macht. Das BonJoursche Argument des Kriteriums zeigt, daß dieseBegründung nur in weiteren Annahmen bestehen kann, also inferentiel-ler Natur ist. Die starre Schichtenstruktur des Fundamentalisten kannuns daher kein geeignetes Modell für eine überzeugenden Begründungs-struktur bieten. Wir sind nun gezwungen nach einer kohärentistischenAlternative Ausschau zu halten.

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IV Kohärenz

Auch innerhalb der philosophischen Strömung des Wiener Kreises gab esbekanntlich bereits einen Vertreter einer kohärentistischen Erkenntnis-theorie, nämlich Otto Neurath. Er stand damit gegen die eher funda-mentalistisch orientierte Mehrheit der logischen Empiristen und sah sichunter anderem der Kritik durch den damaligen Leiter des Wiener Krei-ses, Moritz Schlick, ausgesetzt. Neurath entwickelte seine erkenntnis-theoretischen Vorstellungen überwiegend in negativer Abgrenzung vonden fundamentalistischen Ansichten Schlicks und des frühen Carnaps inbezug auf Protokollsätze. Seine eigene Konzeption von Kohärenz istdann auch eher als dürftig zu bezeichnen; sie besteht nämlich nur ausder Forderung nach logischer Konsistenz. Schlick mahnt zu Recht an,daß damit alleine noch kein Kontakt eines Überzeugungssystems zurWirklichkeit gegeben ist und alle Märchen epistemisch gleichwertig er-scheinen, solange sie nur logisch konsistent auftreten. Auch Popper kriti-siert in der „Logik der Forschung“ (Popper 1984, 63), daß nach dieserErkenntnistheorie jedes System vertreten werden könne.70 Diesem Ein-wand hatte Neurath nichts Substantielles entgegenzusetzen. Erkenntnis-theoretisch bedeutsam ist also kaum die Neurathsche Epistemologie alseiner Kohärenztheorie der Erkenntnis,71 sondern eher seine Kritik ander simplen Vorstellung von Schlick, man könne Sätze direkt mit derWirklichkeit vergleichen (s. Koppelberg 1987, 33ff). Für meine Arbeitist auch sein bekanntes Bild von uns als Schiffern, die ihr Boot auf hoherSee umbauen müssen, ohne es im Dock aus ganz neuen Bestandteilenaufbauen zu können, zu einem Leitmotiv für die Erkenntnistheorie ge-worden. Vor allem die dynamischen Aspekte dieses Bildes werde ichschließlich in einer diachronischen Kohärenztheorie ernster nehmen, alser selbst es tat. Leider war Neurath nicht der letzte Kohärenztheoretiker,

70 Popper selbst hat allerdings nicht viel mehr für seine Basissätze anzubie-ten. Sie werden per Beschluß akzeptiert. Das entspricht vermutlich der wissen-schaftlichen Praxis, ist aber noch nicht die ganze Geschichte. Interessant ist docheher, die methodischen Prinzipien anzugeben, die dabei berücksichtigt werden.

71 Neurath selbst wehrte sich gegen die Bezeichnung Kohärenztheorie, umsich von den britischen Idealisten abzugrenzen. (s. Koppelberg 1987, 20, Anm.8)

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der mehr mit Kämpfen gegen äußere Feinde beschäftigt war, als mit ei-ner Ausarbeitung der Kohärenzkonzeption selbst.

Dieses Kapitel soll nun dazu dienen, eine systematische Kohärenz-theorie der Rechtfertigung zu entwerfen, die die wesentlichen Schwächenfrüherer Ansätze vermeiden hilft. Der entscheidende erste Schritt dazubesteht in einer Untersuchung, welche Zusammenhänge zwischen Über-zeugungen die Kohärenz eines Meinungssystems konstituieren. Dernächste Schritt gibt an, wie sich die Gesamtkohärenz des jeweiligen Sy-stems aus den einzelnen Zusammenhängen zusammensetzt, was schließ-lich in einer semiformalen Konzeption von Kohärenz als Erklärungsko-härenz zusammengefaßt wird.

A. Bestandteile von Kohärenz

1. Kohärenz und Konsistenz

Über Kohärenz wird in der Erkenntnistheorie heutzutage sehr oft ge-sprochen. Meist ohne gehaltvolle Vorstellungen davon zu haben, wasdenn Kohärenz sei; „Kohärenz“ wird manchmal sogar wie ein Grundbe-griff behandelt, über den sich nicht viel sagen läßt. Nur wenige Kohä-renztheoretiker sind aber heute noch damit zufrieden, unter „Kohärenz“bloß „Konsistenz“ zu verstehen. Abgesehen davon, daß in diesem Fallauch unklar wäre, wozu man den Kohärenzbegriff neben dem Konsi-stenzkonzept noch einführen sollte, möchte man unter einem kohären-ten Überzeugungssystem eines verstehen, dessen Aussagen untereinanderin vielfältiger Weise zusammenhängen, was durch Konsistenz allein nochnicht erreicht wird. Die besagt bloß, daß unsere Meinungen sich nichtdirekt widersprechen, sich aus ihnen also keine Kontradiktionen (Aussa-gen der Form: „p und non-p“) ableiten lassen.

Wie schwach die bloße Forderung nach Konsistenz eines Systemssein kann, wird erkennbar, wenn wir einmal nicht an unsere gewöhnli-chen, ziemlich reichhaltigen Überzeugungssysteme denken, für die be-reits Konsistenz eine nicht so leicht zu realisierende Anforderung dar-stellt. Stellen wir uns zur Illustration statt dessen einen Superempiristenvor, der es aus vornehmer empiristischer Zurückhaltung vermeidet, auchnur irgendeine allgemeinere Hypothese oder sogar Theorie über dieWelt zu glauben. Er sammelt einfach nur seine eigenen Wahrnehmungs-berichte. Erlauben wir ihm aber wenigstens, um ihn nicht zu uninteres-sant zu gestalten, ein perfektes Gedächtnis, dem er vertrauen kann. Er

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könnte dann, ohne im geringsten beunruhigt zu sein, z. B. Meinungen inder folgenden Form sammeln:

1) 7.8.95, 18.3230: Vor mir steht ein Rolls Royce auf demWenzelsplatz.

2) 7.8.95, 18.3231: Vor mir steht ein Mercedes am Fuße desEmpire-State-Building.

3) 7.8.95, 18.3232: Vor mir liegt der leere Rote Platz.etc…

Ein Meinungssystem, das so aufgebaut wäre, wäre aber offensichtlichkaum kohärent zu nennen. Und das, obwohl es logisch konsistent ist,denn es ist natürlich nicht logisch unmöglich im Sekundenabstand an soweit entfernten Plätzen der Welt zu sein, sondern höchstens physikalischoder eher verkehrstechnisch unmöglich. Wenn wir davon absehen, daßuns die Aussagen als in hohem Maße widersprüchlich erscheinen, weilwir glauben, niemand könne sich so schnell von einem Platz zum ande-ren bewegen, bleibt immer noch, daß die Aussagen völlig zusammen-hanglos nebeneinanderstehen. Das entspricht keinesfalls unserer Vorstel-lung eines kohärenten Überzeugungssytems. Schon deshalb verlangendie meisten Erkenntnistheoretiker für Kohärenz mehr als reine Konsi-stenz. Es bleibt nur offen, worin dieses Mehr bestehen soll. In den weni-gen ausgearbeiteten Konzeptionen von Kohärenz spielen in der RegelErklärungsbeziehungen eine ausgezeichnete Rolle, deren epistemischerFunktion ich daher in den nächsten Abschnitten im einzelnen nachgehenmöchte. Davor setze ich noch einige Bemerkungen über die Funktionvon Theorien oder allgemeineren Annahmen in unserem Überzeugungs-system, die wir bei dem Superempiristen vermißt haben.

2. Die Bedeutung von Theorien für Kohärenz

Das Beispiel des Superempiristen mit ausgeprägter theoretischer Absti-nenz führt uns nicht nur eindringlich vor Augen, daß Konsistenz für Ko-härenz zu wenig ist, sondern auch, wie sehr wir auf Theorien oder je-denfalls allgemeine verbindende Annahmen in unserem Überzeugungssy-stem angewiesen sind. Ein System wie das des Superempiristen, in demsie völlig fehlen, enthält nur Aussagen, die ohne inneren Zusammenhangangesammelt wurden. Es gibt normalerweise weder Rechtfertigungszu-sammenhänge noch Widersprüchlichkeit darin, so daß die Rede von ei-nem System von Meinungen eigentlich verfehlt ist. Daß unter den Mei-nungen des Superempiristen keine Widersprüche auftreten, ergibt sich

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schon daraus, daß die Beobachtungen nacheinander erfolgen und dieentsprechenden Beobachtungsüberzeugungen daher genaugenommenmit einem Zeitindex zu versehen sind. Da sie auch nur Auskunft überden jeweiligen Zeitpunkt und nicht über andere geben, können sie sichstrenggenommen nicht widersprechen. Selbst Aussagen, wie die oben an-geführten, die sich intuitiv widersprechen, sind normalerweise nur alswidersprüchlich mit Hilfe allgemeinerer Annahmen, etwa über eine ge-wisse Kontinuität in der Welt, auszuzeichnen.72 Das ist ein schlichter,aber dennoch grundlegender Befund, den man einmal festhalten sollte.

Inferentielle Zusammenhänge in unseren Überzeugungssystemen,auch wenn es nur um solche für Beobachtungsaussagen untereinan-der geht, bedürfen der Vermittlung durch allgemeinere Aussagenoder Theorien.

Wie sehr wir auf Theorien angewiesen sind, bemerken wir meist nicht,denn die stehen in jedem normalen Meinungssystem selbstverständlichzur Verfügung. Unsere Meinungssysteme sind tatsächlich ganz anders be-schaffen als die des Superempiristen.

Wir sind sogar auf kleine Theorien angewiesen, damit die Wörter,mit denen wir unsere Überzeugungen ausdrücken, Bedeutung besitzen.Wenn ich über Autos oder Bäume spreche, gehören zur Bedeutung die-ser Begriffe immer bestimmte Annahmen über diese Gegenstände. Wennes mich nicht beunruhigt, daß Objekte wie Bäume kleiner als ein tau-sendstel Millimeter und nur auf anderen Planeten zu finden sein sollenund ich sie darüber hinaus nicht mit bestimmten Wahrnehmungen in Be-ziehung bringen kann, muß man mir vorwerfen, ich hätte diese Begriffeeinfach nicht verstanden. (Die Geschichte läßt sich natürlich leicht indieser Richtung weiter führen, wenn einem die bisherigen Ungeheuer-lichkeiten für die Schlußfolgerung noch nicht ausreichen.) Putnam(1979, 64ff) nennt entsprechende Minitheorien, über die ein kompeten-ter Muttersprachler für jeden Begriff seiner Sprache verfügen muß, dieStereotype, die wir mit einem Begriff verbinden.73 Das zeigt, daß das

72 Natürlich könnten im Prinzip auch Implikationen über Einzelfälle derForm ab Widersprüche in das System bringen, aber solche Implikationen fin-den sich in unseren Überzeugungssystemen normalerweise nur dann, wenn siedurch eine allgemeinere Annahme über einen entsprechenden Zusammenhangvon Dingen des Typs a und des Typs b gedeckt wird. Für den Superempiristen istjedenfalls nicht erkennbar, wie er zu solchen Implikationen gelangen sollte.

73 Stereotypen sind allerdings nicht ganz so klar umrissene Gebilde wie et-wa wissenschaftliche Theorien.

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Beispiel des Superempiristen nicht nur psychologisch unrealistisch ist,sondern fast unverständlich wirkt, weil selbst ein Superempirist schonauf Minitheorien angewiesen ist, damit seine Meinungen überhaupt se-mantischen Gehalt aufweisen. Wichtig ist noch der Hinweis, daß die Mi-nitheorie, die zur Bedeutung eines Begriffs gehört, keineswegs wahr seinmuß, weshalb wir nicht versuchen sollten, die Putnamschen Stereotypenerkenntnistheoretisch zu strapazieren. Es lassen sich genügend Beispieleangeben, für die sie falsch sind. Darunter fällt auch das von Philosophengern als Beispiel für einen analytischen Satz angeführte „Gold ist gelb“.Das Metall Gold ist in reiner Form eher weiß und nur die Kupferbeimi-schungen besonders im Schmuckgold lassen es gelb erscheinen, woraufPutnam (1979, 69) hinweist.

Aber abgesehen von ihren wichtigen Aufgaben zur Bedeutungskon-stitution, benötigen wir zumindest Minitheorien, damit es irgendwelcheinferentiellen Beziehungen zwischen unseren Überzeugungen gebenkann. Sie sind daher in jedem Fall erforderlich, um Kohärenz in einemÜberzeugungssystem zu erzeugen. Man könnte in Analogie zu Hume,der die Kausalität als „the cement of the universe“ bezeichnet hat, sagen,die Theorien sind „the cement of belief“. Sie sind das, was unsere Mei-nungen zu einem Netz oder System von Überzeugungen zusammenfügt.

3. Sind unsere Schlüsse deduktiv?

Ein idealisiertes Vorbild für inferentielle Beziehungen sind logische De-duktionen. In den konkreten Beispielen typischer Rechtfertigungen undBegründungen, die wir betrachtet haben und noch untersuchen werden,spielen (logisch) deduktive Schlüsse jedoch keine so offensichtliche Rol-le. Diese Rechtfertigungen bewegen sich alle unterhalb der Schlüssigkeiteiner logischen Herleitung. Das ist der intuitive Hintergrund der Be-hauptung Harmans (1973, 163ff), daß das Bild von inferentiellen Recht-fertigungen als Beweisen im logisch strengen Sinn abzulehnen ist. Har-man (1986, 11ff) versucht sogar zu zeigen, daß selbst die Forderungnach logischer Konsistenz unseres Meinungssystems und andere grundle-gende Forderungen der Logik nicht als unbedingte Forderungen für un-ser Meinungssystem betrachtet werden sollten. So weit möchte ich Har-man nicht folgen. Seine Beispiele dafür sind auch gewiß nicht überzeu-gend, sondern der Logik kommt sicherlich die wichtige Aufgabe zu, ei-

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nen Rahmen abzustecken, an den sich Rechtfertigungen und Begründun-gen zu halten haben.74

Allerdings hat Harman Recht, daß das Vorbild deduktiver Argu-mente in der Philosophie zu oft den Status eines paradigmatischenSchlußverfahrens eingenommen hat, an dem sich alle Inferenzen zuorientieren haben; das häufig nur noch durch die Berücksichtigung vonWahrscheinlichkeiten ergänzt wird. Für epistemische Begründungentrifft diese Bild kaum zu. Wir sind auf der Suche nach Wahrheitsindika-toren, also nach Indizien dafür, daß eine bestimmte Überzeugung wahrist. Deduktionen können zwar ideale Wahrheitsindikatoren darstellen –wenn unsere Prämissen wahr sind, garantieren sie schließlich die Wahr-heit der Konklusionen logischer Schlüsse – aber das ist keineswegs dertypische Fall auf den man bei der Suche nach epistemischen Rechtferti-gungen abzielt. Deduktionen führen uns nämlich nicht aus dem heraus,was wir bereits wissen, sie sind nicht gehaltsvermehrend. EpistemischeRechtfertigungen sind dagegen typischerweise dazu gedacht, unter Ink-aufnahme eines größeren Irtumsrisikos einen echten Zugewinn an Er-kenntnissen zu erreichen. Wir benötigen induktive Schlußformen z. B.,um anhand einzelner Beobachtungen allgemeinere Hypothesen oderTheorien zu rechtfertigen. Auch viele Fälle, die wir umgangssprachlichals zwingende Schlußfolgerungen oder sogar Deduktionen bezeichnen,sind tatsächlich Inferenzen eines anderen Typs.

Schauen wir uns dazu ein bekanntes Vorbild für Schlußfolgerungenaus der Literatur an: Sherlock Holmes behauptet manchmal, den Tätereines Verbrechens anhand von logischen Schlußfolgerungen zu ermit-teln. Ein einfaches Beispiel aus seiner Fallsammlung soll dazu dienen, dieArt der von ihm vorgenommen Inferenz genauer zu bestimmen. In „ACase of Identity“ (Doyle 1986, 251ff) kommt eine junge Dame namensMary Sutherland zu Sherlock Holmes und bittet diesen, ihren kurz vorder Hochzeit verschwundenen Bräutigam Hosmer Angel für sie zu su-chen. Sie berichtet Holmes, wie sie ihn vor nicht allzu langer Zeit ken-nengelernt hat, sie beide heiraten wollten, er aber kurz vor der Trauungauf unerklärliche Weise verschwunden ist. Im Verlaufe ihrer Erzählungnennt sie einige weitere Fakten, die Holmes sofort erkennen lassen, wassich zugetragen hat. Einige der für seine Schlußfolgerung bedeutsamen

74 Auch Lakatos plädierte in (1974) dafür, daß wir den Rahmen der Konsi-stenz manchmal mit Gewinn verlassen sollten. Ich habe in (1988) zu zeigen ver-sucht, daß auch das von Lakatos dafür angegebene Beispiel der Bohrschen Atom-theorie kaum ein gutes Argument für diese Ansicht darstellt.

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Tatsachen, die sie entsprechend schildert, möchte ich in übersichtlicherForm auflisten:

(1) Mary Sutherland lebt bei ihren Eltern und unterstützt diese, solan-ge sie noch keinen Mann gefunden hat, mit Hilfe der kleinen aberansehnlichen Pension, die sie aus der Erbschaft eines verstorbenenOnkels erhält.

(2) Ihr neuer Stiefvater Mr. Windibank, der 15 Jahre jünger ist als ihreMutter, möchte nicht, daß sie ausgeht.

(3) Als ihr Stiefvater in Frankreich ist, nutzt sie die Gelegenheit auszu-gehen und lernt Hosmer Angel kennen und schätzen.

(4) Ihr Stiefvater möchte auch weiterhin nicht, daß sie ihn mit nachHause bringt.

(5) Als er wieder nach Frankreich reist, trifft sie sich wieder mit Hos-mer Angel, und sie verabreden zu heiraten, noch bevor ihr Vaterzurückkommt.

(6) Ihre Briefe an Hosmer Angel schickt sie, auf seinen Wunsch hin,immer postlagernd.

(7) Hosmer Angel ist überhaupt ein scheuer Mann, der sich kaum imHellen mit ihr zeigt, und häufig eine Sonnenbrille trägt.

(8) Er schreibt ihr immer auf einer Schreibmaschine.(9) Sie muß ihm feierlich schwören, immer zu ihm zu stehen, was auch

passieren mag.(10) Um ihren Stiefvater nicht zu hintergehen, schreibt sie ihrem Stief-

vater nach Frankreich über ihre bevorstehende Heirat, aber derBrief kommt unverrichteter Dinge zurück.

(11) Ihre Mutter bittet sie, nichts von der geplatzten Hochzeit verlautenzu lassen, und ihre Eltern wollen auch nicht zur Polizei gehen, umHosmer Angel suchen zu lassen.

Diese elf Fakten nennt Miss Sutherland eingebunden in eine ausführli-chere Erzählung Sherlock Holmes und dieser verbindet sie sofort, ob-wohl viele zuerst recht zusammenhanglos wirken, durch das Einbringeneiner Hypothese zu einer zusammenhängenden Geschichte. Er schließt,

(H) Hosmer Angel und der Stiefvater Mr. Windibank seien ein und die-selbe Person, und

(Hi) daß Mr. Windibank Miss Sutherland mit der aufgeführten Komö-die davon abhalten wollte, sich in einen anderen Mann zu verlie-ben und dann das Haus ihrer Eltern zu verlassen.

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Mit dieser Annahme lassen sich die Fakten, die uns zunächst rätselhafterschienen sind, entweder erklären, oder sie spielen eine Rolle in be-stimmten Erklärungen, die ihnen einen Sinn verleihen. Gerade die über-raschende Annahme (H) stiftet den Zusammenhang für eine Menge vonanscheinend isolierten Fakten, während (Hi) eine Hilfsannahme ist, dieauf der naheliegenden Vermutung beruht, daß die Eltern von Miss Su-therland gerne weiterhin in den Genuß ihres Geldes kommen möchten.(1) erklärt zunächst, wieso der Stiefvater den Wunsch (Hi) haben kann,daß sie weiter zu Hause wohnt. Dieser Wunsch erklärt, die Tatsache (2).(3) und (5) erklären zumindest zum Teil, wieso (H) überhaupt vorliegenkann, und (H) erklärt seinerseits (4). (H) erklärt auch (6), denn HosmerAngel hat keine eigene Adresse, die er Miss Sutherland nennen könnte.Ebenso erklärt (H) (7), (8) und (11) dadurch, daß Hosmer Angel dieEntdeckung seiner wahren Identität fürchtet. Weiterhin erklärt (H) (9)oder macht es jedenfalls verständlich, warum Angel sich von ihr Treueschwören läßt, denn nur so kann er sein Ziel, Miss Sutherland im Hausezu behalten, für längere Zeit verwirklichen. Schließlich wird auch (10)durch (H) erklärt, denn natürlich kann Mr Windibank alias Hosmer An-gel nicht an zwei Orten zugleich sein. Sherlock Holmes überprüft seineAnnahme (H) durch einen Briefwechsel mit Mr. Windibank, der ergibt,daß

(12) die Briefe von Windibank und Angel auf derselben Maschinegeschrieben wurden.

Mit diesem zwölften Faktum ist für ihn die Schlußfolgerung (H) zwin-gend und auch der Leser hält den Fall gegen Mr. Windibank für wasser-dicht. Aber für den Logiker ist klar – und das bedarf wohl keiner weite-ren Ausführungen –, daß Sherlock Holmes in dieser Geschichte seinegrauen Zellen nicht für einen logischen Schluß in Gang setzt, auch wennman umgangssprachlich leichtfertig so redet. Und das ist in SherlockHolmes anderen Fällen ganz ähnlich. Sein Schlußverfahren ist natür-lich wiederum ein „Schluß auf die beste Erklärung“ (SBE) oder eine„Abduktion“, was ich mit einer recht liberalen Auffassung von „Erklä-rung“ verbinde, die später zu präzisieren sein wird. Dieses Schlußverfah-ren bildet mit anderen Erklärungszusammenhängen die meisten undwichtigsten inferentiellen Beziehungen in unserem Überzeugungssystem.Ehe ich anhand weiterer Beispiele belegen kann, welch große Bedeutungder Abduktion in unserer Rechtfertigungspraxis zukommt, möchte ichdas Verfahren in Form eines simplen Schemas vorstellen:

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Schluß auf die beste Erklärung (Abduktion)- E1,…, En, sind Tatsachen, die einer Erklärung bedürfen- Die Annahme H erklärt E1,…, En besser als alle alternativen

AnnahmenAlso: H

Das Schlußschema bedarf noch einiger Erläuterungen: Die Tatsachen Ei

sind die Prämissen des Schemas; ebenso die Voraussetzung, daß sie derErklärung bedürfen. Das ist immer vor unserem Hintergrundwissen zubeurteilen, worauf ich im Rahmen der Ausarbeitung einer Erklärungs-theorie noch eingehen werde. Vor unserem Hintergrundwissen ist auchdie zweite Prämisse zu verstehen. Welche Alternativen es zu H gibt undwie gut die von ihnen erbrachten Erklärungen sind, ist immer auf unse-ren jeweiligen epistemischen Zustand zu relativieren, denn eine Bezug-nahme auf uns nicht zugängliche Alternativerklärungen würde die For-derung des Internalismus verletzen.75 Tatsächlich lassen sich immer eini-ge alternative Erklärungen finden, denn wir können zur Not sogar aufskeptische Erklärungen zurückgreifen, aber in einigen Fällen können wirtrotzdem aufgrund weniger Daten schließen, weil es keine ernstzuneh-menden Konkurrenten zu einer bestimmten Erklärung gibt. Wie gut dieAbduktion unsere tatsächlich akzeptierten Schlüsse zu beschreiben ge-stattet, soll in den folgenden Überlegungen erneut belegt werden. Weite-re Zusammenhänge und Beispiele findet man dazu auch in Lipton(1991), bei dem die Abduktion ähnlich verstanden wird wie hier, aller-dings um eine andere Erklärungstheorie ergänzt und nicht in eine umfas-sende Kohärenztheorie eingebettet wird.76

Schauen wir noch einmal auf einige Beispiele: Sherlock Holmes Vor-gehen im oberen Fall war zwar eine recht idealisierte Form von Abdukti-on, aber sie macht durchaus plausibel, daß kriminalistische Begründun-gen für die Täterschaft einer Person, die sich auf Indizien stützen müs-sen, typischerweise die Form von Schlüssen auf die beste Erklärung an-nehmen. Wir kennen sie aus Kriminalromanen oder vielleicht sogar auseigenen Überlegungen. Vorgetragen werden sie etwa vor Gericht, wennder Staatsanwalt seine Indizien nennt: Hans hatte ein Motiv Fritz umzu-

75 Harman möchte demgegenüber auch nicht bekannte Alternativerklärun-gen mit einbeziehen. Er verletzt damit ohne Not und weitere Erläuterungen dieForderung des Internalismus und unsere Konzeption von Rechtfertigungen, dieimmer auf ein Hintergrundwissen relativiert sind.

76 Daß die Liptonsche Konzeption gerade an diesen Stellen wesentlicheDefizite aufweist, wird in der gründlichen Besprechung von Achinstein (1992)ersichtlich.

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bringen, weil Fritz ihm seine Freundin ausgespannt hat; Fritz ist ermor-det worden; Hans hat für die Tatzeit kein Alibi; neben dem Ermordetenfindet sich ein Taschentuch von Hans; Hans wußte schon, bevor die Po-lizei es ihm kundtat, daß Fritz Tod war; auf der Uhr von Fritz sind nochFingerabdrücke von Hans; Hans behauptet, Fritz nie besucht zu haben;usw. Dann schließt der Staatsanwalt: Also hat Hans den Fritz umge-bracht, denn anders sind die genannten Fakten nicht zu erklären.

Das ist eine typische Instanz des Schlusses auf die beste Erklärung,und der Verteidiger wird sich neben juristischen Winkelzügen und demetwaigem Bestreiten einiger Prämissen des Schlusses – hier also den Indi-zien – bemühen, den Schluß zu entkräften. Zu diesem Zweck kann er al-ternative Erklärungen der Fakten vorschlagen, die genauso gut sind wiedie Erklärung des Staatsanwaltes oder doch zumindest so gut, Zweifeldaran zu wecken, die Erklärung des Staatsanwaltes für die Indizien seiunzweifelhaft besser als alle Alternativen. Er könnte vielleicht Margotins Spiel bringen, die sowohl Fritz wie Hans haßt, auch kein Alibi hat,noch im Besitz eines Taschentuchs von Hans war und sich von Fritz eineUhr geliehen hatte, die sie Hans gezeigt und dabei in die Hand gedrückthat. Diese Fakten legen eine alternative Erklärung nahe, die den Statusder Erklärung des Staatsanwaltes als beste Erklärung hinreichend er-schüttern könnte, daß sich das Gericht entsprechend dem Grundsatz „indubio pro reo“ zu einem Freispruch entschließen könnte.

Damit wir von den Indizien per Abduktion auf den Täter schließenkönnen, ist im Sherlock Holmes Fall wie auch im zweiten Fall eine gan-ze Menge an implizitem Hintergrundwissen erforderlich. Um den Schlußdes Staatsanwalts ziehen zu können, daß die beste Erklärung für unsereIndizien die ist, daß Hans den Fritz umgebracht hat, benötigen wir zu-nächst einmal Kenntnisse aus der Common Sense Psychologie. Wir müs-sen wissen, daß Hans vermutlich mit Eifersucht auf den Wechsel seinerFreundin zu Fritz reagiert hat und daß das für bestimmte Persönlichkei-ten zu einem Haß führen und sogar zu einem Motiv für einen Mord an-wachsen kann. Außerdem müssen wir uns darauf verlassen, daß Finger-abdrücke eindeutig eine Person kennzeichnen, daß Hellsehen nicht mög-lich ist u.v.m. Das ist der andere Bereich, an dem der Verteidiger anset-zen kann. Wenn er nachweisen kann, daß die Erklärung des Staatsanwal-tes nicht so gut ist, wie es auf den ersten Blick scheint, weil sie sich aufunplausible Hintergrundannahmen stützen muß, kann er damit ebenfallsden Schluß auf die beste Erklärung unterminieren. Wird in der Verhand-lung deutlich, daß Hans der Wechsel seiner Freundin vollkommengleichgültig war (vielleicht weil er selbst schon eine andere hatte), stellt

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die Anklageschrift des Staatsanwaltes keine so gute Erklärung der Indi-zien mehr dar. Es bleiben plötzlich zu viele unerklärte Fakten übrig.Warum sollte Hans dann noch Fritz gehaßt haben?

Wir sehen an diesem Beispiel auch, daß die erklärende Hypothesedes Staatsanwaltes keineswegs eine einzelne Annahme darstellt, sonderneine komplette Geschichte, deren einzelne Teile sowohl erklärenden Ge-halt haben sollen, als auch selbst erklärbar sein müssen, sonst erscheintsie uns nicht mehr überzeugend. Zu dieser Geschichte gehören letztlichAnnahmen über den Gemütszustand von Hans, über seinen Griff nachder Uhr von Fritz, über seine potentielle Gewaltbereitschaft usf. Jedeeinzelne sollte Erklärungswert für die Indizien besitzen, aber auch selbstwieder eine Erklärung besitzen. Wir stoßen auf eine enge Vernetzungvon Erklärungsbeziehungen zwischen den Teilen der anklagenden Ge-schichte, den bekannten Indizien und unserem übrigen Hintergrundwis-sen. Analog sieht es auch in unserem Sherlock Holmes Fall aus. Einigeder Indizien (etwa 3, 4, 5 und 7) sind wesentlich für die Erklärung, wiees überhaupt möglich war, daß Hosmer Angel und Mr. Windibank einund dieselbe Person sind, ohne daß Miß Sutherland das bemerkt hat.Wenn wir dafür keine Erklärung besäßen, bräche Sherlock Holmesschöne Lösung schnell in sich zusammen. Umgekehrt erklärt seine Hy-pothese H, dann einiges von dem auffälligen (paßt nicht gut in unserHintergrundwissen) und daher erklärungsbedürftigen Verhalten von Mr.Windibank und Hosmer Angel. Das angegebene einfache Schema derAbduktion abstrahiert also von einigen wichtigen Zusammenhängen, dieerst in einer umfassenderen Kohärenztheorie berücksichtigt werden.Nur diese Einbettung ermöglicht ein angemessenes Verständnis unsererBeurteilung von Abduktionen. Diese holistischen Zusammenhänge er-schweren es uns auch, alle Bestimmungsstücke der Beurteilung tatsäch-lich auf den Tisch zu legen. Doch davon später mehr.

Obwohl es sich in den Beispielen um stark vereinfachte fiktive Fällehandelt, wird die Überzeugungskraft des Schlusses auf die beste Erklä-rung jeweils deutlich. Wie einschlägig solche Kohärenzüberlegungen fürreale Kriminalfälle sein können, haben Untersuchungen wie die vonThagard (1989, 450ff) gezeigt, in denen Thagard sein ProgrammECHO, das eine konnektionistische Implementierung seiner Kohärenz-

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theorie (s. IV.D.3) darstellt, auf faktische Strafverfahren um Tötungsde-likte anwandte.77

Abduktionen finden sich aber natürlich nicht nur in der Kriminali-stik und in formalisierten Situationen, in denen wir um Begründungenunserer Behauptungen gebeten werden, sondern auch immer wieder inAlltagsschlüssen. Dazu noch ein Beispiel: Wenn ich auf jemanden warte,der sich verspätet, stelle ich wahrscheinlich Vermutungen an, wieso ernicht rechtzeitig kommt. Dazu werde ich aus meinem relevanten Hinter-grundwissen die nötigen Zusatzinformationen heranziehen wie: Erwollte mit dem Auto kommen; das springt oft nicht an; er glaubt trotz-dem immer wieder, daß er es anbekommt; er bemüht sich eigentlichpünktlich zu sein,… Sollte ich viele Überzeugungen dieser Art und keineechten Alternativen, wie, daß er öfter verschläft, haben, werde ich an-nehmen, daß er zwar rechtzeitig aufgebrochen ist, aber sein Auto nichtanbekommen hat. Vor meinem Hintergrundwissen scheint das die besteErklärung zu sein.

In ähnlicher Form lassen sich auch unsere Überlegungen beschrei-ben, wenn ich jemand eine Überzeugung oder einen Wunsch zuschreibe.Über Wahrnehmungen zugänglich ist mir nur sein Verhalten. Ich sehe,für welches Auto oder Essen er sich entscheidet; er sagt mir, daß er kei-nen Pudding mag; ich berücksichtige, ob er irgendwelche Gründe habensollte, mir seine Vorlieben zu verschweigen und so fort. Wir alle wissen,daß Beobachtungen der genannten Art, aber auch unsere weiteren Hin-tergrundannahmen über diese Person in die Beurteilung, welche Über-zeugungen und Wünsche sie hat, einfließen können. Nicht ganz so ein-fach ist es schon zu sagen, welche Theorie von Personen und ihrem Ver-halten wir dabei benutzen. Philosophen neigen dazu, Handlungen an-hand einer Theorie rationalen Verhaltens erklären zu wollen. Man wirdder Person dann solche Überzeugungen und Wünsche zuschreiben, dieihr Verhalten als möglichst rational erscheinen lassen. Einige Autoren(z. B. Davidson) halten dieses Vorgehen für geradezu konstitutiv für dasZuschreiben von intentionalen Zuständen. Nach ihrer Ansicht kann mandas Verhalten anderer Menschen nur dann anhand von Wünschen undÜberzeugungen verstehen, wenn wir sie mit Hilfe des „principles of cha-

77 Außerdem nennt Thagard (1992, 63) zwei Arbeiten von Penningtonund Hastie, die die Entscheidungsfindung von Jurymitgliedern untersucht haben,und zu dem Schluß gekommen sind, daß sich vieles davon als Suche nach Erklä-rungskohärenz verstehen läßt.

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rity“ interpretieren, wonach man ihnen möglichst konsistente und mög-lichst viele wahre Überzeugungen zuschreiben muß.78

Diese Festlegung auf eine Rationalisierung von Verhalten scheint mireher auf einem Mangel an anderen erklärenden Theorien zu beruhen,aber deshalb noch keineswegs konstitutiv für Verhaltenserklärungen zusein. Wenn wir mehr über die betreffende Person wissen, können wiruns vielleicht auf Verhaltensregularitäten stützen, die zeigen, daß er inbestimmten Situationen leider immer wieder irrational handelt. Natür-lich können wir ihm dann jeweils Wünsche und Überzeugungen zu-schreiben, die auch dieses scheinbar irrationale Verhalten wieder ratio-nalisieren würden. Doch das mag nicht kohärent zu anderen Teilen un-seres Hintergrundwissens passen, die normalerweise bestimmte Ein-schränkungen für solche Zuschreibungen vorsehen; z. B., daß die Personauf Befragen hin diese Überzeugungen und Wünsche auch formulierenkann. Außerdem haben derartige Erklärungen wahrscheinlich nur nocheinen geringen empirischen Gehalt, wenn wir so willfährig mentale Zu-stände zuschreiben, wie wir sie gerade benötigen. Darunter leidet sehrstark ihre erklärende Kraft (s. dazu Kap. IX).79

Aber welchen Theorien wir auch anhängen, wir werden von derStruktur her doch ähnlich vorgehen, wenn wir jemandem intentionaleZustände zuschreiben. Wir wählen die Zustände aus, die sein Verhaltenim Lichte unserer Theorie menschlicher Handlungsweisen und unsereranderen Hintergrundannahmen über ihn am besten erklären.

In den Wissenschaften und in der Wissenschaftstheorie ist die recht-fertigende Wirkung von Abduktionen längst ein anerkanntes Phänomen.Wissenschaftliche Theorien werden immer wieder anhand ihrer Erklä-rungskraft eingeschätzt. Daß uns Theorien Erklärungen für bestimmtePhänomene bieten, wird als ein wesentliches Ziel wissenschaftlicherTheorienbildung – wenn nicht sogar als das Hauptziel – angesehen. Wirbevorzugen eine Theorie gegenüber einer anderen, wenn sie uns bessereErklärungen anzubieten hat. Diese Suche nach Theorien mit großer Er-klärungskraft findet selbst ihre Erklärung zumindest zum Teil darin, daß

78 Davidsons (1987) versucht daraus sogar ein Argument gegen den Skep-tiker zu machen. Schließlich, wenn wir nicht umhin können, anderen Menschenmöglichst viele wahre Überzeugungen zuzuschreiben, weil das die Spielregelnder Überzeugungszuschreibung sind, so wird unklar, wie der Skeptiker ernsthafterwägen kann, daß wir nur falsche Meinungen haben könnten. Doch DavidsonsÜberlegung wird überzeugend von Susan Haack (1993, 60ff) kritisiert.

79 Sie haben sicherlich bemerkt, daß ich auf dem besten Weg bin, eine Er-klärungsstrategie zu kritisieren, die unter anderem von der Psychoanalyse einge-schlagen wird.

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wir Abduktionen als rechtfertigend betrachten und daher die Erklä-rungskraft einer Theorie als einen wichtigen Indikator für ihre Wahrheitnehmen. Auch bescheidenere Schlüsse als die auf ganze Theorien wer-den in den Wissenschaften vornehmlich anhand von Abduktionen vorge-nommen. Dazu lassen sich zahlreiche Beispiele finden. Millikan schließtunter anderem aus der Tatsache, daß sich die gemessenen elektrischenLadungen in seinen Experimenten alle als ganzzahlige Vielfache einerrecht kleinen Ladung ergeben, daß es sich dabei um die Elementarla-dung handeln muß.80 Aus den Interferenzerscheinungen des Lichtsschließen wir, daß es sich um ein Wellenphänomen handeln muß, ausFossilienfunden auf die Evolutionstheorie usf. Das sind jeweils typischeBeispiele dafür, daß wir nach den Hypothesen suchen, die unsere Beob-achtungen am besten erklären. In der Einleitung hatte ich auch schonBeispiele aus der Philosophie beigebracht, die belegen, daß Abduktionenkeineswegs auf die Naturwissenschaften beschränkt sind.

4. Abduktion und Induktion

Natürlich lassen sich viele schöne Beispiele für Abduktionen finden,aber sind die nicht vielleicht auch durch andere Schlußverfahren ange-messen zu beschreiben? Werfen wir einen Blick auf ein typisches Kon-kurrenzprodukt, das philosophiehistorisch sicher die bedeutsamste Rollegespielt hat, den Induktionsschluß. Von Aristoteles, für den Induktionüberwiegend in enumerativer Induktion bestand, über Francis Bacon, dermit seiner Ausschließungsmethode subtilere Regeln aufstellte und zufälli-ge Korrelationen auszuschließen hoffte, über Mills Diskussionen der In-duktion bis hin zu den logischen Empiristen und ihren Nachfolgern, diesogar eine Logik der Induktion aufgestellt haben, stand der Induktions-schluß im Zentrum des Interesses an den Beziehungen zwischen Theorieund Einzeltatsachen. Da auch die Abduktion ein Induktionsschluß imweiteren Sinn des Wortes ist, halte ich nun natürlich hauptsächlich nachalternativen Induktionsverfahren etwa im Sinne der konservativen oderenumerativen Induktion Ausschau. Induktionsschlüsse sind bekanntlichnicht beschränkt auf die Wissenschaften, sondern typische Inferenzver-fahren unseres Alltags. Behavioristen zeigten den engen Zusammenhangzu unserem Lernverhalten. Aus der Erkenntnis, daß in Einzelfällen Bierunseren Durst auf angenehme Weise gelöscht hat, ziehen wir schon bald

80 Die tatsächliche Entwicklung war natürlich erheblich komplexer undMillikan mußte neben anderem einige Meßwerte als „Ausrutscher“ ganz verwer-fen u.v.m. Siehe zur Geschichte dieses Versuchs Holton 1981, 50ff.

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den Schluß, daß das auch in Zukunft der Fall sein wird. Den Besuch be-stimmter Vorlesungen stufen wir schnell als langweilig ein etc. Vermut-lich neigen wir geradezu zu vorschnellen Induktionsschlüssen, was auchdazu führt, daß wir manchmal sogar bereit sind, anhand nur wenigerDaten und Einzelfälle alle Ausländer als unangenehm zu klassifizierenoder andere Vorurteile zu entwickeln. Das Wort „Vorurteil“ zeigt hierschon, daß wir diesen Prozeß bei Reflektion als epistemisch minderwer-tig erkennen. Die Beispiellisten kann jeder schnell verlängern.

In seiner klassischen Fassung gehen Induktivisten davon aus, daß wiraus den Beobachtungen durch eine Extrapolation der Form „more of thesame“ zu allgemeinen Tatsachen gelangen können, während Vertreterder Abduktion phantasievoll erdachte Hypothesen schon bei der Daten-erhebung für wesentlich halten. Stelle ich fest, daß mein Kühlschranknicht mehr läuft, vermute ich zunächst einen Stromausfall, als mögli-cherweise beste Erklärung, aber wenn ich dann sehe, daß mein elektri-scher Wecker, der an demselben Stromkreis hängt, trotzdem funktio-niert, muß ich nach anderen Erklärungen suchen (Beispiel von Lipton1991, 67f). Dieses Vorgehen entspricht überhaupt nicht mehr der kon-servativen Induktion, von der ich nun zeigen möchte, daß sich auch ihreintendierten Anwendungen am ehesten als Schlüsse auf die beste Erklä-rung verstehen lassen.81 Das Prinzip der aufzählenden Induktion, das fürdiese Fälle vorgeschlagen wurde, kann man schematisch folgenderma-ßen darstellen:

Prinzip der aufzählenden Induktion1) Fa1 Ga1

2) Fa2 Ga2

…Also:

3) x (Fx Gx)

Hierbei werden mit F und G bestimmte Eigenschaften bezeichnet unddie ai bezeichnen die untersuchten Gegenstände. Das obige Beispiel desBiertrinkers läßt sich damit so beschreiben: F steht für die Eigenschaft,Bier zu sein, und G für die, gut zu schmecken. Die ai bezeichnen die ein-zelnen getrunkenen Biere, und wir schließen dann: Bier schmeckt gut.Doch auch das ist eigentlich nichts anderes als eine Form von Abdukti-on. Die beste Erklärung für all unsere Einzelbeobachtungen von gut

81 Diese Behauptung findet sich auch bei Harman (1973, 130), allerdingsohne eine besondere Begründung und mehr auf die Auseinandersetzung mit derkausalen Wissenstheorie Goldmans bezogen.

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schmeckenden Bieren, ist eben die, daß Bier ein gutschmeckendes Ge-tränk ist. Beide Beschreibungen, die des Schlusses auf die beste Erklä-rung und die des aufzählenden Induktionsschlusses, scheinen für diesentrivialen Fall unseren Schluß angemessen darzustellen. Viele erhoffte An-wendungen eines Induktionsverfahrens sind jedoch nicht von dieser aus-gesprochen einfachen Gestalt.

Das zeigte sich bereits in der Geschichte der Ausarbeitung induktiverMethoden durch Bacon und Mill. Für Bacon ist der „Fall der Entschei-dung“ einer der wichtigsten seiner 27 Prärogativ Fälle (s. dazu Losee1977, 68). Er gibt uns dazu das folgende Beispiel an: Für das Auftretenvon Ebbe und Flut werden zwei Hypothesen vorgeschlagen. Die Wasch-schüsselhypothese, nach der das Wasser wie in einer hin- und her beweg-ten Waschschüssel hin- und herschwappt, und die Hypothese, daß dergesamte Wasserspiegel steigt und fällt. Welche der Hypothesen nun rich-tig sei, läßt sich seiner Meinung nach entscheiden, indem man beobach-tet, ob die Flut an gegenüberliegenden Küsten gleichzeitig eintritt odernicht. Man kommt in dieser Frage hingegen nicht weiter, indem maneinfach willkürlich weitere Fälle von Ebbe und Flut betrachtet, sondernman muß speziell die Daten sammeln, für die ein Unterschied zwischenden beiden alternativen Hypothesen und ihren Erklärungen gegeben ist.Wir sind wiederum nicht so sehr an „more of the same“ interessiert,sondern hauptsächlich an den Daten, die relevant für unsere Auswahlder besten Erklärung sind. Hier haben wir alle typischen Elemente desSchlusses auf die beste Erklärung, die wir schon bei Sherlock Holmesfanden, und die Struktur der einfachen Induktion ist kaum noch erkenn-bar. Die Entscheidung fällt in diesem Beispiel eindeutig zwischen kon-kurrierenden Erklärungshypothesen. Lipton (1991, 68) spricht von einer„explanatory detour“, einem Umweg über Theorien, um die erkenntnis-theoretisch notwendigen induktiven Zusammenhänge herzustellen.Auch Mill (s. Losee 1977, 146) verlangte für die volle Verifikation einerHypothese, daß sowohl ihre deduktiven Folgerungen mit den Beobach-tungen übereinstimmen, wie auch, daß die zu erklärenden Tatsachen auskeiner anderen Hypothese folgen.

Die Ausarbeitung von Theorien der Induktion folgte also schon baldWegen (und auch bei Aristoteles lassen sich schon Ansätze dafür finden),die viel besser in das Schema der Abduktion passen als in das ursprüngli-che induktive Schema. Whewell (1967, 62) war wohl einer der ersten,die das am deutlichsten aussprachen. Er hatte bereits eine interessanteTheorie über diese Form von Induktionsschlüssen entwickelt hat, dievor allem „consilience“ von den erklärenden Hypothesen verlangte. Wir

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sind jedenfalls auf bestimmte Elemente unseres Hintergrundwissens beiunseren induktiven Schlüssen unwillkürlich angewiesen. Deshalb kommtuns ein Optimist, der vom 40. Stock eines Hochhauses springt und nachjedem Stock sagt: „Es geht doch ganz prima“, trotz der tragischen Um-stände eher lächerlich vor. So schlicht – im Sinne von „more of the sa-me“ – darf man das Induktionsverfahren eben nicht anwenden. UnserWissen um solche Fälle sagt uns, daß trotz 20 Stockwerken erfolgrei-chen Flugs der Sprung kein gutes Ende nehmen kann. Der Proponentder Abduktion kann diesen Fall denn auch leicht aufklären: In unseremHintergrundwissen gibt es eine alternative Erklärung, die wir für besserhalten, nämlich die, daß jeder derartige Sturz zwar eine bestimmte Zahlvon Stockwerken „gut geht“, aber immer ein ungutes Ende habenmuß.82

Welch große Probleme eine induktive Theorie der Bestätigung zu be-wältigen hat, wurde nicht nur durch Humes skeptische Frage, wie sichein Induktionsschluß denn rechtfertigen läßt, deutlich. Hempels Raben-paradox wirft zusätzlich die Frage auf, welche Beobachtungen für eineinduktive Bestätigung mitzuzählen sind (s. dazu Lenzen 1974, 127ff)und das Goodmansche Paradox stellte die noch grundsätzlichere Frage,welche allgemeine Hypothese durch unsere Beobachtungen überhauptgestützt wird. Goodman (1988) zeigt unter dem Stichwort „das neueRätsel der Induktion“, daß sich zu vorgegebenen Daten, zu jeder Hypo-these, die zu den Daten paßt, eine Alternativhypothese angeben läßt, dieebenfalls zu den Daten paßt. Um zwischen diesen Hypothesen eine Ent-scheidung herbeizuführen, sind wir auf unser Hintergrundwissen ange-wiesen, nach Goodman auf die Projizierbarkeit der in den Hypothesenverwendeten Prädikate. Diese Entscheidung ist keine Entscheidung derorthodoxen Konzeption von Induktion mehr, sondern eine Abduktion,die eine Hypothese deshalb als bessere Erklärung der Daten auszeichnet,weil sie von ihren Prädikaten her besser in unser Meinungssystem einzu-betten ist. Sie führt daher zu einem kohärenteren System als ihre Good-mansche Konkurrentin.

Ein weiteres Phänomen, auf das schon Hume (1985, 131) hingewie-sen hat, zeigt darüber hinaus noch, daß die aufzählende Induktion keingutes Modell der Theorienbestätigung anzubieten hat. In vielen Fällenbegnügen wir uns schon mit einer einzelnen Einsetzungsinstanz einer

82 In Teil 3 wird deutlich werden, daß diese Erklärung schon aus demGrunde besser ist, weil sie eher zur Vereinheitlichung und Systematisiserung un-serer Beobachtungen beiträgt, als das für die Hoffnung auf eine günstige Fortset-zung des bisherigen Fluges der Fall ist.

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Hypothese, um sie zu akzeptieren. Wir verlangen dann nicht nach weite-ren Tests, was für einen aufzählenden Induktivisten doch selbstverständ-lich sein sollte. Habe ich ein Auto einmal angelassen, glaube ich, daß derMotor funktionstüchtig ist. (Das kann natürlich keine Langzeitprogno-sen stützen). Daß oft so wenige Instanzen genügen, um eine Hypothesevorläufig zu akzeptieren, liegt daran, daß in unserem Hintergrundwissenzu diesem Zeitpunkt keine ernstzunehmenden Konkurrenzhypothesenverfügbar sind, die den Einzelfall ähnlich gut erklären könnten. Die epi-stemische Beurteilung derartiger Fälle orientiert sich nicht primär an derAnzahl der Einsetzungsfälle, sondern an dem Fehlen oder Vorhandenseinplausibler alternativer Erklärungen in unserem Hintergrundwissen.Überhaupt scheint in den Beispielen nicht die Anzahl der Tests wesent-lich zu sein, sondern eher schon die Variabilität der Testinstanzen, wor-auf ebenfalls bereits Whewell (1967, 65) hingewiesen hat. Wir würdendas Auto nicht immer wieder unter denselben Bedingungen starten, son-dern eher schon bei trockenem versus feuchten Wetter bei Frost oderwenn der Motor schon warmgefahren wurde usf. Nur davon könnenwir uns weitere aufschlußreiche Informationen versprechen.

Natürlich sind in manchen Fällen auch bestimmte Stückzahlen ge-fragt, um eine repräsentative Stichprobe zu erhalten. Für Meinungsum-fragen genügt es nicht, nur eine Person zu befragen; um die Jahrespro-duktion einer Autofirma auf ihre Qualität zu überprüfen, benötigt manmehr als ein Fahrzeug aus der Produktion. In solchen Fällen ist auch ge-radezu ein Kontinuum von konkurrierenden Hypothesen denkbar, die ineiner epistemischen Einschätzung berücksichtigt werden wollen. Das isttypisch für quantitative Aussagen und ein Indiz für ihren hohen Gehalt.

In den zuletzt genannten Beispielen ist die beurteilende Statistik ge-fragt, die ebenfalls typischerweise abduktiv vorgeht. Sie schätzt statisti-sche Hypothesen etwa danach ein, wie wahrscheinlich sie die beobachte-ten Daten machen, also wie gut sie die Daten in einem intuitiven Sinndes Wortes erklären. Man schließt dann auf die Hypothese, aus einerMenge von konkurrierenden Hypothesen, die die beste Erklärung derDaten anzubieten hat, d.h. im statistischen Fall, für die die beobachtetenDaten am wahrscheinlichsten sind. Mit statistischen Theorien und Ver-fahren der beurteilenden Statistik möchte ich mich in dieser Arbeit abernicht weiter beschäftigen, da sie eine ganze Reihe von eigenständigenProblemen aufwerfen, die meine Untersuchung in unnötiger Weise kom-plizieren würden.

Die angesprochenen Beispiele für Induktionsschlüsse sollten zu-nächst nur belegen, daß der einfache Fall der aufzählenden Induktion

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sich durch die Abduktion genauso gut beschreiben läßt wie durch ein In-duktionsprinzip. Tatsächliche Beispiele von Hypothesenbestätigung se-hen im allgemeinen aber viel komplizierter aus und zeigen insbesondereeine starke Abhängigkeit von unserem Hintergrundwissen und von demVorliegen alternativer Erklärungshypothesen. Die ist in einem Induktions-prinzip nicht so natürlich unterzubringen wie im Verfahren der Abdukti-on. In diesen Fällen zeigt der Schluß auf die beste Erklärung seine Über-legenheit gegenüber dem einfachen Induktionsschema. Eine Reihe vonintendierten Anwendungsfällen des Induktionsprinzips werden besserverständlich, wenn wir sie als Schluß auf die beste Erklärung interpretie-ren. Die anfängliche Einfachheit des Induktionsprinzips geht in den be-trachteten Beispielen und den genannten Paradoxien ebenfalls zusehendsverloren. Das sind gute Gründe, das Induktionsprinzip nur als einen –wenn auch vielleicht wichtigen – Spezialfall der Abduktion zu betrach-ten. Dabei ist auch noch zu beachten, daß die klassische Induktion typi-scherweise in den Rahmen fundamentalistischer Konzeptionen von Be-gründung gehört, geht sie doch davon aus, daß wir zunächst die „Da-ten“ vorgegeben haben und erst dann nach geeigneten Theorien suchen,die Verallgemeinerungen unserer Daten verkörpern. Daß man hingegenschon bei der „Datenerhebung“ und Begründung von Beobachtungsaus-sagen auf Theorien angewiesen ist, ist eine Einsicht, die besser in die Ko-härenztheorie paßt.

5. Epistemische Stützung durch Erklärungen

Inferentielle Beziehungen bestehen denn auch nicht nur in der einenRichtung, vom Erklärten zum Erklärenden, sondern auch in der anderenRichtung vom Erklärenden zum Erklärten. Für eine Kohärenztheorieder Erkenntnis sollte das selbstverständlich so sein, denn Rechtferti-gungsbeziehungen werden in Kohärenzkonzeptionen der Rechtfertigungüblicherweise als reziproke Beziehungen verstanden. Die rechtfertigendeWirkung von Erklärungen wird aber nicht nur von der Kohärenztheorieverlangt, sondern ist auch bereits unabhängig davon intuitiv plausibel.Relativ leicht ist das für die deduktiv-nomologische Erklärung erkenn-bar, weil Erklärungen die dem DN-Schema genügen – und davon gibt eseine ganze Reihe, wie Hempel und Gefolgsleute nachweisen konnten –insbesondere Deduktionen sind und daher als logische Schlüsse „ideale“Rechtfertigungen.

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Allerdings haben nicht alle Erklärungen, die man normalerweise sobezeichnet, bereits deduktiven Charakter,83 und Hempel spricht in sol-chen Fällen von unvollständigen Erklärungen. Aber auch Beispiele vonunvollständigen Erklärungen wirken intuitiv rechtfertigend. Am deut-lichsten wird das in den Beispielen, in denen wir berechtigte Zweifel aneiner bestimmten Behauptung haben. Jemand erzählt uns z. B. von Vor-gängen wie dem Gabelverbiegen des Uri Geller, die er gesehen hätte unddie uns als Wunder erscheinen, oder einem Ufo, das er beobachtet zu ha-ben glaubt. Daß er tatsächlich ein Gabelverbiegen beobachten konnteund daß es solche Vorgänge gibt, wird für uns genau in dem Momentglaubwürdiger, wo wir eine Erklärung erhalten, wie Uri Geller, nämlichetwa mit Hilfe bestimmter Chemikalien, seine „Wunder“ bewerkstelligenkonnte. Solange diese Geschichten sich dagegen noch nicht in unsereVorstellung der Welt einfügen, sondern als Wunder auftreten, sind siefür uns sehr unwahrscheinlich und damit unglaubwürdig. Wenn man siemit Hilfe einer Erklärung in unser akzeptiertes Modell der Welt integrie-ren kann, verlieren sie ihre anfängliche Unglaubwürdigkeit und unserVertrauen in die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters gewinnt im Nor-malfall die Oberhand. Erst dann werden wir seine Berichte akzeptieren,wenn auch vielleicht nicht seine Interpretationen und Schlußfolgerungendazu. Gelingt es uns jedoch nicht, eine brauchbare Erklärung für einPhänomen zu finden, kann das für uns einen guten Grund darstellen,den entsprechenden Beobachtungsbericht als einen Beobachtungs- oderErinnerungsfehler abzulehnen. Wissenschaftler werden von Esoterikerngern als engstirnig abgestempelt, wenn sie sich nur sehr schwer vonübersinnlichen Phänomenen oder der Astrologie überzeugen lassen.Doch die Wissenschaftler verfahren damit nur nach völlig korrekten epi-stemischen Prinzipien, die auch die Esoteriker selbst in anderen Kontex-ten anwenden.

Das ist auch der Kern von Humes (1979, 141ff) Argument gegen dieAnnahme von Wundern. Ein Wunder kann nur etwas sein, von dem wirsicher sind, daß es keine natürliche Erklärung besitzt. Geschehnisse vondenen wir sicher sind, daß sie keine Erklärung besitzen, müssen aus demRahmen unserer Gesetze herausfallen und mit ihnen in irgendeiner Wei-se unverträglich sein. Damit wir etwas als Gesetz akzeptieren, hat esaber durch die Erfahrung bereits sehr gut bestätigt zu sein, und Berichteüber Geschehnisse, die da nicht hineinpassen, sind ihrerseits immer vielschlechter bestätigt als die Gesetze. Sogar die Wunder, die wir selbstwahrzunehmen glauben, lassen daher in der Regel eine bessere Erklä-

83 Beispiele dafür werden im 3. Teil diskutiert.

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rung zu, als die, daß sich tatsächlich ein Wunder ereignet hat. Nämlichzumindest die, daß der Berichterstatter – im speziellen Fall auch wirselbst – uns geirrt haben. Humes Argument stützt sich an dieser Stelleauf den Schluß auf die beste Erklärung. Es wird die Glaubwürdigkeit al-ternativer Erklärungen für Wunderberichte oder eigene Wahrnehmun-gen vor unserem Hintergrundwissen eingeschätzt. Der Schluß, daß essich um Berichte handelt, die tatsächlich auf ein Wunder zurückgehen,ist dabei nach Hume der Alternativerklärung, daß es sich um einen Irr-tum der Wahrnehmung oder Überlieferung handelt, immer unterlegen,weil Wunder dem widersprechen müssen, was für uns einen ausgezeich-neten epistemischen Status hat, nämlich Gesetzen. Seiner Meinung nachbevorzugt der Schluß auf die beste Erklärung daher immer die Annahmevon Irrtümern gegenüber der von Wundern.

Leider macht Hume es sich mit dieser apriorischen Argumentationgegen Wunder zu leicht. Wir werden in Abschnitt (IV. B) genauer erfah-ren, wie Wahrnehmungen in einer Kohärenztheorie behandelt werden,aber auf einen Punkt möchte ich schon jetzt hinweisen. Zu unserenTheorien über unsere Wahrnehmung gehört auch, daß wir uns nur unterbestimmten Bedingungen irren und dieser Irrtum ebenfalls einer konkre-ten Erklärung bedarf. In bestimmten Wahrnehmungssituationen sind wiruns ziemlich sicher, daß kein Irrtum vorliegt und keine Erklärung für ei-nen Irrtum gegeben werden kann. Hier müßte der Irrtum selbst bereitsals eine Art von Wunder erscheinen, das wir ebenfalls nicht zu akzeptie-ren bereit sind. Welches dann das größere Wunder ist, läßt sich nicht apriori entscheiden, und es ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß wiruns in bestimmten Situationen dazu entschließen sollten, eher das beob-achtete Ereignis als ein echtes Wunder zu akzeptieren, als es schlicht alsIrrtum abzutun.

Humes Argument weist freilich auf ein erkenntnistheoretisches Pro-blem hin, mit dem angebliche Wunder immer zu kämpfen haben. Zumeinen müssen ihre Befürworter zeigen, daß so etwas eigentlich nicht pas-sieren kann, sonst wäre es kein Wunder; zum anderen müssen sie auchnachweisen, daß es doch passiert ist. So entsteht mit dem Akzeptieren ei-nes Wunders jedesmal eine Inkohärenz in unseren Überzeugungen.Hume kann uns nur nicht überzeugen, daß es in allen derartigen Fällendie beste Auflösung dieser Inkohärenz ist, die Wunderberichte als Irrtü-mer abzutun, da wir uns auch damit eine Inkohärenz zu unseren Vorstel-lungen von unseren eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten einhandeln. Nurwenn man diese Theorien über die eigenen Wahrnehmungsfähigkeitenganz aus dem Spiel läßt – und an derartige Theorien über die Entste-

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hung unserer Meinungen, also Theorien einer Metaebene, scheint Humenicht gedacht zu haben –, wird sein Argument zwingend. Berücksichti-gen wir sie, hängt die Frage, welche Inkohärenz letztlich größer ist, vonden Einzelheiten des Falles und des Hintergrundwissens ab. Also erspartuns, so bedauerlich das sein mag, auch das Humesche Argument nichtdie Untersuchung jedes Einzelfalls aufs Neue, bei dem wir mit „Wun-dern“ in Berührung kommen. Das zeigt auch, was der Esoteriker leistenmuß, will er uns von dem Vorhandensein bestimmter Phänomene über-zeugen. Er muß Situationen herbeiführen, in denen die Annahme, wirwären getäuscht worden oder hätten einen Beobachtungs- oder Interpre-tationsirrtum begangen, weniger gut in unser Hintergrundwissen paßt,als die Annahme dieser Phänomene. Ein bekanntes probates Mittel dazuist die Angabe von Anweisungen, nach denen jeder diese Phänomene re-produzieren kann. Gelingt das nicht, verhalten sich die Wissenschaftlernicht nur gegenüber Kaffeesatzlesern, sondern auch gegenüber ihrenKollegen skeptisch. Das belegt z. B. der Fall der kalten Fusion.

Für Beispiele von epistemischer Stützung durch Erklärung müssenwir natürlich nicht gleich Wunder bemühen. Die rechtfertigende Funkti-on von Erklärungen kennen wir auch aus Alltagssituationen. Sie wirddort z. B. in den Fällen deutlich, in denen wir keine Erklärung produzie-ren können und etwas noch nicht in unser Überzeugungssystem einge-bettet wurde. Dorothea berichtet uns, daß Hans 4000 DM in der Spiel-bank verloren hat. Da wir Hans als einen eher sparsamen und nicht be-sonders risikofreudigen Menschen kennen, haben wir dafür keine Erklä-rung, was uns zunächst an Dorotheas Erzählung zweifeln läßt. Wir fra-gen sie daher, wie es denn dazu kommen konnte und erwarten eine Er-klärung von Hans Verhalten. Kann Dorothea nun eine glaubwürdige Er-klärung produzieren, wird damit auch ihre Geschichte über Hans glaub-würdiger und zwar in dem Maße, in dem sie uns Hans Verhalten erklä-ren kann. Sie könnte uns vielleicht erzählen, daß Hans dringend 20 000DM für ein Auto oder ein Geschäft benötigte und keine andere legaleMöglichkeit sah, an diese Summe zu kommen, als sein Glück im Spiel zuversuchen. Dieses uns allen vertraute Phänomen, daß eine bestimmte Be-hauptung dadurch plausibler wird, daß man weitere Fakten nennt, ob-wohl diese weiteren Fakten selbst keineswegs bekannt oder sicher seinmüssen, demonstriert noch einmal die große epistemische Bedeutung,die wir Erklärungen beilegen.

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Ein Bayesianist,84 der Behauptungen anhand von Wahrscheinlich-keitsüberlegungen beurteilt, müßte sich über Beispiele dieser Art sehr er-staunt zeigen und eher in einer entgegengesetzten Richtung argumentie-ren.85 Dorotheas erste Behauptung war schon unwahrscheinlich, aberdie Wahrscheinlichkeit für sie kann doch nicht anwachsen, wenn Doro-thea ihre Geschichte durch weitere nicht sichere Behauptungen erwei-tert. Im Gegenteil hat die Gesamtgeschichte eine geringere Wahrschein-lichkeit, weil sie noch mehr Möglichkeiten besitzt, falsch zu sein, als Do-rotheas ursprüngliche Behauptung. Der Bayesianist würde mit dieserEntgegnung aber meines Erachtens nur deutlich machen, daß wir Recht-fertigungen häufig nicht anhand einfacher Wahrscheinlichkeits-einschätzungen beurteilen.

Thagard (1992, 90) nennt drei weitere Beispiele für eine bekanntrechtfertigende Wirkung von Erklärungen aus Bereichen, die er mit sei-nem Kohärenzprogramm namens ECHO genauer studiert hat. In einemMordprozeß sucht man als Beweismaterial gegen den Angeklagten imallgemeinen nicht nur Indizien dafür, daß er die Tat begangen hat, son-dern auch eine Erklärung, warum er die Tat begangen hat. Wenn wirnicht die geringsten Anzeichen eines Motivs erkennen können und denAngeklagten nicht für verrückt halten, läßt uns das an seiner Schuldzweifeln. Ähnlich sieht es mit der Diagnose eines Arztes aus. Sie wirdglaubhafter, wenn er uns nicht nur sagen, kann, daß wir allem Anscheinnach eine Leberzirrhose aufweisen, sondern er uns auch erklären kann,wie es dazu kam, und er etwa auf unseren übermäßigen Alkoholgenuß inVerbindung mit einer unbehandelten Gelbsucht verweisen kann. Dasdritte Beispiel stammt aus der Wissenschaft. Die Erklärung, wie es zu ei-ner bestimmten Entwicklung im Tierreich kommen konnte, etwa derEntwicklung der Lungen aus den Kiemen, erhöht für uns die Wahr-scheinlichkeit, daß die Hypothese einer solchen Evolution wahr ist.

All diese Beispiele beleuchten, wie wir mit den Berichten andererPersonen in epistemisch verantwortlicher Weise zu verfahren haben. Inähnlicher Form sollten wir dann auch die Informationen behandeln, dieuns unsere Sinne vermitteln. Das heißt insbesondere, daß wir den Beob-

84 Bayesianisten (wie z. B. Horwich 1982) arbeiten mit Glaubensgraden,die sich gemäß den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie verhalten sollen.Für (quantitative) Änderungen unserer Überzeugungen aufgrund neuer Datenverlassen sie sich auf das Gesetz von Bayes (daher der Name) (s. dazu den An-hang zu diesem Kapitel).

85 Die tun das auch und sprechen etwa vom Simulationsirrtum. Dasschnell Beiseiteschieben solcher Phänomene ist typisch für apriorische Begrün-dungen von Methodologien.

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achtungsüberzeugungen mißtrauen sollten, die wie Wunder eine Art vonFremdkörper in unserem Überzeugungssystem darstellen. Wenn ichmich längere Zeit in einer leeren Wüste glaubte und plötzlich eine Oasevor mir dort auftaucht, obwohl die Wüste gerade vorher noch leer war,so habe ich allen Grund, dieser Beobachtung zu mißtrauen. Nebenbeibemerkt zeigt sich auch hier wieder eine Anwendung des Schlusses aufdie beste Erklärung, denn für solche Fälle scheint die beste Erklärung zusein, daß ich gerade halluziniere oder eine Fata Morgana sehe. Diese An-nahme erklärt das Auftreten meiner Wahrnehmungen mit einer von mirakzeptierten Theorie, nach der unter bestimmten Bedingungen Halluzi-nationen auftreten können, während meine Beobachtung sonst in Kon-flikt kommt mit der Annahme, daß Oasen und andere Objekte entspre-chender Größe nicht von einer Minute zur anderen auftreten können,wenn sie vorher noch nicht da waren.

Es ist hoffentlich durch die Beispiele deutlich geworden, daß die Ver-ankerung einer Aussage durch eine Erklärung, die sie in unser Mei-nungssystem einbettet, diese Aussage in einem gewissen Grad episte-misch rechtfertigt.86 In den Beispielen geht es dabei meist darum, be-stimmten Aussagen ihre anfängliche Unplausibilität zu nehmen, die da-durch entstand, daß sie sich zunächst nicht kohärent in unser Modellunserer Welt einzufügen schienen. Der epistemische Gehalt von erklä-renden inferentiellen Beziehungen erschöpfte sich aber nicht im Abbaunegativer Gründe gegen eine Meinung, sondern trug in entsprechenderWeise auch zur positiven Stützung bei. Eine Aussage, die im Zentrumunserer Theorien über die Welt steht, erfährt von all diesen Theorieneine gewisse Unterstützung. Wir erhalten ein System oder Netzwerk vonAussagen: Auf der einen Seite stehen die Beobachtungsüberzeugungen,die für sich allein noch völlig beziehungslos nebeneinander stehen. Aufder anderen Seite haben wir Theorien, die von den Beobachtungen mitHilfe des Schlusses auf die beste Erklärung gestützt werden. Die Theo-rien können ihrerseits wieder andere Aussagen – unter anderem Beob-achtungsaussagen – rechtfertigen, indem sie sie erklären. Sie stiften da-mit indirekte inferentielle Verbindungen unter den Beobachtungsüber-zeugungen. Man könnte sagen, sie erzeugen die verbindenden Kanten inunserem Netz. Diese Metapher ist natürlich nicht auf die Auszeichnungeiner festen theoriefreien Beobachtungssprache angewiesen. Es genügt,

86 Nebenbei können die Beispiele auch erläutern, was wir in alltäglichenSituationen unter Erklärungen verstehen, und es wird sich im dritten Teil zeigen,daß wissenschaftlichen Erklärungen eine ähnliche Rolle auf einer anderen Ebenezukommt.

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wenn man die Vorstellung von recht speziellen Aussagen hat, die unter-einander unverbunden sind, und die von allgemeineren, die solche Ver-bindungen herstellen können. Zu welcher Sorte ein Satz gehört, mußweder über einen bestimmten Kontext hinaus festgelegt sein, noch istmit den Beobachtungsüberzeugungen ein Anspruch auf epistemischePriorität verbunden. Im Gegenteil wird dieser Anspruch sogar in (IV.B)explizit bestritten werden.

Theorien sollen auch nicht nur „Daten“ vernetzen, sondern weisengerade untereinander vielfältige inferentielle Beziehungen auf. Es wer-den singuläre Tatsachen durch Theorien erklärt, aber allgemeinereTheorien können genauso gut weniger allgemeine Theorien erklärenund vernetzen.87 Z. B. das Prinzip der Energieerhaltung ist auf einer sehrallgemeinen Stufe angesiedelt und fügt Theorien aus der Mechanik undder Elektrodynamik selbst über wissenschaftliche Revolutionen hinwegzusammen und erklärt bestimmte allgemeine Phänomene und Gesetzeaus diesen Bereichen.

6. Analogiebeziehungen

Eine weitere verbindungsstiftende Beziehung in unserem System vonMeinungen, die immer wieder in wissenschaftlichen wie außerwissen-schaftlichen Kontexten genannt wird, ist die der Analogie. Auch durchAnalogien findet eine Vernetzung unserer Überzeugungen statt. Salmon(1983, 197ff) spricht sogar vom Analogieschluß als einem sehr häufigangewandten Schlußverfahren. Er weiß dazu eine Reihe von Beispielenaus unterschiedlichen Bereichen anzugeben. Im Falle unerwünschter Ne-benwirkungen eines Medikaments bei Ratten schließen wir auf zu erwar-tende unerwünschte Nebenwirkungen beim Menschen. Aus der Tatsa-che, daß große Verschuldung für private Haushalte keine guten Progno-sen für deren Zukunft zuläßt, schließen wir, daß sie auch für den Staats-haushalt schädlich ist. Philosophen und Theologen haben argumentiert,daß man aus dem planvollen Aufbau des Menschen auf einen göttlichenSchöpfer schließen kann, wie man aus dem Fund einer Uhr auf einenUhrmacher schließen darf, der die Uhr geplant und gebaut hat.

Im Bereich der Wissenschaften hat Mary Hesse (1963) eine Reihevon Beispielen für Analogien untersucht. Etliche berühmte Fälle sinduns allen bekannt, aber an einige möchte ich trotzdem noch einmal erin-

87 Im dritten Teil wird eine Konzeption dafür, was Theorien sind, vorge-stellt, die auch präzisieren kann, wie Theorien verschiedene Anwendungen „ineinen Zusammenhang bringen“.

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nern, um anzudeuten, wie stark Analogien im Netz unserer wissenschaft-lichen Überzeugungen präsent sind. Maxwell entwickelte seine Theorieder Elektrodynamik anhand einer fortschreitenden Reihe von mechani-schen Analogiemodellen, die von einem einfachen Modell einer inkom-pressiblen Flüssigkeit bis hin zu seinem komplizierten Wirbelmodellreichten. Entsprechende mechanische Analogien, z. B. von Elektrizitätals einer Art Flüssigkeit, prägen sicher auch heute noch unsere Vorstel-lungen von Elektrizität. Für das Bohrsche Atommodell haben in seinenverschiedenen Phasen unterschiedlich ausdifferenzierte Formulierungendes Planetensystems Pate gestanden. Die Modelle von Licht als Welleoder als Teilchen ziehen sich durch die Diskussion um die Natur desLichts wie ein roter Faden. Auch die Materie wird mit Ansammlungenkleiner Punktpartikel oder einer Flüssigkeit verglichen. Insbesondereideale Gase werden als elastische kleine Billiardkugeln betrachtet. SolcheAnalogien sind natürlich keineswegs auf die Physik beschränkt. Für Dar-wins Konzeption der Entstehung der Arten spielte die Analogie zwischenkünstlicher und natürlicher Zuchtwahl eine entscheidende Rolle. ZurErklärung von Intelligenz oder sinnesphysiologischen Leistungen wer-den immer wieder Analogien der verschiedensten Art zu Computermo-dellen eingesetzt. Einige Analogien sind sogar schon in unserem Vokabu-lar verankert. So sprechen wir von „wissenschaftlichen Revolutionen“oder dem „Treibhauseffekt“ und stützen uns dabei auf Analogiemodellein den entsprechenden Bereichen. Die Entwicklung und das Durchsetzenwissenschaftlicher Annahmen wird auch mit evolutionären Prozessenverglichen. Die Liste derartiger Beispiele ließe sich ohne weiteres verlän-gern.

Daß in allen Zweigen unseres Wissens Analogien und Analogiemo-delle eine wichtige Rolle spielen, dürfte also kaum zu bestreiten sein.Die strittige Frage ist eher, ob sie auch eine epistemische Funktion über-nehmen können. Gibt die Bohrsche Analogie des Atoms mit einem Pla-netensystem uns einen Grund, eher an seine Theorie zu glauben, als wires ohne diesen Vergleich getan hätten? Oder ist sie nur ein heuristischesMittel gewesen, daß es Bohr erleichtert hat, seine Atomtheorie zu ent-wickeln und sie anderen Physikern zu vermitteln? Meines Erachtens ha-ben Analogien neben heuristischen und didaktischen Funktionen, dieeher in den Entdeckungskontext und die Vermittlung einer Theorie ge-hören, auch eine epistemische Funktion. Diese ist in den verschiedenenBeispielen allerdings recht unterschiedlich, je nachdem, wie weit dieAnalogie reicht, also wieviele positive Analogiebeziehungen und Disana-logien bestehen, je nachdem, ob es sich um eine eher formale oder stär-

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ker materiale Analogie handelt. Analogien zwischen Licht- und Wasser-wellen sind nicht so eng wie die zwischen zwei genau gleich konstruier-ten Motoren. Geht der eine kaputt, wenn man ihn mit einem bestimm-ten Öl laufen läßt, haben wir natürlich allen Grund anzunehmen, daßdasselbe bei dem anderen Motor passieren würde. Viele Analogiebezie-hungen erbringen offensichtlich erkenntnistheoretische Leistungen. Inden angegebenen Illustrationsbeispielen sorgten die Analogiebeziehun-gen jedenfalls in einem bestimmten Ausmaß für eine stärkere Vernetzungunseres Überzeugungssystems, die kohärenzstiftend wirkt. Zu diesemPunkt kann ich erst in der Untersuchung von Erklärungen und der Rol-le, die Modelle in der Wissenschaft spielen, gehaltvollere Analysen an-bieten. Analogien sollen dann als eine recht abstraktere Form von Erklä-rungen ausgewiesen werden.

B. Eine Kohärenztheorie der Wahrnehmung

Traditionell waren fundamentalistische Theorien wie die empiristischendort zu Hause, wo es darum geht, dem Input für unser Überzeugungssy-stem in Form von Sinneswahrnehmungen einen angemessenen Platz ein-zuräumen. Dagegen wird kohärentistischen Theorien immer wieder vor-geworfen, sie könnten derartigen Input nicht in gebührender Weise be-rücksichtigen. Das sollte mit der BonJourschen Analyse von Wahrneh-mungen anders geworden sein (BonJour 1987 und bes. 1985, II.6). Fürdie empiristischen Erkenntnistheorien beginnt alle Erkenntnis mit unse-ren Beobachtungen. Rechtfertigungen unserer Meinungen stützen sichimmer mehr oder weniger direkt auf Beobachtungen. Dieses Bild vonErkenntnis kann zunächst trotz seiner Schlichtheit eine gewisse Plausibi-lität für sich in Anspruch nehmen. Sind nicht gerade Beobachtungsüber-zeugungen als von außen kommend und nicht aus unseren anderenÜberzeugungen abzuleiten anzusehen und damit paradigmatische Bei-spiele nichtinferentieller Meinungen? Hat nicht auch van Fraassen (inChurchland/ Hooker 1985, 286) Recht mit seiner Behauptung, daß un-sere einzig legitime Informationsquelle über die Welt unsere Sinneswahr-nehmungen sind und wir deshalb nicht umhin können, Empiristen zusein? Sehen wir von den bekannten inhärenten Problemen, wie etwa derTheorienbeladenheit der Beobachtungssprache, ab, die in diesem Modellvom Wissenserwerb auftreten können, so erscheint uns diese Ansichtüberzeugend. Dieses Modell beschreibt jedoch eigentlich nur die Geneseunseres Wissens und hat somit keine direkten Implikationen für die

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Struktur unserer Erkenntnis. Diese Trennung, die wiederum die Unter-scheidung von Genese und Rechtfertigung stark macht, findet bei Empi-risten nicht immer genügend Beachtung.

Außerdem gibt es für das einfache empiristische Bild unseres Er-kenntniserwerbs eine ständige Quelle der Beunruhigung, nämlich Sin-nestäuschungen und unsere Kenntnis von möglichen Irrtumsquellen. Be-obachtungen sind bekanntlich nicht unter allen Umständen zuverlässig,sondern können uns in bestimmten Situationen in die Irre führen. Dasgilt nicht nur für den im Wasser geknickt erscheinenden Stab oder ex-treme Beispiele wie Halluzinationen, sondern findet sich bereits in ge-wöhnlichen Alltagssituationen. Wir erkennen einen Bekannten nicht, ob-wohl wir ihn ansehen oder halten irrtümlich einen Unbekannten für ei-nen Bekannten, z. B. wenn wir ihn nur von hinten sehen, unaufmerksamsind usw. Die vielen Beispiele solcher Irrtümer bei unseren Beobach-tungsüberzeugungen haben empiristische Philosophen auf so fragwürdi-ge Theorien wie die phänomenalistischen geführt. Sie versuchen auf derEbene von sogenannten Sinnesdaten wieder eine sichere Basis für unsereErkenntnis zu finden. Doch entscheidend ist: Irrtümer unterlaufen unsnicht nur in statistischer Weise, sagen wir zu 5%, sondern wir haben re-lativ konkrete Ansichten oder sogar Theorien darüber, unter welchenbesonderen Umständen wir unseren Sinnen vertrauen dürfen und unterwelchen Umständen wir es lieber lassen sollten.

1. Vier Typen von Irrtumsquellen

Um ein realistischeres Bild der Rechtfertigung von Wahrnehmungsüber-zeugungen zu gewinnen, orientiere ich mich zunächst daran, wie anderemeine Beobachtungen bewerten; man denke etwa an Situationen vorGericht. Nehmen wir also an, ich sage in einem Mordprozeß aus, undman vermutet nicht, daß ich mit dem Angeklagten oder dem Staatsan-walt unter einer Decke stecke. Trotzdem wird das Gericht meine Anga-ben über meine Beobachtungen nicht einfach für bare Münze nehmen,sondern einer Bewertung im Hinblick auf ihre Zuverlässigkeit unterzie-hen, wozu zuerst eine Reihe von typischen Irrtumsquellen auszuschaltensind. Wenn ich von meinen Beobachtungen berichte, könnte mein Ge-dächtnis als eine Irrtumsquelle ins Spiel gebracht werden. Sehen wir da-von vorläufig einmal ab und halten es für absolut vertrauenswürdig.Dann bleiben trotzdem eine Reihe anderer Faktoren übrig, die zu be-rücksichtigen sind.

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Da sind als erstes die äußeren Beobachtungsbedingungen zu nennen,nach denen man fragen könnte: War es zum Zeitpunkt der Beobachtungnoch hell genug? Hatten Sie Gegenlicht? Verfälschte das rote Abendlichtnicht die Farben? War der beobachtete Mann nicht viel zu weit weg?Konnte man durch die trübe Scheibe wirklich jemand erkennen? usw. Jenach der Situation, um die es in der Aussage geht, können durch die an-gesprochenen Bedingungen Fehlerquellen ins Spiel kommen, die meineWahrnehmung unzuverlässig werden lassen. Wir haben auch zumindestCommon-Sense-Theorien darüber, welche der äußeren Beobachtungsbe-dingungen in bestimmten Situationen eine relevante Beeinträchtigungdarstellen können. Neben den äußeren Beobachtungsbedingungen wirdman mich vielleicht nach inneren Beobachtungsbedingungen befragen,die mehr auf meiner Seite angesiedelt sind und die Zuverlässigkeit mei-ner Sinnesorgane betreffen: Sind Sie kurzsichtig/schwerhörig? HattenSie Alkohol oder andere Drogen genommen? Waren Sie zu erkältet, umdas ausströmende Gas riechen zu können? Haben Sie vielleicht ge-träumt? usw. Jeder kann sich leicht Situationen vorstellen, in denendiese und ähnliche Fragen für eine epistemische Beurteilung meiner Be-obachtungen bedeutsam sind.

Für viele Beobachtungen reicht es aber nicht aus, die physikalischenoder physiologischen Bedingungen zu untersuchen, unter denen dieWahrnehmungen gemacht wurden, sondern zusätzlich zu den Beobach-tungsbedingungen spielen auch das Hintergrundwissen des Beobachtersoder seine kognitiven Einstellungen eine Rolle für die Zuverlässigkeitder Wahrnehmung.88 Wenn ich berichte, einen roten Wagen gesehen zuhaben, wird man vermutlich nicht allzuviel an Wissen auf meiner Seiteverlangen, aber wenn ich berichte, einen roten Mazda 626 beobachtetzu haben, verlangt das schon bestimmte Kenntnisse, die etwa daran zumessen sind, wie viel ich über die Unterschiede dieses Fahrzeugs zu ähn-lichen Typen weiß. Kenntnisse ganz anderer Art sind notwendig, wennich berichte, eine Gewinnstellung für Weiß auf einem Schachbrett gese-hen zu haben. Wieder andere für die Beobachtung, daß mir ein Cocker-spaniel über den Weg lief.

Außer diesem rein kognitiven Hintergrundwissen, können ebensobestimmte stärker emotional gefärbte Voreinstellungen meine Wahrneh-mungen beeinträchtigen. Die Sozialpsychologie lehrt uns, daß bestimmteAnnahmen, die wir über bestimmte Personengruppen haben, die manlandläufig auch oft als Vorurteile bezeichnet, sogar unsere Wahrnehmun-

88 An dieser Stelle sollte auch deutlich sein, daß ich unter Beobachtungs-überzeugungen nicht an so etwas wie theoriefreie Überzeugungen denke.

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gen deutlich beeinträchtigen können – oft in erheblich größerem Um-fang als das von uns selbst vermutet wird. So berichtete, nach Vorlagevon Bildern mit einem Weißen mit einem Rasiermesser in der Hand undeinem Farbigen ohne, die Hälfte der Versuchspersonen, der Farbigehätte das Messer gehalten (z.Z. Schäfer/Six 1978, 83). Das Gerichtkönnte mich fragen, ob ich Vorurteile gegen Farbige, Ausländer oderFrauen in bestimmten Berufen habe. Auch positive Voreinstellungenoder Wünsche können natürlich unsere Zuverlässigkeit in Form vonWunschdenken trüben. Wir erhalten damit eine erste und grobe Typisie-rung bekannter Irrtumsquellen.

Typen von Irrtumsquellen:- äußere Beobachtungsbedingungen- innere Beobachtungsbedingungen- kognitives Hintergrundwissen- emotionale Voreinstellungen

Dieser kurze Abstecher in mögliche empirische Untersuchungen der Zu-verlässigkeit unserer Wahrnehmungen, sollte demonstrieren, wie weitge-hend unsere Theorien über den Wahrnehmungsprozeß die Bewertungdieses Inputs ermöglichen und sogar in wichtigen Situationen, etwa vorGericht, steuern können. Dabei wurde deutlich, daß Faktoren aus denvier genannten Bereichen die Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungenauf jeweils unterschiedliche Art beeinträchtigen können und daß wirüber Theorien verfügen, um die Beeinträchtigungen abzuschätzen. Esgeht mir natürlich hier nicht um die Details dieser Theorien und ihreRichtigkeit, sondern um das grundsätzliche Vorgehen bei der Beurtei-lung von Wahrnehmungen. Dabei suchen wir nach speziellen Irrtums-quellen und nehmen nicht etwa an, unsere Beobachtungen seien zu x%zuverlässig. Ausgangspunkt einer kohärentistischen Analyse einer be-stimmten Sinneswahrnehmung ist also eine entsprechende Fehleranalyse.Zu ergänzen ist sie sicherlich um Kenntnisse über Besonderheiten desepistemischen Subjekts. Vielleicht wissen wir von ihm, daß er sich beiAutomarken vorbeifahrender Fahrzeuge immer vertut, obwohl er eigent-lich ein Fachmann auf diesem Gebiet ist und Augen wie ein Falke be-sitzt. Doch auch wenn all diese Bedingungen für die Zuverlässigkeit derEntstehung einer Beobachtungsüberzeugung sprechen, und wir damitüber gute Gründe verfügen, sie zu akzeptieren, kann sie trotzdem falschsein. Epistemische Rechtfertigung kann immer nur internalistisch seinund daher nur die Irrtumsmöglichkeiten ausschalten, die uns schon be-kannt sind.

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Neben einer Bewertung des Informationswegs, können wir eine Zeu-genaussage auch anhand dessen überprüfen, wie gut sie zu unseren ande-ren Informationen über den Fall paßt. Manchmal wissen wir, daß eineWahrnehmungsüberzeugung falsch sein muß, ohne eine Irrtumsquelledafür namhaft machen zu können. Das ist etwa bei sich widersprechen-den Zeugenaussagen der Fall, von denen nur eine wahr sein kann. Ähnli-ches kann auch passieren, wenn sich eine Zeugenaussage vor unseremHintergrundwissen wie ein Wunderbericht ausnimmt. Der dann entstan-dene Zustand bleibt natürlich solange epistemisch unbefriedigend, wiewir nicht die Falschaussage plus einer Erklärung für sie namhaft machenkönnen.

Wenn wir epistemisch verantwortlich urteilen wollen, könne wirdiese Bewertung von Beobachtungen nicht auf andere beschränken unduns selbst schlicht als unfehlbar einstufen, indem wir uns ganz auf unse-re subjektive Sicherheit verlassen. Daß diese keine Wahrheitsgarantieund auch nicht immer einen guten Wahrheitsindikator bietet, wissenwir. Meine eigenen Beobachtungen muß ich daher ebenso anhand mei-ner Theorien über zuverlässige Wahrnehmungen und mögliche Irrtums-quellen von Wahrnehmungen bewerten, wie ich das bei anderen tue.Das geschieht in einigen Fällen auch. Wir sagen dann etwa, ich glaube,Michael gesehen zu haben, bin mir aber nicht sicher, weil er so weit wegwar, oder der Stock sieht im Wasser für mich gebogen aus, aber ich glau-be trotzdem, daß er gerade ist. Es paßt weit kohärenter in unser Mei-nungssystem hinein, den Stock als gerade einzuschätzen. Wir sahen viel-leicht, daß er gerade war, bevor er ins Wasser gehalten wurde, haben(implizite) allgemeine Annahmen, daß Stöcke aus Holz beim Eintauchenins Wasser nicht verbiegen, wissen, daß Wasseroberflächen durch Licht-brechung scheinbare Krümmungseffekte hervorrufen können usw. Allunsere Wahrnehmungen werden vor dem Hintergrund unseres Wissensum diese Phänomene daher am besten durch die Annahme erklärt, daßder Stock gerade und nicht gebogen ist. Besonders in den Fällen, in de-nen viel von unserer Beobachtungsüberzeugung abhängt, können wirnicht mehr völlig auf unsere Wahrnehmungen vertrauen, sobald einigeder aufgezählten Irrtumsquellen für uns erkennbar sind. So verlockend,wenn nicht geradezu psychisch notwendig, ein allgemeines Vertrauen inunsere eigenen Wahrnehmungen auch erscheint, für begründete Meinun-gen sind wir auf weitere Annahmen über unsere Zuverlässigkeit in ent-sprechenden Situationen angewiesen.

Das wird uns vor allem dann bewußt, wenn nicht mehr die einfa-chen Standardbedingungen gegeben sind, in denen wir uns für zuverlässi-

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ge Beobachter halten. Da diese Standardbedingungen allerdings in unse-ren Alltagssituationen meistens vorliegen, scheinen uns Wahrnehmungenim allgemeinen zuverlässige Grundlagen für unsere Erkenntnis abzuge-ben. Wenn es uns um begründete Meinungen geht, sind wir trotzdemstets auf eine Rechtfertigung solcher Wahrnehmungen anhand unsererEinschätzungen unserer Zuverlässigkeit als Beobachter in ganz bestimm-ten Situationstypen angewiesen. Welche das sind, läßt sich wiederumnicht ein für allemal a priori entscheiden, sondern ist selbst wieder Be-standteil allgemeinerer empirischer Theorien über die Welt und unserenWahrnehmungsapparat.

Zusammengenommen: Wir sollten unsere Beobachtungsüberzeugun-gen einer zweifachen Bewertung vor unserem Hintergrundwissen unter-werfen: 1. Wie zuverlässig war der Informationsweg? und 2. Wie kohä-rent fügen sie sich in unser Hintergrundwissen ein? Auch ein im allge-meinen zuverlässiger Informationsweg kann im Einzelfall zu falschenAnnahmen führen. Um diese herausfiltern zu können, haben wir nur dieFehleranalyse zur Verfügung. Diese doppelte Überprüfung möchte ichnoch am Beispiel eines Wahrnehmungstyps illustrieren, dem wir nicht soblind vertrauen wie unseren fünf Sinnen. Nehmen wir an, ich habe beimir hellseherische Fähigkeiten entdeckt, und die sagen mir, daß in eini-gen Stunden Deutschland von einem riesigen Meteoriten getroffen undvernichtet wird. Bevor ich anfange, mir richtig Sorgen zu machen, über-lege ich, wie zuverlässig ich als Hellseher bin. Nehmen wir an, meinebisherige Trefferquote liegt bei 90%. Das erscheint dann schon beunru-higend. Weiterhin überlege ich, ob meine Zuverlässigkeit von irgendwel-chen speziellen Faktoren abhängt: meiner Konzentrationsfähigkeit, derTageszeit, den Mondphasen, dem zuletzt gesehen Film, speziellen Inhal-ten der Vorahnung oder was sonst noch in Frage kommen mag. Dannmuß ich überprüfen, ob diese Störfaktoren vorlagen und abschätzen,welche Beeinträchtigung sie zusammengenommen darstellen. Schließlichkomme ich zu dem Ergebnis, daß die Zuverlässigkeit meiner hellseheri-schen Kräfte genug Anlaß zur Sorge bietet. Daher befrage ich nun einenbefreundeten Astronomen dazu. Der kann mir zeigen, daß in der ent-sprechenden Richtung gar kein Meteorit im Anflug ist, der doch, solltemeine Vermutung wahr sein, sich längst zeigen müßte. Außerdem weißer mir zu erklären, warum wir in nächster Zeit nicht mit einem derarti-gen Meteoriten zu rechnen haben. Obwohl das spezielle Verfahren zumErkenntnisgewinn also zuverlässig ist, ist es durchaus sinnvoll, die Infor-mationen aus dieser Quelle weiteren Kohärenztests gegen unser übrigesWissen zu unterwerfen. Eine sorgfältiges und erfolgloses Absuchen des

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Himmels sollte mich eigentlich wieder beruhigen. Ebenso gründlich soll-ten wir unsere anderen Wahrnehmungen beurteilen, auch wenn es unssicher schwer fällt, ihnen gegenüber eine derart distanzierte Einstellungeinzunehmen. Deshalb wird sich der Staatsanwalt auch nicht allein aufden guten Willen der Zeugen verlassen, sondern die genannten Punkteselber sorgfältig prüfen.

2. Eine kohärentistische Rechtfertigung von Wahrnehmungen

Eine kohärenztheoretische Behandlung der Wahrnehmung startet beiden Beobachtungsüberzeugungen, die sich für uns spontan einstellen,wenn wir bestimmte Wahrnehmungen machen. Schaue ich auf meinenSchreibtisch, kann ich mich nicht dafür entscheiden zu glauben, daß einNotebook vor mir steht oder nicht. Diese Meinung stellt sich spontanund unabweisbar ein. Nach BonJour sind Wahrnehmungsüberzeugungenbestimmte spontane Meinungen, die etwa durch ihre Inhalte und ihrenZusammenhang zu anderen Meinungen ausgezeichnet sind. Anhand un-serer Theorien über unsere Wahrnehmung und mögliche Irrtumsquellenwerden diese dann bewertet und jene unter ihnen, die diesen Test be-stehen, sind für uns begründete Beobachtungsüberzeugungen. Das Leh-rersche Diktum vom Wissen als Metawissen mündet damit für eineWahrnehmungsüberzeugung p in so etwas wie das folgende Rechtferti-gungsschema (vergleiche dazu BonJour 1985, 118ff):

Rechtfertigungsschema für Wahrnehmungen (RW)1) p ist spontan in mir aufgetreten.2) p ist als Wahrnehmungsüberzeugung einer bestimmten Art (z. B. vi-

sueller Art) zu klassifizieren.3) p entstand in mir unter der Bedingung B.4) Wahrnehmungsüberzeugungen, die in mir unter B entstehen, sind

nach meinem Hintergrundwissen wahrscheinlich wahr. (Es liegtu.a. keine der vier Irrtumsquellen vor.)

Also: p ist wahrscheinlich wahr.

Die Bedingung (1) besagt, daß p nicht Ergebnis einer Überlegung odersogar Ableitung ist und auch nicht einer bewußten Erinnerung an ein be-stimmtes Erlebnis. Damit ist aber noch nicht sichergestellt, daß es sichum eine Beobachtungsüberzeugung handelt. Das ist in einem zweitenSchritt eigens zu vermuten, denn es können auch Meinungen spontan inuns auftauchen, wie die, daß 19 eine Primzahl ist, die wir üblicherweise

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nicht als Beobachtungen klassifizieren. P sollte darüber hinaus als Beob-achtung einer bestimmten Art eingestuft werden, denn danach richtet essich, welche Bedingungen B in (3) relevant sind. Im vierten Schritt brin-ge ich meine Kenntnisse der Wahrnehmungstheorie und der besonderenBedingungen meines Wahrnehmungsapparats, die mir bekannt sind, inAnschlag, so daß ich dann eine erste Begründung für p angegeben habe.

Ein einfaches Beispiel mag das Schema illustrieren. Ich schaue michum und sehe eine Stehlampe. Die Überzeugung, daß eine Stehlampe hin-ter mir steht, kann man nun wie folgt rechtfertigen (wobei ich das Pro-blem des Gedächtnisses weiterhin ausklammere): In mir entstand spon-tan die Überzeugung, daß hinter mir eine Stehlampe steht. Dabei han-delt es sich um eine visuelle Wahrnehmung. Die Stehlampe ist ein Ob-jekt mittlerer Größe mit einem geringen Abstand von mir, und meinesWissens liegt keine mir bekannte Fehlerquelle der Wahrnehmung vor.Unter diesen Umständen kann ich meinen Augen trauen. Sehr wahr-scheinlich steht also eine Stehlampe hinter mir.

Damit ist eine kohärentistische Analyse natürlich noch keineswegsabgeschlossen. BonJour hat damit nur den Informationsweg im Blick.Das vorgeschlagene Rechtfertigungsschema ist eingleisig und kann dievielfältigen Zusammenhänge einer Beobachtung zu unseren anderenMeinungen noch nicht erfassen. Die Auszeichnung von p als einer Beob-achtung hängt z. B. ebenfalls davon ab, welche anderen Beobachtungenwir kurz vor und nach p machen. Wir erwarten für die meisten Situatio-nen eine gewisse Kontinuität und wären ausgesprochen skeptisch, wennwir auf Beobachtungen wie die im Beispiel des Superempiristen (s. A.1)stießen. Außerdem können auch Theorien darüber, welche Ereignisseüberhaupt auftreten können und welche nicht, zur Zurückweisung vonBeobachtungen führen, falls diese im Lichte der Theorie als ein Wundererscheinen (s. IV.A.5). Zusätzlich zu den Bedingungen (1) (4) von RWsollten wir daher wenigstens noch eine Bedingung (5) aufnehmen:

5) Die Annahme, daß p, fügt sich kohärent in unser Meinungs-system ein und erscheint uns insbesondere nicht als Wunder.89

Diese Bedingung mag als Hinweis genügen, daß neben der geradlinigenRechtfertigung (1) (4) noch andere Elemente aus dem Netz unseresÜberzeugungssystems für die epistemische Bewertung einer Wahrneh-

89 Holistischen Aspekten schenkt BonJour an dieser Stelle nicht genügendAufmerksamkeit. Sie können hier nur angedeutet werden, wobei von „Kohä-renz“ natürlich nur in einem intuitiven Sinn gesprochen werden kann, der erst in(IV.F) präzisiert wird.

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mung bedeutsam werden können – was man von einer Kohärenztheoriewohl auch erwarten sollte. Trotz der Idealisierungen, die man vorneh-men muß, um ein einfaches Schema RW zu bekommen, können dieÜberlegungen das eine zeigen, das wir festhalten sollten:

Differenzierte Bewertung von WahrnehmungenWir können zwischen mehr oder weniger gut gerechtfertigten Beob-achtungsüberzeugungen unterscheiden, die sich im allgemeinen an-hand zahlreicher anderer Überzeugungen, die wir haben, rechtferti-gen lassen, obwohl die Beobachtungsüberzeugungen spontan undnicht-inferentiell entstanden sind.

Das bringt noch einmal den Unterschied zu empiristischen Konzeptio-nen von Erkenntnis zum Ausdruck, denn für sie sind die Beobachtungs-überzeugungen basal und lassen damit nach FU 1 keine derartigen infe-rentiellen Rechtfertigungen zu.

BonJour (1985, 121ff) skizziert auch den Weg, auf dem sich negativeWahrnehmungsüberzeugungen begründen lassen. Etwa meine Überzeu-gung, daß keine Schreibmaschine vor mir steht. Auch diese Überzeugungsollte anhand meiner Beobachtungen gerechtfertigt werden. Das ist rela-tiv analog zu dem Rechtfertigungsschema (RW) möglich und soll hiernur für das konkrete Beispiel angegeben werden:1) Ich habe keine Wahrnehmungsüberzeugung, daß eine Schreibma-

schine vor mir steht.2) Es liegen bestimmte Bedingungen B für Beobachtungen visueller

Art vor. (bestimmte Lichtverhältnisse, Augen auf, Brille auf, keineDrogen …)

3) Unter den Bedingungen B würde wahrscheinlich eine spontaneWahrnehmungsüberzeugung, daß vor mir eine Schreibmaschinesteht, auftreten, wenn vor mir eine Schreibmaschine stünde.

Also: Vor mir steht wahrscheinlich keine Schreibmaschine.90

In beiden Fällen von Rechtfertigung positiver wie negativer Wahrneh-mungen bin ich darauf angewiesen, meine Zuverlässigkeit als Beobach-ter angepaßt an die speziellen Umstände der Wahrnehmungssituationauf der Grundlage meiner Kenntnisse über meine Umgebung und meinWahrnehmungsvermögen einzuschätzen. Das werden wir in der Praxisnur in außergewöhnlichen Situationen tatsächlich tun, aber wenn wir

90 Auch dieses Schema sollte um eine Bedingung des Typs (5) ergänzt wer-den, also etwa durch: Die Annahme, daß keine Schreibmaschine vor mir steht,paßt auch kohärent zu meinen anderen Überzeugungen.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 200

aufgefordert werden, eine unserer Beobachtungen zu rechtfertigen, ge-ben Rechtfertigungen des Typs (RW) die besten Antworten.

BonJour schneidet noch eine andere Frage an, die kurz aufzugreifensich an dieser Stelle lohnt. Wenn Beobachtungsüberzeugungen spontanund unabweisbar in uns auftreten und wir uns nicht wirklich entschei-den können, eine bestimmte Wahrnehmungsüberzeugung zu haben odernicht zu haben, welche praktische Relevanz hat dann die Rechtfertigungvon Beobachtungsüberzeugungen? Diese Frage BonJours ließe sich auchauf andere Überzeugungen erweitern, denn in den meisten Fällen kön-nen wir uns nicht einfach entscheiden, etwas zu glauben oder abzuleh-nen, sondern da sind kausale Vorgänge am Werk, die nicht unserem di-rekten Einfluß unterliegen (s. dazu auch Williams 1978). Ich möchtehier nur auf zwei Punkte verweisen: 1. Auch wenn eine bestimmte Beob-achtungsüberzeugung unwillkürlich in mir auftritt, kann ich sehr wohlnoch in einem gewissen Maß entscheiden, welche Rolle sie in meinemRäsonieren und in meinen Entscheidungen spielen soll. Dazu ein Bei-spiel: Wenn ich gestern abend meine Frau in den Armen eines anderenMannes zu sehen glaubte und mich schrecklich darüber aufgeregt habe,kann ich gleichwohl heute noch einmal nüchtern darüber nachdenken,für wie gewichtig ich meine Beobachtung halte. Bevor ich die Scheidungeinreiche, überlege ich mir vielleicht, daß ich sie nur in einer „verräu-cherten Kneipe“ auf größere Entfernung und von hinten sah und auchschon einige Gläser Wein getrunken hatte. Dann bin ich mir unsicherüber die Zuverlässigkeit meiner Beobachtung und werde keine so gravie-rende Entscheidung wie ein Scheidungsverlangen allein auf diese eineBeobachtung stützen. 2. Ich könnte die Beobachtung im Nachhineinvielleicht sogar ganz aufgeben und zur gegenteiligen Ansicht gelangen.Mir könnte etwa einfallen, daß die Frau, die ich den Armen des Mannessah, ein rotes Kleid trug, meine Frau aber rote Kleider haßt. Außerdemgeht sie am Freitag doch immer zum Bowling, das sie niemals ausfallenlassen würde. Weitere Indizien können mir einfallen, die mich schließ-lich dazu veranlassen, meinen Verdacht gegen meine Frau vollkommenaufzugeben – ich bin schließlich auch nicht übertrieben eifersüchtig –und damit meine Überzeugung, daß ich meine Frau sah, nachträglich alsIrrtum einzustufen. Erkenntnistheoretische Überlegungen, die meine Zu-verlässigkeit als Beobachter betreffen und Kohärenztests, können alsozumindest im Nachhinein eine wichtige Rolle für die Gestaltung meinesÜberzeugungssystems und die zu ziehenden Konsequenzen spielen,selbst wenn die Beobachtungsüberzeugungen zunächst unabweisbar sind.

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3. Empiristische und rationalistische Wahrnehmungsauffassungen

Kehren wir mit der kohärentistischen Analyse von Wahrnehmungen aus-gerüstet noch einmal zu den empiristischen und rationalistischen Er-kenntnistheorien zurück. Empiristen wie Rationalisten waren in ihrerMehrzahl Fundamentalisten. Inwieweit unterscheiden sie sich von derkohärentistischen Sichtweise der Rechtfertigung von Wahrnehmungen?Für Empiristen gibt es Beobachtungsüberzeugungen, die keiner inferen-tiellen Rechtfertigung bedürfen, weil sie direkt beobachtbare Tatsachenwiedergeben. Diese Theorie scheint uns jedoch nur deshalb einigerma-ßen plausibel, weil wir in den meisten Fällen von Wahrnehmungen zu-verlässig Wahrnehmende sind. Man könnte sagen, ihre Theorie wirddurch unsere allgemeinen Annahmen über unsere Wahrnehmungen fürdie meisten normalen Anwendungsfälle gerechtfertigt. Der Kohärenz-theoretiker hat gegen diese Art der Rechtfertigung vor allem drei Ein-wände zu erheben: 1. Die Empiristen sind damit auf bestimmte inhaltli-che Annahmen (oder Theorien) über unsere Wahrnehmung festgelegt —besonders deutlich wird das etwa bei Humes Konzeption, daß alle„ideas“ letztlich auf „impressions“ zurückzuführen sind —, die, selbstwenn wir sie heute noch akzeptieren würden, sich doch schon morgenals falsch herausstellen könnten. Es gibt dabei keinen Spielraum fürkünftige Entwicklungen, wie ihn der Kohärenztheoretiker aufzeigt. Fürden gibt es immer die Möglichkeit, neue Erkenntnisse über unsereWahrnehmung etwa in Form immer differenzierterer Theorien und Be-dingungen für Irrtumsquellen zu berücksichtigen, denn das Schema(RW) ist anhand unserer jeweils besten Theorien über unsere Wahrneh-mung auszufüllen. 2. Doch selbst wenn die Empiristen für ihre basalenMeinungen keine Sicherheit, sondern z. B. nur eine gewisse Wahrschein-lichkeit postulierten, bliebe ihr Ansatz damit unbefriedigend. Sie könn-ten vielleicht behaupten, Wahrnehmungsannahmen seien zu 80% wahr,doch damit würden sie all die Differenzierungsmöglichkeiten verschen-ken, genauer zu sagen, in welchen Fällen unsere Wahrnehmungen fehl-gehen können und woran es jeweils liegt. Warum sollten wir nur unsererecht allgemeinen Einschätzungen über die Zuverlässigkeit bestimmterTypen von Aussagen berücksichtigen und nicht gleichermaßen alle ande-ren Erkenntnisse, die wir über den Einzelfall besitzen? 3. Aber schlim-mer ist fast noch, daß der Empirist all diese Annahmen über unsereWahrnehmungen nicht als Bestandteil einer Rechtfertigung des epistemi-schen Subjekts S selbst ansieht, sondern als dem Subjekt möglicherweiseexterne Theorien, denn S benötigt keine kognitiv verfügbaren Rechtfer-

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tigungen für seine Beobachtungsaussagen. Damit wird der Empirist zumExternalisten.

Auf Seiten der Rationalisten sieht es nicht besser aus. Z. B. für Des-cartes sind alle Wahrnehmungen zuverlässig, die wir klar und deutlichhaben. Irrtum kommt nur ins Spiel, wenn wir uns auf Urteile verlassen,die wir nicht klar und deutlich erfaßt haben. Sehen wir zugunsten Des-cartes zunächst davon ab, daß nicht so klar ist, in welchen Fällen wirklare und deutliche Wahrnehmungen haben und die Frage zu stellenbleibt, ob wir uns in dieser Einschätzung nicht auch wieder irren kön-nen. Dann ist es vor allem Descartes Rechtfertigung seines Kriteriums,die uns heutzutage nicht mehr attraktiv erscheint. Nach Descartes irrenwir uns bei klaren und deutlichen Wahrnehmungen nicht, weil Gott keinBetrüger ist und uns in solchen Fällen nicht hintergehen würde. Zu vieleMenschen sind heute jedoch Agnostiker oder schlimmeres, als daß eineBerufung auf Gottes Eigenschaften in einer Erkenntnistheorie noch aufbreite Zustimmung hoffen könnte. Auch Descartes ist in seiner Erkennt-nistheorie also auf bestimmte (empirische) Theorien über die Beschaf-fenheit der Welt festgelegt, damit sein Rechtfertigungsverfahren begrün-det ist, die uns zweifelhaft erscheinen.

Wie im Fall der Empiristen kommt dann noch mindestens der zweiteEinwand hinzu, daß Descartes Erkenntnistheorie nicht offen bleibt fürempirische Einsichten über unsere Wahrnehmungsfähigkeiten und ihreSchwachstellen. Was wir klar und deutlich erkennen, ist für Descarteskaum eine Frage empirischer Forschungen, sondern a priori introspektivzu ermitteln. Damit gibt er die Chancen für interessante Einsichten an-hand differenzierter Wahrnehmungstheorien aus der Hand, und alleoben zur Wahrnehmung angestellten Überlegungen demonstrierten, wiediese Einsichten ins Spiel kommen, wenn wir ermitteln, ob eine Beob-achtung zuverlässig ist oder nicht.

Der dritte Einwand gegen die Empiristen kann gegen Descartes nichtohne weiteres erhoben werden, denn man muß die Cartesische Theorienicht unbedingt als externe Theorie der Rechtfertigung interpretieren.Man kann annehmen, der Cartesische Meditierende verfügt mit demapriorisch geführten Gottesbeweis über eine interne Metarechtfertigungfür sein Wahrheitskriterium der klaren und deutlichen Erkenntnis, undauch die Anwendung dieses Kriteriums auf seine speziellen Wahrneh-mungen, erfolgt dann unabhängig von unbekannten äußeren Zusam-menhängen. Wir können Descartes also durchaus als Internalisten ver-stehen.

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4. Erinnerung und Introspektion

Zu den Wahrnehmungen zählt man üblicherweise auch noch die innerenWahrnehmungen oder Introspektionen. Außerdem habe ich bisher im-mer die Erinnerungen und ihre Rechtfertigung ausgespart, obwohl diesein der Begründung, über die eine Person verfügt, eine wesentliche Rollespielen werden. Zu diesen Themen möchte ich nun wenigstens einigeBemerkungen anfügen. Wenn ich mich bemühe, eine Begründung füreine Meinung p zu geben, bin ich an verschiedenen Stellen zumindestauf eine minimale Gedächtnisleistung angewiesen. Z. B. muß ich michimmer daran erinnern, welche Meinung ich rechtfertigen möchte.91 Da-zu muß ich mich auf gewisse Formen von Introspektion verlassen. Wennich mich frage, ob ich über eine Begründung für p verfüge, muß ich zu-mindest schon wissen, daß ich p glaube und welche Überzeugungen ichüberhaupt habe, auf die ich mich in der Begründung von p stützen darf.In beiden Fällen sollte ich also zuverlässige Metameinungen darüber be-sitzen, welche Meinungen ich bisher (implizit) habe. Diese Metameinun-gen stellen jedoch selbst wiederum empirische Annahmen dar und mankönnte auch für sie nach Begründungen fragen. In diesen Begründungen— sollen sie denn inferentiell sein — muß ich mich aber wiederum dar-auf stützen können, welche anderen Meinungen ich habe. Droht damitnicht ein fataler Regreß? Dieser Ansicht ist z. B. Moser (1991, 174ff).

Zunächst einmal trifft das nur auf den Fall privater Begründungenim stillen Kämmerlein zu. Wissenschaftliches Wissen oder anderes expli-zit notiertes Wissen ist davon nur sehr indirekt betroffen, denn das rele-vante Hintergrundwissen ist, weil es schriftlich fixiert ist, auch ohne dieErinnerung oder Introspektion einer bestimmten Person jederzeit zu-gänglich. Wichtige Begründungen können auf diese Weise den Proble-men von Erinnerung und Introspektion ausweichen.

Im Falle der Frage, in welchen Meinungen wir sozusagen privat ge-rechtfertigt sind, sind wir allerdings letztlich auf Erinnerungen und In-trospektionen angewiesen. Um die Zuverlässigkeit unseres Gedächtnis-ses in unseren Rechtfertigungen berücksichtigen zu können, stehen unsaus der Innenperspektive im Normalfall zwei Vorgehensweisen offen.Zum einen können wir, wie bei Beobachtungen, unsere eigene Zuverläs-sigkeit anhand von Daten aus der Vergangenheit und Aussagen andererPersonen einschätzen. Wir wissen dann über uns selbst vielleicht, daß

91 Jeder Redner wird wahrscheinlich den Fall kennen, wo er beim Sprechendas Argumentationsziel aus den Augen verloren hat und sich erst erneut daran er-innern muß.

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wir zwar zuverlässig Termine oder Zahlen behalten, aber nur selten ei-nen Namen oder Gesichter. Dementsprechend zurückhaltend sollten wirsein, wenn wir jemanden als Herrn Müller zu erkennen glauben. Zumanderen können wir jede spezielle Erinnerung gegen andere Erinnerun-gen oder Daten, über die wir sonst noch verfügen, „checken“. Wenn ichmich erinnere, am letzten Montag abend im Theater gewesen zu sein,kann ich mich weiter fragen, was denn gegeben wurde und das mit demSpielplan vergleichen; ich kann überlegen, daß ich nachmittags beimZahnarzt war und über welche Zwischenstationen ich von dort letztlichbis ins Theater gelangt bin. Außerdem frage ich mich z. B., ob ich imTheater noch Zahnschmerzen von der Behandlung gehabt habe oder obim Theater doch erst Sonntag war und ich mir statt dessen gerade Sor-gen über den bevorstehenden Zahnarztbesuch gemacht habe. Schließlichkann ich in meinen Terminkalender schauen oder Freunde befragen, obsie am Montag abend mit mir zusammen waren usf.92 War ich tatsäch-lich im Theater und mein Gedächtnis ist gut, sollten alle Antworten aufdiese Fragen ein zusammenhängendes Bild meines Tagesablaufs am Mon-tag bieten, das zu allen anderen Informationen wie Spielplan, Terminka-lender, Aussagen anderer usw. paßt. Gibt es dagegen Unstimmigkeiten,werde ich nach Erklärungen dafür suchen, die schließlich auch in derAnnahme münden können, daß ich mich geirrt habe und am Montagdoch zu Hause geblieben bin.

Beide Verfahren sind typische Kohärenztests und in analoger Formvor Gericht einsetzbar, um die Genauigkeit von Erinnerungen zu über-prüfen. Man wird z. B. den Erinnerungen von mehreren Zeugen beson-ders vertrauen, wenn sie im wesentlichen übereinstimmen. Die beste Er-klärung für ihre Übereinstimmung wird unter gewissen Umständen sein,daß sie zuverlässig über dasselbe Ereignis Auskunft geben. Sollten ihreAussagen allerdings zu exakt übereinstimmen, kann das bereits Evidenzfür die Unzuverlässigkeit der Zeugen sein. Die beste Erklärung kann indiesem Fall darin bestehen, daß sie sich abgesprochen haben. Schließlichwissen wir auch, daß Menschen sich normalerweise nicht so gut erin-nern und ihre Beobachtungen auf unterschiedliche Weise beschreiben.Hier finden wir wieder eine typische Instanz des Schlusses auf die besteErklärung, die sich mit konservativ induktivem oder bayesianistischemVorgehen nicht ohne Epizyklen erklären läßt.

92 Dieses Verfahren gibt uns natürlich keine Antwort auf die Fragen des ra-dikalen Skeptikers, der alle unsere Meinungen und Metameinungen zugleich inFrage stellt (s.dazu VI).

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Noch schwieriger wird es für eine internalistische Rechtfertigungs-theorie im Falle von Introspektionen, die für den Kohärenztest selbst be-reits unentbehrlich sind. Sie hat mit dem obigen Zirkelvorwurf amschwersten zu kämpfen. BonJour (1985, 127f) beruft sich an dieser Stel-le auf seine „Doxastic Presumption“ (1985, 101ff), wonach die Annah-me, daß wir ein einigermaßen zutreffendes Bild unserer eigenen Über-zeugungen besitzen, eine Voraussetzung des ganzen Rechtfertigungsspie-les ist. Nur wenn wir wissen, daß wir p glauben und daß wir weiterhinein bestimmtes Überzeugungssystem X haben, läßt sich überhaupt dieFrage aufwerfen, ob p vor dem Hintergrundwissen X gerechtfertigt ist.Dann, so argumentiert BonJour, darf ich mich in der Beantwortung derFrage, aber ebenfalls auf die Voraussetzung berufen, die in der Frage ge-macht wurde. Dafür spricht auch, daß selbst so radikale Skeptiker wieder Cartesische nicht so weit gehen, unsere Annahmen darüber, was wirglauben, in Frage zu stellen.

Das wird kaum das letzte Wort in dieser Angelegenheit sein, denn esist z. B. nicht selbstverständlich, daß die Frage nach einer Begründungfür p bereits die Kenntnis von X voraussetzt, aber ich möchte noch zweiweitere Anmerkungen hinzufügen, die ebenfalls einen gewissen Anteilan der Entschärfung dieser Schwierigkeit für eine Kohärenztheorie derRechtfertigung haben können. Erstens ist von diesem Problem nicht nurdie kohärentistische Position betroffen, sondern z. B. ebenso die übli-chen Spielarten des empiristischen Fundamentalismus. Für sie sind zwarBeobachtungsüberzeugungen basal und bedürfen daher keiner inferen-tiellen Rechtfertigung, aber Metaüberzeugungen über unser Überzeu-gungssystem werden im allgemeinen nicht unter diese basalen Überzeu-gungen gerechnet; insbesondere auch nicht Metaüberzeugungen dar-über, welche basalen Überzeugungen jemand besitzt. Wenn der Empiristnun nichtbasale Meinungen anhand basaler Meinungen inferentiellrechtfertigen möchte, ist er genauso auf eine Kenntnis seines Überzeu-gungssystems und speziell seiner basalen Meinungen angewiesen, wieein Kohärenztheoretiker. Es ist BonJours Verdienst, diese Schwierigkeitüberhaupt deutlich gesehen und einen ersten Lösungsvorschlag präsen-tiert zu haben. Zweitens habe ich auch von begründeten Meinungen nurverlangt, daß sie implizite Begründungen besitzen. Diese müssen imPrinzip zu entwickeln sein, aber nicht in Form expliziter Metaüberzeu-gungen bereits vorliegen. Erst wenn ich eine Rechtfertigung meiner Mei-nungen explizit vornehmen möchte, ist man also auf etwas wie die Bon-Joursche „Doxastic Presumption“ angewiesen, aber da ergeht es denmeisten Konkurrenten nicht besser.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 206

Natürlich könnte der Externalist auch an dieser Stelle wieder eineneinfachen Ausweg anbieten. Für ihn kann man sich darauf beschränken,daß unsere Metaüberzeugungen darüber, welche Überzeugungen wir ha-ben, tatsächlich zutreffen. Man würde einfach die Frage, welche Indi-zien wir für dieses Zutreffen haben, nicht mehr stellen. So leicht dieserAusweg ist, so bleibt doch wiederum das eigentliche Problem unberührt.Die Frage nach solchen Indizien bleibt weiterhin eine sinnvolle erkennt-nistheoretische Frage, die wir aufwerfen sollten, und der Externalistkann diesen Ausweg nur aufgrund eines Themawechsels anbieten, denich nicht mitmachen möchte (s. III.A.2).

C. Lokale und Globale Aspekte von Rechtfertigung

Auf den ersten Blick ist die Rechtfertigung einer Überzeugung eine An-gelegenheit, die nur wenige Überzeugungen unseres Wissenssystems be-trifft, nämlich die Prämissen der betreffenden Rechtfertigung. Dasscheint insbesondere für unser Vorbild für Inferenzen, den logischenSchluß, zuzutreffen. Wenn eine Proposition p deduktiv aus einer Mengevon M von Aussagen folgt, bedeutet das immer (selbst für unendlicheMengen M), daß es eine endliche Teilmenge von M gibt, aus der p folgt.Zur Überprüfung ob p folgt, genügt es außerdem, neben den Regeln derLogik ausschließlich p und M heranzuziehen. Die Inferenz bleibt in demSinne lokal. Sie ist nicht auf bestimmte Eigenschaften des ganzen Über-zeugungssystems X angewiesen. Inferenzen, zu deren Beurteilung mansich auf Eigenschaften des ganzen Überzeugungssystems oder sehr großeTeile davon stützen muß, nenne ich dagegen global.

Epistemische Rechtfertigungen anhand von Kohärenz beinhalten so-wohl lokale wie auch globale oder zumindest globalere Aspekte. Die Un-tersuchung einiger typischer Fälle kann das demonstrieren. Nehmen wirzunächst eine Beobachtungsüberzeugung, die durch eine Theorie erklärtwird. Die Erklärung selbst ist — wir werden das im letzten Teil der Ar-beit präzisieren — eine bestimmte Beziehung zwischen Theorie und Be-obachtung. Allein an der Theorie und der Beobachtungsüberzeugungläßt sich aber nicht ablesen, wie gut die Erklärung und damit die Recht-fertigung durch die Theorie ist. Eine astrologische Theorie oder eineDämonentheorie kann in derselben strukturellen Beziehung zu einemFaktum stehen, wie die Newtonsche Mechanik zum Phänomen des frei-en Falls. Es kann in allen drei Fällen etwa eine Deduktion vorliegen. Ei-ner Deduktion kann man nicht unmittelbar ansehen, ob es sich um eine

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gute Erklärung oder nur eine scheinbare und etwa empirisch leere Erklä-rung handelt. Wie gut die Erklärung ist, hängt unter anderem davon ab,wie gut die erklärende Theorie ist. Die epistemische Bewertung einerTheorie ist aber eine Sache, die nicht allein von der Beziehung zwischenTheorie und dem einen Datum abhängt, sondern vielmehr von der Be-ziehung zwischen der Theorie und vielen Fakten, die sie ebenfalls er-klärt, und außerdem auch von vielen intertheoretischen Beziehungen zuanderen Theorien.

Um an ein berühmtes Beispiel für eine Bewertung aufgrund inter-theoretischer Zusammenhänge zu erinnern: Die Beurteilung der New-tonschen Mechanik, die über lange Zeit im wesentlichen unangefochtenals die paradigmatische wissenschaftliche Theorie betrachtet wurde, än-derte sich zusehends mit der Anerkennung der Maxwellschen Elektrody-namik. Unter anderem ihr unterschiedliches Invarianzverhalten war fürEinstein das entscheidende Motiv, nach einer neuen Mechanik zu su-chen. Einstein behauptete von sich selbst sogar, daß er den einzigen ex-perimentellen Befund, der in den ersten Jahren für die spezielle Relativi-tätstheorie sprach, nämlich das Michelson-Morley Experiment, um1905 nicht gekannt hat. Auch wenn seine Erinnerung ihn darin vermut-lich in die Irre führt (s. Pais 1982, 114ff), hat er recht, daß dieser Be-fund nicht den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Me-chanik geben konnte (s. z. B. Holton 1981, 277ff). Das ist nur ein Bei-spiel für eine intertheoretische Abhängigkeit erkenntnistheoretischer Be-wertungen, in dem zwei Theorien in einen erkenntnistheoretischen Zu-sammenhang gestellt werden, obwohl sie sogar über weitgehend ge-trennte Anwendungsbereiche verfügen. Das ist zugleich ein Hinweis, wieauf versteckte Weise intertheoretische Beziehungen epistemisch wirksamwerden können. In der Debatte um holistische Strukturen in der Wissen-schaft finden sich weitere Beispiele, auf die zum Teil schon Duhem hin-gewiesen hat.

Ebenso gilt das für den Fall einer Theorie, die mittels Abduktion ge-stützt wird. Sie wird nicht nur von einer Anzahl von Daten gestützt, son-dern die Bewertung, wie gut die sie stützenden Daten sind, bedarf wie-derum einer Einschätzung der Zuverlässigkeit der Daten. Das geschiehtmittels (anderer) Theorien wie Theorien der Wahrnehmung oder Theo-rien über die Kontinuität bestimmter Vorgänge etc. (vgl. IV.B.2). Dabeikönnen auch Metaeinschätzungen etwa anhand epistemischer Überzeu-gungen über die Zuverlässigkeit bestimmter Wahrnehmungen in be-stimmten Situationen eine Rolle spielen, z. B. über die Genauigkeitastronomischer Daten bei Fernrohrbeobachtungen zu einem bestimmten

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Stand der Fernrohrtechnik. Diese epistemischen Überzeugungen könnenihrerseits erkenntnistheoretische Zusammenhänge zwischen vollkom-men unterschiedlichen Theorien herstellen. Alle von mir diskutiertenBeispiele für Begründungen mußten sich darauf beschränken, kleineTeile einer solchen Rechtfertigung herauszugreifen, weil die Analysensonst zu umfangreich geworden wären, aber es gab in der Regel zusätz-lich Hinweise, inwiefern weitere Zusammenhänge des Meinungssystemsfür diese idealisierten Rechtfertigungen erkenntnistheoretisch bedeutsamsind.

Denken wir noch einmal an das Beispiel einer in der Hitze flüssig er-scheinenden Straße aus Abschnitt (III.B.5.b) zurück, die sich beim Nä-herkommen als normale Asphaltstraße entpuppt. Um unsere Überzeu-gung zu begründen, daß sie das die ganze Zeit war und sich nicht erstbeim Näherkommen von einer Flüssigkeit in Asphalt verwandelt hat,können wir uns auf zunehmend größere Teile unseres Hintergrundwis-sens beziehen; zunächst auf Wahrnehmungstheorien, die uns das Phäno-men angefangen von der Lichtbrechung in der heißen Luft bis zu unse-rem Eindruck von Flüssigkeit erklären. Diese physikalischen und sinnes-physiologischen Theorien sollten ihrerseits nicht beliebige Theoriensein, sondern gut begründete Theorien, wenn sie eine gute Erklärungbieten sollen. Welche epistemische Kraft sie übertragen können, hängtvon ihrer weiteren Verankerung in unserem Netz von Überzeugungenab. Die Theorien des Lichts werden z. B. gestützt durch viele Phäno-mene der geometrischen Optik, der Interferenz, der Brechung etc., diesie erklären und durch ihre theoretische Einbettung in die Elektrodyna-mik als Theorie der elektromagnetischen Wellen und schließlich derQuantenoptik. Für all diese Theorien können wir wiederum fragen, wiesie epistemisch dastehen. Die Theorien der Sinnesphysiologie oder sogarneurologische Theorien unserer Wahrnehmungsverarbeitung stützensich auf andere Daten und sind in andere theoretische Kontexte einge-bettet; etwa in biologische Theorien über den Nervenaufbau und ihreZusammenschaltung, die sich ihrerseits auf chemische und physikalischeGesetze stützen können usf. Außerdem dürfen wir unser Wissen übereine gewisse Kontinuität von Materie und speziell Asphalt unter gewis-sen Bedingungen in Anschlag bringen, die wir sowohl in unserem All-tagswissen wie in unserem wissenschaftlichen Wissen verankern können.Dahinter stehen noch allgemeinere Konzeptionen von Energieerhaltung,die ihrerseits in vielen spezielleren Theorien eine Bestätigung erfahren.Daneben können wir auch mögliche Fehlerquellen unserer Wahrneh-mung ausschalten und uns darauf beziehen, wie zuverlässig wir ähnliche

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Wahrnehmungen in anderen Fällen vornehmen konnten. Dem Umfangeiner solchen Analyse sind kaum Grenzen gesetzt, und ich kann an die-sem Punkt natürlich nur einige Fingerzeige geben, auf welchen Wegensie weitergehen kann. In einer Kontroverse mit jemandem, der eine mei-ner Meinungen in Frage stellt, kann ich nur hoffen, nicht so weit gehenzu müssen, indem ich gemeinsame Meinungen oder Theorien suche, dieich dann als Startpunkte meiner Begründung wählen kann.

Im Prinzip kann sich die Zuverlässigkeitsanalyse einer Beobachtungalso auf recht allgemeinem Niveau auf relativ globale Zusammenhängeunseres Meinungssystems beziehen aber ebenso auf spezielle Verästelun-gen, die wiederum allgemeine Ansichten wie die der Energieerhaltungstützen, und somit schließlich globalen, holistischen Charakter anneh-men. Dem können wir in der Praxis nicht tatsächlich in allen Einzelhei-ten nachgehen, sondern wir können gegebenenfalls darauf verweisen,daß unser Meinungssystem so kohärent ist, daß es solchen Nachprüfun-gen standhalten würde, führte man sie weiter. Hier sind wir gezwungen,uns direkt auf die globale Kohärenz und Geschlossenheit unseres Wissenszu berufen.93 Auch für deduktive Beziehungen gilt daher, daß sich zwarlokal feststellen läßt, ob sie bestehen, aber welche epistemische Kraft sieübertragen, kann letztlich nur im Rahmen einer Bestimmung der globa-len Kohärenz des ganzen Überzeugungssystems bestimmt werden. Dennauch für sie müssen wir ermitteln. welchen epistemischen Stellenwert ih-re Prämissen aufweisen.

Williams (1991, 276ff) unterscheidet dazu zwischen zwei Formenvon Kohärenz: relationaler und systematischer. Relationale Kohärenz ei-ner Aussage mit einem Überzeugungssystem betrifft die Frage, wie kohä-rent sich die Aussage (lokal) in dieses System einfügt, während es in dersystematischen Kohärenz eines Überzeugungssystems darum geht, wiekohärent dieses System als Ganzes ist. Eine Kohärenztheorie der Recht-fertigung wird sich im allgemeinen auf diese beiden Formen von Kohä-renz stützen müssen, um den globalen Aspekten von Begründungenebenso gerecht werden zu können wie den lokalen. Ein Überzeugungssy-stem hat dabei um so größere rechtfertigende Kraft, je größer die Kohä-renz der Überzeugungen dieses Systems untereinander ist, während diespezielle Rechtfertigung einer bestimmten Aussage davon abhängt, wiesehr gerade sie von diesem System begründet wird, wie (relational) ko-

93 Wir müssen uns etwa darauf berufen, daß wir uns nicht in einem Subsy-stem (s. (3b) von KTR in Abschnitt (IV.F) unseres Überzeugungssystems bewe-gen.

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härent sie also in das System hineinpaßt und zur (systematischen) Ge-samtkohärenz beiträgt.

Die beiden Formen von Kohärenz hängen natürlich in systematischerWeise zusammen, was in meiner Explikation von Kohärenz auch zumAusdruck kommen wird. Bevor ich einen eigenen Vorschlag dafür vor-trage, möchte ich aber noch einen Blick auf drei andere prominente Ko-härenzkonzeptionen werfen und zusehen, wie es ihnen gelingt, die un-terschiedlichen Aspekte von Kohärenz zusammenzufügen.

Zur Vorsicht sei noch angemerkt, daß es natürlich falsch ist, den ho-listischen Aspekt von Rechtfertigungen und inferentiellen Zusammen-hängen zu übertreiben und womöglich in einer Formel wie: „Alles hängtmit allem zusammen“ oder „Alles hängt von allem anderen ab“ zu for-mulieren. Auch hier finden sich Grade des Zusammenhängens und invielen Fällen ist der Abstand von Aussagen so groß, daß man für vieleZwecke nicht mehr sinnvoll von einem Zusammenhang reden wird. Wieglobal bestimmte Zusammenhänge sind, kann auch nur für konkreteFälle festgestellt werden. In der Wissenschaftstheorie finden sich einigeModelle und Untersuchungen zu diesem Thema, die anhand konkreterFallstudien substantiellere Aussagen treffen können (s. z. B. Gähde 1983und 1989 oder Bartelborth 1993). Diesen Punkt werde ich für den wis-senschaftlichen Bereich im späteren Teil der Arbeit erneut aufwerfen.

D. Drei Kohärenzkonzeptionen

In (IV.A) sind die wesentlichen Komponenten einer Kohärenztheorie derRechtfertigung intuitiv besprochen worden, in (IV.B) habe ich darge-stellt, wie sich eine wichtiger Bereich unserer Erkenntnis, nämlich dieBeobachtungsüberzeugungen, in ihrem Rahmen unterbringen lassen undim vorigen Abschnitt wurde belegt, daß eine kohärentistische Rechtferti-gung immer wesentlich holistische Aspekte zu berücksichtigen hat. Es istnun an der Zeit, konkrete Vorschläge für Explikationen von „Kohärenz“daraufhin anzusehen, inwieweit sie diesen Anforderungen an Kohärenzgerecht werden. Zu diesem Zweck werde ich zuerst drei Konzeptionenvon Kohärenz genauer untersuchen, um danach einen eigenen Explikati-onsvorschlag vorzustellen.

Neben idealistischen Kohärenzvertretern wie Bradley oder Blans-hard, für die sich Wahrheit durch Kohärenz definieren ließ (s. dazu Re-scher 1982, 31ff) und analytischen Philosophen wie Sellars und Rescher,die erste Vorschläge für Kohärenzkonzeptionen vorlegten (die hier aller-

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dings nicht eigens betrachtet werden sollen), war es hauptsächlich KeithLehrer, der die Kohärenztheorie in diesem Jahrhundert hoffähig ge-macht hat.

1. Lehrers Kohärenztheorie

Lehrer hat seine Vorstellungen von Wissen und epistemischer Rechtferti-gung im Rahmen einer Kohärenztheorie in zahlreichen Artikeln und ei-nigen Büchern entwickelt. Im Vordergrund steht für ihn das Projekt ei-ner Wissensexplikation, aber in diesem Zusammenhang entwirft erebenfalls eine Theorie der Rechtfertigung. Diese enthält eine Reihe vonexternalistischen Elementen, die für mein Projekt nicht weiter beachtetwerden sollen. Hier steht daher seine Explikation von „personally justi-fied“, das sich ungefähr in mein „gerechtfertigt“ übersetzen läßt, imZentrum. Damit eine Überzeugung für ein Subjekt S gerechtfertigt ist,muß sie nach Lehrer mit dem Überzeugungssystem X von S kohärentsein. Lehrer spricht in diesem Zusammenhang von einem „acceptancesystem“ statt von einem Überzeugungssystem (s. a. II.C.1), aber für unse-re Zwecke können wir diese Unterscheidung vernachlässigen. Kohärenzist für Lehrer überwiegend negativ bestimmt als Reduktion von Konflik-ten (s. z. B. Lehrer 1990a, 231). So hat eine Proposition p sich für Leh-rer vor dem Hintergrundsystem X gegenüber allen Konkurrenten durch-zusetzen und diese aus dem Felde zu schlagen, um aufgrund von X ak-zeptiert zu werden. In Lehrers Terminologie: p hat alle Konkurrentenauf der Grundlage von X aus dem Felde zu schlagen oder zumindest zuneutralisieren, um akzeptiert zu werden. Dabei wird ermittelt, welchevon zwei konkurrierenden Annahmen relativ zu unserem Hintergrund-wissen plausibler ist, und diese dann akzeptiert, während die aufgetrete-nen Konkurrenten, die Konflikte in unser Überzeugungssystem brächten,abgewiesen werden.

Was damit in Lehrers Konzeption nicht auftritt, sind Anforderungenan die Kohärenz des Hintergrundwissens, die über Konsistenz oder Kon-fliktfreiheit für lokale Konkurrenten hinausgehen und positive Beziehun-gen zwischen den Meinungen verlangen. Gerade (IV.A.1) sollte zeigen,daß die Abwesenheit von Inkonsistenzen allein für Kohärenz bei weitemnicht ausreicht, und ebensowenig können in Lehrers lokaler Konzeptionder Reduktion von Konflikten die holistischen Zusammenhänge, wie siein (IV.C) angesprochen wurden, angemessen erfaßt werden. Lehrer ver-langt nämlich nicht, daß jede Aussage p des Überzeugungssystems durch

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zahlreiche positive Verbindungen in X verankert wird, die die Grundlagefür eine holistische Rechtfertigung von p bilden.

Sehen wir uns dazu kurz die Einzelheiten der Lehrerschen Konzep-tion unter diesen Gesichtspunkten an. Eine semiformale Explikation vonLehrers Begriffen findet sich an unterschiedlichen Stellen seines Werks(z. B. 1988, 341ff; 1990a, 232; 1990b, 148). Die folgende stammt ausLehrer (1990b, 148):

D1. A system X is an acceptance system of S if and only if X containsjust statements of the form, S accepts that p, attributing to S justthose things that S accepts with the objective of accepting that pif and only if p.

D2. S is justified in accepting p at t on the basis of system X of S at tif and only if p coheres with X of S at t.

D3. p coheres with X of S at t if and only if all competitors of p arebeaten or neutralized for S on X at t.94

D4. c competes with p for S on X at t if and only if it is more reason-able for S to accept that p on the assumption that c is false thanon the assumption that c is true, on the basis of X at t.

D5. p beats c for S on X at t if and only if c competes with p for S onX at t, and it is more reasonable for S to accept p than to acceptc on X at t.

D6. n neutralizes c as a competitor of p for S on X at t if and only ifc competes with p for S on X at t, the conjunction of c and ndoes not compete with p for S on X at t, and it is as reasonablefor S to accept the conjunction of c and n as to accept c alone onX at t.

D7. S is personally justified in accepting that p if and only if S is justi-fied in accepting that p on the basis of the acceptance system of Sat t.

Die erste Bestimmung beschreibt Lehrers Konzeption von „acceptancesystem“ als einem System von Aussagen, die man akzeptiert, weil mansie für wahr hält. Damit soll genau das für die Erkenntnistheorie rele-vante Merkmal von Überzeugungen herausgegriffen werden. In (D2) be-

94 In Lehrer (1990, 148) beginnt dieser Punkt mit einem Schreibfehler, eswird das Definiendum von D2 wiederholt, den ich im Sinn von Lehrer (1988,341) korrigiert habe.

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kennt sich Lehrer zur Kohärenztheorie in bezug auf epistemische Recht-fertigungen. (D3) ist die einzige Bedingung, die den Kohärenzbegriffselbst näher bestimmt, aber es wird nichts über die mögliche Kohärenzoder Inkohärenz des Hintergrundwissens X gesagt, sondern nur dar-über, ob p seine Konkurrenten besiegen kann. Daß dem Kohärenzkon-zept in dieser Theorie keine eigenständige Rolle zufällt, kann man daranerkennen, daß es in den restlichen Bestimmungen nicht mehr auftrittund relativ leicht zu eliminieren wäre. Wir müßten dazu nur die Bedin-gungen (D2) und (D3) zu einer neuen Bedingung zusammenziehen:

(D2’) S ist justified in accepting p at t on the basis of system X of S at tif and only if all competitors of p are beaten or neutralized for Son X at t.95

Kohärenz kommt damit eigentlich nicht wesentlich in dieser Definitionvor, sondern nur als im Prinzip überflüssiger Zwischenschritt von „justi-fied“ zu „beaten“ oder „neutralized“. Lehrers Vorstellung von Kohärenzerschöpft sich denn auch in der von relationaler Kohärenz von Aussagenzu einem System X. Globale oder systematische Kohärenz ist für Lehrerdagegen kein Thema.

Eine Aussage ist gerechtfertigt, wenn sie vor unserem Hintergrund-wissen vernünftiger ist als ihre möglichen Konkurrenten. Die eher tech-nischen Einzelheiten der Neutralisierung oder dem Schlagen von Kon-kurrenten sollen hier nicht untersucht werden, aber überraschend bleibt,daß Lehrer sich grundlegend auf das Konzept „vernünftiger vor unseremÜberzeugungssystem X“ stützt, ohne es weiter zu erläutern, obwohl daskeineswegs aussichtslos erscheint. Derartige Bewertungen weiter aufzu-schlüsseln ist gerade eine wesentliche Aufgabe, der Kohärenztheorie. Au-ßer dem Hinweis, daß man „vernünftiger“ nicht mit „wahrscheinlicher“identifizieren dürfe, weiß Lehrer aber nicht viel zu diesem Konzept zusagen und führt es als einen Grundbegriff ein. Der für Kohärenz sicherwichtige Begriff der Konkurrenz von Aussagen leidet dann auch darun-ter, anhand eines zu ihm eng benachbarten Grundbegriffs definiert zuwerden.

Lehrers Beschränkung auf relationale Kohärenz, die auch nur als einim Prinzip überflüssiger Zwischenschritt auftritt, läßt erkennen, daß essich überhaupt nicht um eine genuine Kohärenztheorie handelt. Die Kon-kurrenz von Aussagen in unserem Meinungssystem ist sicher ein Phäno-

95 Böse Zungen könnten damit den ursprünglichen Schreibfehler bei Leh-rer in (D3) erklären, denn die dort formulierte Bedingung entspricht gerade(D2').

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men, das die Kohärenz des Systems bedroht, aber dabei handelt es sicheben nur um einen Aspekt von Kohärenz. Die Vermeidung von Konflik-ten kann niemals auf positive Weise erschöpfend darstellen, worin Kohä-renz besteht. Sehen wir uns als nächstes die Konzeption eines Konkur-renten von Lehrer an, der sich bemüht, die globalen Aspekte von Kohä-renz zu berücksichtigen.

2. BonJours Theorie der Rechtfertigung

In den letzten Jahren stand zunehmend die Kohärenztheorie von Lau-rence BonJour im Interesse der Erkenntnistheoretiker. Neben der Tatsa-che, daß BonJour sich als einer von wenigen bemüht, eine originäre Ko-härenztheorie in einem realistischen Rahmen zu entwickeln, scheint mirinsbesondere seine recht überzeugende Behandlung von Wahrnehmun-gen (s. IV.B), die häufig eher eine Schwachstelle von Kohärenztheoriendarstellte, der Grund für dieses Interesse zu sein. In BonJours Kohärenz-theorie spielt die systematische Kohärenz (allerdings ohne dort diesenNamen zu tragen), eine wichtige Rolle. Für ihn (BonJour 1985, 92)96

hängt im Unterschied zu Lehrer die Rechtfertigung einer Überzeugungdurch ein System von Überzeugungen wesentlich von der globalen Kohä-renz dieses Systems ab. Er hat in (1985, 93ff) sein Konzept von Kohä-renz vorgelegt, das er mit einer intuitiven Charakterisierung von Kohä-renz einleitet, die noch einmal deutlich macht, in welcher Richtung ersucht.

What then is coherence? Intuitively, coherence is a matter of howwell a body of belief „hangs together“: how well its component be-liefs fit together, agree or dovetail with each other, so as to producean organized, tightly structured system of beliefs, rather than eithera helter-skelter collection or a set of conflicting subsystems. It is rea-sonably clear that this „hanging together“ depends on the varioussorts of inferential, evidential, and explanatory relations which ob-tain among the various members of a system of beliefs, and espe-cially on the more holistic and systematic of these.

So deutlich und klar BonJour seine Vorstellung von Kohärenz auch for-muliert, so bleibt er doch in der Ausformulierung seiner Theorie an eini-gen Stellen enttäuschend. Schon daß er nicht klar zwischen relationalenund systematischen Aspekten der Kohärenz unterscheidet und viele Ko-

96 Eine kürzere Vorfassung erschien 1976 und ist in 1987 ins Deutscheübersetzt worden.

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härenzforderungen ausgesprochen vage bleiben, da es die in ihnen ver-wendeten Grundbegriffe sind. BonJour (1985, 94) entschuldigt sich fürdiese Defizite seiner Theorie damit, daß sie nicht nur seine Erkenntnis-theorie betreffen, sondern auch alle Konkurrenzprodukte, die seinesErachtens ebenfalls auf ein Kohärenzkonzept angewiesen sind. Das magwohl stimmen, denn auch die fundamentalistischen Theorien kennennicht nur basale Meinungen, sondern auch nichtbasale, die einer infe-rentiellen Rechtfertigung bedürfen. Aber erstens gibt es die Ausgestal-tungen der Induktionslogik oder neueren epistemischen Logik, die mitsehr viel präziseren Konzeptionen aufwarten und außerdem bleibt natür-lich gerade für eine Kohärenztheorie die berechtigte Forderung beste-hen, genauer zu erfahren, was denn mit „Kohärenz“ gemeint ist. Bon-Jour (1985, 95ff) gibt uns dazu fünf Bedingungen für Kohärenz:

1. A system of beliefs is coherent only if it is logically consistent.

2. A system of beliefs is coherent in proportion to its degree of prob-abilistic consistency.

3. The coherence of a system of beliefs is increased by the presenceof inferential connections between its component beliefs and in-creased in proportion to the number and strength of such connec-tions.

4. The coherence of a system of beliefs is diminished to the extentto which it is divided into subsystems of beliefs which are rela-tively unconnected to each other by inferential connections.

5. The coherence of a system of beliefs is decreased in proportion tothe presence of unexplained anomalies in the believed content ofthe system.

Die erste Forderung ist insoweit unproblematisch, wie sie nur die allseitsanerkannte Forderung nach logischer Konsistenz für Kohärenz noch ein-mal beschwört. Allerdings ist sie so formuliert, daß Konsistenz für Kohä-renz eine conditio sine qua non wird. Enthält unser Überzeugungssystemauch nur eine Inkonsistenz, können wir danach nicht mehr von Kohä-renz sprechen. Diese Forderung an das ganze Überzeugungssystem ge-richtet erscheint mir zu stark, denn solche Inkonsistenzen finden sichdurchaus immer wieder in unseren Überzeugungen, und damit mußnicht das ganze System gleich vollkommen inkohärent sein. Wie sich In-konsistenzen logisch auf bestimmte Bereiche begrenzen lassen, z. B. an-hand parakonsistenter Logiken, ist jedoch ein kompliziertes technisches

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Problem, das entsprechenden Rekonstruktionen von Wissenssystemen inder epistemischen Logik vorbehalten bleibt.97

Man darf Inkonsistenzen allerdings auch nicht auf die leichte Schul-ter nehmen, wie das in der Wissenschaftsphilosophie manchmal befür-wortet wird. Ich bin kein Vertreter der Lakatosschen These, daß auch ge-nuin inkonsistente Theorien akzeptiert werden können. Lakatos Beispieldafür ist das Bohrsche Atommodell, das nur bei einer unangemessenenInterpretation intrinsisch inkonsistent erscheint (s. dazu Bartelborth1989). Inkonsistenzen führen also wesentlich zu Inkohärenz, diese In-konsistenzen sind trotzdem in vielen Fällen so zu begrenzen, daß sienicht automatisch das ganze Meinungssystem infizieren.

In der zweiten Bedingung möchte BonJour den Sonderfall von stati-stischen Aussagen behandeln, für den er Grade von Inkohärenz aner-kennt. Er denkt dabei z. B. an Fälle, in denen wir glauben, daß p, undzugleich glauben, daß p sehr unwahrscheinlich ist. Es ist klar, daß auchsolche Zusammenhänge eine gewisse Form von Inkohärenz in ein Aussa-gensystem bringen können. Die Besonderheiten statistischer Aussagenmöchte ich aber hier nicht weiter verfolgen.98

In seiner 3. Bedingung geht es schließlich um allgemeinere inferen-tielle Zusammenhänge in unserem Überzeugungssystem. Es scheint ein-leuchtend, daß mit ihrer Vermehrung und Verstärkung die Kohärenz desSystems zunimmt. Relativ offen bleibt aber, an welche Inferenzen Bon-Jour hier denkt — jedenfalls wenn man von Erklärungsbeziehungen ab-sieht. Ebenso offen bleibt, ob sich derartige Zusammenhänge einfachaufzählen lassen und was unter ihrer Stärke verstanden werden soll.Wenn man diese Vagheiten in Rechnung stellt, bietet die ganze Bedin-gung (3) nicht viel mehr als eine Umformulierung von BonJours intuiti-ver Position. BonJour nennt als einzig substantielle Form von Inferenzneben den logischen Beziehungen die Erklärungsbeziehung, die seinerMeinung nach aber nur einen Teil der inferentiellen Beziehungen aus-macht. In diesem Punkt, den ich in Abschnitt (IV.E.4) wieder aufgreife,schließt er sich Lehrer an.

Auch BonJours Ausführungen zum Erklärungsbegriff fallen letztlichunbefriedigend aus, denn er weiß dazu nur auf das Hempelsche DN-Konzept der Erklärung zu verweisen, und Hempels Bemerkung, daß essich bei Erklärungen um Deduktionen besonderer Art handelt, nämlichsolche, die zur systematischen Vereinheitlichung beitragen. Hier sieht

97 Schon Rescher (1982, 75ff) verweist auf die Notwendigkeit auch denFall inkonsistenter Aussagensysteme zu behandeln.

98 Siehe dazu auch den Anhang zu diesem Kapitel.

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BonJour zwar zu Recht eine enge Verbindung zum Kohärenzkonzept,aber in der gegenwärtigen Formulierung bleibt die dritte Forderung zuinhaltsleer, solange nicht weiter expliziert ist, was unter den „inferentiel-len Beziehungen“ und speziell der „Erklärung“ zu verstehen ist. Das giltum so mehr, wenn man in Rechnung stellt, daß das Hempelsche Erklä-rungsschema keine adäquate Explikation von „Erklärung“ liefert. Bon-Jour hat daher auch keine besonders gehaltvolle Konzeption von Verein-heitlichung anzubieten.

Zwar leidet die 4. Bedingung ebenfalls unter einer gewissen Vagheit,aber sie bringt immerhin einen hilfreichen und intuitiv verständlichenBegriff ins Spiel bringt, nämlich den des Subsystems. Ein Subsystem isteine Teilmenge des Überzeugungssystems mit relativ wenigen inferentiel-len Beziehungen zum Rest des System, so daß dadurch das ganze Systemnicht mehr zusammenhängend ist, sondern nahezu in Teilsysteme zer-fällt. Damit nennt BonJour einen wesentlichen Punkt für die globale Ko-härenz, denn es kommt dafür nicht nur darauf an, wieviele Erklärungs-beziehungen in dem System vorliegen, sondern auch, wie sie verteiltsind. Leider läßt uns BonJour hier im Stich, wie mögliche Beispiele aus-sehen könnten. Ohne mich auf die speziellen Beispiele festlegen zu wol-len, könnte man an Theorien wie das Kaffeesatzlesen als Prognosever-fahren oder vielleicht Theorien über Kobolde denken, die nur wenigeVerbindungen zu unserem übrigen Weltbild aufweisen. Unser Meinungs-system würde dadurch kohärenter werden, daß wir diese Theorien auf-geben, weil sie einen Fremdkörper in unseren Meinungssystemen dar-stellen, auch wenn sie in sich vielleicht so kohärent sind, daß jede ein-zelne Aussage des Subsystems einige inferentielle Rechtfertigungen auf-weist.99

Ein philosophisch interessantes Beispiel für ein Subsystem findet sichmöglicherweise in der Philosophie des Geistes. Falls die eliminativenMaterialisten Recht haben sollten, bilden unsere Überzeugungen über in-tentionale Zustände ein zunehmend isoliertes Subsystem, das nach ent-sprechenden Fortschritten der Neurophysiologie immer weniger Bezügezu unserem wissenschaftlichen Weltbild aufweist. Aus Kohärenzgründensollten wir es dann aus unserem Überzeugungssystem eliminieren. Da-von sind wir tatsächlich natürlich noch sehr weit entfernt, aber das Bei-

99 Es lassen sich sicher eine Reihe von interessanteren Beispielen aus ver-schiedenen Bereichen finden, aber die würden zugleich in kontroversere inhaltli-che Diskussionen führen, die an dieser Stelle unnötig erscheinen. Für wissen-schaftliche Theorien wird ihre Zerlegbarkeit in Subsysteme unter dem Stichwortder organischen Einheitlichkeit in (IX.E.8) noch einmal aufgegriffen.

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spiel offenbart, wie sich bestimmte wissenschaftliche Debatten in die Be-grifflichkeit der Kohärenztheorie übersetzen lassen und damit die in ih-nen enthaltene erkenntnistheoretische Fragestellung deutlicher wird.

Das Konzept des Subsystems scheint mir ein wichtiges begrifflichesHilfsmittel zur Charakterisierung von Rechtfertigungsstrukturen unsererMeinungssysteme zu sein, aber auch für seine Explikation ist man daraufangewiesen, genauer zu bestimmen, welche inferentiellen Verbindungenfür Kohärenz verlangt werden. Meines Erachtens handelt es sich nebender Forderung nach Konsistenz hauptsächlich um Erklärungsbeziehun-gen.

Das paßt gut zur fünften BonJourschen Forderung, die Erklärungsan-omalien für eine Abnahme von Kohärenz verantwortlich macht — leiderauch ohne diesen Begriff inhaltlich stärker zu füllen. Natürlich ist nichtjede Aussage, die von einer Theorie nicht erklärt wird, damit schon eineAnomalie für diese Theorie. In den Debatten um Kuhn wird dieser Be-griff verwandt und mit einigen Beispielen belegt, aber der inhaltlicheAspekt, der Anomalien zu Anomalien macht, ist meines Wissens auchdort nicht festgemacht worden. Das ist eine der vielen Aufgaben, dieeine Erklärungstheorie zu übernehmen hat und wird daher im wissen-schaftstheoretischen Teil der Arbeit behandelt (s. IX.H.1)

Mein Resümee zu BonJours Theorie lautet daher: Die Explikationder zentralen Begriffe wie „probabilistische Konsistenz“, „Anzahl undStärke“ inferentieller Beziehungen, „Erklärung“, „Subsystem“ und „Er-klärungsanomalie“ läßt noch zu viele Wünsche offen — ja zeigt nichteinmal, in welcher Richtung wir nach Präzisierungen suchen sollen —,um sich mit der BonJourschen Theorie zufriedengeben zu können. Ne-ben den Bedingungen zur logischen oder probabilistischen Konsistenzspricht BonJour zwar von inferentiellen Beziehungen, er kann aber nureinen Typ solcher Zusammenhänge konkret benennen, nämlich die Er-klärungsbeziehungen, die ihrerseits nur unbefriedigend expliziert wer-den. Außerdem machen sie nach BonJours Ansicht auch nur einen nichtnäher bestimmten Teil der inferentiellen Zusammenhänge aus. SeineKonzeption von Kohärenz bleibt damit an relevanten Stellen zu vage,um abschließend beurteilt werden zu können. Außerdem wirkt die Zu-sammenstellung der Bedingungen nicht immer systematisch, und es feh-len Hinweise auf ihren Zusammenhang.

Neben seiner Kohärenzkonzeption und seiner Vorstellung von nicht-linearer Rechtfertigung fügt BonJour seiner Rechtfertigungstheorie nochzwei weitere Bestimmungsstücke hinzu, seine „Doxastic Presumption“(1985, 101ff) und seine „Observation Requirement“ (1985, 141ff). Die

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„Doxastic Presumption“ habe ich in (IV.B.4) bereits besprochen. Es isteine Metaannahme BonJours über internalistische Rechtfertigungen, wo-nach Rechtfertigungen immer Rechtfertigungen unter der Voraussetzungsind, daß wir zumindest eine approximativ korrekte Vorstellung davonbesitzen, welche Meinungen wir haben. BonJours „Observation Require-ment“ ist ebenfalls eine Metaforderung an Kohärenztheorien, mit dersich BonJour gegen den Vorwurf zur Wehr setzen möchte, daß in seinerKohärenztheorie der Input, den unser Überzeugungssystem mittelsWahrnehmungen von außen erhält, nicht ausreichend berücksichtigtwird. Er formuliert diese Forderung:

(OR) Observation Requirement:[…] in order for the beliefs of a cognitive system to be even candi-dates for empirical justification that system must contain laws attrib-uting a high degree of reliability to a reasonable variety of cogni-tively spontaneous beliefs […]. (BonJour 1985, 141)

BonJour verlangt mit (OR) nicht, jedes kohärente System müsse auf em-pirischen Input bedacht sein. Aber er hält es für eine geradezu analyti-sche Forderung, daß ein System, in dem man von empirischer Rechtferti-gung durch Kohärenz spricht, bestimmte Wahrnehmungen als Input aus-zeichnen muß. Er läßt dabei jedoch offen, was von einem solchen Sy-stem jeweils als Input betrachtet wird. Darüber haben die entsprechen-den Theorien des betreffenden Systems anhand von Kohärenzüberlegun-gen zu befinden. Er sieht es – im Unterschied zu den Empiristen – nichtals eine Aufgabe einer Theorie der Rechtfertigung an, ein für allemalfestzulegen, was als vertrauenswürdiger Input zu gelten hat und wasnicht. Das paßt auch besser zu unserer differenzierteren Konzeption vonWahrnehmungen, die in unterschiedlichem Ausmaß zuverlässig sind, undunserer empirischen Forschung, die ermittelt, wie zuverlässig welche Be-obachtungen sind. Unter entsprechenden Umständen könnten es sogarreligiöse Erleuchtungserlebnisse sein, die uns Input von der Welt vermit-teln. Auch das wird von (OR) nicht a priori ausgeschlossen. (OR)scheint damit eine plausible Metaforderung für empirische Rechtferti-gung zu sein, die keine zu starken inhaltlichen Forderungen in die Er-kenntnistheorie hineinträgt. Trotzdem werde ich mich einer anderenMetaforderung zuwenden, die meines Erachtens noch kanonischer ineine Kohärenztheorie paßt (s. V.A.3).

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3. Thagards Theorie der Erklärungskohärenz

Thagards Kohärenzkonzeption der Rechtfertigung (z. B. in 1989 und ineiner Weiterentwicklung 1992, Kap. 4) ist die von unseren Beispielenam weitesten ausgearbeitete und wurde bereits in zahlreichen Anwen-dungen erprobt. Er nimmt den Begriff der Erklärung als Grundbegriffund bestimmt, wie sich daraus ein zumindest komparativer Begriff vonErklärungskohärenz ergibt, wenn man die Erklärungsbeziehungen einesAussagensystems als bekannt voraussetzt. Diese Voraussetzung ist in derPraxis nicht unbedingt problematisch, weil wir oft relativ klare Vorstel-lungen davon haben – zumindest in den wissenschaftlichen Beispielen,die Thagard vorwiegend untersucht –, wo Erklärungsbeziehungen vor-liegen. Für eine metatheoretische Explikation von epistemischer Recht-fertigung bleibt hingegen der Wunsch bestehen, ebenfalls über eine prä-zise Theorie zu verfügen, was man unter Erklärung verstehen soll, zumalThagard selbst auf die vielen konkurrierenden Ansätze in der Diskussionum wissenschaftliche Erklärungen hinweist.

Man muß bei Thagard zwischen zwei Formen unterscheiden, in de-nen er seine Theorie präsentiert. Die eine ist seine Theorie der Erklä-rungskohärenz, die in einer Reihe von semiformalen Prinzipien erläutert,worin Erklärungskohärenz besteht. Die andere ist sein auf der Grundla-ge dieser Theorie entworfenes konnektionistisches Computerprogrammnamens ECHO, das die Prinzipien seiner Theorie in ein Programm um-setzt, mit dem sich die Kohärenz von Aussagenmengen bestimmen läßt.Mit Hilfe dieses Programms war es Thagard möglich, seine Kohärenz-theorie auf eine Reihe konkreter Beispiele anzuwenden, für die sichplausible Ergebnisse einstellten (s. Thagard 1992). Hauptsächlich analy-sierte er mit ECHO und einer Theorie begrifflicher Revolutionen histori-sche Fälle von wissenschaftlichen Revolutionen sowie die Beweisführungin verschiedenen Mordprozessen (Thagard 1989, 450ff). In beiden Typenvon Anwendungen geht es darum, daß konkurrierende Theorien oderHypothesen anhand von entsprechenden Daten gegeneinander abzuwä-gen sind. Nach Thagard läßt sich dieser Vorgang als ein Vergleich der in-ternen Kohärenz des Komplexes aus Daten und Theorien auf derGrundlage der vorliegenden Erklärungsbeziehungen verstehen. Aus derSicht der naturalistischen Methodologie sind die vielen erfolgreichenAnwendungen von ECHO eine Stützung der Sichtweise, daß Erklärungs-kohärenz unser entscheidender Wahrheitsindikator ist. Ich möchte michhier aber ganz auf die Diskussion von Thagards Theorie und nicht dieseines Programms konzentrieren. Er schlägt in seiner Theorie siebenPrinzipien vor, die angeben, wie Kohärenz aus Erklärungsbeziehungen

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entsteht. Die Prinzipien für Aussagen P, Q und ein Aussagensystem S lau-ten:

Principle 1. Symmetry.(a) If P and Q cohere, then Q and P cohere.(b) If P and Q incohere, then Q and P incohere.

Principle 2. Explanation.If P1…Pn explain Q, then:(a) For each Pi in P1…Pn, Pi and Q cohere.(b) For each Pi and Pj in P1…Pn, Pi and Pj cohere.(c) In (a) and (b) the degree of coherence is inversely proportionalto the number of propositions P1…Pn.

Principle 3. Analogy.If P1 explains Q1, P2 explains Q2, P1 is analogous to P2, and Q1 isanalogous to Q2, then P1 and P2 cohere, and Q1 and Q2 cohere.

Principle 4. Data Priority.Propositions that describe the results of observation have a degree ofacceptability of their own.

Principle 5. Contradiction.If P contradicts Q, then P and Q incohere.

Principle 6. Competition.If P and Q both explain a proposition Pi, and if P and Q are not ex-planatory connected, then P and Q incohere. Here P and Q are ex-planatory connected if any of the following conditions holds:

(a) P is part of the explanation of Q.(b) Q is part of the explanation of P.(c) P and Q are together part of the explanation of some

propositions Pj.

Principle 7. Acceptability.(a) The acceptability of a proposition P in a system S depends on itscoherence with the propositions in S.(b) If many results of relevant experimental observations are unex-plained, then the acceptability of a proposition P that explains only afew of them is reduced.(Thagard 1992, 66; Vorgängerversion 1989).

Zunächst fällt auf, daß Kohärenz für Thagard eine Relation zwischeneinzelnen Aussagen darstellt und nicht eine Eigenschaft des ganzen Sy-

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stems von Aussagen. Die quantitative Umsetzung seiner Theorie im Pro-gramm ECHO zeigt aber, wie dabei durchaus holistische Phänomeneauftreten und berücksichtigt werden können. Billigen wir ihm diese Be-schränkung auf einzelne Propositionen also zunächst einmal zu. Das er-ste Prinzip der Symmetrie ist wohl als Bedeutungspostulat für den Kohä-renzbegriff zu verstehen und in dieser Form kaum kontrovers. Sein Ein-satz in einer Theorie der Rechtfertigung bringt im Rahmen der Gesamt-theorie die bereits erwähnte Reziprozität von Rechtfertigungsbeziehun-gen zum Ausdruck. Auffallend ist nur, daß auch die Inkohärenz eigenserwähnt wird. Würde er Inkohärenz mit der Abwesenheit von Kohärenzidentifizieren, genügte eigentlich schon Bedingung (1a), da (1b) keinebesonders interessanten zusätzlichen Informationen böte. Inkohärenz istalso für Thagard vermutlich ein eigenständiges Konzept, auch wenn erdas nicht sehr explizit ausdrückt. Dieser Aufteilung in Kohärenz und In-kohärenz schließe ich mich später an. Umgekehrt läßt sich das auch soausdrücken: Kohärenz ist nicht gleich Abwesenheit von Inkohärenz.Hier schien gerade Lehrers Fehler zu liegen, denn es geht ihm nur umdie Beseitigung der Inkohärenzen eines Systems.

In (2a) bringt Thagard die schon in (IV.A) untersuchte Überzeugungzum Ausdruck, daß eine Erklärungsbeziehung eine Beziehung zwischenExplanandum und Explanans darstellt, die rechtfertigend wirkt. (2b) istdagegen neu. Danach kohärieren zwei Propositionen, wenn sie gemein-sam zu einem Explanans gehören. Thagard nennt sie „Kohypothesen“.Das läßt sich z. B. als eine eingeschränkte Form einer Transitivitätsforde-rung für Kohärenz verstehen, denn Pi kohäriert mit Q und Q mit Pj undes wird verlangt, daß im Falle, wo die Kohärenz aus einer entsprechen-den Erklärungsbeziehung resultiert, auch Pi mit Pj kohäriert.

Zunächst ist zu bemerken, daß diese Bedingung nur sinnvoll seinkann, wenn es gelingt, überflüssige Elemente aus Erklärungen zu elimi-nieren, weil sonst folgender Fall auftreten könnte. Nehmen wir an, Herklärt E. Gilt dann automatisch auch, daß H&F mit beliebigem F E er-klärt, wie das z. B. für das DN-Schema der Erklärung der Fall ist, sowird damit Kohärenz für nahezu beliebige Aussagen behauptet. Unteranderem an diesem Punkt zeigt sich eine Abhängigkeit der Thagard-schen Kohärenztheorie von einer speziellen Erklärungskonzeption. Inder Erklärungsdebatte hat es sich bekanntlich als ein ernstzunehmendesProblem erwiesen, irrelevante Bestandteile in Erklärungen als solche zubrandmarken.

Thagard (1992, 67) beruft sich auf die tatsächlich gegebenen Erklä-rungen, in denen solche überflüssigen Bestandteile nicht vorkommen

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sollen. Das ist aber ein Schachzug, der für uns nicht in gehaltvoller Wei-se erhellt, warum bestimmte Aussagen in Erklärungen überflüssig sindund somit nicht mit anderen Aussagen des Explanans kohärieren. Eineallgemeine Transitivitätsbedingung mit einer gewissen Abschwächungder Kohärenz scheint auf den ersten Blick nicht unplausibel, aber die Be-ziehung von Kohypothesen und ihre Auszeichnung vor anderen transiti-ven Kohärenzbeziehungen verlangt nach einer weitergehenden Begrün-dung. Hierzu wäre die Angabe von Beispielen hilfreich, zumal diesenicht immer die Thagardsche Behauptung zu bestätigen scheinen. DieNewtonsche Mechanik erklärt zusammen mit gewissen Anfangswertenwarum die Sonne heute dort steht, wo sie steht. Wird dadurch aber eineKohärenzbeziehung zwischen Newtonscher Mechanik und den Anfangs-werten sichtbar? Das ist nicht unmittelbar einleuchtend, besonders da essich um Aussagen ganz verschiedener Bereiche handelt, und ThagardsHinweis (1992, 67) auf die Duhem/Quine These hilft an dieser Stelleauch nicht weiter. Man könnte eher vermuten, daß Kohypothesen wohlnicht inkohärent sind, aber sollte nicht mehr erwarten.

Die Bedingung (2c) gibt ein Kriterium zur Beurteilung der Güte ei-ner Erklärung von Q an. Die Idee dahinter ist, daß eine Erklärung, dieviele Hilfshypothesen eventuell mit ad hoc Charakter benötigt, schlech-ter ist, als eine Erklärung, die mit weniger Zusatzannahmen auskommt.Das ist intuitiv nachvollziehbar, setzt jedoch voraus, daß es möglich ist,Hilfshypothesen in geeigneter Weise zu zählen, was sich bei Explikati-onsversuchen (s. IX.A) als problematisch erwies. Ich möchte eine weiter-gehende Diskussion dieser Forderung auf den Teil der Arbeit vertagen,der mit der Ausarbeitung einer Erklärungstheorie befaßt ist. Der drittePunkt betrifft schließlich die analogen Erklärungen, die ebenfalls in derAusarbeitung der Erklärungstheorie auf dem Programm stehen und be-reits in Abschnitt (IV.A.6) angesprochen wurden. Im Rahmen einer Er-klärungstheorie und einer formalen Analyse von Analogiebeziehungenwerde ich mich später der Thagardschen Ansicht, daß auch sie kohä-renzstiftend sind, anschließen.

Prinzip (4) ist eine Umsetzung von BonJours Metaforderung (OR) (s.voriger Abschnitt) auf der Objektebene. Diese Forderung ist besondersin der Thagardschen Formulierung nicht unproblematisch, wie die Über-legungen zu BonJours „Observation Requirement“ schon nahelegen.BonJour hat sich in seiner Erkenntnistheorie mit gutem Grund nicht aufAussagen einer bestimmten Art als Input, der epistemisch auszuzeichnenist, festgelegt. Thagard tut das aber in (4), denn unter „observation“muß man hier das verstehen, was wir üblicherweise mit „Beobachtung“

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meinen, weil (4) in unserer Sprache – der Metasprache, in der wir überdas in Rede stehende Meinungssystem sprechen – formuliert ist. Damitbleibt nicht mehr der Spielraum für eine Auszeichnung von Beobachtun-gen oder Input unterschiedlicher Art innerhalb des Überzeugungssystemswie das bei BonJour der Fall ist. Welche Theorie der Wahrnehmung ambesten ist, ist aber eine Frage der jeweiligen Objekttheorien und nicht ei-ner Metatheorie wie der Erkenntnistheorie. Wollte Thagard diesen inne-ren Spielraum des Objektsystems mit seiner Formulierung auch zugeste-hen, müßte „Beobachtung“ in (4) zumindest wie in dem jeweiligen Über-zeugungssystem verstanden werden. Das wäre allerdings eine unschöneVermengung der Objektebene des Systems mit der Metaebene von deraus das betreffende Überzeugungssystem beschrieben wird und sollte an-ders formuliert werden. Statt die Forderung (4) unter die Regeln des Sy-stems aufzunehmen, sollte Thagard daher besser den Weg von BonJourbeschreiten, eine entsprechende Metaregel anzufügen. Allerdings besagtThagards 4. Prinzip nicht, daß nicht auch Beobachtungen als irrtümlichzurückgewiesen werden können. Seine Anwendungen seiner Theorie an-hand von ECHO zeigen das ganz deutlich.

Wie schon beim 2. Prinzip fällt also für sein 4. Prinzip wieder einegewisse Inhomogenität – um nicht zu sagen Inkohärenz – des Regelsy-stems von Thagard auf. Im Hinblick auf sein Ziel, die Regeln in einemProgramm zu implementieren, ist das verständlich, denn dafür benötigter Regeln erster Stufe, die sich möglichst direkt in entsprechende Pro-grammanweisungen umsetzen lassen. Aber für eine Explikation von Ko-härenz und einer Kohärenztheorie der Rechtfertigung wäre eine syste-matischere Anordnung der Prinzipien, die ihren Status und Zusammen-hang erkennbarer macht, wünschenswert gewesen.

Im 5. Prinzip gibt Thagard Inkonsistenz, worunter auch analytischeInkonsistenz zu verstehen ist, als Grund für die Inkohärenz zwischenzwei Aussagen an. Diese Bedingung dürfen wir wieder als einen ver-steckten Hinweis betrachten, die Bedingungen für Kohärenz von denenfür Inkohärenz abzutrennen. Inkohärenz wird nicht einfach als Abwe-senheit oder Negation von Kohärenz betrachtet wird, sondern als Phä-nomen mit eigenen Aspekten (s. dazu IV.F). Außerdem wird spätestensan dieser Stelle sichtbar, daß Thagards Konzeption, Kohärenz und Inko-härenz nur in bezug auf zwei Aussagen statt auf ganze Systeme zu bezie-hen, unzureichend ist. Z. B. die drei Aussagen a, ab und ba sindpaarweise logisch konsistent, aber als System inkonsistent, da sich offen-sichtlich die Kontradiktion aa daraus ableiten läßt. Dieser einfache

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Fall eines inkonsistenten Systems von Aussagen findet in der Regel (5)noch keine Berücksichtigung.

In (6) behauptet Thagard, daß Aussagen aus konkurrierenden Erklä-rungen inkohärent sind, falls nicht besondere Bedingungen vorliegen.Sein Beispiel dafür sind zwei konkurrierende Erklärungen für das Aus-sterben der Dinosaurier. Die eine führt es auf eine Kollision der Erdemit einem Meteoriten zurück, während die andere ein Absinken desMeeresspiegels dafür verantwortlich macht. Aber selbst in Thagards Bei-spiel wird nicht deutlich, weshalb diese beiden Annahmen inkohärentsein sollen. Zunächst einmal gibt es die Möglichkeit, daß beide Effektezusammen wirksam waren, die durch die Erklärungen jeweils nicht aus-geschlossen wird. Aber auch wenn nur eine Erklärung richtig ist, könnendoch beide erklärenden Hypothesen friedlich nebeneinander bestehenbleiben. Nur die Erklärungen selbst können in diesem Fall nicht gleich-zeitig akzeptiert werden. Die Inkohärenz besteht dann zwischen denAussagen:

(1) „Die Kollision mit einem Meteoriten erklärt das Aussterben derDinosaurier“ und

(2) „Das Absinken des Meeresspiegels erklärt das Aussterben derDinosaurier“.

Doch damit ist noch nicht begründet, daß auch die Aussagen

(a) „Die Erde ist mit einem Meteoriten zusammengestoßen.“ und(b) „Der Meeresspiegel ist abgesunken.“

nicht zusammenpassen. Nehmen wir an, (1) sei richtig und (2) falschund wir hätten auch gute Gründe für diese Ansicht. Dann ist damit le-diglich ein Hinweis auf die Wahrheit von (b) weggefallen, der in einemSchluß auf die beste Erklärung des Dinosauriersterbens bestanden hätte.D.h. noch nicht, daß wir nun über positive Gründe gegen (b) verfügten.Für (b) könnten Gründe anderer Art sprechen, die von unserer Entschei-dung für Erklärung (1) nicht berührt werden. Der Wegfall einer Bestäti-gung von (b) auf dem Wege über (2) ist aber bereits mit Thagards Prin-zip 2 erfaßt worden.100 Thagards Prinzip (6) ist also in seiner gegenwär-tigen Form nicht plausibel zu vertreten, zumal in dem untersuchten Ge-

100 Ein anderer Punkt mit dem Thagard sich an dieser Stelle auseinanderzu-setzen hätte, der nicht in offensichtlicher Weise durch seine Bedingungen (6a)oder (6b) abgedeckt ist, ist der der äquivalenten Beschreibungen oder Erklärun-gen, die in bestimmten Fällen sogar ein und dieselbe Theorie nur auf verschiede-nen Ebenen liefern. Für Beispiele s. Bartelborth (1993a).

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genbeispiel keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß eine seiner Aus-nahmebedingungen (6a)-(6c) erfüllt ist. Nebenbei beruht die Bedingung(6c) auf Bedingung (2b), die ich bereits kritisiert hatte.

An diesem Punkt zeigt sich wiederum, daß es sinnvoll sein kann, Be-dingungen für Kohärenz und solche für Inkohärenz getrennt zu betrach-ten. Die Aussagen (1) und (2) erscheinen inkohärent, aber für die Aussa-gen (a) und (b) gilt das nicht, denn alles was passiert ist, daß (b) Schwä-chung seiner kohärenten Einbindung in S erfährt. Das allein kann manwohl kaum als Inkohärenz bezeichnen. Auf die Trennung von Bedingun-gen für Kohärenz und Inkohärenz werde ich deshalb in (IV.F) erneut ein-gehen.

Thagard hat natürlich Recht mit folgender Behauptung: Es dürftekaum zu bestreiten sein, daß wirklich konkurrierende Erklärungen eineInkohärenz für ein Überzeugungssystem mit sich bringen, doch es istauch nicht einfach, solche echten Konkurrenzen von friedlich koexistie-renden Erklärungen zu unterscheiden, und es ist nicht ersichtlich, daßdie Bedingungen (6a) - (6c) diese Abgrenzung leisten können. Es kannverschiedene Erklärungen für ein Ereignis aus verschiedenen Perspekti-ven geben, die nicht gegeneinander ums Wahrsein antreten. Lehrer ver-sucht gerade diesen epistemisch entscheidenden Punkt, wann eine Kon-kurrenz ums Wahrsein vorliegt, ins Zentrum seiner Explikation von „ccompetes with q“ für Aussagen c und q zu stellen, doch Thagard scheintdazu noch keinen Verbesserungsvorschlag anbieten zu können.

Ein Autounfall kann etwa vom Verkehrspolizisten anhand einer Ge-schwindigkeitsübertretung, vom Psychologen anhand von Ermüdung desFahrers, vom Automechaniker aufgrund der abgenutzten Bremsbelägeusw. erklärt werden, ohne daß eine dieser Erklärungen einer anderen ihrWahrsein streitig machen müßte. Viele Faktoren sind vielleicht zusam-mengekommen und jede kausale Erklärung greift nur bestimmte Ursa-chen heraus. Oder wir werden mit genetischen und synchronischen Er-klärungen konfrontiert, die auch beide zusammen wahr sein können.Wenn wir einen Pazifisten fragen, warum er sich weigert, in der Armeezu dienen, kann er auf der einen Seite erzählen, wie seine Eltern ihn da-zu erzogen haben, bis er ein entsprechendes Verhalten internalisierthatte, was dann ganz natürlich in seine Verweigerung mündete. Oder erkann seine Überzeugungen anführen, daß es unter allen Umständen un-moralisch ist, einen anderen Menschen zu töten und man als Soldatprinzipiell zum Töten bereit sein sollte, was ihn zur Verweigerung veran-laßt hat. Beide Erklärungen können zusammen richtig sein. ThagardsBedingung (6) schafft es nicht, auf informative Weise epistemische Kon-

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kurrenz zu charakterisieren. Eine Erklärungstheorie hat genauer zu be-stimmen, wann tatsächlich konkurrierende Erklärungen in einem enge-ren Sinn vorliegen, der auch epistemische Konkurrenz der verschiedenerErklärungen beinhaltet. Für eine realistische Auffassung der Welt gehörtauf jeden Fall dazu, daß die unterschiedlichen Erklärungsmodelle zusam-menpassen, d.h. sich in ein übergeordnetes Modell einbetten lassen (s.dazu Bartelborth 1994a).

Überhaupt kann man Thagards Zusammenstellung von Prinzipiennicht als homogen bezeichnen. So mischt er z. B. in (2) Forderungen, dieangeben, wie sich Kohärenz aus Erklärungsbeziehungen ergibt, mit sol-chen, die eigentlich die Güte der Erklärungen betreffen, unter demsel-ben Prinzip. Außerdem wird durch das Fehlen von Kohärenz als einergenuinen Eigenschaft eines ganzen Systems von Aussagen Thagards Ko-härenzkonzeption unvollständig.

Thagards Prinzip (7) ist nicht eine weitere Charakterisierung vonKohärenz, sondern drückt den intendierten Zusammenhang zwischenKohärenz und Rechtfertigung oder in seinen Worten die Akzeptabilitäteiner Aussage P relativ zu einem System von Aussagen S aus. In (7b)wird dabei noch einmal – und wie mir scheint etwas unmotiviert – dieBedeutung von Beobachtungsdaten hervorgehoben. Das ist eigentlichüberflüssig, weil Beobachtungen schon im 4. Prinzip eine besondere Be-deutung für die Kohärenz verliehen wurde. Auch (7b) vermittelt dahereher den Eindruck eines gewissen Mangels an Geschlossenheit und Ein-heitlichkeit der angeführten Prinzipien. Trotzdem bleibt Thagards Vor-schlag als die bisher am weitesten ausgearbeitete Explikation von Kohä-renz ein wesentlicher Maßstab für folgende Kohärenztheorien, insbeson-dere für die hier vorgelegte, zumal auch in Thagards Vorschlag nebenrein logischen Beziehungen gerade Erklärungsbeziehungen als konstitu-tiv für Kohärenz betrachtet werden. Ehe ich einen eigenen Explikations-vorschlag vorstellen werde, der auch in dieser Richtung geht, möchteich vorweg noch einige Einwände gegen diese Konzeption von Kohä-renz, die Erklärungen ganz ins Zentrum stellt, entkräften.

E. Einwände gegen Kohärenz als Erklärungskohärenz

Die Besprechung verschiedener Kohärenzkonzeptionen hat ergeben, daßBonJour im Unterschied zu Lehrer eine genuine Kohärenztheorie ver-folgt, in der wesentlich ist, wie unsere Meinungen im Ganzen zusam-menhängen. Als einzige inhaltlich bestimmte Beziehung neben der Kon-

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sistenz, die eher den Rahmen absteckt, in dem wir nach Kohärenz su-chen können, weiß er aber nur Bedingungen zu nennen (4 und 5), diesich auf Erklärungsbeziehungen in dem System beziehen. Trotzdemstimmt er Lehrer zu, daß Erklärungsbeziehungen nur einen Teil der ko-härenzstiftenden inferentiellen Beziehungen ausmachen. Wie groß undbedeutsam dieser Anteil ist, wird leider nicht weiter untersucht. Harman(1986, 75) kommt dagegen zu dem Resümee, für Kohärenz sei Erklä-rungskohärenz eine wichtige Form von Kohärenz, vielleicht sogar dieeinzige, aber auch dort wird dieser Punkt nicht gründlicher diskutiert.Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Zunächst möchte ich eini-gen „Argumenten“ nachgehen, die besagen, daß Kohärenz nicht im we-sentlichen in Erklärungskohärenz besteht. Lehrer hat dazu drei Hauptar-gumente vorgetragen.

1. „Erklärung“ ist kein epistemischer Begriff

Lehrer übt in (1990b, 97ff) und (1974, 165ff) Kritik an der Hempels-chen Erklärungstheorie, nach der wissenschaftliche Erklärungen deduk-tive Ableitungen des Explanandums (des zu Erklärenden) aus einem Ge-setz und geeigneten Randbedingungen sind. Diese Kritik ist, wie wir imErklärungsteil der Arbeit noch sehen werden, berechtigt. Seine Schluß-folgerung, die sich hauptsächlich auf ältere fragetheoretische Analysenzur Erklärung von Sylvain Bromberger (1965) stützt, daß wir zur Expli-kation von „Erklärung“ wesentlich auf epistemische Konzepte angewie-sen sind, ist es aber nicht, was der letzte Teil der Arbeit ebenfalls demon-strieren wird. Hätte er mit seiner Vermutung recht, könnten allerdingsProbleme entstehen, wenn man – wie ich es hier vorschlage – den Be-griff der Rechtfertigung als grundlegenden Begriff der Erkenntnistheoriebetrachtet und ihn anhand von Kohärenz expliziert, aber den Kohärenz-begriff seinerseits anhand von „Erklärung“ genauer zu bestimmen sucht.Es wäre nicht besonders hilfreich, den Erklärungsbegriff selbst wiedermittels epistemischer Begriffe wie „Rechtfertigung“ klären zu wollen, dasonst ein Zirkel der Explikationen entstünde. Man könnte in diesem Fallsogar daran denken, ihn als nicht weiter erklärbaren Grundbegriff einzu-führen, wie es Lehrer (1990b, 98) oder Thagard vorschlagen.

Träfe Lehrers Schlußfolgerung für Erklärungen zu, erschiene dieserGedanke plausibel, wäre aber auch keineswegs selbstverständlich. Häu-fig genug ist das Ziel philosophischer Bemühungen die Aufklärungwechselseitiger Beziehungen zwischen verschiedenen Konzepten. EineExplikation, die komplexe analytische Verbindungen zwischen den Be-

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griffen „Rechtfertigung“, „Kohärenz“ und „Erklärung“ aufzeigt, ist da-her nicht einfach als zirkulär in einem fatalen Sinn einzustufen, sondernhöchstens nicht so informativ, wie man es sich erhofft hat. Auch hiersucht man eher nach einer naturalistischen Reduktion, die diese Begriffeauf nicht-normative „unproblematische“ Konzepte zurückführt. Obwohlder von Lehrer angedeutete Zirkel also nicht so folgenschwer wäre, wieLehrer annimmt, werde auch ich versuchen, eine informativere Konzep-tion von Erklärung vorzuschlagen, nach der die Güte von Erklärungennicht selbst wieder anhand epistemischer Begriffe bestimmt wird. Dazugibt es eine Reihe neuerer und ermutigender Vorschläge, so daß der Pes-simismus Lehrers in diesem Punkt wenigstens voreilig ist.

2. Sind Erklärungen interessenrelativ?

Erklärungen spielen nicht nur in Kohärenztheorien der Erkenntnis einewichtige Rolle, sondern auch in fundamentalistischen Theorien. Funda-mentalisten sind wie Kohärenztheoretiker auf Schlußverfahren wie denSchluß auf die beste Erklärung angewiesen, wenn sie beschreiben wol-len, wie sich unsere Theorien über die Welt anhand unserer basalenÜberzeugungen begründen lassen. Im Falle Mosers (s. III.B.5.b) sind so-gar die basalen Überzeugungen durch einen derartigen Schluß auf diebeste Erklärung zu begründen. Daher sind die Fragen, was eine Erklä-rung ist und was eine bessere Erklärung vor einer schlechteren auszeich-net, von generellerer erkenntnistheoretischer Bedeutung als nur zu be-stimmen, was unter Kohärenz zu verstehen ist.101 Ein allgemeines Argu-ment von Williams zur epistemischen Rolle, die Erklärungen überneh-men können, richtet sich dann auch gegen alle nicht kontextualistischen(objektiven) Vorstellungen von epistemischer Rechtfertigung.

Williams (1991, 279ff) gesteht der Erklärungskohärenz zwar eben-falls große Bedeutung für die Rechtfertigung zu, aber er glaubt, siekönne sie nur in einer kontextualistischen Theorie der Rechtfertigungübernehmen, weil Erklärungen niemals Erklärungen per se, sondern nurErklärungen in einem bestimmten Kontext sind. Das ist eine weiterewichtige Stelle, an der die Erkenntnistheorie eine grundlegende Abhän-gigkeit von unserer Erklärungstheorie aufweist. Ausgangspunkt der Wil-liamschen Überlegung ist – wie schon für Lehrers Zirkelvorwurf im letz-ten Abschnitt – eine Kritik am Hempelschen Erklärungsparadigma. Siezum Angriffsobjekt zu ernennen, erscheint gerechtfertigt, berufen sich

101 In der wissenschaftsphilosophischen Erklärungsdebatte wird dieserPunkt wieder zur Sprache kommen.

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doch Kohärenztheoretiker wie BonJour ganz unverblümt auf das DN-Schema. Williams gibt ein Beispiel vom Putnamschen Typ für seine An-sicht an, daß Erklärungen interessenrelativ sind:

I am in my office at exactly two o’clock one afternoon. This can bededuced from the fact that I was here a fraction of an instant beforetogether with the impossibility of my exceeding the speed of light.But does this deduction explain my presence in my office? We are in-clined to say not, because it is hard to see how the deduction couldrespond to any question anyone would normally ask. But strictlyspeaking, the question has no answer when put so baldly. Whether adeduction gives an explanation depends on our interests and back-ground knowledge: it depends on what we don’t know already andwhat, in particular, we want to know about the fact in question. Anexplanation is a response to a definite „why question.“ These con-textual considerations are not just pragmatic extras. Take them awayand there is no fact of the matter as to whether one proposition ex-plains another. (Williams 1991, 281)

Für Williams bestehen Erklärungsbeziehungen immer nur relativ auf einHintergrundwissen und bestimmte Interessen, die mit einer Warum-Fra-ge verknüpft sind. Die Relativierung auf ein bestimmtes Hintergrund-wissen ist zunächst kein Problem, denn auch Rechtfertigungen haben im-mer nur Bestand relativ zu dem Hintergrundwissen des epistemischenSubjekts. Problematischer wäre schon eine vollständige Relativierung aufbestimmte Interessen, die mit einer Warum Frage verbunden sind. HätteWilliams in diesem Punkte Recht, ließe sich die Erklärungskohärenz ei-nes Überzeugungssystems nicht als ein gegebener Wert betrachten, son-dern wäre stark davon abhängig, welche Interessen man in einer be-stimmten Situation hat. Damit hätte Williams zugleich recht, daß auchRechtfertigungen wesentlich von den kontextuellen, pragmatischen Be-dingungen abhingen, in deren Kontext sie gegeben würden. Einen derar-tigen Relativismus möchte ich nicht ohne Not akzeptieren und im letz-ten Teil der Arbeit werde ich daher eine Theorie der Erklärung ausarbei-ten, nach der Erklärungen nicht in diesem Sinn wesentlich interessenre-lativ sind.

Dazu werden wir später sehen, daß für die Frage, nach welchen Er-klärungen jemand sucht und welche Erklärungen ihn zufriedenstellen,natürlich die Frage, woran er Interesse hat und welches Hintergrundwis-sen er hat, einschlägig sind. Damit ist aber noch keineswegs gezeigt, daßErklärungen wesentlich interessenrelativ in einem interessanten Sinn des

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Wortes sind, obwohl diese Annahme inzwischen weit verbreitet ist. EineÜberlegung sei dazu vorweggenommen. Logische Beziehungen sind si-cher das Paradigma für Zusammenhänge, die nicht in einem wesentli-chen Sinn von pragmatischen Faktoren abhängig sind. Wenn p aus q lo-gisch folgt, so gilt das unabhängig davon, in welcher Situation ich michgerade befinde, oder wen ich gerade auf diesen Zusammenhang auf-merksam machen möchte. Trotzdem bleibt natürlich die Frage, welchelogischen Schlüsse ich aus meinen Überzeugungen ziehe, von meiner Si-tuation und meinen jeweiligen Interessen abhängig. So könnte mich derBeweis des Gödelschen Satzes kalt lassen, weil ich zur Zeit an anderenDingen interessiert bin. Das beeinträchtigt jedoch nicht seine Gültigkeit.Oder jemand beweist mir, daß sich aus meinen Überzeugungen zwin-gend ergibt, daß 2+2=4 gilt. Natürlich antworte ich ihm: Das ist fürmich uninteressant, denn das weiß ich schon. Doch wann ein Schlußeine Deduktion ist, hängt trotz der beschriebenen Phänomene nicht vonden Interessen irgendwelcher Personen ab. Es ist in diesem Sinn nichtsubjektiv.

Ähnlich sieht das für Erklärungen aus. Es gibt einen objektiven har-ten Kern der Erklärungsbeziehung, dessen Bestehen unabhängig von un-seren Interessen bleibt. Im Unterschied zu logischen Schlüssen kommthier allerdings zunächst noch hinzu, daß es mehr oder weniger gute Er-klärungen gibt, aber darüber hinaus gibt es, wie für Deduktionen, dasPhänomen, das uns manche Erklärungen schlicht nicht interessieren.Wenn der Pfarrer den Bankräuber fragt, warum er Banken ausraube –dies ist ein anderes Beispiel Putnams –, und jener antwortet, weil dortdas meiste Geld sei, so könnte der Pfarrer ihm erwidern: „Damit hastDu nicht meine Frage beantwortet, sondern eher die eines Deiner Kolle-gen. Ich wollte dagegen wissen, warum Du nicht ein gottesfürchtiges Le-ben geführt hast.“ Der Bankräuber lenkte vom Thema ab. Er hätte ge-nauso gut – wenn auch mit weniger Witz – erklären können, warum dieRotverschiebung vorliegt. In beiden Fällen hat er nicht auf die Frage desPfarrers geantwortet und die produzierten Erklärungen mögen zwargute Erklärungen auf andere Fragen sein, aber sie interessieren den Pfar-rer eben nicht. Dabei ist wieder nicht die Erklärungsgüte oder das Be-stehen einer Erklärungsbeziehung von unseren Interessen abhängig, son-dern nur, nach welchen Erklärungen ich gerade suche, ist interessenab-hängig. Der Bankräuber tut so, als ob er die Frage des Pfarrers nicht ver-standen hätte und antwortet auf eine andere Frage, obwohl sich die Artder Frage, aus dem Kontext und den offensichtlichen Interessen desPfarrers unschwer ermitteln ließ. Natürlich ist eine Antwort auf eine an-

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dere Frage als die gestellte unbefriedigend, aber das hat nichts mit einerangeblichen Interessenrelativität der Erklärungsbeziehung zu tun (Ge-naueres s. VIII.C.1).

3. Der Trivialitätsvorwurf

Ein anderes Problem, das Lehrer für die Erklärungskohärenz sieht, istdas der trivialen Immunisierung (1990b, 98f). Wenn wir erst einmalüber eine Theorie und einige Daten verfügen, die zusammen ein erklä-rungskohärentes System bilden, können wir es immer auf einfache Weisedadurch erklärungskohärent behalten, daß wir neue auftauchende Da-ten, also spontane Meinungen, die Beobachtungen wiedergeben, schlichtals falsch zurückweisen.

Obwohl Lehrer dieses Argument speziell gegen die Konzeption vonKohärenz als Erklärungskohärenz wendet, möchte ich zunächst erwäh-nen, daß es sich in analoger Form selbstverständlich auch gegen andereKohärenzkonzeptionen wenden läßt. Auch ihnen ließe sich vorwerfen,sie seien zu konservativ und in ihnen könnte man auf einfache Weise Ko-härenz beibehalten, indem man widerspenstige Aussagen, welcher Artauch immer, schlicht aufgibt. Sie könnten sich doch einfach mit einerschön zurechtgelegten Geschichte begnügen und alle anderen Meinun-gen einfach abweisen. Mit diesem Vorwurf hätte sich dann natürlichauch Lehrer in seiner eigenen Kohärenzkonzeption auseinanderzusetzen.Das Argument gehört daher genaugenommen nicht an diese Stelle, weiles sich nicht speziell gegen Kohärenz als Erklärungskohärenz richtet,sondern generell gegen Kohärenztheorien. Trotzdem möchte ich michschon hier damit beschäftigen, weil Lehrer es vor allem als einen Ein-wand gegen Erklärungskohärenz formuliert. Dieser Einwand erscheintmir weiterhin besonders interessant zu sein, weil er ein viel zu einge-schränktes Verständnis davon offenbart, was Kohärenz eines Überzeu-gungssystems bedeutet. Antworten auf diesen Einwand können daher alssinnvolle zusätzliche Erläuterungen des Kohärenzbegriffs und seiner An-wendung verstanden werden.

Der Kohärenztheoretiker kann auf zwei Punkte hinweisen. Der er-ste, den Lehrer für seine eigene Kohärenztheorie nicht genügend beach-tet, bezieht sich auf die Gesamtkohärenz eines Überzeugungssystems. Esmag zwar sein, daß sich auf die beschriebene triviale Weise ein kohären-tes System von Meinungen aufrechterhalten läßt, aber das zeigt nochnicht, daß die Kohärenzkonzeption nicht Änderungen in unserem Über-zeugungssystem gebietet. Es könnte nämlich sein, daß es eine alternative

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Theorie zu unserer Theorie gibt, die dieselben Beobachtungen und auchnoch die neuen widerspenstigen Beobachtungen besser erklärt als die al-te. Diese neue Theorie würde damit zu größerer Gesamtkohärenz führen,die wesentlich für Rechtfertigungen ist, und daher in einer genuinen Ko-härenztheorie besser gerechtfertigt sein als die alte. Wir müßten in die-sem Fall die alte Theorie zugunsten der neuen verwerfen. Der Triviali-tätseinwand läßt sich daher nicht in seiner bisherigen Form aufrechter-halten.

Allerdings könnte das eben beschriebene Verfahren immer noch zukonservativ sein. Wenn wir solange Beobachtungen einfach verwerfendürften, bis wir eine neue Theorie gefunden hätten, die sie auch zu er-klären gestattet, müßten wir unsere Rechtfertigungspraxis wohl merk-lich umstellen. Kohärenz und insbesondere Erklärungskohärenz beziehtsich aber nicht nur auf die einfachen Verhältnisse zwischen Daten undTheorien, sondern bezieht sich auf eine Reihe anderer Überzeugungenund Metaüberzeugungen (s. II.C.5.b) die gegen das triviale Verfahrensprechen. Da sind vor allem die epistemischen Metaüberzeugungen zunennen, die einen recht zentralen Status in unseren Überzeugungssyste-men einnehmen, die die spontan auftauchenden Beobachtungsaussagenals überwiegend verläßlichen Input in unser Überzeugungssystem einstu-fen. Viele epistemische Subjekte werden sogar sagen, daß sie die einziggehaltvolle Informationsquelle über die Welt sind. Beobachtungsüber-zeugungen zurückzuweisen steht daher im Widerspruch zu diesen Me-taüberzeugungen und bedarf spezieller Erklärungen, die uns sagen, war-um wir in bestimmten Fällen unseren Wahrnehmungen nicht vertrauensollten. Das wird in diesen Ausnahmefällen durch viele Theorien überunseren Wahrnehmungsapparat und unsere kausale Stellung in der Weltgedeckt. Erst wenn wir all diese Theorien aufgeben könnten und zu völ-lig anderen Ansichten über unsere Stellung in der Welt und die Entste-hung der laufend auftretenden Wahrnehmungsüberzeugungen kämen,ließe sich das genannte Immunisierungsverfahren anwenden. Dabeimüßten wir aber an ausgesprochen seltsame Personen denken, damitsich interne Kohärenz einstellte.

Neben dem Superempiristen könnte man sich vielleicht eine voll-kommen autistische Person vorstellen, die sich von ihrer Umwelt völligabgewandt hat und möglicherweise auf diese Weise sehr seltsame Auffas-sungen von ihrer Stellung in der Welt entwickelt hat. Nur sie könnte einsolch schlichtes Immunisierungsverfahren einsetzen. Sie könnte gegebe-nenfalls den Standpunkt des Solipsismus vertreten und jede Außenweltleugnen. Wenn es für sie aber überhaupt noch einen sinnlichen Kontakt

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zur Außenwelt gibt, treten weiterhin spontane Meinungen über Gegen-stände in ihr auf, die die interne Kohärenz ihrer Meinungen gefährden.Hat sie allerdings einen solchen Kontakt nicht mehr, kann Kohärenz tat-sächlich kein Wegweiser auf dem Weg zur Wahrheit mehr sein. Dochwer mit solch katastrophalen Startbedingungen anfängt, hat auch mitanderen Erkenntnistheorien keine Chance zu begründeten empirischenErkenntnissen zu gelangen. Auf derartige Fälle komme ich bei der Be-sprechung der skeptischen Hypothesen wieder zurück. Komplette Ab-schottungen in unserem kausalen Kontakt zur Welt bei einer kohärentenInnenperspektive können wir mit Hilfe einer Kohärenztheorie der Er-kenntnis also tatsächlich nicht aufdecken, ebensowenig wie uns andere(internalistische) Erkenntnistheorien dagegen versichern können. Mitderartig radikalen skeptischen Möglichkeiten kann man sich nicht aufdieser Ebene auseinandersetzen (s. dazu VI. B).

Es bleibt jedoch noch ein Aspekt des Lehrerschen Einwands zu be-sprechen. Die Kohärenztheorie funktioniert am plausibelsten für vollent-wickelte, normale und komplexe Überzeugungssysteme. Was bisher nochnicht angesprochen wurde, ist, ob sie auch deren Entstehung erklärenkann oder wenigstens damit verträglich ist. Diese Frage geht sicher überdas hinaus, was eine Erkenntnistheorie leisten muß, spielt aber dafür,wie kohärent sie sich in unsere metatheoretischen Modelle vom Er-kenntniserwerb einpassen läßt, eine Rolle. Einige Bemerkungen möchteich immerhin dazu machen. Natürlich geht es nicht in erster Linie dar-um, eine empirische Theorie vorzuschlagen, wie der Ausbau eines Über-zeugungssystems beim Menschen tatsächlich vonstatten geht, sonderneher darum, ein Modell anzugeben, wie ein solcher Aufbau mit Hilfevon Kohärenz überhaupt denkbar ist.

Das könnte ganz grob so aussehen: Wenn wir eine rudimentäre Spra-che erlernt haben, haben wir auch Beobachtungsüberzeugungen, diespontan in uns entstehen. Dazu entwickeln wir, zu Beginn sicher sehrimplizit, – vielleicht als eine Form von eingebautem Induktionsschluß –einige allgemeinere Hypothesen, die damit die Kohärenz erhöhen. Unse-re Theorien über die Welt werden dann langsam komplexer und die Da-tenmenge nimmt gleichzeitig zu. Thagard versucht in (1992, Kap. 10) ei-nige Hinweise zu geben, daß für die begriffliche Entwicklung des Kindesin einigen Punkten ähnliche Mechanismen der Kohärenzkonstitution amWerke sind wie für die von Wissenschaftlern, die er genauer studiert hat.Dazu bespricht er eine ganze Reihe neuerer Arbeiten aus der Entwick-lungspsychologie, die ermutigende Ansätze in dieser Richtung zu bietenhaben. Diese Ansätze in der Entwicklungspsychologie sollen nur ver-

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deutlichen, daß es für Kohärenzkonzeptionen keineswegs unverständlicherscheinen muß, wie solche reichhaltigen Meinungssysteme überhauptentstehen konnten. Wie die Entwicklungsgeschichten tatsächlich am be-sten zu charakterisieren sind, fällt allerdings in den Zuständigkeitsbe-reich der empirischen Psychologie.

4. Rechtfertigungen ohne Erklärung

Meine Vorstellung von Kohärenz schließt an die von Sellars und Har-man an, die vermuten, daß Kohärenz ausschließlich in Erklärungsbezie-hungen zu sehen ist. Dazu kommen für mich allerdings noch Forderun-gen nach logischer oder probabilistischer Konsistenz und entsprechen-den inferentiellen Zusammenhängen hinzu. Gegen diese Konzeptionsind die Einwände am schwerwiegendsten, die auf Fälle verweisen, indenen andere inferentielle Beziehungen Kohärenz stiften. Lehrer(1990b, 105f) diskutiert zwei Beispiele solcher Fälle.

Beispiel 1: Eine Eule sitzt auf einem Flaggenmast und eine Maus vormir am Boden. Wenn ich bestimmte Randbedingungen kenne, wiedie Höhe des Mastes und seine Entfernung von der Maus, kann ichmit Hilfe des Satzes von Pythagoras und den Randbedingungen dieEntfernung der Maus von der Eule als drei Meter betragend ablei-ten. Die Überzeugung, daß die Maus drei Meter von der Eule ent-fernt ist, ist damit zwar perfekt gerechtfertigt, aber es handelt sichdabei trotzdem nicht um eine Erklärungsbeziehung.

Beispiel 2: Im zweiten Beispiel sieht David Hume eine männlicheLeiche. Er kann dann schließen, daß dieser Mann geschlechtlich ge-zeugt wurde. Zu Humes Zeiten, wo es noch keine künstlich Befruch-tung gab, war dieser Schluß sicher begründet. Auch hierbei handeltes sich nicht um eine Erklärungsbeziehung, denn die geschlechtlicheZeugung erklärt nicht, wieso der Mann tot auf der Straße liegt.

Auch BonJour (1985, 100) schließt sich Lehrers Ansicht an, daß es wei-tere inferentielle Beziehungen neben Erklärungsbeziehungen gebenmüsse, die Kohärenz stiften und nennt zur Unterstützung dieser AnsichtLehrers erstes Beispiel.

Doch wie überzeugend sind diese Beispiele? Mit dem ersten Beispielhabe ich zunächst schon deshalb keine Probleme, weil es sich um einenlogischen Schluß anhand von mathematischen Gesetzen handelt. Nebenerklärenden Beziehungen hatte ich deduktive Zusammenhänge als einengrundlegenden Aspekt von Kohärenz akzeptiert und nur dafür plädiert,

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daß Kohärenz nicht ausschließlich in Konsistenz oder logischer Ableit-barkeit zu suchen ist. Für Kohärenz sind wir darüber hinaus auf Theo-rien angewiesen, die ihrerseits mit Hilfe von Abduktionen und Beobach-tungen begründet werden müssen. Es handelt sich in diesem Beispiel umeinen eher mathematisch zu nennenden Schluß, auch wenn Lehrer(1990b, 97) den Satz des Pythagoras kurzerhand zu einem empirischenGesetz deklariert, und es ist eine grundsätzlichere Frage, ob man sagensollte, daß auch mathematische Theorien erklären können. Diese Fragemöchte ich später bejahen, aber an dieser Stelle noch verschieben, zumaldas Beispiel kein Gegenbeispiel gegen meine Kohärenzkonzeption dar-stellt.

Damit Lehrers Beispiel zur vorliegenden Frage also überhaupt etwasbeisteuern kann, muß man den bei ihm eingesetzten Satz des Pythagorasim Rahmen einer Theorie der physikalischen Geometrie betrachten. Indiesem Rahmen kann man ihn aber auch als Teil einer Erklärung dafürbetrachten, warum der Abstand zwischen Maus und Eule gerade 3 Me-ter beträgt. Je nachdem in welchen größeren Zusammenhang die physi-kalische Geometrie gestellt wird, könnte die etwa folgendermaßen aus-sehen: In dem untersuchten System liegen keine sehr großen Massenvor, so daß wir von möglichen Abweichungen von einer euklidischenGeometrie absehen können. Damit gilt auch das Theorem des Pythago-ras approximativ, so daß sich aus den anderen Abständen gerade der Ab-stand 3 Meter für Katze und Eule ergibt. Wenn wir die Raumkrümmungoder die Behauptung, daß sie nicht vorliegt, als ein kausales Phänomenbetrachten und nicht mehr nur als rein mathematischen Zusammenhang,erhalten wir also eine einfache Form von kausaler Erklärung, die dieRandbedingungen mit dem gesuchten Abstand verknüpft. Für die empi-rische Theorie ist die Berufung auf den Satz des Pythagoras dann nureine Abkürzung für die Aussage, daß keine (oder vernachlässigbarkleine) Raumkrümmung in diesem Raum-Zeit Gebiet vorliegt.

Etwas spannender sind da schon Beispiele des zweiten Typs. Aller-dings handelt es sich in einer normalen Ausgestaltung der Geschichteauch hierbei zunächst um eine einfache Konsistenzfrage. Hume hatte zuseiner Zeit sicher die allgemeine Überzeugung, daß alle Menschen ir-gendwann geschlechtlich gezeugt worden sind. Aus Konsistenzgründenmuß er das dann auch von dem toten Menschen in der Straße anneh-men. Daß diese Annahme sich auf eine empirische Hypothese gründet,was Lehrer (1990b, 105) überraschenderweise sehr betont, tut dem de-duktiven Zusammenhang zwischen der allgemeineren Hypothese undihrer Anwendung auf das spezielle Beispiel natürlich keinen Abbruch.

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Komplikationen kommen erst ins Spiel, wenn wir die Situation indie heutige Zeit versetzen. Da wir heutzutage angesichts der Möglich-keit künstlicher Befruchtung nur noch behaupten würden, daß die aller-meisten Menschen geschlechtlich gezeugt wurden, könnte man zwar im-mer noch mit guten Gründen darauf schließen, daß eine Leiche vermut-lich irgendwann einmal geschlechtlich gezeugt wurde, aber das ist dannkein logischer Schluß mehr. Allerdings geht es hier immer noch um pro-babilistische Konsistenz, die ich ebenfalls als eine Erweiterung der Konsi-stenz auf den Fall statistischer Aussagen mit zulasse, und nur deshalbnicht genauer untersuche, weil ich mich hier nicht mit dem speziellenProblembereich der Wahrscheinlichkeitsaussagen beschäftigen möchte.

Neben dieser Auskunft, daß die vermeintlichen Gegenbeispiele keinewirklichen Gegenbeispiele gegen eine Kohärenztheorie sind, für die Ko-härenz durch logische Beziehungen und Erklärungsbeziehungen erzeugtwird, drängt sich die Frage auf, welchen Stellenwert in einem größerenErklärungsrahmen die angesprochenen Schlüsse besitzen. Im HumeschenFall ist die geschlechtliche Zeugung ein Ereignis einer langen Kausalket-te von Ereignissen, die letztlich zu der Leiche auf der Straße geführt ha-ben. Wir werden es normalerweise nicht als eine Ursache oder sogar Er-klärung für die Leiche betrachten, weil in derartigen Fällen eine erklä-rungsheischende Warum-Frage meist eine Frage nach den Todesursachensein dürfte. Unter geeigneten Rahmenbedingungen offenbart aber auchder Hinweis auf die geschlechtliche Zeugung einen gewissen Erklärungs-wert. Z. B. wenn künstlich gezeugte Menschen unsterblich wären, könn-te der Schluß darauf, daß die Leiche geschlechtlich gezeugt wurde, einSchluß auf einen Teil der besten Erklärung sein. Natürlich bliebe die ge-schlechtliche Zeugung immer nur eine partielle Erklärung für die Lei-che, weil nur ein Teil der Ursache damit genannt würde. Trotzdem magder Hinweis genügen, daß auch diese Beziehung einen gewissen Erklä-rungswert hat, wenn man entsprechende Fragestellungen vor sich hat.Das wird nur dadurch verborgen, daß wir die Annahme der geschlechtli-chen Zeugung in unserem Hintergrundwissen als selbstverständlich vor-aussetzen. Das macht diese Schlüsse aber zugleich auch weniger span-nend, denn sie ergeben sich deduktiv aus anderen Überzeugungen.

Lehrer (1990b, 105f) deutet aber schon selbst einen weiteren Kom-mentar an, den ein Verteidiger einer Erklärungskohärenztheorie zu die-sen Beispielen außerdem abgeben sollte. Auch wenn in diesen Beispielenkeine direkten Erklärungszusammenhänge auftreten, sondern nur Konsi-stenzforderungen zum Tragen kommen, stehen bestimmte Erklärungsbe-ziehungen im Hintergrund, die die genannten Überzeugungen in einen

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größeren Rahmen einbetten. Die allgemeinere Aussage, daß alle Men-schen geschlechtlich gezeugt wurden, ist ein Bestandteil eines allgemei-neren Erklärungszusammenhangs in den Überzeugungen, die wir beiHume vermuten. Auf dieses Hintergrundwissen stützt sich Hume bei sei-ner Behauptung, daß die Leiche vor ihm früher einmal geschlechtlich ge-zeugt wurde. Da Hume Mary Shelleys Frankenstein noch nicht kennenkonnte, konnte er sich vermutlich die Person, die tot vor ihm lag, nur alsauf geschlechtlichem Wege gezeugt denken. Die geschlechtliche Zeu-gung ist daher ein wesentlicher Teil seiner einzigen Erklärung für dieExistenz der Person, die wiederum Teil einer Erklärung dafür sein kann,daß die Leiche vor ihm liegt. Auch in diesem Beispiel liegen vielfältigeErklärungsbeziehungen zwischen dem Vorliegen der Leiche und derZeugung der Person vor, die diese beide in eine längere Erklärungskettestellen. Die Annahme, daß der Mensch geschlechtlich gezeugt wurden,mag Hume dabei so selbstverständlich erschienen sein, daß er normaler-weise über keine Begründung dafür nachgedacht haben dürfte. Aber stel-len wir ihn fiktiv vor die Frage, wie er sie denn rechtfertigen könnte,sollte er meines Erachtens in der genannten Richtung antworten.

Gegen die letzte Überlegung führt Lehrer (1990b, 106) seine „Anti-Erklärer“ ins Feld, die ein wenig meinen Superempiristen ähneln. Dieseseltsame Gruppe von Menschen fragt aus religiösen Gründen nie da-nach, warum oder wie bestimmte Dinge sich ereignen. Lehrer beschreibtihr Wirken wie folgt:

Anti-explanationists ask not why or how things happen but are con-tent to observe the way things happen and rely on such observationswithout seeking explanations. They pride themselves in their intel-lectual humility. Such people might arrive at the pythagorean theo-rem from observation. They may not inquire as to why it is true andthey may not have deduced it from more general axioms. Nonethe-less, they might be completely justified in accepting what they derivefrom it, for example, that the mouse is five feet from the owl,whether or not the theorem or the conclusion derived from it contri-butes to the explanatory coherence of some overall system of beliefs.(Lehrer 1990b, 106; kursiv von mir)

Gerade Lehrers Behauptung, daß die Anti-Erklärer vollständig in ihrerAnnahme, daß die Maus fünf Fuß von der Eule entfernt ist, gerechtfer-tigt sind, steht hier zur Diskussion. Daß Lehrer das voraussetzt, ist eineForm von „question begging“. Das Beispiel leidet in seiner Klarheit wie-derum darunter, daß der Satz des Pythagoras für sich genommen nur ein

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mathematischer Satz ist, der natürlich nicht ohne weiteres auf Beziehun-gen in der physischen Welt angewandt werden darf. Verstehen wir ihnaber wieder als Bestandteil einer empirischen Theorie, erkennen wirbald, daß Lehrers Anti-Erklärer eben gerade über keine Begründung fürihre Annahme des Abstandes von Maus und Eule verfügen. Die Anti-Er-klärer bemerkten nur, daß in einer Reihe von konkreten Einzelfällen be-stimmte geometrische Zusammenhänge vorlagen. Wie sollen sie aber ausdiesen Wahrnehmungen in der Vergangenheit für den jetzt vorliegendenFall von Maus und Eule einen Gewinn ziehen, wenn sie nicht irgendeineallgemeine Annahme der Art machen, daß für alle Fälle eines bestimm-ten Typs entsprechende geometrische Verhältnisse vorliegen? Diese An-nahme ist in ihrer Allgemeinheit aber wie jede andere empirische Theo-rie zu behandeln und zu rechtfertigen; etwa durch einen Induktions-schluß, der besagt, daß diese Annahme (auch in der empirischen Weltgelte überall die euklidische Geometrie) unsere beste Erklärung für diefestgestellten Zusammenhänge darstellt. Wie Lehrer ohne solch allge-meinere Annahmen im Eule-Beispiel von vollständiger Rechtfertigungoder bei solchen allgemeinen Annahmen ohne einen Induktionsschlußvon vollständig gerechtfertigt sprechen kann, bleibt unverständlich. Ichkann ihm darin nicht folgen. Die bloße Beobachtung und Nachmessungvon Abständen in bestimmten Einzelfällen sagt ohne verallgemeinerndeAnnahmen nichts über andere Fälle aus, die noch nicht untersucht wur-den. Für eine Begründung der speziellen Eule-Maus Entfernung sind dieAnti-Erklärer also auch auf allgemeinere Theorien und deren Rechtferti-gung angewiesen.

Lehrers Beispiele sind daher keine überzeugenden Gegenbeispielegegen die hier entwickelte Kohärenzkonzeption, die Konsistenz als einenlogischen Rahmen beinhaltet und wesentlich Erklärungsbeziehungen fürKohärenz verantwortlich macht. Gerade die spannenderen Induktions-schlüsse stützen sich meist auf Erklärungsbeziehungen. Nur das wird dieBotschaft sein. Trotzdem können all diese Überlegungen natürlich nichtvöllig ausschließen, daß wir auf inferentielle Zusammenhänge in unse-rem Wissen stoßen, die weder deduktiver Art noch erklärend sind. Auchsie würden allerdings im Normalfall die vorliegende Kohärenzkonzepti-on nicht gefährden, sondern könnten als sinnvolle Ergänzungen der vor-liegenden Konzeption betrachtet werden; denn die Annahme, daß wei-terhin Erklärungsbeziehungen für Kohärenz in unserem Meinungssystemwesentlich bleiben, ist durch die vorangehenden Überlegungen schonhinreichend demonstriert worden.

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F. Eine diachronische Theorie der Erklärungskohärenz

In der Tradition von Sellars (1963, Kap. 11 Abschn. 85) und Harman(1986) scheint mir die Kohärenz eines Überzeugungssystems im wesent-lichen in seinen Erklärungsbeziehungen zu bestehen, was in den voran-gegangenen Abschnitten begründet wurde. Mein eigener Vorschlag füreine Kohärenztheorie der Rechtfertigung knüpft an die Diskussion posi-tiver wie negativer Art der Vorschläge von Lehrer, BonJour und Thagardan, und soll ein Verbesserungsvorschlag sein. Insbesondere möchte ichdie verschiedenen Aspekte von Kohärenz in systematischer Weise ausein-anderhalten. Zu diesem Zweck unterscheide ich zwischen relationalerund systematischer Kohärenz und denke auch, daß es sich lohnt, eineneigenständigen Begriff von Inkohärenz zu präzisieren. Die leitende Ideeder Explikation von Kohärenz ist die von BonJour genannte, daß ein Sy-stem von Meinungen um so kohärenter ist, um so größer seine Vernet-zung ist. Zunehmende Vernetzung wird durch mehr, aber auch durchbessere Verbindungen zwischen den Meinungen eines Netzes bewirkt.Sie ist zum einen durch logische Beziehungen gegeben und zum anderendurch Erklärungsbeziehungen.102 Erklärungsbeziehungen können dabei,müssen aber nicht, ebenfalls logische Beziehungen einer bestimmten Artsein. Hier sind also Überschneidungen zugelassen, aber weder ist jede lo-gische Ableitung eine Erklärung, noch ist jede Erklärung deduktiv. Tat-sächlich bedeutsamer und interessanter scheinen mir die Erklärungsbe-ziehungen für die Vernetzung zu sein, da nur sie uns zu gehaltsvermeh-renden Schritten befähigen, mit denen wir den bisherigen Kreis unsererErkenntnis erweitern können. Für sie ist neben der Anzahl ihre Stärkewesentlich, denn die Bewertung wie gut Erklärungen sind, erlaubt gra-duelle Abstufungen. Wir können nun angeben, wie eine Aussage oderMeinung p für ein epistemisches Subjekt S zu einem bestimmten Zeit-punkt, wo S das Überzeugungssystem X hat, gerechtfertigt ist. Dabei be-kommen alle Bedingugen noch einen Namen, um sie später besser in Er-innerung rufen zu können.

102 Die Konzeption von Kohärenz als Vernetzung findet sich auch schon beiden idealistischen Kohärenztheoretikern, etwa bei Blanshard (1939, 264) oderbei Ewing (1934, 229f), die beide für eine kohärente Vernetzung fordern, daßsich jede Aussage des Systems aus dem Restsystem ableiten läßt. Rescher (1982,43f) hat die traditionellen Anforderungen an eine Kohärenztheorie in sechs Be-dingungen zusammengestellt.

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Eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung (KTR)

(1) Rechtfertigungp ist für S in dem Maße gerechtfertigt,(a) wie sein Überzeugungssystem X kohärent ist

[systematische Kohärenz](b) wie p kohärent in X hineinpaßt [relationale Kohärenz](c) wie p zur Kohärenz von X beiträgt [Kohärenzerhöhung](d) wie p Inkohärenzen von X vermeiden hilft

[Inkohärenzvermeidung]

(2) Systematische KohärenzX ist um so kohärenter,(a) je mehr inferentielle Beziehungen (logische und

Erklärungsbeziehungen) die Propositionen in X vernetzen[Vernetzungsgrad]

(b) je besser die Erklärungen sind, die X vernetzen[Erklärungsstärke]

(c) je weniger Inkohärenzen in X vorliegen [Inkohärenzgrad](d) je bewährter X ist [Stabilitätsbedingung]

(3) InkohärenzX ist um so inkohärenter,(a) je mehr Inkonsistenzen in X auftreten (auch probabilistische)

[Inkonsistenzbedingung](b) in je mehr Subsysteme X zerfällt, die untereinander relativ wenig

vernetzt sind, [Subsystembedingung](c) je mehr Erklärungsanomalien in X auftreten

[Anomalienbedingung](d) je mehr konkurrierende Erklärungen in X vorliegen

[Konkurrenzbedingung]

(4) Relationale Kohärenzp paßt um so kohärenter in das System X,(a) [Abduktionsbedingung]

(i) je mehr Propositionen aus X p erklärt oder abzuleitengestattet und

(ii) um so besser es sie erklärt,(b) [Einbettungsbedingung]

(i) je öfter p aus X abzuleiten ist und(ii) je öfter und besser p von den Propositionen aus X

erklärt wird,

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Diese Explikation bedarf einiger Erläuterungen. Für den Normalfall ge-he ich davon aus, daß p selbst ein Element von X ist, aber das ist nichtzwingend erforderlich. In (1) soll zum Ausdruck kommen, wie Rechtfer-tigungen durch Kohärenz bestimmt sind. Dabei werden die verschiede-nen Aspekte von Kohärenz gesondert berücksichtigt. Als rechtfertigendfür p soll das ganze Überzeugungssystem X angesehen werden. (Wemdas Schwierigkeiten macht, weil p selbst ein Element von X ist, der kannsich an dieser Stelle auch Y = X\{p} denken). Da X zur Rechtfertigungvon p herangezogen werden soll, wird in der Forderung (1a) nach syste-matischer Kohärenz verlangt, daß X selbst möglichst kohärent ist. Dasentspricht dem globalen Aspekt von Kohärenz (s. IV.C) im Hinblick aufdie Vorstellung, daß X selbst kohärent sein sollte, um p rechtfertigen zukönnen, weil X nur dann eine Verankerung der Rechtfertigung zu bietenhat, die weiteren Nachforschungen über den epistemischen Status derPrämissen standhält. Man könnte sagen, daß hier festgestellt wird, wiegroß die gesamte rechtfertigende Kraft von X ist.

Dagegen gibt (1b) an, inwieweit gerade p durch X gerechtfertigt ist.Das bemißt sich an der relationalen Kohärenz von p und X. Unter (1b)sind daher eher die lokalen Aspekte einer kohärenten Einbettung ge-meint. (Auch hier mag es einfacher sein, sich die relationale Kohärenzals eine Beziehung zwischen p und Y vorzustellen.)

Schließlich soll in (1c) thematisiert werden, welchen Beitrag p in Xzur systematischen Kohärenz von X leistet, inwieweit es die systemati-schen Kohärenz von X wirklich vergrößert. Ein simples schematischesBeispiel kann verdeutlichen, daß dieser Punkt noch nicht durch die rela-tionale Kohärenz von X und p abgedeckt ist. Es sei X gegeben durch dieAussagen p, q, r und s. Betrachten wir zwei Möglichkeiten von inferen-tiellen Zusammenhängen in X:

a) Alle Aussagen in X sind mit allen anderen inferentiell verbunden.b) q, r und s sind untereinander isoliert, aber alle mit p inferentiellverbunden.

Die relationale Kohärenz von p und X ist in beiden Fällen dieselbe,denn in beiden Fällen bestehen zwischen p und den anderen drei Aussa-gen dieselben inferentiellen Zusammenhänge. Aber der Beitrag, den pzur Gesamtkohärenz leistet, ist in (a) und (b) recht unterschiedlich. Imersten Fall geht er über die relationale Kohärenz eigentlich nicht hinaus,denn die Aussagen von X sind bereits alle direkt untereinander verbun-den. In (b) hingegen, stehen q, r und s ohne die Anwesenheit von p völ-lig isoliert da, während durch p immerhin zumindest indirekte Verbin-

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dungen zwischen q, r und s geschaffen werden. X erhält in diesem Fallnur durch p einen Zusammenhalt in einer Netzstruktur.

Im Beispiel (b) könnten q, r und s z. B. die Beobachtungsüberzeu-gungen eines Superempiristen sein, die isoliert nebeneinander stehenund durch eine Theorie p gemeinsam erklärt und damit auch in einenindirekten Zusammenhang gebracht werden. Oder q, r und s sind dieTatsachen aus der Erzählung von Conan Doyles „A Case of Identity“,die zunächst recht unzusammenhängend wirkten, während p geradeSherlock Holmes erklärende Hypothese der Identität von Stiefvater undBräutigam darstellt, die nun Verbindungen zwischen diesen Tatsachenschafft, wo vorher noch keine erkennbar waren. Wenn lebensechte Fälleauch häufig nicht so durchschaubare Beispiele bieten, dürfte doch klargeworden sein, daß die Einschätzung der Bedeutung von p für die syste-matische Kohärenz von X nicht allein von der relationalen Kohärenz ab-hängt, sondern ebenfalls von der speziellen Beschaffenheit von X. ImFalle (a) liegt bereits mit X\{p} ein hochkohärentes System Y vor, zudem die indirekten Verbindungen, die p stiftet, nicht viel beizutragen ha-ben, während in (b) X ohne p wenig kohärent ist und erst durch die in-direkten Verbindungen, die p hineinträgt, ein gewisses Maß an systema-tischer Kohärenz in X entsteht.

Ein anderes interessantes Beispiel, in dem die Beiträge zur relationa-len und systematischen Kohärenz auseinanderklaffen, stellen ad hoc Hy-pothesen dar. Sie selbst besitzen, und das macht gerade ihren ad hocCharakter aus, nur wenig relationale Kohärenz zu X. Aber sie könnentrotzdem die systematische Kohärenz von X entscheidend verbessern, in-dem sie als Brückenthesen zum Abbau von Inkohärenzen beitragen.

Dazu ein konkreter Fall aus der Geschichte der Astronomie: Bei demVergleich der Bahn des Merkur mit den Berechnungen anhand der New-tonschen Gravitationstheorie bemerkte Leverrier 1845, daß der Perihel(dem sonnennächsten Punkt auf seiner elliptischen Bahn) des Merkursich schneller bewegte, als es die gravitativen Einflüsse der anderen be-kannten Planeten erwarten ließen. Damit entstand eine Inkohärenz zwi-schen Beobachtungen und der Newtonschen Theorie. Um Theorie undBeobachtung zu versöhnen, nahm Leverrier an, daß es einen kleinerenPlaneten, noch näher an der Sonne gab, der für diese Abweichung ver-antwortlich wäre, und taufte ihn Vulcanus, nach dem römischen Gottdes Feuers. Die Annahme des Vulcanus konnte die entstandene Inkohä-renz zunächst beseitigen und trug somit entscheidend zur systematischenKohärenz des wissenschaftlichen Wissens der damaligen Zeit bei.

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Allerdings war es um die relationale Kohärenz dieser Annahme nichtso gut bestellt. Der Planet war noch nicht beobachtet worden und nebender Bahnanomalie des Merkur gab es nur eine metatheoretische Analo-gie, die für ihn sprach, nämlich das entsprechende Vorgehen im Fall derBahnabweichung des Uranus, wo die Astronomen – ebenfalls unter we-sentlicher Mitarbeit von Leverrier – den später entdeckten PlanetenNeptun vermuteten. Die Annahme des Vulcanus ist somit ein Beispiel,wie eine Aussage über ihre relationale Kohärenz hinaus, die in diesemFall nicht sehr groß war, zur systematischen Kohärenz beitragen kann.Die epistemische Funktion von ad hoc Annahmen, wie sie in diesem Bei-spiel sichtbar wird, entspricht auch den Lakatosschen Überlegungen, dieman als ein Plädoyer betrachten kann, ad hoc Annahmen in den Wissen-schaften erkenntnistheoretisch ernster zu nehmen, als daß früher derFall war. Das genannte Beispiel belegt, wie fruchtbar sie sein können.Wenn sich auch die Vulcanus Hypothese als falsch herausstellte, hat sichdie entsprechende Neptun-Vermutung doch schon bald bewahrheitet.Die KTR gibt uns das geeignete Rüstzeug an die Hand, die epistemi-schen Vorzüge und Nachteile von ad hoc Hypothesen detaillierter zu be-schreiben und in einen Zusammenhang zu anderen Begründungen vonAussagen zu stellen.

Wie sich das Konzept der systematischen Kohärenz, auf das sich (1a)und (1c) beziehen, seinerseits explizieren läßt, wird in (2) vorgeführt.Die systematische Kohärenz hängt entscheidend vom Grad der Vernet-zung im System X ab. Die Vernetzung wird durch inferentielle Beziehun-gen hergestellt, die in erster Linie in logischen und Erklärungsbeziehun-gen bestehen. Während die logischen Beziehungen keine Abstufungenzulassen, sind Erklärungsbeziehungen noch nach besseren und wenigerstarken Erklärungszusammenhängen zu unterscheiden. Zu der Forde-rung nach möglichst vielen inferentiellen Verbindungen in (2a) kommtdaher die Forderung der Erklärungsstärke nach möglichst guten Erklä-rungen in (2b). Was dabei unter „besserer Erklärung“ zu verstehen ist,wird in der Erklärungsdebatte genauer bestimmt.

In (2c) wird als eigenständiges Konzept, das der Inkohärenz genannt,auf das schon (1d) bezug nimmt. Das ist dadurch gerechtfertigt, daß esin (3) in sinnvoller Weise durch eigenständige Bedingungen definiertwird, nach denen ein nicht-kohärentes System X noch keineswegs inko-härent sein muß. Es könnte sich z. B. bei X um ein System von lauterisolierten Überzeugungen wie denen des Superempiristen handeln, dannwäre X zwar hochgradig nicht-kohärent, aber nicht unbedingt im selben

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Ausmaß inkohärent. Eine Eigenständigkeit von „Inkohärenz“ wird auchin ihrer Explikation unter (3) deutlich werden.

Bisher kam die Stabilitätsbedingung (2d) noch nicht zur Sprache, dieeher den dynamischen Aspekt von Rechtfertigungen und Wissen betrifft,statt die statischen, auf die ich mich in den anderen Bestimmungen bezo-gen habe. In (2d) wird von X verlangt, daß es über längere Zeit hinwegstabil kohärent geblieben ist, d.h., daß es in dieser Zeit trotz möglichstzahlreichen Inputs keine revolutionären Änderungen erfahren hat. DieStabilität ist für uns ein wichtiges Indiz dafür, daß unsere Weltsicht zu-treffend ist. Sie zeigt, daß unsere bisherigen Theorien sich auch bei auf-tretenden neuen Beobachtungen bewährt haben. Die Theorien sindkeine ad-hoc-Justierungen, sondern fruchtbare Forschungsprogramme.Wann man dabei von konservativen Entwicklungen und wann von revo-lutionären Änderungen sprechen kann, läßt sich hier nicht en passantaufklären. Aber es gibt jedenfalls Lösungsvorschläge, die bereits auf zahl-reiche Beispiele erfolgreich angewandt wurden und zudem in den Rah-men der Kohärenztheorie passen, wie der von Thagard (1992), der wis-senschaftliche Revolutionen anhand ihrer begrifflichen Revolutionen zuidentifizieren sucht. Vor allem Änderungen in den begrifflichen Hierar-chien und Teil-Ganzes Beziehungen von Theorien sind für Thagard ent-scheidende Hinweise auf das Vorliegen begrifflicher Revolutionen.

Zum zweiten Punkt der neuen Evidenzen möchte ich kurz ein Bei-spiel von Lipton (1991) aufgreifen und erweitern. Wenn wir über eineKarte für ein uns weitgehend unbekanntes Gelände verfügen und nichtwissen, ob sie dieses Gelände zutreffend darstellt oder nicht, so ist es si-cherlich ein gutes Indiz für die Zuverlässigkeit der Karte, wenn wir sie anetlichen Stellen überprüft haben und sie dort jeweils stimmte. Das giltum so mehr, wenn die Karte nicht speziell entworfen wurde, um geradean diesen Stellen zu passen, sondern wenn sie auch für alle zufällig undeventuell unvorhersehbar herausgegriffenen Bereiche gilt. Ähnliches läßtsich für Theorien sagen. Sie werden besonders dadurch bestätigt, daß sieauch für solche Ereignisse eine gute Erklärung anbieten können, die beiihrer Entwicklung noch nicht bekannt waren. Der Schluß auf die besteErklärung – hier auf einer Metaebene eingesetzt – begründet, wiesoneue Evidenzen erkenntnistheoretisch so besonders kostbar erscheinen.Kann eine Theorie nur die bereits bekannten Daten erklären, bleibt im-mer die Hypothese, daß sie gerade dafür notdürftig zurechtgeschneidertwurde, eine brauchbare metatheoretische Erklärung für dieses Faktum.Erklärt sie zunehmend aber auch neue bei ihrer Entstehung unbekannteDaten, verliert diese metatheoretische Hypothese an Gewicht, denn da-

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für hat sie keine Erklärung mehr. Die bietet uns dann eher die metatheo-retische Annahme die Theorie sei zumindest approximativ wahr. Dasweist speziell die neuen Daten als triftige Tests für die Wahrheit einerTheorie aus.

Die Stabilitätsbedingung wird im Zusammenhang des methodologi-schen Konservatismus (s. V.A.3) noch ausführlicher besprochen. AuchBonJour (1985, 169ff) stützt sich auf eine entsprechende Annahme inseiner Argumentation gegen den Skeptiker.

Analogiebeziehungen, die Thagard außerdem noch für Kohärenznennt, müssen nicht eigens aufgeführt werden, weil sie im Rahmen mei-ner Erklärungstheorie als Spezialfälle von Erklärungen betrachtet wer-den können.

Das Konzept der Inkohärenz, die der systematischen Kohärenz entge-genarbeitet, beinhaltet in (3a) zunächst die logischen Inkonsistenzen,von denen hier angenommen wird, daß sie sich in unseren Überzeu-gungssystemen lokal begrenzen lassen. Daneben rechne ich wie BonJourauch Aussagen, wie „p“ und „p ist unwahrscheinlich“ zu den Inkohären-zen, die zwar nicht wiedersprüchlich im streng logischen Sinn sind, aberdoch offensichtlich eine Störung für den harmonischen Zusammenhangunseres Meinungssystems bedeuten.

Falls sich echte Subsysteme in X identifizieren lassen, so ist auch daseine Verletzung eines einheitlichen Wissens, wie es für ideal kohärenteMeinungssysteme wünschenswert ist. Subsysteme sind die Elemente ei-ner Aufspaltung von X in Teilmengen mit der Eigenschaft, daß innerhalbjeder Teilmenge deutlich mehr Verbindungen unter den Elementen be-stehen als zu den Elementen anderer Teilmengen. Dieses Phänomen istein Teil einer Abwesenheit von Kohärenz, weil hier weniger Verbindun-gen als möglich vorliegen, aber es ist eine ganz spezielle Form der Abwe-senheit von Kohärenz, nämlich eine die die Verteilung von inferentiellenZusammenhängen betrifft. Falls X mehrere Subsysteme aufweist, kannX zwar noch eine relative hohe durchschnittliche Vernetzung besitzen,die ihm zunächst ein gewisses epistemisches Gewicht sichert, aber X isteigentlich aus verschiedenen Teilen zusammengefügt, die ihrerseits nichtgut zusammenpassen. In gewisser Weise zerfällt X in unzusammenhän-gende oder wenig zusammenhängende Komponenten, die sich gegensei-tig epistemisch kaum stützen. Das Ausmaß, in dem das der Fall ist, istnatürlich Abstufungen fähig, so daß auch das Identifizieren und Eintei-len von Subsystemen eine Sache des Grades ist. Die scheint mir aller-dings sehr hilfreich für die Beschreibung globaler Eigenschaften vonÜberzeugungssystemen zu sein, weil sich die Diskussion um bestimmte

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Beispiele in unserem Wissen anhand dieses Konzepts leiten läßt. Daherwird Subsystembedingung (3b) als eigene Forderung in (3) aufgenom-men. Man könnte die Subsysteme (in einer schwachen Analogie) mit ge-trennten Teillandkarten vergleichen, die nur wenige Berührungspunkteuntereinander aufweisen. Wenn sich eine dieser Landkarten als zuverläs-sig für ihr Gebiet erwiesen hat, gibt uns das nur wenige Hinweise auf dieZuverlässigkeit der anderen. Bei einer umfassenden zusammen-hängenden Landkarte haben wir hingegen mehr Anlaß, von einem Pas-sen der Landkarte in einem Gebiet auf ihre allgemeine Brauchbarkeitund damit auf andere Gebiete zu schließen.

Der in (3c) genannte Fall der Erklärungsanomalie läßt sich auch alsein Spezialfall eines kleinen isolierten Subsystems deuten, besitzt aberauch ausgeprägte eigenständige Charakteristika. Eine Aussage wird – imUnterschied zu Subsystemen – nicht allein dadurch schon zur Erklä-rungsanomalie von X, daß sie innerhalb von X nicht erklärt wird. Erklä-rungsanomalien sind spezifisch für bestimmte Theorien. Die Perihelano-malie des Merkur ist keine Anomalie für den psychologischen Behavio-rismus – der hat seine eigenen – und auch nicht für die MaxwellscheElektrodynamik, obwohl sie auch dort nicht erklärt wird, sondern fürdie Newtonsche Gravitationstheorie. Erklärungsanomalien sind Tatsa-chen, die zwar zum intendierten Anwendungsbereich einer Theorie Tgehören, aber sich trotzdem dagegen widersetzen, von T erklärt zu wer-den. Dieser Punkt kann in der Erklärungsdebatte in (IX.H.1) angemesse-ner behandelt werden. Daß Erklärungsanomalien in der Wissenschafts-dynamik eine große Bedeutung zukommt, ist spätestens durch die Kuh-nschen wissenschaftshistorischen Untersuchungen bekannt.

In (3d) ist die Rede von Konkurrenzerklärungen. Das sind Erklärun-gen, von denen wir annehmen müssen, daß sie nicht beide wahr seinkönnen. In konkreten Fällen dürfte es meist intuitiv nicht schwer be-stimmbar sein, ob tatsächlich konkurrierende Erklärungen oder koexi-stierende vorliegen. Schwieriger ist es schon, dafür ein einfaches Kriteri-um zu formulieren, aber es mag zunächst genügen, sich auf unser intuiti-ves Verständnis von konkurrierenden Erklärungen zu stützen, da es mirin dieser Arbeit kaum möglich ist, schon alle Teile des hier vorgelegtenForschungsprogramms vollständig zu explizieren (s. Bartelborth 1994a).

Im 4. Teil von KTR wird dann schließlich, die relationale Kohärenzdiskutiert, auf die sich die Bedingung (1b) bezieht. Sie besteht in den in-ferentiellen Beziehungen, die zwischen p und dem Rest von X vorliegen.Dabei ist analog den Bedingungen (2a) und (2b) wieder in logische undErklärungsbeziehungen zu unterscheiden und für die zweiteren eine

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möglichst hohe Erklärungskraft zu verlangen. Außerdem können dieseinferentiellen Zusammenhänge in der einen wie der anderen Richtungvorliegen. Dabei lassen sie sich einmal als Abduktionsschlüsse und in deranderen Richtung als Einbettungen deuten. Daß die relationale Kohä-renz nicht einfach mit der systematischen Kohärenz zu identifizieren ist,wurde bereits durch die Beispiele in der Diskussion von Bedingung (1c)belegt. Man könnte nun auch noch die relationale Inkohärenz eigens be-rücksichtigen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichte ich darauf,zumal sie auch schon in den Beitrag, den p zur Kohärenz von X leistetmit eingeht, denn als einen Aspekt der systematischen Gesamtkohärenzfinden wir die Inkohärenz.

Die in KTR vorgestellte Kohärenztheorie der Rechtfertigung erlaubtVergleiche zwischen bestimmten Aussagen oder Theorien daraufhin, wiegut sie sich in unser Meinungssystem einfügen lassen. Sie ist in erster Li-nie als eine partiell komparative Theorie der Rechtfertigung zu verstehen.Komparativ ist sie, weil sie in manchen Fällen direkte Vergleiche gestat-tet, welche von zwei Aussagen vor unserem Hintergrundwissen besserbegründet ist. Partiell bleibt sie, weil sie diesen Vergleich nicht für belie-bige Aussagen gestattet. Für zwei Theorien T1 und T2 kann man anhandvon KTR erwägen, wie sie zur Kohärenz unseres ÜberzeugungssystemsX beitragen würden und wie gut sie daher vor X gerechtfertigt wären.Ist T1 in allen Punkten der KTR besser oder zumindest genauso gut wieT2, so ist T1 besser gerechtfertigt vor dem Hintergrund X. Liegen aller-dings die Stärken von T1 und die von T2 in jeweils verschiedenen Punk-ten von KTR, gibt KTR allein noch keine Auskunft darüber, welcheTheorie epistemisch zu bevorzugen sei. Eine solche Abwägung z. B. vonErklärungsleistungen auf der einen Seite gegen die Vermeidung von In-kohärenzen auf der anderen Seite läßt sich zumindest bisher nicht allge-mein treffen, sondern nur in konkreten Einzelfällen. Allerdings stelltKTR auch in diesen Fällen die Begrifflichkeit und die Beurteilungsdi-mensionen zur Verfügung, an denen eine entsprechende Abwägung aus-zurichten ist.

Um diesen letzten Aspekt einer Bewertung anhand von (KTR) zu il-lustrieren, soll ein Beispiel skizziert werden. Eine solche Abwägungmußte für das Bohrsche Atommodell vorgenommen werden, das auf dereinen Seite die Spektrallinien von Atomen erklären konnte, aber auf deranderen Seite in Konflikt mit der klassischen Elektrodynamik stand. Eshatte eine Reihe unbekannterer Konkurrenten wie das Plumpuddingmo-dell von J.J. Thomson (s. Pais 1986; 166, 185), die alle gewisse Erklä-rungsleistungen erbrachten, aber in dieser Hinsicht dem Bohrschen

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Atommodell eindeutig unterlegen waren. Insbesondere steht ihm natür-lich auch der Konkurrent der theoretischen Enthaltsamkeit gegenüber,der sagt, wir haben einfach noch keine gute Atomtheorie, und die Li-nienspektren der Atome (insbesondere des Wasserstoffatoms) sind alsbisher unerklärte Tatsachen zu akzeptieren. Lakatos hat in (1974) einigeFaktoren genannt, die für diese Abwägung berücksichtigt werden kön-nen, die in Bartelborth (1989) weiter diskutiert werden. Dabei geht esum eine Abwägung der systematischen Kohärenz, die durch die BohrscheTheorie gefördert wird, in dem sie die Linienspektren stärker in unserwissenschaftliches Wissen integriert, gegen eine Inkaufnahme einer Inko-härenz, die durch die Bohrsche Theorie entsteht, weil sie sich in Wider-spruch zur klassischen Elektrodynamik setzt.

An vielen Stellen stützt sich die Explikation der KTR auf den Erklä-rungsbegriff und artverwandte Begriffe wie den der Erklärungsanomalieoder den von konkurrierenden Erklärungen. Bisher konnte ich mich andiesen Stellen allerdings nur auf ein intuitives, und wie die philosophi-sche Erklärungsdebatte zeigen konnte, keineswegs einheitliches Ver-ständnis des Erklärungskonzepts stützen. Ein wesentlicher Schritt, umfür KTR einen Substanzgewinn zu erzielen, bleibt daher die Ausgestal-tung einer Erklärungstheorie, die im letzten Teil der Arbeit angesiedeltist.

G. Die Vereinheitlichung unseres Wissens

Es ergibt sich schließlich eine Art von Gesamtbild der Rechtfertigungdurch Kohärenz, zu dessen Darstellung ich mich zunächst noch einmaldem Superempiristen zuwenden möchte, der kognitiv so bescheidenbleibt, sich ganz auf das Sammeln von Beobachtungsaussagen zu be-schränken. Er gleicht einem eifrigen Käfersammler, der es dabei bewen-den läßt, die Käfer in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu sam-meln, ohne je den Versuch zu unternehmen, sie nach irgendwelchenÄhnlichkeitsmaßstäben zu klassifizieren oder sogar Theorien über ihrVerhalten aufzustellen. Er stellt auch keine Vermutungen an, auf welcheKäfer er noch stoßen wird und wie diese aussehen könnten. Auch dieFunde noch so seltsamer Käfer können ihn nicht überraschen, da erkeine Erwartungen über Käfer entwickelt. Obwohl er sich so intensivmit Käfern beschäftigt, können wir ihn eigentlich nicht als Käferexper-ten bezeichnen. Er kann uns nicht viel Informatives über Käfer erzählen– nur, welche er gesammelt hat. Er kann uns auch nicht helfen zu verste-

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hen, was für Käferarten es gibt oder warum sich Käfer in einer bestimm-ten Weise verhalten.

Für den Superempiristen ist es sogar noch schlimmer, denn er sam-melt nicht nur Gegenstände einer bestimmten Art, sondern unterschieds-los alles, was ihm begegnet, ohne vorher irgendwelche Annahmen dar-über zu haben. In Abschnitt (IV.A.2) hatte ich schon darauf hingewiesen,daß dieses Bild bereits in sich nicht stimmig ist. Damit die Wahrnehmun-gen des Superempiristen überhaupt in Form von Überzeugungen mitpropositionaler Struktur repräsentiert sein können, muß er Begriffe ver-wenden, wie z. B. in „Vor mir liegt ein schwarzer Ball“. Klassifizierungendieser Art beinhalten längst gewisse Behauptungen über Ähnlichkeitenund wie Putnam erläutert, zumindest implizite Annahmen bestimmterMinitheorien, die Putnam Stereotype nennt, wenn man überhaupt davonsprechen will, daß der Superempirist Meinungen hat, die er auch ver-steht. Sobald wir Überzeugungen über die Welt entwickeln, entwickelnwir auch bereits kleine Theorien über sie. Der Superempirist ist alsonicht wirklich vorstellbar. Denken wir ihn uns aber so weit wie möglichverwirklicht. Er enthält sich jeder Ansicht über die Welt über die not-wendigen Stereotypen hinaus. Für ihn gilt wieder, was wir auch für denKäfersammler feststellten, er ist kein Experte für die Welt und kann unsnur wenig Interessantes über sie mitteilen. Er kann die Ereignisse seinerUmwelt nicht erklären, er ist notgedrungen ein Anti-Erklärer, kann auchkeine begründeten Retrognosen über die Vergangenheit seiner Gesell-schaft oder über Geschehnisse abgeben, an denen er nicht selbst teilge-nommen hat, weil auch dazu Theorien notwendig sind. Nur die gestat-ten es uns, anhand bestimmter Indizien auf Vergangenes zu schließen.Ich will nicht behaupten, er sei nicht lebensfähig, wie es manchmal radi-kalen Skeptikern vorgeworfen wird, sondern nur, daß sein kognitivesLeben ausgesprochen ärmlich ist. Er versteht seine Umwelt eigentlichnicht und kann bestenfalls durch unbewußt erworbene Tropismen aufsie reagieren.

Diese Vorstellung vom geistig verarmten Superempiristen soll nocheinmal erläutern, wieso ontologische Sparappelle etwa von Empiristen,die immer wieder auf theoretische Enthaltsamkeit drängen, in die fal-sche Richtung weisen. Der Kohärenztheoretiker entwickelt seine Kon-zeption fast in der entgegengesetzten Richtung. Für ihn ist die Entwick-lung von Theorien über die Welt auf vielen Ebenen das wichtigsteerkenntnistheoretische Erfordernis. Nur durch allgemeine Hypothesenund Theorien entstehen Verbindungen zwischen unseren Beobachtun-gen, nur durch sie kann es zu einem wirklichen System von Meinungen

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kommen. Eine derartige Vernetzung unseres Wissens ist für begründeteMeinungen unerläßlich. Die kohärenztheoretische Behandlung von Be-obachtungen zeigt ebenso, daß den Beobachtungen noch nicht einmalepistemische Priorität eingeräumt werden sollte, denn zu ihrer Rechtfer-tigung stützen wir uns bereits auf Theorien unterschiedlicher Herkunft.Trotzdem wird der Kohärenztheoretiker nicht zum theoretischen Phan-tasten, denn nur die Theorien sind für ihn hilfreich, die tatsächlich er-klärende und damit vereinheitlichende Kraft in bezug auf unsere Beob-achtungsüberzeugungen besitzen. Je einheitlicher unser Modell der Weltbeschaffen ist, desto besser sind für den Kohärenztheoretiker die Be-gründungen unserer Meinungen. Jede Uneinheitlichkeit in unserem Mo-dell, etwa durch eine Aufspaltung in Subsysteme oder durch konkurrie-rende Ansichten, gebietet geradezu die Suche nach einer einheitlicherenTheorie. Die KTR hat damit eine gute metatheoretische Erklärung anzu-bieten, wieso wir in den Wissenschaften de facto an vielen Stellen aufdiese Suche nach einheitlicheren Theorien stoßen103 und wieso viele Phi-losophen die Vereinheitlichung unseres Wissens für unsere Erkenntnis fürwichtig halten.

Für ein Verständnis der Welt in einem möglichst zutreffenden undumfassenden Modell sind wir auf kohärente Beschreibungen angewie-sen. Auf der Suche nach wahren Meinungen über die Welt benötigen wirIndikatoren für Wahrheit. Diese können uns nur kohärente Überzeu-gungssysteme geben, denn jede Begründung einer unserer Meinungen istwiederum indirekt von der Kohärenz des ganzen Systems abhängig. DerKohärenztheoretiker sieht die Suche nach Wissen als eine Art von gro-ßem Puzzle, in dem wir erst dann annehmen können, ein richtiges Bildder Welt entwickelt zu haben, wenn alle Steine gut zusammenpassen undein Gesamtbild entstanden ist. Ein Gesamtbild kann aber erst entstehen,wenn zusätzlich zu den Steinchen des Superempiristen, die keine Paß-stellen untereinander aufweisen, größere Steine eingefügt werden, die ei-nen Zusammenhang herstellen können. Dabei ist allerdings die Vorstel-lung des Empiristen, nach der wir immer mit lauter kleinen Puzzlestein-chen beginnen und dann erst nach den größeren Verbindungsstücken su-chen, irreführend, denn auch die großen Steine entscheiden wiederummit darüber, welche kleineren Steine in unser Gesamtbild passen undwelche nicht. Unsere Suche richtet sich immer zugleich auf kleinere undgrößere Puzzlesteine.

103 In der wissenschaftsphilosophischen Erklärungsdebatte wird dieserPunkt wieder zur Sprache kommen.

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Der Kohärenztheoretiker muß damit natürlich noch nicht behaup-ten, daß es immer eine einheitliche Beschreibung der Welt gibt, sondernnur, daß wir ein großes erkenntnistheoretisches Interesse daran habenmüssen, so kohärente Beschreibungen wie irgend möglich aufzusuchen.Gelingt uns das nicht einmal in geringem Umfang, sehen wir uns – nurdann ohne es zu wollen – in die epistemische Situation des Superempiri-sten gestellt. Im extremsten Fall läßt sich dann keine unserer Meinungenmehr begründen. Wir verfügen über keine Erklärungen des Geschehensunserer Umwelt mehr und können unsere Welt nicht mehr im kogniti-ven Sinn verstehen. Wir verbleiben mit lauter unzusammenhängendenPuzzlesteinchen, die wir nicht zusammensetzen können und sehen keinBild der Welt mehr, das handlungsleitend sein könnte (s. a. IX.H.5).Hier trifft der Kohärenztheoretiker mit dem Sprachphilosophen zusam-men, der uns sagt, daß wir zumindest auf Minitheorien bereits dann an-gewiesen sind, wenn unsere Äußerungen semantischen Gehalt besitzensollen. Die Maxime des Kohärenztheoretikers könnte man in demSchlagwort zusammenfassen: Ohne ein einigermaßen kohärentes, wenig-stens in Teilen vereinheitlichtes Weltbild können wir kein Wissen undkein Verständnis der Welt erwerben.

Auch die theoretische Unterbestimmtheit und sogar relativistischeKonzeptionen der Wissenschaft werden durch das entworfene Bild vomErkenntniserwerb nicht a priori ausgeschlossen. Ob es alternative Puzz-lesteine gibt, die die Beobachtungen in einem Gesamtbild zusammenfü-gen oder nur ein einziges, hängt natürlich nicht zuletzt von den Wahr-nehmungen ab, die wir tatsächlich machen. Ob sich die wissenschaftli-che Entwicklung letztlich besser als eine langsame nicht immer geradlini-ge Annäherung an die Wahrheit oder eher als ein bloß auf bestimmteGesellschaften zugeschnittenes Unternehmen verstehen läßt, bleibt inter-nen Analysen der Wissenschaftsdynamik überlassen. Die müssen unter-suchen, wie stabil oder revolutionär sich unser Wissen tatsächlich ent-wickelt.

H. Einige Konsequenzen der KTR

In der Einleitung hatte ich schon auf den engen Zusammenhang zwi-schen epistemischen Rechtfertigungen und Argumenten hingewiesen, dieletzteren aber zunächst aus dem Spiel gelassen. Wenigstens in Form einerBemerkung möchte ich an dieser Stelle über mögliche Auswirkungen dervorgelegten Rechtfertigungstheorie auf unsere Konzeption von Argu-

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mentationen zu sprechen kommen. Ein gutes Argument sollte meines Er-achtens den Diskussionspartner nicht nur kurzfristig überreden können,etwas zu glauben, sondern auch längerfristig stabile Begründungen bein-halten. Für derartige Begründungen offenbart die Kohärenztheorie derRechtfertigung (KTR) einen langwierigen Weg, zeigt sie doch, daß epi-stemische Rechtfertigungen wesentlich holistischen Charakter habenund vom Zusammenhalt und der engen Verknüpfung aller unserer Mei-nungen abhängen. Wie gut eine bestimmte Überzeugung gerechtfertigtist, bestimmt sich natürlich in erster Linie anhand ihrer relationalen Ko-härenz, d.h. ihrer Einbettung in unser Meinungssystem durch möglichstviele gegenseitige inferentielle Verbindungen mit dem übrigen System.Das erklärt, wieso eine gute Begründung einer Meinung im allgemeinennicht in einer einzelnen Herleitung oder „Deduktion“ besteht, sonderneinen weitaus beschwerlicheren Weg über die Analyse zahlreicher Erklä-rungszusammenhänge zu gehen hat.

Viele philosophische Arbeiten – insbesondere die größeren, die sichnicht auf einen einzelnen Punkt einer Diskussion konzentrieren, sondernumfassend für eine ausgewachsene These argumentieren möchten – sindberedte Zeugnisse dieser Konsequenz aus KTR. Ebenso wird damit dieFruchtlosigkeit vieler mündlicher Argumentationen selbst bei gutwillig-sten Diskussionspartnern verständlich, offenbart KTR doch, welcheHerkulesarbeit zu leisten ist, soll auch nur eine der vertretenen Positio-nen gründlich begründet werden. Jede Seite wird zunächst einigen Rück-halt für ihre Ansicht in unseren Überzeugungssystemen für sich geltendmachen können, so daß erst die Zusammenschau aller einzelnen Punktesowie einer Analyse, wie gut sie jeweils in unserem Hintergrundwissenverankert sind, eine Entscheidung ermöglicht. Die Überprüfung der Ver-ankerung erfordert ihrerseits eine Untersuchung, in welchen Erklärungs-beziehungen sie zu finden sind, welche Theorien daran beteiligt sindund wie gut diese Theorien und Erklärungen sind, was wiederum nacheine Analyse ihrer vereinheitlichenden Kraft verlangt.

Das alles macht Begründungen natürlich nicht unmöglich, sondernzeigt nur, wie komplex und aufwendig sie letztlich sein können. Wirwerden uns in den meisten Fällen wohl mit elliptischen Argumentatio-nen zunächst zufrieden geben müssen und nur in besonders wichtigenFällen in einer längeren Debatte die fehlenden Überlegungen nachliefernkönnen.

Zu den möglichen Anwendungsfällen kohärentistischer Begründun-gen gehören neben den hier diskutierten empirischen Aussagen auchnormative Fragen etwa aus der Ethik. Für dieses Gebiet gilt Ähnliches

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wie für Diskussionen im empirischen Bereich. Diese Behauptung kannich an dieser Stelle natürlich nicht ausführlich begründen, aber ichmöchte anhand einer kurze Beispielskizze wenigstens eine Plausibilitäts-betrachtung dazu angeben, die erste Hinweise auf die Einbettung dieserThese in unsere Hintergrundannahmen zu moralischen Fragen bietenkann.

Nehmen wir eine moralische Frage wie die nach der Zulässigkeit vonAbtreibungen. Wenn die öffentliche Debatte sich nicht um vorrangig juri-stische Probleme – etwa der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz – geht,gerät sie oft relativ schnell in eine Sackgasse. Die Vertreter liberaler Lö-sungen verweisen etwa auf die schlechten psycho-sozialen und oft auchmedizinischen Folgen der Strafbarkeit und behaupten, daß es sich bei ei-nem Fötus nicht um menschliches Leben handelt, so daß unsere übli-chen Normen, solches nicht zu töten, hier nicht anwendbar sind. DieGegner einer Liberalisierung setzen dem entgegen, daß es sich sehr wohlum menschliches Leben – zumindest der Möglichkeit nach – handeltund daß es daher auch entsprechenden Schutz und Vorrang gegenüberanderen Werten verdient. Viel weiter als zu einem Aufeinanderprallendieser gegensätzlichen Standpunkte kommt es dabei vielfach nicht mehr.Das ist auch verständlich, wenn man die Debatte nicht erweitert und„holistischer“ führt. An dieser einen Stelle können wir nur unsere Mei-nungsdifferenzen konstatieren, ohne zu einem nennenswerten Fort-schritt zu gelangen. Einen Weg auf dem ein Fortschritt zu erreichen seinkönnte, möchte ich nun skizzieren. Wir müssen allgemeinere Prinzipienin Anschlag bringen und ihrerseits diskutieren, die unsere Entscheidungunterstützen. Z. B.: „Daß man keinen Menschen töten darf, außer ausNotwehr oder Nothilfe und daß jeder, der zu unserer tierischen Art ge-hört ein Mensch ist, ganz gleich in welchem Entwicklungsstadium.“ Die-ses Prinzip läßt sich auf vielfache Weise kritisieren und muß sicherlicheine Reihe von Modifikationen durchlaufen, ehe es von beiden Seitenals glaubwürdiges Prinzip, nach dem man sich in anderen Fällen auchtatsächlich richten sollte, gelten darf. In jedem Fall benötigen wir solche„ethischen Theorien“, um die Diskussion von dem einen Fall auch aufandere Beispiele, die uns ähnlich gelagert erscheinen, ausdehnen zu kön-nen.

Die Annehmbarkeit dieser Theorie läßt sich dann daran testen, wiegut sie unsere gemeinsamen moralischen Überzeugungen und Urteile invielen anderen Fällen erklären kann. Akzeptieren wir diese Theorie invielen anderen Fällen als die beste Erklärung dafür, daß wir das Verhal-ten x für falsch halten, so gibt uns das einige prima facie Gründe, sie

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auch im Falle des Paragraphen 218 anzuwenden. Zumindest trägt die je-weilige Gegenseite die Beweislast zu erläutern, warum wir uns hier an-ders verhalten sollten. Auch hier werden Verbindungen zwischen Einzel-fällen anhand von Theorien und Konsistenzüberlegungen notwendig,um wenigstens eine Chance für eine begründete Entscheidung zu erhal-ten. Das ist natürlich eine stark idealisierte Darstellung derartiger Dis-kussionen. Im allgemeinen werden nicht nur eine allgemeinere Annahmezu überprüfen haben, sondern eine Vielzahl. Einen guten Einblick in dieVielschichtigkeit dieser speziellen moralphilosphischen Debatte bietetHoerster (1991).

Ein Hilfsmittel um bestimmte Annahmen auf ihre Kohärenz in unse-rem Hintergrundwissen zu überprüfen, das auch in der Ethik vielfachAnwendung findet, möchte ich nun noch kurz vorstellen, nämlich Ge-dankenexperimente. Die KTR erklärt uns, wieso Gedankenexperimentenicht nur in der Philosophie, sondern auch in den empirischen Wissen-schaften eine so große Bedeutung besitzen.104 Das wohl berühmteste vonihnen, das Gegenstand einer Reihe von Konferenzen und schließlichauch von tatsächlichen Experimenten war, ist das sogenannte Paradoxvon Einstein, Podolsky und Rosen (EPR-Paradox), aber es gibt danebennoch eine Vielzahl von Gedankenexperimenten in den empirischen Wis-senschaften. Einige berühmte haben einen Namen bekommen, wie Car-nots Kreisprozeß, das Zwillingsparadoxon oder Maxwells Dämon, abersehr viele andere finden sich in den Textbüchern, bei denen es dazunicht gereicht hat. Man erinnere sich nur an die vielen Gedankenexperi-mente, auf die wir allein im Zusammenhang mit der Relativitätstheoriebereits stoßen. Doch warum schenkt man in den NaturwissenschaftenGedankenexperimenten eine so große Aufmerksamkeit? Der Empiristsagt uns immer, daß dort nur der Vergleich von Theorien mit den Beob-achtungsdaten zählt. Sind die Gedankenexperimente demnach eher einHobby der Naturwissenschaftler ohne erkenntnistheoretischen Wert?Dem ist natürlich nicht so, und KTR gibt uns die Möglichkeit, diesesPhänomen der Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften zuverstehen. Es handelt sich dabei um eine Form von Kohärenztests.

Ein recht einfaches historisches Beispiel, das Popper (1984, 397ff) ineinem Zusatz (*XI) zur Logik der Forschung schildert, soll erläutern, wieGedankenexperimente als Kohärenztests dienen können. Galilei machtdamit auf eine Inkohärenz in der Aristotelischen Theorie aufmerksam,nach der die natürliche Geschwindigkeit eines schweren Körpers größer

104 Zum folgenden siehe auch die Besprechung von Gedankenexperimen-ten in Bartelborth (1991).

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als die eines leichten ist. Wenn wir zwei ungleich schwere Körper neh-men, so argumentiert Galilei, wird der schwerere sich gemäß dieserTheorie schneller bewegen als der leichtere. Wenn wir die beiden Kör-per nun zusammenbinden, wird der schnellere den langsameren be-schleunigen und der langsamere den schnelleren verlangsamen. Somitsollte der zusammengesetzte Körper in seiner Geschwindigkeit zwischendem langsameren und dem schnelleren liegen. Da er aber schwerer istals jeder einzelne der Körper, sollte er nach Aristoteles Theorie eigent-lich schneller als sie sein. In diesem Gedankenexperiment hat GalileiSchlußfolgerungen aus der Aristotelischen Theorie unter Zuhilfenahmebestimmter Hintergrundannahmen gezogen, wobei sich ein Widerspruchin den zentralen Aussagen der Theorie aufdecken ließ. Neben der Theo-rie selbst mußte er sich auf die Annahmen stützen, daß man das Gewichtder Verbindung zwischen den Körpern vernachlässigen kann und daßsich das Verhalten des Gesamtkörpers aus dem Verhalten der beiden ein-zelnen Körper zumindest qualitativ bestimmt. Zur Begründung dieserAnnahmen wurde – z. B. von Mach – das intuitiv plausible Prinzip derkontinuierlichen Variation zitiert.

Galileis Gedankenexperiment demonstriert, daß etwas nicht stim-men kann in der Aristotelischen Theorie der Bewegung. Wenn wir sievor einigen einfachen Annahmen unseres Hintergrundwissens beurtei-len, stoßen wir auf eine schwerwiegende Inkohärenz in der Theorie, diewir in dieser Form nicht akzeptieren können. Obwohl sich diese Inkohä-renz immer schon in der Aristotelischen Theorie „versteckt“ hielt, hatdoch erst das Gedankenexperiment sie deutlich herausgestellt. In ähnli-cher Form können wir auch die epistemische Funktion anderer Gedan-kenexperimente in den Naturwissenschaften als Kohärenztests internerArt gegen unser übriges Hintergrundwissen verstehen.

Diese Funktion können sie natürlich nicht nur für empirische Theo-rien übernehmen, sondern ebenso für philosophische Theorien, die in ei-nem noch stärkeren Maße auf interne „Kohärenzchecks“ angewiesensind, als das für empirische Theorien der Fall ist. In dieser Arbeit stütztesich unter anderem ein Argument gegen den Externalisten auf ein Ge-dankenexperiment, nämlich das von Norman dem Hellseher, der zwarauf zuverlässigem Wege zu wahren Meinungen gelangt, die wir abertrotzdem nicht als Wissen bezeichnen möchten, weil Norman selbst derAnsicht war, daß Hellseherei Unsinn ist. Das Beispiel sollte aufdecken,daß die externalistische Konzeption von Wissen nicht zu unseren übli-chen Annahmen über Wissen paßt, daß sie also nicht wirklich kohärentin unser Meinungssystem zu integrieren ist.

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Die KTR erlaubt uns aber nicht nur eine Erklärung der Bedeutungvon Gedankenexperimenten, sondern gibt uns zusätzlich auch Hinweise,wie diese „Experimente“ zu bewerten sind. So sollten sie sich als Kohä-renztests vor unserem Hintergrundwissen nach Möglichkeit nur auf sol-che Annahmen unseres Hintergrundwissens stützen, die selbst nicht kri-tisch beurteilt werden. Je besser die im Gedankenexperiment vorge-stellte Situation mit unserem Hintergrundwissen verträglich ist, um soernster müssen wir das Gedankenexperiment nehmen; je utopischer undunwahrscheinlicher die Situation aber ist, um so weniger bedeutsam istes, denn natürlich beziehen sich unsere Meinungen überwiegend auf denBereich möglicher Welten, den wir für wahrscheinlich halten. Daran hatsich auch unsere Metabeurteilung entsprechender Inkohärenzen zuorientieren, schließlich wollen wir in erster Linie gut begründete Mei-nungen über unsere tatsächliche Welt erhalten.

Diese zunächst abstrakten Betrachtungen kann ein Beispiel unterstüt-zen, an dem ich exemplarisch vorführen möchte, wie man mit Hilfe vonmetatheoretischen Überlegungen gegen Gedankenexperimente vorgehenkann. Derek Parfit (1984) argumentiert in Reasons and Persons für einereduktionistische Sichtweise personaler Identität, nach der unsere Identi-tät in der Zeit im wesentlichen auf physikalischen und psychologischenKontinuitäten und Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Sta-dien unseren Existenz beruht. Diese Konzeption testet er (1984, 199ff)unter anderem an unterschiedlichen Varianten eines Gedankenexperi-ments, das er „Teletransportation“ nennt. Dabei wird im einfachen Fallder Körper eines Menschen im Teletransporter auf der Erde zerstört,aber gleichzeitig auf dem Mars in exakter Kopie neu zusammengefügt.Für Parfit als Reduktionisten ist das genauso gut, wie gewöhnlichesÜberleben. Probleme macht ihm aber der „branch line case“, in dem derTeletransporter das Original nicht zerstört und es daher eine Personzweimal (?) gibt.

Wie der Reduktionist darauf reagieren kann, akzeptiert er erst ein-mal dieses Gedankenexperiment, möchte ich hier natürlich nicht bespre-chen, sondern auf ein externes Argument gegen das Parfitsche Gedan-kenexperiment eingehen. Die Teletransportation erscheint zunächst uto-pisch, aber andererseits ist es sicherlich eine logische Möglichkeit, diedurchaus in unser Hintergrundwissen zu passen scheint. Doch dieserSchein trügt. Um wirklich als Fortsetzung meiner Person gelten zu kön-nen, muß die Kopie mir nicht nur oberflächlich ähnlich sein, sonderneine exakte Kopie bis in die atomare Struktur darstellen, und so be-schreibt Parfit (1984, 199) den Fall auch. Insbesondere muß natürlich

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meine Gehirnstruktur ganz akkurat dupliziert werden. Doch bei dieserAnforderung paßt zumindest der Verzweigungsfall – aber vermutlichauch die „normale“ Teletransportation – nicht tatsächlich in unser Hin-tergrundwissen. So erläutert Penrose (1989, 269f), daß es nach der be-sten wissenschaftlichen Theorie, die wir jemals hatten, der Quantenme-chanik nämlich, unmöglich ist, eine solche Kopie bis in die Mikrostruk-tur vorzunehmen. Penrose weist explizit darauf hin, daß derartige Tele-transportationen physikalisch unmöglich sind.105 Diese physikalische Un-möglichkeit „erledigt“ einen Verzeigungseinwand natürlich nicht endgül-tig, aber sie kann ihn doch zumindest erheblich abschwächen, zeigt siedoch, wie inkohärent sich die Teletransportation mit Verzweigung sichin unserem Hintergrundwissen ausnimmt. Auf diese Weise kann KTRhilfreiche Hinweise für die Beurteilung von Argumentationen bieten.

I. Resümee

Ziel dieses Kapitels war die Entwicklung einer Kohärenzkonzeption vonepistemischer Rechtfertigung. Zu diesem Zweck wurden zunächst diewichtigsten möglichen Bestandteile von Kohärenz auf einer intuitivenEbene erörtert, wobei sich neben logischen Zusammenhängen vor allemErklärungsbeziehungen als kohärenzstiftend erwiesen haben. AndereSchlußformen wie der konservative Induktionsschluß können dagegenals Spezialfälle der Abduktion betrachtet werden. Eines der vielleichtgrößten intuitiven Hindernisse für Kohärenztheorien der Rechtfertigungstellen Beobachtungsüberzeugungen dar, die aufgrund ihrer Entstehungfür inferentielle Begründungen zunächst ungeeignet erscheinen. Dochdie Genese einer Meinung kann nicht ihre Rechtfertigung festlegen, undeine kohärentistische Analyse von Wahrnehmungen und ihren Irrtums-möglichkeiten ergab letztlich eine realistischere Bewertung von Beob-achtungsüberzeugungen, als es für Empiristen möglich ist. Mit dem Fal-len dieser letzten Hürde ist der Weg zu einer Kohärenztheorie frei, derin einer semiformalen Explikation des Kohärenzbegriffs gipfelte. Diesersetzt sich zusammen aus relationaler und systematischer Kohärenz, so-wie einem relativ eigenständigen Konzept von Inkohärenz, die alle zu-sammen bestimmen, wann sich eine Aussage kohärent in ein Meinungs-

105 Wenn sich Mikrozustände duplizieren ließen, könnten wir das so oftwiederholen, bis makroskopische Ausmaße erreichten würden. Dann ließen sichplötzlich Größen messen, die nach der Quantenmechanik nicht meßbar seienkönnen, weil sie keine bestimmten Werte aufweisen.

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system einfügt. Für die Qualität dieser Einbettung sind holistische Zu-sammenhänge, die nach einer möglichst großen Vernetzung und Verein-heitlichung unserer Überzeugungen fragen, die ausschlaggebenden Fak-toren.

Anhang: Bayesianistische Schlüsse

Es ist hier nicht der Ort, sich ausführlicher mit dem Bayesianismus zubeschäftigen, zumal man dabei auch in die formalen Untiefen dieses An-satzes einsteigen müßte. Trotzdem möchte ich kurz erläutern, inwiefernauch dieser Ansatz abduktive Charakteristika aufweist. Bayesianisten be-schreiben unser Meinungssystem mit Hilfe von Glaubensgraden. JedeÜberzeugung wird mit einer reellen Zahl zwischen 0 und 1 versehen, dieden Grad angibt, mit dem wir sie akzeptieren. Dieser Grad wird im all-gemeinen mit der Bereitschaft einer Person assoziiert, bestimmte Wett-quoten auf die Überzeugung zu akzeptieren,. Will die Person rationalbleiben, sollten ihre Glaubensgrade den Wahrscheinlichkeitsaxiomen ge-horchen. Anderenfalls läßt sich zeigen, daß sie sich auf Systeme vonWetten einlassen würde, bei denen sie bestenfalls verlieren kann. Stattvon Glaubensgraden spreche ich daher ab jetzt einfach von Wahrschein-lichkeiten p(A), die die Person ihrer Meinung A beimißt. Sie benötigtaber nicht nur einfache Wahrscheinlichkeiten für ihre Meinungen, son-dern zusätzlich noch bedingte Wahrscheinlichkeiten p(A,B), die angeben,wie hoch die Person die Wahrscheinlichkeit von A einschätzt, wenn sievoraussetzt (bzw. erfährt), daß B der Fall ist. Bayesianisten sprechendann darüber, wie jemand seine einfachen Wahrscheinlichkeitsschätzun-gen revidieren sollte, wenn er neue Beobachtungen E macht. Nur für dieÜberzeugungsänderungen hoffen sie substantielle Aussagen treffen zukönnen. Dazu stützen sie sich auf die folgende Konditionalisierungsregel:

(K)

D.h., wir sollten A in dem Grade glauben, wie wir, bevor wir E erfahrenhaben, an A unter der Annahme, daß E vorliegt, tatsächlich geglaubt ha-ben. Ob das vernünftig ist, hängt natürlich ganz davon ab, ob dieser be-dingte Glaube an A vernünftig war. Der sollte das Theorem von Bayeserfüllen:

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(B)

Das verankert ihn zumindest ein wenig innerhalb der anderen Überzeu-gungen. Er hängt nun auf einfach kalkulierbare Weise mit dem unbe-dingten Glauben an A und dem an E, sowie dem bedingten an E unterder Voraussetzung A zusammen. Der Zusammenhang (B) gibt tatsächlicheinige Aspekte derartiger Abschätzungen auf plausible Weise wieder.

Nehmen wir an, daß A eine Hypothese ist, die wir durch die Beob-achtungsüberzeugung E (evidence) stützen wollen. Dann ist die neueWahrscheinlichkeit für A zunächst um so größer, je größer die alte Wahr-scheinlichkeit für A war. Das scheint ziemlich unkontrovers. Sie ist aberauch um so größer, je eher E zu erwarten war, wenn A wahr ist. Das isteine Art von abduktivem Schluß, denn die höhere Wahrscheinlichkeit istzumindest ein Indikator, daß A eine Form von statistischer Erklärung fürE bietet. Außerdem wächst nach (B) unser Glaube an A besonders, wennE vorher recht unwahrscheinlich war. Das ist intuitiv und läßt sich inKTR so deuten, daß E zunächst nicht kohärent in unser Meinungssystemhineinpaßte, jedenfalls wenn wir von A einmal absehen. Nehmen wiraber A an, wird E gleich besser in unser Meinungssystem eingebettet,denn A verleiht E ja eine hohe Wahrscheinlichkeit. Damit steigert E indiesem Fall die relationale Kohärenz von A, indem sich dessen inkohä-rent erscheinende Konsequenzen als wahr erwiesen haben.

Der Zusammenhang zu abduktiven Schlüssen wird noch deutlicher,wenn wir die versteckte Bezugnahme auf unser Hintergrundwissen Kherausstellen und die Bayes-Formel (B) für den Fall mehrerer konkurrie-render Hypothesen betrachten. Zunächst berücksichtigen wir K:

(BK)

Damit sind alle Wahrscheinlichkeiten bedingte Wahrscheinlichkeiten ge-worden. Die früheren einfachen oder a priori Wahrscheinlichkeiten er-weisen sich als abhängig von unserem Hintergrundwissen, wie wir dasfür Schlüsse auf die beste Erklärung auch kennen. Wenn wir nun nochdavon ausgehen, daß wir nicht nur eine Meinung A, sondern eine Men-ge von konkurrierenden Hypothesen {H1,…,Hn} untersuchen, die einedisjunkte und erschöpfende Zerlegung der möglichen Erklärungen dar-stellen, erhalten wir mit einer kleinen wahrscheinlichkeitstheoretischenUmrechnung:

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(BZ)

Mit (BZ) könnten wir nun auf die Hypothese Hi schließen, die E am be-sten erklärt und damit die höchste Wahrscheinlichkeit aller Hypothesenerhält.

Man könnte deshalb versucht sein, (BZ) als ein quantitatives Buch-haltungsverfahren für Abduktionen einzusetzen. Doch darauf möchteich mich so schnell nicht einlassen. Schon die Quantifizierung von Glau-bensgraden ist nicht unproblematisch. Für viele unserer Überzeugungenkönnen wir bestenfalls sehr vage Schätzungen abgeben. Fragen Sie sichdoch bitte einmal ernsthaft, für wie wahrscheinlich Sie die Quantenme-chanik halten. Das wirft gleich eine Vielzahl von Fragen auf. Auch sinddie wahrscheinlichkeitstheoretischen Berechnungsverfahren für Glau-bensgrade keineswegs immer so plausibel, wie uns die Bayesianistenweismachen wollen. Das belegt schon das Beispiel meiner kleinen Ge-schichte in Abschnitt (A.5) (s. a. Cohen 1989, 17ff). Noch unrealisti-scher wird es, wenn man von uns nicht nur einfache Wahrscheinlichkei-ten, sondern auch noch bedingte verlangt. Und das für alle nur denkba-ren Beobachtungen, die wir irgendwann einmal machen könnten.

Dieser extrem hohe „Rechenaufwand“ erbringt trotzdem nur relativgeringe Erfolge, wenn man die erkenntnistheoretische Frage im Augehat, was wir glauben sollen. Alle Forderungen des Bayesianismus an un-sere Glaubensgrade sind bloß Konsistenzforderungen. Zunächst wird ver-langt, daß sich die Glaubensgrade im Sinne der Wahrscheinlichkeits-axiome nicht widersprechen. Wir dürfen also nicht gleichzeitigp(A)=0,9 und p(¬A)=0,9 akzeptieren. Im nächsten Schritt erwartet derBayesianismus von uns, daß unsere Glaubensänderungen zu unseren vor-herigen bedingten Wahrscheinlichkeiten und dem Bayesschen Gesetzpassen. Das ist schon alles. Diese Glaubensgrade oder subjektiven Wahr-scheinlichkeiten können ansonsten so verrückt sein, wie man nur will.Die Berechnung der Glaubensgrade hat daher mehr buchhalterischeFunktion, als daß sie normativ wirkt.

Schlimmer ist allerdings noch, daß der Ansatz erstens fundamentali-stisch ausgerichtet ist und zweitens Änderungen unserer Überzeugungenanhand neuer Begriffe und Theorien nicht nachzeichnen kann. Typi-scherweise unterscheidet der Bayesianist zwischen Daten und Hypothe-sen. Und in der Formel (K) werden die Daten schlicht als gegeben akzep-

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tiert. Diese Unkorrigierbarkeit der Basis können wir zwar durch denÜbergang zur Jeffrey- Konditionalisierung

(J)

(wobei die Ei wiederum eine vollständige Zerlegung unseres Wahr-scheinlichkeitsraumes darstellen sollen) beheben, aber der fundamentali-stische Charakter bleibt erhalten. Wahrscheinlichkeitsänderungen neh-men ihren Ausgang bei den „Daten“ und verändern unsere Glaubensgra-de für Hypothesen. Die Rechtfertigungsstruktur ist gerichtet und nichtreziprok.

Das könnte vielleicht wenigstens ein approximatives Modell für dieWissenschaften darstellen. Doch hier kommt ein anderes gravierendesProblem ins Spiel. Wir wissen nicht auf welche neuen Theorien mit neu-en Begriffen Wissenschaftler noch verfallen werden. Wie sollen wir da-her für diese Fälle bereits jetzt bedingte Wahrscheinlichkeiten angeben?D.h., wir verfügen auch nicht über vollständige Hypothesenmengen. Diegrößten Fortschritte und Revolutionen in der Wissenschaftsgeschichteerfolgten durch Einführung neuer Theorien, die die Einführung neuerBegriffe beinhalten. Für diesen entscheidenden Schritt weiß uns derBayesianismus keine Hilfe mehr anzubieten.

Auch das, was Theorien und ihre Erklärungskraft auszeichnet, wasTheorien oft so spannend für uns macht, wie ihr hoher empirischer Ge-halt und ihre Erklärungskraft, tauchen im Bayesianistischen Rahmennicht in geeigneter Weise auf. Doch dazu mehr in Kapitel IX.

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V Einwände gegen eine Kohärenztheorie

Auch gegen Kohärenztheorien der Rechtfertigung gibt es natürlich eineReihe von Einwänden, von denen ich wenigstens die prominentestenVertreter in diesem Kapitel besprechen möchte. Wir wissen spätestensseit den Arbeiten Kuhns zur Wissenschaftsgeschichte, daß jedes noch soerfolgreiche Forschungsprogramm an einigen Stellen mit Anomalien zuleben hat, meist in der Hoffnung, diese später durch kleinere Revisionenbeheben zu können. Allerdings liegt die Front, an der sich Theorien zubewähren haben, auch nicht allein in der Auseinandersetzung mit denDaten (das waren in unserem Fall unsere reflektierten Beispiele für epi-stemische Begründungen und allgemeineren Vorstellungen darüber, wiederartige Begründungen auszusehen haben), sondern wesentlich in ei-nem Sieg über die konkurrierenden Forschungsprogramme. Die KTRhat sich vor allem gegenüber fundamentalistischen Positionen zu be-haupten. Ein Vergleich zu anderen Kohärenztheorien und anderen An-sätzen hat zum großen Teil bereits in den vorangegangenen Kapitelnstattgefunden, doch im Zusammenhang einiger klassischer Einwände ge-gen Kohärenztheorien werden weitere Vergleiche mit den Leistungenanderer Erkenntnistheorien zu ziehen sein.

A. Das Regreßproblem

Fundamentalisten führen als wichtigstes Argument für ihre Position dasRegreßargument an. Das bezieht sich darauf, daß man von rechtfertigen-den Überzeugungen erwarten kann, sie seien selbst bereits gerechtfertigt.Dem hier lauernden Regreß oder Zirkel kann man ihrer Meinung nachnur entkommen, indem man an irgendeiner Stelle das Zurückgreifen aufandere Meinungen abbricht und diese ersten Meinungen für epistemischgrundlegend erklärt. Basale Meinungen müssen dann selbst gerechtfer-tigt sein, ohne dazu auf andere Meinungen angewiesen zu sein. Der fun-damentalistische Lösungsvorschlag hatte sich aber als nichtrealisierbareWunschvorstellung erwiesen. Sobald die Fundamentalisten in die Pflichtgenommen wurden, die basalen Überzeugungen und die Art ihrer Recht-

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 264

fertigung konkret anzugeben, war es um die Plausibilität ihrer Positio-nen geschehen. Die wohl prominentesten und erfolgversprechendstenVorschläge fundamentalistischer Erkenntnistheorien sind sicher die em-piristischen, wonach Beobachtungsüberzeugungen grundlegend für unse-re Erkenntnis sind. Daß sie aber auch nicht überzeugen können, wurdespätestens durch die kohärentistische Analyse der Begründung von Be-obachtungsüberzeugungen ersichtlich, denn die zeigte, wie auch in de-ren Rechtfertigung wesentlich unser Hintergrundwissen eingeht. Stehtnun die Kohärenztheorie vis-à-vis dem Regreßproblem besser da? Hatsie eine Antwort auf dieses Problem anzubieten, die überzeugender istals die des Fundamentalismus? In diesem Abschnitt möchte ich untersu-chen, was sie zu unserer Intuition beitragen kann, daß rechtfertigendeAussagen immer schon gerechtfertigt sein müssen. Aber vorher soll nochkurz ein anderer Weg, sich gegen den Regreßeinwand zu verteidigen, zuZwecken der Abgrenzung Erwähnung finden.

1. Pragmatischer Kontextualismus

Eine Antwort auf das Regreßproblem und überdies auch auf weiterge-hende skeptische Einwürfe, die schon Wittgenstein ausprobiert hat, zieltauf den konkreten Einsatz und Kontext von Begründungen. In allen rea-listischen Beispielen von Rechtfertigungen steht die Frage nach einer Be-gründung in einem vorgegebenen Kontext. Je nach Kontext werden da-bei jeweils bestimmte Meinungen nicht in Frage gestellt und können alseine Art von unkontroversem Hintergrundwissen vorausgesetzt werden.Wenn mich jemand fragt, wieso ich glaube, daß Fritz nicht gut auf michzu sprechen ist, und ich antworte ihm, daß er direkt vor mir stehend„Idiot“ zu mir gesagt hat, wird man natürlich in normalen Kontextendie Frage, ob man sich denn auch sicher sei, kein Gehirn in einem Topfzu sein – was ja eine andere Interpretation der Wahrnehmung erforderte– als bloße Zumutung, aber nicht als ernstzunehmende Frage verstehen.Auch in wissenschaftlichen Kontexten sind jeweils bestimmte Annahmenals unproblematisches Hintergrundwissen zu betrachten. Den Histori-ker, der eine Vermutung über Hitlers Einstellung zu Frauen äußert, frageich nicht, welche Beweise er denn hätte, daß die Welt nicht erst vor dreiMinuten entstanden sei, wobei uns ein böser Dämon mit falschen Erin-nerungen über unsere Vergangenheit an der Nase herumführt, und Hit-ler daher nie existiert hat. Die Fragen enden in der Regel nicht erst beiskeptischen Hypothesen, sondern schon erheblich früher, weil wir unse-re Begründungen auf einen weit größeren Bereich von gemeinsamem

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Hintergrundwissen aufbauen dürfen als die bloße Ablehnung skeptischerHypothesen. Ein unendlicher Regreß ist daher ein Phänomen, dem wirin der Rechtfertigungspraxis nicht tatsächlich begegnen. Können wirdiese Erkenntnis nicht zu einem Einwand gegen den Regreß ausbauen?Eine Position, die den Regreß auf diesem Weg als unbedeutend zurück-weist, können wir als pragmatischen Kontextualismus bezeichnen. Siestudiert Begründungen in ihren praktischen Zusammenhängen, in denender jeweilige Kontext festlegt, welches die Prämissen einer Rechtferti-gung sind, auf die man sich beziehen darf.106 Das Regreßproblem trittdann nicht mehr auf, weil wir immer ein Hintergrundwissen vorausset-zen, auf das wir für die Rechtfertigung zurückgreifen dürfen.

Diese Zurückweisung des Regreßproblems kann zeigen, daß es sichauch lohnen würde, eine Theorie der Rechtfertigung auszuarbeiten,wenn es nicht gelänge, eine Antwort auf das Regreßproblem zu geben.Aber natürlich zeigt sie nicht, daß es damit obsolet geworden ist undman für eine Theorie der Rechtfertigung dieses Problem nicht mehrsinnvoll aufwerfen kann. Als Erkenntnistheoretiker kann ich durchauszugestehen, daß in praktischen Begründungen das Regreßproblem nichtin Erscheinung tritt, weil sich die Gesprächspartner meist auf ein unkon-troverses Hintergrundwissen beziehen können, aber niemand kann mirverbieten nachzufragen, ob dieses Hintergrundwissen auch gut begründ-bar ist. Dafür muß mir der Hinweis, die Diskussionspartner hätten sichdarauf geeinigt, keineswegs ausreichen. Die Einigung sagt noch nichtsdarüber, ob dieses Hintergrundwissen wahr ist. Eine Rechtfertigung, diesich auf lauter unbegründete Meinungen stützt, die genauso gut falschwie wahr sein können, ist aber kein Wahrheitsindikator mehr. Sie dientin diesem Zusammenhang nur dem praktischen Zweck, sich in einerDiskussion schnell auf eine Ansicht zu einigen.

Der pragmatische Kontextualismus soll trotzdem an dieser Stelle alsmögliche Antwort erwähnt werden, weil er eine immer wieder vorge-brachte Argumentationsform gegen skeptische Einwände aller Art dar-stellt. Es handelt sich außerdem weder um eine fundamentalistische Po-sition, so wie wir sie gekennzeichnet hatten, noch um eine kohärentisti-sche. Ein Kontextualist zeichnet keine Klasse von basalen Aussagen nurdurch ihren Inhalt aus, sondern wählt jeweils nur in Abhängigkeit vomKontext eines speziellen Rechtfertigungsprojekts bestimmte Überzeugun-gen als für diesen Kontext unproblematisch aus und unterschreibt damit

106 Sogar die Standards für Rechtfertigungen können dabei vom Kontextmit festgelegt werden. Wissenschaftliche Dispute verlangen natürlich andere alsStammtischreden oder Politikeransprachen.

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nicht (FU 3) (s. Kap. III.B.1). Er verlangt auch von diesem Hintergrund-wissen nicht, daß es kohärent sein muß, sondern nur, daß es für die be-teiligten Diskussionspartner selbstverständlich erscheint.

Von Williams (1991) wurde der interessante Versuch unternommen,aus diesen praktischen Überlegungen ein erkenntnistheoretisches Argu-ment zu entwickeln und somit auch den Skeptiker anhand eines theore-tisch fundierten Kontextualismus zurückzuweisen. Williams behauptet,daß die Fragestellungen des radikalen Skeptikers auf einen Fundamenta-lismus als theoretische Voraussetzung angewiesen sind und somit auf ei-ner falschen erkenntnistheoretischen Annahme beruhen. Dadurch trittder Kontextualismus aus dem von Erkenntnistheoretikern oft nicht sorecht ernstgenommenen rein pragmatischen Kontext heraus und ge-winnt auch theoretische Bedeutung. Um diesen Schritt durchführen zukönnen, ist Williams jedoch auf eine subtile Analyse der skeptischen Po-sitionen angewiesen, die er bekämpfen möchte, die sehr viele angreifba-re Einzelschritte enthält und sicher nicht als unkontrovers betrachtetwerden kann. Der Kohärenztheoretiker ist zum Glück nicht auf einederartig komplizierte Diagnose des Regreßproblem-Skeptizismus ange-wiesen, in der dem Skeptiker falsche theoretische Voraussetzungen vor-geworfen werden, sondern bemüht sich, eine direkte Antwort auf dieFrage nach den Rechtfertigungen der Prämissen unserer Rechtfertigun-gen zu geben. Er beruft sich nicht auf kontextuelle Aspekte von Recht-fertigungen, sondern zeigt auf, wo die gesuchten Rechtfertigungen zu su-chen sind.

2. Lineare Rechtfertigungsstrukturen?

Der Kohärenztheoretiker hat auf das Regreßproblem die schlichte Ant-wort parat: Denken wir uns ein annähernd ideal kohärentes oder wenig-stens hochkohärentes System X von Aussagen. Dann sind alle Aussagendieses Systems auch optimal begründet. Für jede Aussage in dem SystemX gibt es sogar gleich mehrere inferentielle Begründungen, wenn Xwirklich hochkohärent ist. Sobald ich mich also bei der Rechtfertigungeiner Aussage p aus X auf andere Aussagen von X stütze, sind dieseselbst gleichfalls gerechtfertigt. An diesem Punkt wird wieder ein holisti-scher Zug von Rechtfertigungen offenkundig. Bei Vorliegen systemati-scher, globaler Kohärenz hält unser Überzeugungssystem allen weiterenNachfragen stand, und gestattet es, zu jeder Meinung aus X eine Recht-fertigung zu produzieren. Damit ist die Kohärenzkonzeption an keiner

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Stelle auf die Zurückweisung „In diesem Zusammenhang darf man nichtnach rechtfertigenden Meinungen fragen.“ angewiesen.

Ein naheliegender Einwand von fundamentalistischer Seite scheintdemgegenüber zu sein: Aber ist das denn möglich, müssen denn nichtbestimmte Überzeugungen vor anderen begründet werden? Es ist wich-tig, zunächst noch einmal einem Mißverständnis in bezug auf Rechtferti-gungszusammenhänge vorzubeugen, das sich hinter diesem Einwandhäufig verbirgt. Begründungszusammenhänge sind nicht zeitlich zu ver-stehen oder als ein tatsächlicher Prozeß von Rechtfertigungen, auchwenn eine ganze Reihe von Formulierungen das nahelegen.107 Rechtfer-tigungsbeziehungen sind zeitlose inferentielle Zusammenhänge in der Artvon logischen Zusammenhängen, während dagegen jeder Vorgang derRechtfertigung, den ich vornehme, ein zeitlich ablaufender Prozeß ist;wie auch die Durchführung einer logischen Deduktion einen zeitlichenProzeß darstellt. Man darf das Regreßargument daher nicht als ein Argu-ment beschreiben, daß nach dem Vorgang des Begründens von Meinun-gen fragt, denn damit begibt man sich aus der Debatte um Rechtferti-gungszusammenhänge in die der Genese von Meinungen. ExpliziteRechtfertigungsketten kann man selbstverständlich nur endlich vieleSchritte weit tatsächlich durchlaufen. Das sagt aber noch nicht, daß mannicht im Prinzip und implizit über weitere Rechtfertigungen potentiellsogar ohne Ende verfügt. Eine Analogie von Lehrer (1990b, 88f) kanndiesen Punkt etwas erhellen. Die Addition von drei zu einer gegebenenZahl kann ich aufgrund biologischer Beschränkungen, die wir alle be-dauern, nur endlich oft vornehmen. Das heißt aber nicht, daß es einegrößte Zahl geben muß, zu der ich drei nicht addieren könnte. DieRechtfertigungsketten des Regreßarguments sind also nicht als Kettenvon tatsächlich anzugebenden Rechtfertigungen, die wir nicht tatsäch-lich durchlaufen können, zu deuten, sondern nur als Problem der logi-schen Struktur von Rechtfertigungsbeziehungen. Die Begründungsstruk-tur kennt diese zeitlichen Relationen nicht, sondern ist zeitlos (vgl.III.B.2).

Hat man die Vorstellung zeitlicher Beziehungen zwischen Argumen-ten für p und p selbst erst einmal aufgegeben, wird auch verständlicher,wie die Antwort der Kohärenztheoretiker auf das Regreßproblem zu ver-

107 Diese Formulierungen finden sich meist dort, wo man Genese undRechtfertigungen nicht sauber trennt (etwa Musgrave 1993, 61). Beim Erwerbvon Überzeugungen oder ihrer expliziten Rechtfertigung müssen wir natürlich ir-gendwo anfangen. Diese genetische Beschreibung wird häufig zu schnell als eineBeschreibung der epistemischen Struktur ins Spiel gebracht.

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stehen ist. Ich gehe nicht von p zu anderen Aussagen q, die ich zuerstrechtfertigen muß, um p rechtfertigen zu können, und von dort zu Aus-sagen r, die wiederum vorher zu rechtfertigen sind usw., sondern p ist ge-rechtfertigt aufgrund von q und q aufgrund von r usf. Der zunächst er-weckte Eindruck, hier müßte eine unendliche Kette tatsächlich durchlau-fen werden, war irreführend. Da in einem kohärenten Überzeugungssy-stem aber alle einzelnen Überzeugungen inferentiell gerechtfertigt sind,hat der Kohärenztheoretiker die im Regreßproblem gestellte Aufgabe be-antwortet. Der weitergehende Einwand, das ganze Überzeugungssytemsei dann wohl nicht begründet, mündet bereits in eine radikalere Versiondes Skeptizismus, auf die ich erst im Kapitel (VI) eingehen möchte. DerKritiker der Kohärenztheorie ist daher an dieser Stelle aufgerufen, seinRegreßargument so zu formulieren, daß es befreit ist von allen Vorstel-lungen zeitlichen Vorhergehens, aber auch nicht die Falschheit der kohä-rentistischen Position zur Voraussetzung erhebt.

Überdies erhält man im kohärentistischen Bild unseres Überzeu-gungssystems keine einfache Kette von Überzeugungen der im Regreßar-gument angegebenen Art, sondern ein kompliziertes Netzwerk von Mei-nungen. BonJour formuliert diese Einsicht der Kohärenztheorie so, daßhier eine falsche Voraussetzung des Regreßarguments aufgedeckt wird,nämlich, daß Rechtfertigungen linear verlaufen. Damit ist zunächst dar-auf hingewiesen, daß ich nicht für eine Aussage immer nur eine anderezur Begründung heranziehe und dann wieder eine weitere usf. Die Be-gründungen fächern sich auf und in diesem großen Fächer, darf auch pselbst wieder eine kleine rechtfertigende Rolle übernehmen, was schondaran liegt, daß Rechtfertigungsbeziehungen reziprok sind. Ein ideali-siertes Beispiel soll den Punkt illustrieren: Eine Beobachtungsaussage peines kohärenten Systems X sei durch die Erklärung mit Hilfe einerTheorie T in X zum Teil gerechtfertigt. Die Theorie stützt sich episte-misch unter anderem auf ihre große Erklärungsleistung, nach der sieviele Beobachtungen auf zufriedenstellende Weise erklärt. Eine unterden vielen Beobachtungen, die die Theorie mittels Abduktion stützen, istdabei wiederum p, das damit einen kleinen Beitrag leistet, die Erklä-rungsbreite und Leistungsfähigkeit der Theorie T aufzuzeigen. Natürlichsollte T nicht nur durch p zu rechtfertigen sein, denn dann hätten wir esmit einer ausgesprochenen ad hoc Theorie zur Erklärung von p zu tun,die eine Form von Inkohärenz, etwa gemäß dem Punkt des isoliertenSubsystems, in X darstellte (s. KTR 3.b). Weiterhin gibt es eine Einbet-tung von T in ein umfangreicheres Netzwerk von anderen Theorien undAnnahmen höherer Stufe, die T epistemische Unterstützung leisten. Für

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 269

manche Theorien gab oder gibt es praktisch nur solche theoretischenGründe und keine Beobachtungen, auf die sie sich berufen können. Daswar etwa für die allgemeine Relativitätstheorie zu Beginn ihrer Karriereder Fall und ist heute für einige sehr moderne Theorien wie Twistor-theorien oder ähnlich abstrakte Theorien wohl nicht viel anders. SchonEinsteins Gründe für seine Entwicklung der speziellen Relativitätstheo-rie waren zunächst rein theoretischer Art und bezogen sich auf das un-terschiedliche Invarianzverhalten von Elektrodynamik und klassischerMechanik und nicht die Beobachtung relativistischer Phänomene. DieseZusammenhänge offenbaren, daß die Vorstellung von linearen Rechtfer-tigungen, die sich in unendliche Ketten oder Zirkel zurückverfolgen las-sen, tatsächlich irreführend ist.

Auch die Beobachtungsüberzeugung p selbst wird nicht nur durch Tund die von T geleistete Einbettung von p in unser Hintergrundwissengestützt, sondern ist ihrerseits in viele empirische Zusammenhänge ein-gebettet. Einen hatten wir schon im Beispiel des Superempiristen er-wähnt, nämlich die Kontinuität in unseren beobachtbaren Bereichen.Wird die wesentlich verletzt, spricht das gegen die Brauchbarkeit unse-rer Wahrnehmungen als Information über die Außenwelt, während ihrVorliegen ein Grund ist, ihr zu vertrauen. Ähnlich sieht es für unsere Er-wartungen aus. Mitten in einer menschenleeren Wüste erwarten wir kei-nen Eisstand oder eine Tankstelle, wenn noch nicht einmal eine Straßevorhanden ist, sondern befürchten beim Auftauchen eines Eisstands viel-mehr, einer Halluzination zu unterliegen. Stimmen unsere Beobachtun-gen mit unseren Erwartungen überein, geben die Erwartungen, die ja ih-rerseits auch begründbar sind, uns ebenfalls Grund, unseren Sinnen zuvertrauen. Darüber hinaus ist p vielleicht in einer Situation, für die wiruns selbst als zuverlässige Beobachter einstufen, spontan in uns entstan-den, so daß auch unsere epistemischen Überzeugungen einen Grund bie-ten, an p zu glauben. Diese werden ebenfalls durch p bestätigt, wennsich p bewährt und nicht später als falsch herausstellt, denn für sie ist peine Instanz, die sie gut erklären können. Die genannten Zusammenhän-ge geben einen kleinen Ausschnitt aus dem vielfältigen Geflecht vonMeinungen, in das p eingeordnet wird und die p epistemisch stützen, fürdie aber auch p wiederum einen Wahrheitsindikator darstellt.

Hier drängt es sich auf einzuwenden, diese Beschreibung könnegleichwohl so nicht stimmen, denn eins müsse doch zuerst gerechtfertigtsein, p oder die anderen Aussagen, die p stützen sollen. Aber so vorge-tragen versteckt sich dahinter wiederum nur die falsche Auffassung einerzeitlichen Beziehung, die bei Fundamentalisten in eine Asymmetrie der

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Rechtfertigungsbeziehung umgedeutet wird. Für Fundamentalisten sindRechtfertigungen neben ihrer Eingleisigkeit auch noch gerichtet. Es kannimmer nur p eine epistemische Unterstützung für q darstellen oder um-gekehrt, aber es kann nicht sein, daß beide eine epistemische Stützungfür den jeweils anderen abgeben. Doch welche Gründe, neben der zuge-geben intuitiv wirksamen Vorstellung von Rechtfertigung als einem zeit-lichen Vorgang, sprechen für diese einseitige Gerichtetheit? Hier ist derFundamentalist aufgerufen, solche Gründe zu nennen, wenn er sich ge-gen Kohärenzkonzeptionen wenden möchte, denn der Kohärenztheore-tiker hat zunächst ein plausibles Bild der Rechtfertigungszusammenhän-ge anzubieten – das des Netzes von Überzeugungen –, die sich in kompli-zierten Erklärungsbeziehungen gegenseitig stützen. In einem kohärentenNetz lassen sich für alle Elemente intuitiv überzeugende Rechtfertigun-gen anbieten. Damit sind natürlich auch alle Aussagen des Netzes, diezur Rechtfertigung herangezogen werden, selbst wieder gerechtfertigt.Unserer Intuition, daß nur begründete Meinungen rechtfertigende Wir-kung haben können, ist damit entsprochen.

Es gibt selbstverständlich auch Versuche von raffinierten Fundamen-talisten, das Regreßargument ohne Anklang an zeitliche Beziehungen zuformulieren. Moser (1991, 56ff) stellt etwa einen solchen Fall dar, deralle Antworttypen auf das Regreßargument daraufhin genauer unter-sucht. Für Rechtfertigungen anhand von kohärenten Netzen macht erz. B. geltend:

At most such coherence makes the members possibly true. But if co-herence by itself is not probability-providing, a coherent system isnot automatically probability providing. Thus Probability Coherent-ism does not provide an adequate evidence basis for evidential prob-ability. (Moser 1991, 62)

Und für seine Behauptung, daß Kohärenz noch nicht von sich aus „pro-bability providing“ ist, beruft er sich wesentlich auf den „mehrere Sy-steme“-Einwand:

There are comprehensive coherent systems of obviously false, evi-dentially gratuitous propositions, such as propositions in science fic-tion. And for virtually any coherent system of propositions, we canimagine an alternative system mainly of the denials of the proposi-tions in the first system. (Moser 1991, 62)

Davon einmal abgesehen, daß kaum zu erwarten ist, die Negationen un-serer Meinungen könnten ebenfalls ein kohärentes System bilden, sind

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die von Kohärenztheorien wie KTR erlaubten Überzeugungssysteme kei-neswegs so beliebig, daß jede kohärente Geschichte zulässig ist. MosersÜberlegungen zum Regreßproblem münden an dieser Stelle aber schonin einen anderen klassischen Einwand gegen Kohärenztheorien, so daßschließlich das Regreßproblem hier keine eigenständige Bedeutung mehrbesitzt, sondern im Rahmen des mehrere-Systeme Einwands (s. V.C) zubehandeln ist.

Die kohärentistische Vorstellung von der Struktur der Begründung ei-ner Aussage p ist also nicht die einer Kette von Rechtfertigungen, dieman für p namhaft machen kann, sondern eher die, daß das ganze kohä-rente System X p auf vielen Wegen rechtfertigt. Dabei bezieht X seineeigene Rechtfertigung daraus, daß es sich um ein kohärentes Systemhandelt, daß trotz ständigen Auftretens neuer spontaner Meinungen, dieals Beobachtungsinput zu deuten sind, stabil bleibt. Die KTR beschreibtein dynamisches Modell der Welt, das einen ständigen Strom von Infor-mationen auf der Grundlage des jeweiligen Systems X kognitiv verarbei-tet und seine langsame Anpassung zu einem immer geschlosseneren undinformativeren Bild der Welt vorantreibt. Genau dieses Verfahren gibtuns einen Grund, daran zu glauben, daß es eine zunehmend korrektereBeschreibung der Welt oder bestimmter Teil der Welt darstellt. Darüber,wie gut X allgemein mit dem Beobachtungsinput fertig wird, gibt seinesystematische Kohärenz Auskunft, während die relationale Kohärenzvon p in X eher die spezielle Bestätigung von p durch X bestimmt.

Natürlich kann man auch an dieser Stelle weiter fragen: Aber wie istdiese Vorgehensweise als Ganzes zu rechtfertigen? Da das Netz all unse-re Überzeugungen erster wie auch höherer Stufen umfaßt, ist das bereitseine radikal skeptische Frage, die all unsere Meinungen gleichzeitig inFrage stellt. Hier meldet sich nicht mehr der Erkenntnistheoretiker, dereine andere Rechtfertigungstheorie gegen KTR stark machen möchte,sondern der externe Skeptiker (wie ich ihn in Kapitel (VI) nennen werde)zu Wort, mit dem ich mich erst dort beschäftigen werde. In diesem Kapi-tel wird immer noch eine Art von internem Standpunkt eingenommen.Es bleibt damit gegen den Regreßeinwand die Frage offen, wie er nebenden klassischen Einwänden oder radikalen skeptischen Positionen einenneuen Aspekt ins Spiel bringen kann, der zwischen fundamentalistischenund kohärentistischen Begründungsstrategien diskriminieren kann, ohneden Kohärenzvertreter auf falsche Annahmen über zeitliche Beziehungenoder lineare Rechtfertigungsstrukturen festzulegen. Dazu muß man na-türlich ebenfalls im Auge behalten, wie überzeugend die Auskunft derFundamentalisten zur Frage des Begründungsregresses ist. KTR hat zum

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Regreßproblem deutlich mehr zu sagen als der Fundamentalist, der sichfür basale Meinungen z. B. auf ihre Selbstevidenz beruft, was einem aus-gesprochen kleinen Zirkel gleichkommt. Eine weitergehende und zu-gleich ergänzende Antwort möchte ich nun diskutieren, weil sie einesinnvolle Ergänzung von KTR um eine Metaregel darstellt.

3. Epistemologischer Konservatismus

Den Kohärenztheorien wird verschiedentlich vorgeworfen (s. Kap.IV.E.3), zu konservativ auf neue Informationen zu reagieren. Dieser Vor-wurf scheint auf einem zu engen Verständnis dessen, was alles in Kohä-renzüberlegungen mit einbezogen werden muß, zu beruhen. In diesemAbschnitt möchte ich nicht die Kohärenztheorie gegen den Vorwurf desKonservatismus, sondern den Konservatismus selbst verteidigen und so-gar für einen entsprechenden Zusatz zu KTR plädieren. Der Konserva-tismus soll als eine wünschenswerte metatheoretische Ergänzung vonKTR betrachtet werden, die ein realistischeres Bild von Erkenntniszeichnet, das auch die Entstehung von Meinungssystemen in Ansätzenmodellieren hilft und darüber hinaus wünschenswerte epistemische Ei-genschaften aufweist.

Zunächst muß für die Diskussion geklärt werden, was unter einemKonservatismus in der Erkenntnistheorie im weiteren Verlauf verstandenwerden soll. Es sind dazu recht unterschiedlich starke konservative Posi-tionen etwa von Sklar (1975) formuliert worden. Im folgenden meineich damit immer nur das relativ schwache Prinzip (MK):

(MK) (Methodologischer) Epistemologischer KonservatismusDas Haben einer bestimmten Überzeugung in einem kohärenten undstabilen Überzeugungssystem stellt für sich bereits einen wenn auchschwachen Grund dar, an dieser Überzeugung festzuhalten. In denFällen, in denen alle anderen Gründe zwischen zwei Hypothesengleich sind, kann es einen Grund bieten, die zuerst gehabte Überzeu-gung beizubehalten.

Das ist meines Erachtens die einzig vertretbare Form des erkenntnistheo-retischen Konservatismus, in der z. B. nicht angenommen wird, daß diekonservative Verankerung von Überzeugungen gegen andere epistemi-sche Stützungen aufgerechnet werden kann. Ergeben sich gute (kohären-tistische) Gründe gegen eine Meinung, sollten wir sie aufgeben, auchwenn wir sie bisher schon lange akzeptiert haben. Die Tradition soll derVernunft nicht im Wege stehen, sondern ihr nur dort helfen, wo unsere

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anderen Gründe nicht ausreichend erscheinen. Etwa wenn wir zwischenzwei Hypothesen keine epistemischen Gründe angeben können, um dieeine vorzuziehen, aber die eine bisher akzeptiert haben und die anderenicht, soll das als Grund anzusehen sein, sie der neu aufgetauchten Al-ternative erkenntnistheoretisch vorzuziehen.

Es dürfte dabei auf der Hand liegen, daß das bloße Haben einerÜberzeugung nur als ausgesprochen schwacher erster Grund für dieseÜberzeugung anzusehen ist. Das gilt vor allem dann, wenn das Überzeu-gungssystem hinreichend verrückt ist. Ein Überzeugungssystem wie daseines Superempiristen (vgl. IV.A.1) gibt uns kaum Anhaltspunkte, um andie einzelnen Meinungen des Superempiristen zu glauben. Die Forde-rung, nach Kohärenz und damit einem im Sinne von KTR einigermaßen„vernünftigen“ System von Meinungen ist daher ein wichtiger Bestand-teil von (MK), den Proponenten des Konservatismus allerdings meistnicht erwähnen. Außerdem sollte deutlich sein, auch wenn ich auf die-sen Punkt aus Gründen der Vereinfachung nicht immer explizit hin-weise, daß Überzeugungen eine Sache des Grades sind und (MK) bietetnur Gründe für einen Glauben einer geringen Stärke. Ohne hier ein for-males Modell von verschiedenen Glaubensgraden favorisieren zu wol-len, möchte ich noch einmal darauf verweisen, daß unser Überzeugungs-system verschiedene Metaebenen hat, auf denen sich zumindest implizitauch Überzeugungen über die Sicherheit unserer Überzeugungen findenlassen. In der Frage, ob morgen die Sonne wieder aufgehen wird, sindwir uns – von Bewölkungen einmal abgesehen – wohl meist sehr sicher,während das z. B. nicht gilt im Hinblick auf das Alter, daß wir erreichenwerden. Das Haben und Einschätzen auch schwacher Gründe ist ein Be-standteil unserer epistemischen Theorie und auch diese Metaüberzeu-gungen sind selbst wieder Gegenstand von Bewertungen.

Doch was spricht für Überzeugungen, die wir bereits aufweisen, imUnterschied zu denen, die man statt dessen akzeptieren könnte, für diewir über keine schlechteren Gründe verfügen? Zunächst einmal sind esimplizite Tests, die diese gehabten Meinungen durchlaufen haben, diedie Alternativen nicht aufweisen. Diese Meinungen haben sich – undhier kommen wesentlich dynamische Aspekte ins Spiel – in ihrem bishe-rigen Einsatz bewährt. Jonathan Adler (1990) spricht in diesem Zusam-menhang von „tacit confirmation“. Wir können vermutlich nicht genausagen, an welchen Stellen das der Fall war, aber sie haben als Bestand-teile eines kohärenten Systems nicht zu auffälligen Widersprüchlichkei-ten geführt. Bei jeder Aufnahme von Informationen und internen Kohä-renztests einer Theorie steht natürlich nicht nur die eine Theorie zur

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Diskussion, sondern auch unser Hintergrundwissen, das wir zur Beurtei-lung heranziehen. Das ist schon eine Folge der Reziprozität von Recht-fertigungen. Dabei können in schwacher Form auch Teile betroffen sein,die wir nicht explizit testen, die sich aber stillschweigend bewährt haben,wenn die Kohärenz unseres Überzeugungssystems erhalten bleibt. DerDuhem-Quinesche Holismus besagt, daß wir in extremen Situationen so-gar die Regeln unserer Logik aufgeben könnten, um mit bestimmten Be-obachtungen fertig zu werden. Solange wir diese Notwendigkeit nichtverspüren, scheinen unsere Wahrnehmungen auch diese Regeln weiterzu bestätigen. Die Logik bewährt sich als wichtiges Metaprinzip für dieKohärenz unseres Meinungssystems, ohne direkten Tests unterworfen zusein. Unsere bisherigen Überzeugungen haben also gegenüber neuenVorschlägen den epistemischen Vorteil, sich bereits stillschweigend be-währt zu haben, wenn sie Teil eines stabil kohärenten Überzeugungssy-stems sind.

Es scheint auch kaum durchführbar, ihnen keinen Vertrauensvor-schuß einzuräumen. Würden wir ständig offen dafür sein, zu ihren Alter-nativen zu wechseln und willkürlich wieder zurück, hätten wir an dieserStelle eigentlich keine Meinungen mehr. Ohne (MK) wären diese Wech-sel erkenntnistheoretisch aber rational. Wir wären indifferent gegenübereiner ganzen Familie von Aussagen. Da sich an jeder Stelle Alternativenfinden lassen, beträfe das letztlich all unsere Meinungen. Im Nu stündenwir ohne Meinungen da und hätten dadurch nicht mehr die Möglich-keit, eingehende Informationen anhand unseres Hintergrundwissens zubewerten. Realistischerweise kommt daher keine internalistische Er-kenntnistheorie ohne einen entsprechenden Vertrauensvorschuß aus. Erist geradezu eine Art Grundbedingung für das erkenntnistheoretischeRäsonieren eines epistemischen Subjekts. Um uns fragen zu können, wel-che unserer Meinungen durch andere gestützt werden, müssen wir ersteinmal (stabile) Meinungen aufweisen. Das ist auch nicht weiter proble-matisch, solange wir mit (MK) nur verbinden, daß es uns einen Start un-serer Überlegungen gestattet und nicht gegen kohärentistische Gründeausgespielt wird. Wir sind durchaus bereit, jede „konservative“ Meinungaufzugeben, sobald sich Gründe gegen sie finden. Das unterscheidet(MK) in der zuletzt gegebenen transzendental anmutenden Verteidigunggegenüber den synthetischen Urteilen a priori des deutschen Idealismus.Dort glaubte man mit transzendentalen Argumenten eine starke Waffe inder Hand zu haben, um ganz bestimmte Meinungen zu begründen.(MK) tritt dagegen viel bescheidener auf. Es ist eher ein methodologi-sches Prinzip, ohne das wir nicht auskommen, das aber bloß einen

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schwachen Anfangsgrund etabliert. Dabei ist es auch nicht auf be-stimmte Meinungen bezogen – es soll etwa kein Kausalprinzip rechtferti-gen –, sondern bloß einen allgemeinen Startpunkt für weitere Überle-gungen bereitstellen.

Wie wichtig (MK) für unsere Fähigkeit ist, überhaupt Meinungen zubesitzen, können wir schließlich am Beispiel von jemand erläutern, dersich nach einer Art Anti-(MK) verhält und immer zu einer alternativenMeinung (etwa im Stile von Goodmans „grue“-Beispiel) übergeht. Epi-stemisch würden diese Überzeugungsänderungen von Anti-(MK) gebo-ten. Verlaufen sie hinreichend rasch, erscheint es unmöglich, ihm eineMeinung zuzuschreiben. Antworte ich etwa im Stundenrhythmus (odersogar noch viel kürzeren Abständen) unterschiedlich auf die Frage, obich die Person X mag, ohne daß sich meine Kenntnisse dieser Person je-weils geändert hätten, kann man eigentlich kaum noch davon sprechen,ich hätte eine Meinung in dieser Frage.108 Zum Haben einer Meinunggehören neben der Disposition, mich in einer bestimmten Weise zu äu-ßern, auch andere Verhaltensdispositionen, die sich erst im Laufe derZeit zeigen und längerfristigen Charakter haben, der mit vollkommenrevolutionären Meinungssystemen unvereinbar erscheint. Damit derarti-ge Probleme nicht auftreten, sind wir auf eine gewisse Stabilität in unse-rem Überzeugungssystem zwingend angewiesen, die über reine Kohä-renzüberlegungen hinausgeht. Diese Stabilität wird auch notwendig inder Diskussion mit dem Skeptiker in der Antwort auf seine Frage, war-um wir an die Wahrheit unserer Meinungen glauben sollten. Nur ein re-lativ stabiles Weltmodell kann für ihn eine echte Herausforderung dar-stellen (s. VI.B.4), denn nur dort, wo unsere Meinungen eine innereKonvergenz aufweisen, haben wir einen Grund anzunehmen, daß sie ge-gen die Wahrheit konvergieren. Innere Konvergenz ist dabei ähnlich wieder Begriff der Cauchy-Folgen in der Mathematik zu verstehen. Es be-deutet, daß die Änderungen unserer Meinungen zumindest in bestimm-ten Bereichen immer kleiner werden, geradezu gegen Null konvergieren.Wenn die aufgrund neuer Daten notwendigen Änderungen einer Theo-rie mit der Zeit immer kleiner werden, obwohl weiterhin neue Beobach-tungen vorgenommen werden und die Theorie dabei möglichst hartenTests unterworfen wird, ist das ein erklärungsbedürftiges Faktum, fürdas die Annahme, es handele sich um approximativ wahre Theorien, amnatürlichsten erscheint.

108 Wir erhalten übrigens schon deshalb keinen stabilen Zustand, weildurch einen Wechsel von Meinung A zu Meinung B nun wiederum A zu derneuen Meinung würde. Wir müßten also sofort wieder zu A zurückwechseln usf.

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Für diesen „Limes“ unserer Meinungen haben wir dann Grund anzu-nehmen, daß es sich um wahre Theorien handelt. Nicht indem wir wiePutnam diesen Limes einfach als die Wahrheit definieren, sondern dasLimesverhalten unserer Überzeugungen bietet einen Indikator, daß essich dabei um die Wahrheit handeln könnte. Würde unsere Beschrei-bung der Welt an wesentlichen Stellen falsch sein, dürften wir erwarten(zumindest wenn die ganz radikalen skeptischen Hypothesen nicht zu-treffen, die uns das Bild eines vollständigen systematischen Irrtumszeichnen), daß das falsche Bild an bestimmten Stellen zu Erklärungsan-omalien führt, die uns Hinweise auf eine Unstimmigkeit geben würden.Das ist ein Verhalten, wie wir es für die Theorien, die wir bisher alsfalsch erkennen konnten, erlebt haben. Ohne innere Konvergenz er-scheinen unsere Weltbilder dagegen wie wechselnde Moden ohne Ziel.Eine gewisse innere Stabilität ist also zumindest eine notwendige Bedin-gung für die Hoffnung auf Wahrheitsannäherung, aber auch ein wichti-ges Indiz dafür, denn der Realist kann mit seiner realistischen Hypo-these, daß die Welt in etwa so beschaffen ist, wie sie in unseremÜberzeugungssystem beschrieben wird, eine gute Erklärung für die Be-währung des Überzeugungssystems trotz ständig neu eingehender Infor-mationen anbieten.

Damit ist natürlich noch nicht die Frage beantwortet, ob unsereÜberzeugungen denn wenigstens für gewisse Bereiche tatsächlich einentsprechendes Konvergenzverhalten aufweisen. Um das zu ermitteln,sind letztlich detaillierte Fallstudien notwendig, und ich möchte meineAnsichten dazu nur erwähnen. Ein Bereich, den man hier nennen könn-te, ist der der Alltagsüberzeugungen, für den wir eine ziemliche Kon-stanz in ihren wesentlichen Anwendungen, etwa Alltagsgegenständemittlerer Größe feststellen können. Natürlich sind viele Gegenständeund Erkenntnisse neu hinzugekommen, aber einfache Ansichten, wiedaß bestimmte Gegenstände, die eben noch schwer waren, es auch jetztsind, daß sie ihre Form und Farbe unter gewissen Bedingungen beibehal-ten, wie sie sich anfühlen werden usw., haben sich kaum verändert. Mei-nes Erachtens ist auch für bestimmte Branchen der Wissenschaften einKonvergenzverhalten zu bemerken. Dazu könnte man zählen: weite Be-reiche der Chemie und Physik, aber auch die grundlegenden Annahmender Evolutionstheorie oder gewisser technischer Bereiche und einigesmehr. An diesem Punkt der epistemischen Bewertung unseres eigenenWissens sind Fragen wie die Kuhnschen nach der Inkommensurabilitätaufeinanderfolgender wissenschaftlichen Theorien angesiedelt, die dieEntwicklung unseres wissenschaftlichen Wissens als von Revolutionen

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durchbrochen bewerten. Ob Kuhn mit seiner Inkommensurabilitätsver-mutung Recht hat, läßt sich nur durch historische Fallstudien endgültigentscheiden, was zu untersuchen eine Aufgabe anderer Arbeiten ist.

Außerdem stellt (MK) die epistemisch rationalere Strategie im Ver-gleich zu ihren Alternativen im Umgang mit der theoretischen Unterbe-stimmtheit dar. Betrachten wir dazu den Fall von zwei anscheinendgleich gut bestätigten Hypothesen H1 und H2, von denen wir bisher anH1 glauben. Wie können wir verfahren? Wir könnten H1 einfach aufge-ben, ohne an H2 zu glauben, aber das wäre nicht sehr plausibel, dennwir würden ohne Gegenevidenzen und ohne Ersatz eine Meinung aufge-ben, für die wir gute Gründe haben (s. dazu VI.B.5). Wir könnten auchdie neue Hypothese H2 wählen, da wir nach Voraussetzung für sie eben-falls über gute Gründe verfügen. Was würde es aber gerade in wissen-schaftlichen Kontexten bedeuten, immer oder meistens die neue Hypo-these zu wählen? Zunächst einmal scheint es im Rahmen einer Kohä-renztheorie mit globalen Kohärenzforderungen kaum plausibel anzuneh-men, daß sich rein lokale Alternativhypothesen finden lassen, die nurnach der Änderung einzelner Meinungen verlangen. Gerade die Fälle,die wir kennen, wie z. B. die Goodmanschen Hypothesen, erfordern beigenauer Betrachtung globalere Umbauten, damit das neue Überzeu-gungssystem dieselbe Kohärenz aufweist wie das alte. Da wir dabei nureine Hypothese erhalten, die epistemisch nicht besser ist, als unsere bis-herige, steht dem Aufwand, den wir beim Umbau unseres Überzeugungs-systems übernehmen, keine epistemischer Gewinn gegenüber. Außerdemgeraten wir mit diesem Vorgehen in die bereits geschilderten Problemeeines anti-konservativen Induktionsverfahrens. Als rationale Strategiefür die Dynamik unseres Meinungssystems ist daher (MK) eindeutig vor-zuziehen.

Daß wir irgendeiner Art von Input gegenüber ein gewisses Vertrauenmitbringen müssen, hatte schon BonJour als eine analytische Bedingungfür empirische Erkenntnis angegeben; aber wenn BonJour in seiner „ob-servation requirement“ (s. IV.D.2 (OR)) davon spricht, daß wir unterden spontanen Meinungen einige als Beobachtungsüberzeugungen aus-zeichnen und sie bis zu einem gewissen Grad als zuverlässig akzeptierensollten, setzt diese Konzeption bereits ein Hintergrundwissen voraus,das anhand eines Modells unserer Stellung in der Welt bestimmte Mei-nungen als Beobachtungen auszusondern gestattet. Einige Meinungenüber Zahlen, die etwa im Verlaufe einer Berechnung auftauchen, werdennicht als Beobachtungen interpretiert, obwohl sie vielleicht genausospontan auftreten wie Beobachtungen. Andererseits erwarten wir auch

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bestimmte Beobachtungen, so daß Beobachtungen uns nicht unbedingtspontan erscheinen müssen. Die Einordnung der Inhalte von Überzeu-gungen als beobachtbar oder nicht, setzt daher gleichfalls einen Hinter-grund voraus, der sie als von außen kommend beschreibt. Damit wir dieBonJoursche Bedingung (OR) überhaupt sinngemäß anwenden können,müssen wir schon anderen Teilen unseres Hintergrundwissens prima fa-cie vertrauen; etwa Annahmen über den kausalen Ursprung bestimmterMeinungen. Damit die entsprechende Wirkung erzielt wird, benötigenwir daher eine Bedingung der Form (MK). Die impliziert unter anderem(OR) in einer schwachen Form und schafft für (OR) erst sinnvolle Start-und Anwendungsbedingungen. Wenn wir nämlich gemäß (MK) all unse-ren Meinungen ein gewisses Vertrauen entgegenbringen, trifft das spe-ziell für die Beobachtungsüberzeugungen zu, die sich spontan einstellen.Dabei kann die Art, wie (MK) mit dem Regreßproblem umzugehen ge-stattet, zeigen, wie gut (MK) an unsere Vorstellung von lokalen Recht-fertigungen angepaßt ist, die BonJour in seiner Bedingung (OR) nochaußer Acht läßt. Daneben wird mit (MK) ganz im Sinne der Kohärenz-theorie das Dogma der epistemischen Priorität von Beobachtungen auchauf der Metaebene aufgegeben. Wir gewähren nicht nur unseren Wahr-nehmungsüberzeugungen einen kleinen Vertrauensvorschuß, sondern al-len unseren Überzeugungen.

(MK) wird somit zu einer Voraussetzung für empirische Erkenntnis,aber auch allgemeiner für begründete Meinungen. Man könnte geradezusagen, daß (MK) eine transzendentale Voraussetzung für das Rechtferti-gungsgeschäft darstellt, denn jede konkrete Begründung unserer Mei-nungen, die wir vornehmen, muß mit bestimmten Vorgaben irgendwel-cher Art über die rechtfertigenden Meinungen starten; etwa Annahmenüber die Bedeutung bestimmter Wörter, Metaannahmen darüber, welcheund woher wir diese Überzeugungen haben oder wieso sie gerechtfertigtsind; Überzeugungen verschiedener Herkunft, auf die wir uns in unserenBegründungen stützen können. Selbst Descartes war in seiner „primaphilosophia“ für sein „Cogito“ darauf angewiesen. Er mußte wissen, was„ich“, „existieren“ und „denken“ bedeuten. In seiner Antwort auf die 6.Einwände beruft er sich darauf, daß diese Begriffe angeboren sind (Des-cartes 365f). Aber wie können wir wissen, wie sie korrekt zu gebrauchensind, wenn wir nicht bestimmte Annahmen mit ihnen verknüpfen? Diesesind nicht rein apriorischer Art, da es keine so strikte Trennung zwi-schen analytischen und synthetischen Annahmen gibt. Der Hintergrundaller Vorgehensweisen und ihrer Rechtfertigung muß immer in einer Be-rufung auf bestimmte Teile unseres bisherigen Hintergrundwissens be-

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stehen. Ziehen wir diesen Wissenshintergrund immer schon in Zweifel,läßt sich unser Vorgehen und der Entstehungsprozeß für unsere Mei-nungssystem nicht mehr verstehen. Jede Begründung von Meinungenbeinhaltet daher eine Form von epistemologischen Konservatismus. Dievon BonJour vorgeschlagene Beschränkung des Konservatismus auf Be-obachtungsüberzeugungen bedarf selbst einer Begründung, die er unsschuldig bleibt. Das meines Erachtens einzig plausible und nicht willkür-liche Verfahren dafür, wird durch (MK) angemessen ausgedrückt. DiesesVorgehen entspricht noch weitergehend dem Neurathschen Bild vonSchiffern, die ihr Schiff auf hoher See umbauen müssen, als das für Bon-Jours Konzeption der Fall ist. Der Umbau kann nur anhand einer kon-servativen Strategie immer auf dem aufbauen, was wir schon vorfinden,und wird nie freischwebend im leeren Raum durchgeführt. Meine inter-nalistische Position, nach der jede Rechtfertigung selbst wieder Meinun-gen zu zitieren hat, harmoniert vorzüglich mit der konservativen Forde-rung, unseren bisherigen Meinungen zunächst zu vertrauen.

Insgesamt beschreibt (MK) den rationalen Teil der stark konservati-ven Tendenzen unserer tatsächliche Rechtfertigungspraxis und findetsich in weit stärkerer Form ebenfalls in heute vielfach akzeptierten wis-senschaftlichen Methodologien wieder. Die KTR setzt allerdings demPrinzip (MK) enge Grenzen für seine Anwendbarkeit, so daß Wissen-schaftler, die mit den Scheuklappen eines Paradigmas auf neue Datenund Theorien reagieren, sich nicht auf (MK) berufen können.

Die Bedingungen von KTR sind zunächst überwiegend synchronischformuliert, aber nicht nur synchronisch zu verstehen. Mit (2d) findetsich bereits ein wichtiger Hinweis auf eine diachronische Bedingung, dieim Effekt besagt, daß ein kohärentes System um so bessere Rechtferti-gungen liefert, um so längere Zeit es stabil kohärent geblieben ist. Es hatsich bei ständig neu eingehenden Informationen bewährt. Das waren er-ste Hinweise auf die Bedeutung eines Konservatismus für KTR. Da diekonservative Vorgehensweise tatsächlich einen unverzichtbaren Bestand-teil für jedes Rechtfertigungsverfahren darstellt, ergänze ich die Kohä-renztheorie der Rechtfertigung nun noch explizit um das metatheoreti-sche Prinzip (MK) des epistemologischen Konservatismus, das nebenden synchronischen Bedingungen für Rechtfertigungen wieder stärkerden dynamischen Aspekt von Überzeugungssystemen betont.

(MK) wird jedenfalls durch erfolgreiche Anwendungen in der Wis-senschaftsphilosophie gestützt. Ein methodologischer Naturalist solltediese Leistungen von (MK) ernst nehmen. Er wird zumindest die Frageaufwerfen: Welche andere Erkenntnistheorie hätte hier bessere Erklä-

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rungen anzubieten? Doch schauen wir noch etwas genauer zu, an wel-chen Stellen zeitgenössische Wissenschaftsphilosophen konservativenStrategien das Wort reden.

a) Anwendungen des epistemischen Konservatismus

In der erkenntnistheoretischen Debatte sind eine ganze Reihe konserva-tiver methodologischer Prinzipien vorgeschlagen worden, die oft sogardeutlich über (MK) hinausgehen und trotzdem als plausibel akzeptiertwurden. Ihr gemeinsamer methodologischer Hintergrund als konservati-ver methodologischer Regeln war den betreffenden Autoren dabei aller-dings nicht immer bewußt. Zunächst ist (MK) nicht so stark, wie be-stimmte konservative methodologische Forderungen, die bei Lakatosoder Kuhn zu finden sind. Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutio-nen hält das Festhalten an Paradigmata trotz Anomalien, solange keineneuen Paradigmata gefunden sind, für durchaus rational. Und Lakatos(1974, 137ff) plädiert in seiner Methodologie wissenschaftlicher For-schungsprogramme schon in Reaktion auf Kuhn und Feyerabend, dafür,daß wir selbst bei auftretenden Inkonsistenzen an einer Theorie festhal-ten sollten, solange sie sich in Erklärungen bewährt, also – in unsererRedeweise – im übrigen kohärenzstiftend verhält.109 Da eine innere In-konsistenz eines Forschungsprogramms an zentraler Stelle eine schwereSchädigung der Kohärenz darstellt, kann sie sicher nicht allein durch ih-re Erklärungserfolge ausgeglichen werden. Auch Lakatos scheint hierder konservativen Verankerung von Theorien großes Gewicht beizule-gen und sie sogar gegen andere epistemische Gründe aufzurechnen. Daßer damit allerdings schon zu weit geht und seine Position nicht wirklichplausibel ist, habe ich an anderer Stelle (Bartelborth 1989) belegt.

Ebenfalls konservative Lösungsvorschläge für epistemische Problemehält Nelson Goodman (1988) für sein „grue“-Paradox bereit. Goodmankann dort bekanntlich demonstrieren, daß wir zu unseren gewöhnlichenVerallgemeinerungen aus der Erfahrung immer alternative Verallgemei-nerungen konstruieren können, die durch unsere Erfahrungen genausogut gedeckt sind, die aber mit „seltsamen Prädikaten“ wie „grue“ formu-liert wurden. Dabei werden diese Prädikate letztlich als seltsam zurück-

109 Feyerabend (1986, 240) stimmt dem emphatisch zu. Er unterscheidetdabei nicht (1986, 39ff), an welcher Stelle die Inkonsistenzen auftreten. Natür-lich dürfen neue Theorien oder Daten alten Hypothesen widersprechen, aberder problematische Fall, den Lakatos diskutiert, ist der von Inkonsistenzen inner-halb der Grundlagen einer Theorie selbst, die ich in (1988) als genuine Inkonsi-stenzen bezeichne.

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gewiesen, weil sie nicht so gut in unserem bisherigen Überzeugungssy-stem verankert sind wie unsere gewöhnlichen Prädikate, was bedeutet,daß sie bisher in unseren Überzeugungen nicht auftraten. Das Vorkom-men in unseren bisherigen Überzeugungen wird also auch bei Goodmanzu einem epistemischen Wert anhand dessen wir zwischen konkurrieren-den Hypothesen entscheiden können. Goodman stellt dabei noch nichteinmal Anforderungen an die Vernünftigkeit der bisherigen Überzeugun-gen, wie sie in (MK) verlangt werden.

Intuitiv sinnvoll scheint die Anwendung von (MK) auch für Fragender theoretischen Unterbestimmtheit von Hypothesen durch die Beob-achtungsdaten zu sein (s. a. Sklar 1975, 379ff). Selbst wenn man nichtan prinzipiell unterbestimmte Hypothesen durch die Erfahrung glaubt,scheint doch der Fall, daß zwei Hypothesen H1 und H2 durch die bishertatsächlich erhobenen Daten als gleich gut bestätigt zu gelten haben, einFall der wissenschaftlichen Praxis zu sein, für den sich genügend Bei-spiele in der Wissenschaftsgeschichte finden lassen. Das Prinzip (MK)spricht dann für die Hypothese, die wir de facto schon akzeptiert habenund stellt diese nicht schon deshalb in Frage, weil wir nun weitere Hy-pothesen mit der gleichen Erklärungsleistung gefunden haben. Damit istnatürlich noch nicht der Fall von gleichzeitig auftretenden Alternativenentschieden. Für den kann (MK) nur dann etwas besagen, wenn die einezu bereits vorliegenden Überzeugungen besser paßt als die andere, dienach einer Revision schon vorliegender Meinungen verlangt. Nur in die-sen Fällen gibt (MK) der Hypothese den epistemischen Vorzug, die zugrößerer Stabilität für unser Meinungssystem führt. Damit gestattet es(MK), Skeptiker, etwa instrumentalistischen Typs wie van Fraassen, zu-rückzuweisen, die die Existenz von empirisch gleich guten Theorien be-reits zum Anlaß nehmen, unsere realistische Deutung von wissenschaftli-chen Theorien als epistemisch unbegründet zurückzuweisen.110

Weiterhin kann (MK) auch eine Aufgabe gegen übermäßig erschei-nende Ansprüche nach Begründungen übernehmen, wie sie im infinitenRegreßvorwurf zu Tage treten. Wann immer wir eine bestimmte Mei-nung p begründen, müssen wir andere Meinungen zitieren, die selbstwieder begründet sein sollten. Für eine vollständige Rechtfertigung ver-langte der Vertreter des Regreßarguments von uns, die gesamte Kettevon Begründungen, die hinter p steht, parat zu haben. Das ist zweifellospsychologisch unrealistisch und führt Rechtfertigungen ins Reich der Fa-

110 Gegen van Fraassen kann man auch direkt anhand von KTR argumen-tieren, was ich an anderer Stelle ausführen werde. Aber (MK) betont noch ein-mal explizit meine Zurückweisung derartiger Methodologien.

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bel, weshalb wir implizite Begründungen akzeptierten. Nun stellt diekonservative Strategie eine weitere Antwortmöglichkeit bereit. Ein er-ster rechtfertigender Grund für die rechtfertigenden Meinungen findetsich schon darin, daß wir in einem kohärenten System an sie glauben.Wir berufen uns auf Meinungen aus unserem kohärenten Überzeugungs-system und sehen diese als prima facie begründet an. Damit zitieren wirnicht einfach willkürlich irgendwelche Meinungen in unserer Rechtferti-gung, sondern nur Meinungen, die längst einen epistemischen Auslese-prozeß durchlaufen haben und damit ein gewisses epistemisches Ge-wicht mitbringen. Darauf können wir mit (MK) bauen, ohne langeRechtfertigungsketten tatsächlich durchlaufen zu müssen. Das kann auchunsere gewöhnliche Praxis des Begründens besser erklären, für Rechtfer-tigungen keine derartigen Ketten oder große Teile unseres Netzes auszu-breiten, aber dennoch davon auszugehen, daß die zu Zwecken derRechtfertigung genannten Meinungen keineswegs willkürlich und unbe-gründet gewählt wurden. Den Regreß stoppen wir also, indem wir unsschlicht auf andere unserer Meinungen stützen, die nach (MK) bereitseine erste Rechtfertigung mitbringen.

b) Ist die konservative Strategie irrational?

Die Beispiele der Anwendung von (MK) zeigen schon, daß der epistem-ologische Konservatismus ein durchaus intuitives Prinzip der Entwick-lung unseres Meinungssystems und unserer Begründungspraxis verkör-pert. Bereits gegen Ende von Platons Menon (98a) verweist Sokrates aufeinen Zusammenhang zwischen Begründung und Stabilität unserer Er-kenntnis, wenn er sagt, daß es geradezu ein charakteristisches Merkmalbegründeter Erkenntnis sei, stabiler zu sein, als bloße wahre Meinung.Trotzdem wird (MK) empiristischen Erkenntnistheoretikern, mit ihrerbesonderen Präferenz zugunsten der Beobachtungen, als „schauderhaft“erscheinen. Sklar (1975, 383ff) nennt einen Einwand von Goldstick(1971, 186ff), der in typischer Weise ihr Unbehagen zum Ausdruckbringt. Goldstick, der sich allerdings gegen eine stärkere Version desKonservatismus als (MK) wendet, führt folgende Analogie an: Wenn inzwei Gesellschaften andere soziale Regelungen auf gleich gute Weise ihreDienste tun, ist es rational für diese Gesellschaften, diese Regeln zu ver-teidigen und nur zu einem anderen System zu wechseln, wenn dieseseindeutig bessere Erfüllung der sozialen Ziele verspricht. Solange dasnicht erkennbar ist, kann jede der beiden Gesellschaften schon zur Auf-rechterhaltung der inneren Stabilität mit Recht für sich in Anspruch neh-men, das beste System für ihre Gesellschaft zu besitzen. Das klingt fast

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schon wie eine Verteidigung von (MK). Doch Entsprechendes kann mannach Goldstick nicht für die Rationalität von Meinungen sagen, dennhier geht es um ihre Wahrheit, und es können nicht inkompatible Mei-nungen gleichzeitig wahr sein. Der Konservatismus kann nach Goldstickjedoch gerade dazu führen, daß zwei Personen A und B bei gleichen em-pirischen Evidenzen andere Aussagen für wahr halten, weil sie eine an-dere Geschichte durchlaufen haben. Das paßt seiner Meinung nach nichtzusammen und zeigt eine Inkohärenz im epistemischen Konservatismus.

Natürlich liegt Goldstick richtig, daß nicht beide Personen Recht indem Sinn haben können, daß ihre Meinungen wahr sind, aber das be-deutet noch nicht, daß sie nicht beide über gerechtfertigte Meinungenverfügen können. Rechtfertigungen sind keine unfehlbaren Wahrheitsin-dikatoren, und wir waren uns schon einig, daß man noch keineswegsepistemisch irrational sein muß, wenn man falsche Meinungen akzep-tiert. Daß inkompatible Meinungen bei verschiedenem epistemischemHintergrundwissen gleichzeitig begründet sein können, erscheint daherunproblematisch. Neu kommt in Goldsticks Beispiel nur hinzu, daß dermomentane epistemische Hintergrund in beiden Fällen genau der Glei-che sein soll. Doch für Rechtfertigungen auf der Grundlage eines be-stimmten Hintergrundwissens können wir auch keine Forderung erken-nen, daß dieses Hintergundwissen nicht auch unterschiedliche Meinun-gen begründen helfen dürfte, denn Wahrheitsindikatoren müssen nichtunbedingt eindeutige Indikatoren sein. Wie das für KTR faktisch passie-ren könnte, hätte allerdings Goldstick zu belegen. Jedenfalls verliert sichGoldsticks Behauptung der Inkohärenz, wenn wir nicht auf die Wahrheitder beiden Meinungen schauen, sondern auf ihre Wahrheitsindikatoren,auf die sich die Unverträglichkeit nicht in derselben Weise überträgt.Und natürlich müssen wir außerdem im Auge behalten, daß es sich umzwei Personen handelt, denn für eine Person ist es zugegebenermaßen in-kohärent, zwei miteinander unverträgliche Meinungen zu akzeptieren.

Obendrein macht sich Goldstick einer „petitio“ schuldig, wenn erschon voraussetzt, daß die epistemischen Belege für beide Meinungen je-weils gleich sind. Das gerade bestreitet der Proponent einer konservati-ven Strategie, die eine diachronische Rechtfertigungstheorie darstellt, inder die Vorgeschichte des jetzigen Überzeugungssystems zu berücksichti-gen ist. Die empirischen Belege mögen zu einem bestimmten Zeitpunktdieselben gewesen sein, aber die Rechtfertigungssgeschichten müssenverschieden sein. Wenn man annimmt, das könne keinen epistemischenUnterschied bedeuten, lehnt man damit den Konservatismus bereits ab.Der epistemisch Konservative hat eine dynamische Vorstellung von einer

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rationalen Entwicklung unseres Überzeugungssystems und fragt, wie eszu der beschriebenen epistemischen Situation kam. Damit (MK) zu demvon Goldstick beschriebenen Fall führen kann, müssen die epistemi-schen Zustände von A und B früher unterschiedlich gewesen sein, weilhistorische Symmetrie jedenfalls keine Entscheidung nach (MK) zuläßt.A hat z. B. irgendwann p akzeptiert und B das dazu inkompatible q aufder Grundlage unterschiedlichen Hintergrundwissens. Das hat sich erstspäter in irgendeiner Form angeglichen. Beim Akzeptieren von p und qwaren für A und B die Alternativen noch nicht einmal für den Empiri-sten epistemisch gleichwertig. Muß man ihnen dann jetzt Irrationalitätvorwerfen, wenn sie beim Auftauchen neuer Alternativen, die intern ge-nauso gut bestätigt erscheinen, ihre ursprünglichen Meinungen nichtverwerfen? Auf mich macht eher letzteres Verhalten einen unvernünfti-gen Eindruck, und es paßt jedenfalls nicht zu unserer Praxis von Mei-nungsänderungen.

Der von Goldstick geschilderte Fall von zwei Personen mit exaktgleicher epistemischer Stützung für verschiedene Aussagen scheint mir indieser Beschreibung auf dem Hintergrund von KTR auch eher unwahr-scheinlich zu sein. Wenn A und B zunächst ein wesentlich anderes Hin-tergrundwissen aufweisen, so bewerten sie alle eingehenden Informatio-nen vor diesem unterschiedlichen Hintergrund. Selbst wenn sie alsoletztlich dieselben Beobachtungen machen, werden sie diese jeweils an-ders in ihre Meinungssysteme einordnen, ihnen einen anderen Platz imRahmen ihrer Theorien zuweisen, so daß spätere Beobachtungsüberzeu-gungen für sie nicht wirklich epistemisch gleichwertig sind. Das wärensie nur auf einer tabula rasa, auf der einfach „reine“ Daten gesammeltwerden. Doch bereits die Vorstellung von Bedeutungen als kleinen Mini-theorien zeigte, daß dieses von Empiristen favorisierte Bild der Erkennt-nis nicht haltbar ist. Besonders deutlich wird das auch für tiefgreifendeUmwälzungen unseres Überzeugungssystems, die meist mit Änderungenin der begrifflichen Struktur verbunden sind, was wir aus der Geschichtewissenschaftlicher Revolutionen lernen können. Daher sind die epi-stemischen Zustände, die sich danach anhand von bestimmten Beobach-tungen ergeben, schwerlich als vollkommen äquivalent anzusehen. Stattvon im übrigen gleichen epistemischen Zuständen sollte man also liebervon gleichen Wahrnehmungen sprechen, die nur für einen Empiristen ei-nen Schluß auf eine gleich gute Bestätigung derselben Theorie erlauben.Es ist in dieser Geschichte nicht der Konservatismus allein, der zu ande-ren Überzeugungen geführt hat, sondern ein unterschiedlicher epistemi-scher Hintergrund bei der Bewertung von Beobachtungen, der in jeder

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internalistischen Theorie der Wahrnehmung bedeutsam sein sollte. Dasführt auch keineswegs dazu, daß unsere Rechtfertigungen in unplausi-bler Weise wesentlich auf historische Zufälligkeiten zu relativieren sind.Welche Beobachtungen wir machen und zu welcher Zeit wir sie machen,ist natürlich für die Frage, was wir jeweils begründen können, von Be-lang. Was sich jedoch in einem bestimmten Meinungssystem zu einembestimmten Zeitpunkt rechtfertigen läßt und was nicht, ist jeweils eineFrage von Kohärenzüberlegungen. Der jeweilige Zustand unseres Mei-nungssystems ist also wegabhängig. Er kann davon abhängen, in welcherReihenfolge wir unsere Beobachtungen machen. Das scheint mir nur fürjemanden inakzeptabel zu sein, der Rechtfertigungen für eine rein stati-sche Angelegenheit ohne dynamische Aspekte hält. Doch eine rein syn-chrone Metatheorie würde das Verhalten realer epistemischer Subjektenicht angemessen beschreiben können.

Harman (1986, 35ff) verweist in diesem Zusammenhang noch aufdie Arbeit von Ross und Anderson (1982), die Hinweise darauf gibt, wieausgesprochen konservativ wir uns in unserem Überzeugungswandel tat-sächlich verhalten. Das zeigte sich unter anderem in psychologischen Ex-perimenten, bei denen den Versuchspersonen vorgetäuscht wurde, siehätten besondere Fähigkeiten im Lösen von Logikaufgaben oder im Un-terscheiden von fiktiven und tatsächlichen Geschichten etc. Als man sienachträglich über das Experiment aufgeklärt hat, so daß die guten Grün-de für ihre Annahme, sie verfügten über derartige Fähigkeiten, entfielen,führte das in vielen Fällen nicht dazu, daß diese Annahme ebenfalls auf-gegeben wurde. Sogar wichtige Entscheidungen wurden weiterhin aufder Grundlage einer Selbstzuschreibung dieser Fähigkeit getroffen. Die-ses Verhalten ist durch (MK) natürlich bei weitem nicht mehr gedeckt,denn in den geschilderten Situationen liegen Gründe vor, daß die An-nahme tatsächlich falsch ist. Aufgrund von KTR zusammen mit (MK)wäre dieses Verhalten also bereits als irrational einzustufen. Kohärenz-überlegungen sprechen in dem Beispiel nämlich eher dafür, daß die eige-nen Fähigkeiten in den genannten Bereichen nicht über durchschnittli-che Leistungen hinausgehen. (MK) ist damit nur der schwache rationaleKern eines derartigen Verhaltens und sollte somit aus Sicht des methodo-logischen Naturalismus als angemessener Ausgangspunkt weiterer er-kenntnistheoretischer Überlegungen dienen.

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B. Der Isolationseinwand

Ein alter Vorwurf gegen Kohärenztheorien, der sich früher allerdings ge-gen Kohärenztheorien der Wahrheit richtete und nicht immer sehr expli-zit formuliert wurde, ist der sogenannte Isolationseinwand. Man findetihn unter anderem bei Schlick (1934, 85f), der den Zusammenhang vonMeinungen zur Wirklichkeit anmahnt. Bei diesem Typ von Einwandhandelt es sich eigentlich um ein Bündel von Einwänden mit einer ge-meinsamen Stoßrichtung, die sich ungefähr in folgender Weise formulie-ren läßt: Wenn unser Überzeugungssystem allein anhand von internenKohärenzüberlegungen bestimmt wird, wie kann es da zu einer Erkennt-nis einer von unseren Überzeugungen unabhängigen Außenwelt kom-men? Wo bleibt in diesem Bild unserer Erkenntnis der Kontakt zur Welt,der empirische Input von Informationen, der doch für empirische Er-kenntnisse unerläßlich ist und den der Empirist deshalb auch ganz inden Vordergrund stellt? Kann die Kohärenz unseres Überzeugungssy-stems dabei nicht die einer rein fiktiven Geschichte sein? Eine Spezifizie-rung dieses Einwandes hatte ich schon untersucht (IV.E.3). Sie besagt,daß ein Meinungssystem einfach dadurch seine einmal gewonnene Ko-härenz aufrechterhalten kann, daß es nicht hineinpassende Erfahrungenals falsch zurückweist. Dieser Einwand übersah die zahlreichen epistemi-schen Überzeugungen, die gerade innerhalb unseres Überzeugungssy-stems bestimmten Beobachtungen den Status wichtiger Informationenüber die Welt zusprechen. Tatsächlich ist unser Meinungssystem im Nor-malfall nicht von der Welt isoliert, sondern kausal eng mit ihm ver-knüpft. Dieser Zusammenhang, der in unseren Ansichten über unserekausalen Stellung in der Welt repräsentiert ist, läßt uns auch andere Va-rianten des Isolationseinwands als wirkungslos zurückweisen.

Die Behandlung von Wahrnehmungsüberzeugungen (IV.B) solltedeutlich machen: Wenn keine der radikalen skeptischen Hypothesenwahr ist, verfügen wir über einen ständigen Input von Informationen an-hand spontan auftretender Beobachtungsüberzeugungen, die vermittelsder Sinne einen kausalen Kontakt zu unserer Umgebung herstellen.Diese sind nicht schlicht abzuweisen, was durch das Metaprinzip desepistemologischen Konservatismus noch einmal unterstrichen wurde,denn jede auftretende Überzeugung ist zunächst ernst zu nehmen. DenBeobachtungen wird in normalen Überzeugungssystemen außerdem einbesonderer Status als zuverlässiger Input eingeräumt, so daß ein solchesSystem nicht durch einfache Ablehnung auf sie reagieren kann, wenn es

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KTR genügen will.111 Selbstverständlich können wir Beobachtungen un-ter besonderen Umständen auch zurückweisen, wenn wir etwa Gründehaben anzunehmen, daß sie auf kausal unzuverlässigem Wege entstandensind. Aber zunächst bieten sie genau den gesuchten Kontakt zur Welt,und der Isolationseinwand zielt aus tatsächlichen Gründen ins Leere. Erist auf die empirisch falsche Annahme angewiesen, daß wir nicht kausalmit der Welt verbunden sind. Soll er mit der zusätzlichen Behauptungverknüpft werden, es gäbe keinen solchen kausalen Kontakt, richtet sichder Isolationseinwand natürlich nicht mehr speziell gegen eine Kohä-renzkonzeption von Rechtfertigung, sondern gegen alle Erkenntnistheo-rien. Dann ginge er aber auch in eine radikal skeptische Position über,deren Diskussion ich auf das nächste Kapitel verschieben möchte.

C. Der mehrere-Systeme Einwand

Ein anderer klassischer Einwand gegen die Kohärenztheorie, der aller-dings nicht immer streng vom ersten getrennt wird, führt die Möglich-keit mehrerer gleich kohärenter Systeme ins Feld. Eine gut erdachte Ge-schichte kann genauso kohärent sein wie unser ausformuliertes Weltbild.Wieso sollte dann dieses eher wahr sein, als irgendeine der anderen ko-härenten Geschichten? Schlick geht so weit zu behaupten, daß damit Ko-härenz als Wahrheitskriterium logisch unmöglich wird:

Damit zeigt sich die logische Unmöglichkeit der Kohärenzlehre; siegibt überhaupt kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit, denn ichkann mit ihr zu beliebig vielen in sich widerspruchsfreien Satzsyste-men gelangen, die aber unter sich unverträglich sind. (Schlick 1934,87)112

Doch dieser Einwand trifft nur Kohärenztheorien der Wahrheitsdefinitionund nicht Kohärenztheorien der Rechtfertigung oder Wahrheitsindikation.Für Definitionen der Wahrheit sollten wir allerdings verlangen, daß sie

111 Was in hinreichend verückten Meinungssystemen passieren kann, fürdie das epistemische Subjekt etwa fest an Überzeugungen wie die der Skeptikerglaubt oder ein rein magisches Weltbild hat, vermag ich nicht zu sagen. Wennman keine Wahrnehmungen als Input deutet und ihnen auch nicht im geringstenvertraut, kann man auch nicht mehr erwarten, sich auf internem Wege derWahrheit zu nähern. Allerdings dürfte ein solches System auch nicht durchstrikte Anwendung von KTR entstanden sein.

112 Für weitere Vertreter dieses Arguments s. a. Rescher (1982, 48ff).

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nicht zueinander inkompatible Aussagen gleichzeitig als wahr zulassen,aber von Indikatoren für Wahrheit können wir – wie schon mehrfachausgeführt wurde – nicht verlangen, daß sie uns eine eindeutige Kenn-zeichnung der Wahrheit liefern. Gegenüber reinen Phantasiegeschichtenist unser Überzeugungssystem schon durch den im letzten Kapitel be-schriebenen kausalen Kontakt zur Welt ausgezeichnet. Welchen Stellen-wert besitzt darüber hinaus der Einwand, daß mehrere Überzeugungssy-steme in gleicher Weise durch KTR zugelassen sein können?

Das entspricht dem bekannten erkenntnistheoretischen Phänomender Unterbestimmtheit, nach dem unsere Informationen manchmal nichtausreichen, um alle alternativen Hypothesen über die Welt bis auf eineauszuschließen. Die Unterbestimmtheit ist ein Phänomen, mit dem alleErkenntnistheorien zu kämpfen haben, das sich also nicht speziell gegendie Kohärenztheorie richtet. Im Gegenteil bietet gerade die Kohärenz-theorie eine Reihe von Anhaltspunkten bei der Auswahl von (theoreti-schen) Hypothesen, die einem eingefleischten Empiristen nicht zur Ver-fügung stehen. Für den Kohärenztheoretiker ist die Gesamtkohärenzoder der Systemcharakter von Überzeugungssystemen ein zulässiger Hin-weis auf ihre Wahrheit, während für den Empiristen ausschließlich dieBerufung auf Beobachtungen zählen darf. Van Fraassen (1980, 87f) istdeshalb nur konsequent, wenn er Merkmale von empirischen Theorienwie Einfachheit, Vereinheitlichung und auch Erklärungskraft als reinpragmatische Tugenden von Theorien einstuft, die zwar für unseren Ein-satz dieser Theorien sehr hilfreich sein können, die aber keinen Hinweisauf ihre Wahrheit abgeben: „They provide reasons to prefer the theoryindependently of the question of truth.“ Welchen Wert diese Tugendenvon Theorien für uns haben, erklärt van Fraassen dann auch anhandpragmatischer Überlegungen. Für einen Empiristen muß es unbegründ-bare Metaphysik sein, wenn wir eine einfachere Theorie einer kompli-zierteren mit derselben Bestätigung durch Beobachtungen als begründe-ter vorziehen, denn warum sollten unter den einfachen Theorien eherwahre zu finden sein als unter den komplizierteren? Dieses Phänomenfinden wir auch für die Erklärungstheorie, für die van Fraassen (z. B.1980, Kap.5) eine rein pragmatische Explikation vorschlägt, die wir spä-ter (VIII.C.1) noch kennenlernen werden. Nicht einmal die höhere Er-klärungskraft einer Theorie kann der lupenreine Empirist also als Wahr-heitsindikator zulassen. Daß diese Erkenntnistheorie an verschiedenenStellen unplausibel erscheinen muß, ist wohl nicht mehr völlig überra-schend. Vor allem läßt sie auch größere Spielräume der Unterbestimmt-heit zu als KTR, was van Fraassen – wiederum konsequent – zu einer in-

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strumentalistischen Auffassung wissenschaftlicher Theorien geführt hat.Damit ist sie viel stärker als die hier vertretene Rechtfertigungstheorievon Schwierigkeiten der Unterbestimmtheit betroffen, zumal neben KTRder epistemologische Konservatismus weitere Anhaltspunkte für eineVerringerung der Unterbestimmtheit liefert.

D. Resümee

Zentraler Streitpunkt zwischen fundamentalistischen und kohärentisti-schen Ansätzen in der Rechtfertigungstheorie ist das klassische Regreß-problem der Begründung. In (III.B) hatte ich nachgewiesen, daß derFundamentalist keine gute Antwort auf den von ihm bemühten Regre-ßeinwand anzubieten weiß. Der Kohärenztheoretiker kann dagegen dar-auf verweisen, daß in einem hochkohärenten Überzeugungssystem jedeMeinung gerechtfertigt ist, wodurch der Regreßvorwurf, wenn er nichtim Sinne radikaler skeptischer Hypothesen gemeint ist, zurückzuweisenist. Unterstützt wird diese Zurückweisung durch die Aufnahme einesschwachen epistemologischen Konservatismus in Form des metatheoreti-schen Prinzips (MK), daß zu einer realistischeren Sicht der Entstehungund Dynamik von Überzeugungssystemen führt und außerdem notwen-dig erscheint, um die für Erkenntnis und Wahrheitsannäherung erforder-liche Stabilität zu gewährleisten. KTR ohne eine diachronische Bedin-gung (2c) allein ist nämlich auch mit revolutionären epistemischen Stra-tegien wie Anti-(MK) verträglich, die uns kein Bild einer schrittweisenAnnäherung an die Wahrheit mit immer kleiner werdenden Änderungengestatten.

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VI Metarechtfertigung

Die bisherigen Kapitel der Arbeit waren allesamt auf eine Ausgestaltungeiner Theorie der Rechtfertigung hin ausgerichtet. Dabei wurden dieEinwände des Skeptikers zunächst beiseite geschoben, zumal eine meinerThesen zur Entwicklung der Erkenntnistheorie besagte, daß die Fixie-rung auf die Debatte mit dem Skeptiker die Entfaltung von erkenntnis-theoretischen Ansätzen nicht nur gefördert, sondern auch behindert hat.So haben Erkenntnistheoretiker zwar oft über die Bedeutung von Kohä-renz für Rechtfertigungen gesprochen, aber dann vor allem darübernachgedacht, wie man in dieser Konzeption auf die Einwände einesSkeptikers reagieren könnte. Die Klärung, was unter Kohärenz genau zuverstehen ist, kam dabei meist zu kurz. Das war ein Grund für mich, dieDiskussion mit dem Skeptiker in dieser Arbeit eben nicht in den Vorder-grund zu stellen. Trotzdem möchte ich sie natürlich keineswegs aufge-ben. Wie man dem Skeptiker gegenübertreten kann, soll in diesem letz-ten Kapitel des zweiten Teils mein Thema sein. Den Skeptiker könnenwir als eine Art imaginären Gegenspieler verstehen, der unsere Erkennt-nistheorien in Frage stellt. Eine Antwort auf den Skeptiker ist zugleicheine Rechtfertigung der eigenen Position. Weil es sich dabei um eineRechtfertigung einer Rechtfertigungstheorie handelt, ist diese auf einerMetaebene angesiedelt und trägt daher den Namen „Metarechtferti-gung“.

Der Skeptizismus ist allerdings keine einheitliche Position und tritt invielen Gewändern mit jeweils unterschiedlichen Spielregeln auf. Das isteiner der Gründe, warum er so schwer zu besiegen ist. Die skeptischenPositionen lassen sich etwa danach einteilen, auf welche Überzeugungenwir uns in einer Antwort stützen dürfen und welche Schlußverfahren unsder jeweilige Skeptikers zugesteht. Der Cartesianische Skeptiker ist be-sonders radikal und stellt letztlich sogar die mathematischen Wahrheitenund die Logik in Frage, aber z. B. nicht unsere Überzeugungen darüber,welche Überzeugungen wir haben. Der Humesche Skeptiker nimmt dage-gen die Mathematik und deduktiven Schlüsse von seinem Zweifel ausund gestattet sogar eine Berufung auf Wahrnehmungserlebnisse. Für ihnsind es „nur“ die sich darauf stützenden Überzeugungen über Gegen-stände der Außenwelt, die problematisch erscheinen (s. Watkins 1984,

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3ff). Es ist daher auch kein Zufall, daß sich die empiristisch gesinntenErkenntnistheoretiker113 immer wieder mit dieser speziellen Form desSkeptizismus beschäftigen, geht sie doch besonders gnädig mit den Sin-nesdaten oder sinnlichen Erfahrungen um, die der Empirist in der einenoder anderen Form dem Aufbau der Erkenntnis zugrunde legen möchte.Aber eigentlich sind die Spielregeln für eine Auseinandersetzung mitdem Skeptiker nicht geklärt und außer gewissen empiristischen Vorlie-ben spricht nichts dafür, nicht auch die Erfahrungen und insbesondereunsere Erinnerungen an vergangene Erfahrungen (die Hume zuzulassenscheint) in Ungnade fallen zu lassen. Daß sie irrtumsgefährdet sind,hatte ich bereits belegt (III.B.5.a). Da ich die empiristische Vorliebe fürSinneserfahrungen aus erkenntnistheoretischer Sicht nicht teilen kann,gibt es für mich auch keinen Grund, den Humeschen Skeptizismus be-sonders hervorzuheben.

Neben den radikalen und moderateren Formen des umfassendenSkeptizismus gibt es auch noch bereichsspezifische Formen, die ihre skep-tische Haltung etwa auf unser theoretisches Wissen über unbeobachtba-re Objekte oder Aussagen über die Vergangenheit oder die Zukunft, mo-ralische Annahmen, mathematische Behauptungen, die Existenz von„other minds“ und andere Dinge beziehen. Da ich an dieser Stelle je-doch weder den Raum für eine ausführliche Diskussion aller noch eineDiskussion vieler skeptischer Positionen habe, möchte ich mich nur zweiFormen von Skeptizismus gegenüber Rechtfertigungen zuwenden, denenman auf ganz unterschiedliche Art gegenübertreten muß.

Die zwei Formen des Skeptizismus, aus einem Kontinuum von mög-lichen Positionen mit graduellen Übergängen, nenne ich die interne unddie externe Skepsis, oder man könnte auch von einer radikalen und einermoderaten Skepsis sprechen. Der interne Skeptiker stimmt mit mir we-nigstens in einigen Teilen meines Hintergrundwissens überein, insbeson-dere in allgemeinen Ansichten über meine kausale Stellung in der Weltund in Teilen meiner epistemischen Metaüberzeugungen. Er richtet z. B.die Frage an mich, wieso ich gerade Kohärenz und nicht eine phänome-nalistische Reduktion für epistemische Rechtfertigungen für wesentlichhalte; oder warum ich unter Kohärenz genau das verstehe, was in KTRniedergelegt ist, und nicht etwas anderes, wie z. B. Kohärenz im Sinnedes Lehrerschen Vorschlags. In meiner Antwort auf den internen Skepti-ker kann ich mich daher auf relativ viele Intuitionen zur Rechtfertigungund paradigmatische Beispiele von Begründungen berufen, die er genau-

113 Auch Watkins konzentriert sich in (1984) ganz darauf, dem HumeschenSkeptiker Paroli zu bieten.

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so akzeptiert wie ich. Er muß natürlich nicht gleich alle meine erkennt-nistheoretischen Ansichten teilen, sonst käme wohl auch keine fruchtba-re Diskussion mit ihm zustande, aber doch zumindest einige von denen,die relativ allgemein akzeptiert werden. Der interne Skeptiker ist alsoeher ein recht kritischer Diskussionspartner, als ein umfassender Skepti-ker im klassischen Sinn. Er ist deshalb in den meisten Fällen auch derfruchtbarere Diskussionsgegner, denn seine Einwände führen jeweils zukritischen Untersuchungen der Kohärenz meiner Metaüberzeugungen.Anders sieht es schon für die Diskussion mit dem externen oder radika-len Skeptiker aus, der meine Theorie von einem externen Standpunktangreift und daneben eine Berufung auch auf solche Annahmen nichtmehr zuläßt, die uns normalerweise als selbstverständlich erscheinen.Die Auseinandersetzung mit externen skeptischen Einwänden muß not-gedrungen vollkommen anders geführt werden als die gegen Einwändevon einem internen Standpunkt aus. Sie ist erheblich schwieriger undwohl letztlich auch erfolgloser, was durch die vielen gescheiterten Versu-che der Philosophiegeschichte, dem radikalen Skeptiker Paroli zu bieten,dokumentiert wird. Viele Erwiderungen auf „den Skeptiker“ treffen be-stenfalls den internen und beziehen daraus ihre intuitive Kraft, sind ge-gen den externen aber als eine petitio principii zu betrachten.

Wir kennen die Unterscheidung in die zwei Ausgangspunkte übri-gens ebenso in anderen Bereichen unseres Wissens. Einen Evolutions-theoretiker können wir aus interner Sicht fragen, wieso er trotz der gro-ßen Ähnlichkeiten annimmt, daß der Beutelwolf (oder tasmanischeWolf) und die westeuropäischen Hunde schon seit ca. 100 MillionenJahren getrennte Wege in der Evolution gehen. Ein externer Kritiker derEvolutionstheorie würde dagegen vielleicht fragen, wieso man nicht an-nimmt, Gott hätte die Tiere so geschaffen, wie sie heute sind. Was als in-tern und was als extern zu gelten hat, ist dabei relativ zu dem jeweiligenFachgebiet zu bestimmen und außerdem natürlich gradueller Abstufun-gen und Vermischungen fähig. Der radikale Skeptiker nimmt die extern-sten Standpunkte ein, die überhaupt denkbar sind, und ist damit für alleWissensbereiche ein externer Kritiker. Er würde den Evolutionstheoreti-ker vielleicht fragen, wieso er überhaupt an die Existenz einer Außen-welt glaubt oder daran, daß die Welt älter als drei Minuten ist. Auch derinterne Skeptiker, den ich bekämpfen möchte, kann ein externer Skepti-ker in bezug auf jedes beliebige Wissensgebiet sein, er darf nur nicht allegrundlegenden Annahmen über unsere kausale Stellung in der Welt aufeinmal bezweifeln.

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Ein Indiz für eine externe Frage ist, daß ihre Beantwortung demFachwissenschaftler im allgemeinen keine akademischen Lorbeeren inseinem Fach einbringt. Einen Evolutionstheoretiker, der sich in seinerForschung mit dem Problem der Existenz einer Außenwelt beschäftigt,würden wir nicht schon deshalb für einen besonders gründlichen Evolu-tionstheoretiker halten, sondern eher für einen Biologen, der in die Phi-losophie übergelaufen ist. Die Fachwissenschaftler haben das Glück,über den externen Skeptiker milde lächeln zu dürfen, von einem Philo-sophen wird dagegen erwartet, daß er auch auf die Einwände der radi-kalen Skeptiker eingeht und möglichst eine Antwort weiß. Beginnenmöchte ich jedoch mit einer Erwiderung auf die interne Skepsis.

A. Interne Skepsis

Die Entwicklung einer Kohärenztheorie der Rechtfertigung erfolgte be-reits immer in Diskussion mit verschiedenen internen Skeptikern, diemal die eine mal eine andere meiner Überlegungen in Frage stellten. Da-her bleibt an dieser Stelle eigentlich nichts Neues zu sagen. Ich möchtetrotzdem die wichtigsten Stationen der Argumentation für KTR nunnoch einmal Revue passieren lassen, um ihren Argumentationszusam-menhang noch deutlicher zu machen.

Ausgangspunkt der Untersuchung war eine intuitive Bestimmung desZiels der Arbeit, das in einer Theorie der epistemischen Rechtfertigungvon empirischen Überzeugungen besteht. Ein erster Schritt legte eine Ex-plikation von epistemischer Rechtfertigung und einer Abgrenzung vonanderen Rechtfertigungen wie z. B. moralischen vor. EpistemischeRechtfertigungen wurden als Wahrheitsindikatoren für unsere Meinun-gen charakterisiert, die uns Hinweise darauf geben, daß eine Meinungwahr ist.

Dieses Unternehmen ist sowohl deskriptiv wie auch normativ zu ver-stehen, was erklärt, wieso es sich dabei nicht um eine Aufgabe für eineNaturwissenschaft handeln kann, die sich eher auf deskriptive Behaup-tungen versteht und für die Begründung von Bewertungen nicht zustän-dig ist. Diese Aufgabenteilung wurde betont, um gegen eine weitgehen-de Naturalisierung der Erkenntnistheorie zu argumentieren. Gegen radi-kale Naturalisten wie Quine, die die Erkenntnistheorie ganz den Natur-wissenschaften überlassen möchten, habe ich noch einmal die Unter-scheidung zwischen Genese und Rechtfertigung von Meinungen hervor-gehoben, und eine eigene Vorgehensweise unter dem Namen methodolo-

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gischer Naturalismus skizziert. Sie strebt ein Überlegungsgleichgewichtszwischen vorgefundenen epistemischen Überzeugungen über Rechtferti-gung und kritischer Theorienbildung (auf einer Metaebene) an.

Nach dieser Einordnung des Vorhabens, wurde es im Hinblick aufseine relevanten Voraussetzungen ausgeführt. Der metaphysische Hinter-grund, vor dem die Untersuchung stattfinden soll, ist eine Korrespon-denztheorie der Wahrheit mit einer realistischen Vorstellung von derWelt. Das ist wohl für die meisten klassischen Erkenntnistheoretiker derRahmen gewesen, in dem die Auseinandersetzung mit dem Skeptikerstattfand. Erst wenn wir diesen Rahmen akzeptieren, stellen wir uns derHerausforderung des Skeptikers in vollem Umfang, denn er betont im-mer wieder die Kluft zwischen dem Vorliegen subjektiver Indizien fürbestimmte Tatsachen und ihrem objektiven, von unseren Ansichten un-abhängigem Vorliegen. Um zu zeigen, daß dieser metaphysische Hinter-grund nicht bereits in sich inkonsistent ist und damit das ganze Unter-nehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt, wurde er gegen einigerelativistische Einwände und Vorwürfe der Unverständlichkeit vertei-digt.

Der Abschnitt (II.C) wandte sich dann erstmals direkt den epistemi-schen Rechtfertigungen zu und versuchte einige grundsätzliche Bestim-mungsstücke ihrer Struktur darzulegen. Der erste ist, daß das Gerecht-fertigtsein einer Meinung oder Aussage keine intrinsische Eigenschafteinzelner Aussagen ist, sondern immer eine zweistellige Relation zwi-schen einer Meinung und dem entsprechenden Hintergrundwissen einesepistemischen Subjekts, um dessen epistemischen Zustand es geht. Vonwelchen unserer Meinungen wir sagen können, sie seien begründet,hängt also entscheidend davon ab, was wir sonst noch wissen. Jede Be-gründung einer Meinung muß sich wieder auf andere Meinungen stüt-zen. Hier finden wir schon den Grund für unsere Schwierigkeiten, demradikalen Skeptiker zu antworten, denn er stellt alle unsere Überzeugun-gen zugleich in Frage und läßt uns damit keinen epistemischen Hinter-grund, auf den wir unsere Überlegungen stützen können. Trotz dieserProblematik ist die Zweistelligkeit der Rechtfertigungsbeziehung ein es-sentieller Faktor gewöhnlicher Rechtfertigungen, der im Verlauf der Ar-beit immer wieder gegen unterschiedliche Angriffe verteidigt wird.

Von den zu rechtfertigenden Entitäten wurde verlangt, daß sie dieStruktur von Aussagen, also wahrheitswertfähigen Gebilden, aufweisen,denn nur für sie können wir sinnvoll nach epistemischen Rechtfertigun-gen fragen – man denke daran, daß ich epistemische Rechtfertigungenals Wahrheitsindikatoren definiert hatte. Aber es wurden dabei durchaus

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Meinungen zugelassen, die wir nur implizit vertreten und die uns nichtimmer bewußt sein müssen. Ähnlich liberal möchte ich mit den Begrün-dungen selbst verfahren. Nicht nur derjenige soll als gerechtfertigt in sei-nen Meinungen gelten, der die im Prinzip zur Verfügung stehenden Be-gründungen schon explizit durchlaufen hat, sondern auch der, der dazuin der Lage ist, sie innerhalb kurzer Zeit selbst zu entwickeln. Eine wei-tere Liberalisierung in Form der epistemischen Arbeitsteilung bestehtdarin, für Begründungen auch Wissen zuzulassen, das uns nur indirektüber entsprechende Experten oder andere Mitglieder unserer Gesell-schaft zugänglich ist. Diese Liberalität kann manche intuitiven Probleme,die sich daraus ergeben, daß bestimmte übliche Anforderungen anRechtfertigungen sonst kaum noch von realistischen epistemischen Sub-jekten erfüllt werden, vermeiden oder zumindest abmildern helfen.

Erst nach diesen notwendigen Vorarbeiten und Begriffsklärungen be-gann der Hauptteil der Argumentation für eine bestimmte Theorie derRechtfertigung. Dazu wurden zuerst unterschiedliche Begründungsstra-tegien auf ihre erkenntnistheoretische Überzeugungskraft hin unter-sucht. Eine heutzutage vielfach anzutreffende Herausforderung der Kon-zeption von Rechtfertigung als einer zweistelligen Relation zwischenAussagenmengen findet sich in den externalistischen Erkenntnistheorien.Sie versuchen den Begriff der Rechtfertigung aus dem Bereich der kogni-tiv zugänglichen Meinungen herauszunehmen und auf externe Zusam-menhänge – etwa kausale zwischen einer Meinung und einer sie verursa-chende Tatsache – zu reduzieren. Rechtfertigung würde damit eine Rela-tion zwischen einer Meinung und externen Faktoren wie dem kausalenProzeß der Entstehung der Meinung oder der Zuverlässigkeit dieses Pro-zesses. Wenn diese externen Faktoren eine zuverlässige Meinungsbil-dung garantieren, soll das ausreichen, um die Meinung als begründet an-zusehen, auch wenn das epistemische Subjekt selbst nichts von der Exi-stenz dieser externen Faktoren weiß. Der erste Teil von Kapitel (III) warder Argumentation gewidmet, daß dieser Weg, so wünschenswert erauch sein mag, um etwa den skeptischen Fragen auszuweichen, keineAntwort auf das ursprüngliche epistemische Problem oder den Skeptikerdarstellt, sondern einen Themenwechsel. Der Erkenntnistheoretikerfragte genaugenommen nicht, welche Gründe es überhaupt gibt, anzu-nehmen, eine bestimmte Meinung sei wahr, sondern, welche Gründe esfür das epistemische Subjekt S gibt, anzunehmen, die Meinung sei wahr.Die genannten externen Faktoren können aber nur als Gründe für S be-trachtet werden, wenn S sie auch kennt. Nur in dieser Interpretation

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versucht der Erkenntnistheoretiker auch auf die klassische Frage zu ant-worten: Was soll ich glauben?

Und gerade diese Frage liegt uns in bezug auf die Praxis von Recht-fertigungen als erstes auf der Zunge. Wenn ich eine Begründung einerMeinung als ein Hilfsmittel einsetzen möchte, um zu erkennen, ob dieMeinung wahr ist, sind mir natürlich nur die Rechtfertigungen dabei tat-sächlich behilflich, über die ich auch kognitiv verfüge. Entsprechendesgilt, wenn ich eine Rechtfertigung als Grundlage für eine Argumentationhernehmen möchte. Ohne Kenntnis der Rechtfertigung bin ich dannnoch keinen Schritt weitergekommen.

Der nächste Argumentationsschritt widmete sich der Frage, wiedenn die allgemeine Struktur von Rechtfertigungen auszusehen hat. Sindwir gezwungen, für bestimmte Aussagen auf eine weitere inferentielleRechtfertigung, also das Zitieren anderer Aussagen zur Begründung,ganz zu verzichten? Das ist zumindest die Ansicht der Fundamentalisten,für die es basale Meinungen gibt, die einer inferentiellen Rechtfertigungnicht bedürfen. Diese basalen Überzeugungen sind selbstrechtfertigendoder sie werden durch eine nicht-inferentielle Bezugnahme auf nicht-be-griffliche Wahrnehmungszustände gerechtfertigt. In Kapitel (III.B) wur-de gezeigt, daß Aussagen im allgemeinen nicht selbstrechtfertigend sind,sondern einer anderen Begründung bedürfen. Nur wenn sie in einem ge-wissen Sinn inhaltsleer sind, also z. B. analytisch wahre Aussagen, kannman nicht mehr von einem Irrtumsrisiko sprechen, womit die Fragenach einer (empirischen) Begründung überflüssig erscheint. Beinhaltetdie Aussage hingegen eine empirische Behauptung, gibt es die realisti-sche Möglichkeit, daß die Aussage falsch sein kann, und wir sind selbst-verständlich dann auch berechtigt, nach Gründen für sie zu fragen. Bon-Jour hat dazu den Einwand des Kriteriums entwickelt, der zeigt, warumes eigentlich keine basalen empirischen Meinungen geben kann. Umdiese theoretische Überlegung zur Struktur von Begründungen zu unter-mauern, wurden zusätzlich konkrete empiristische Positionen aus derPhilosophiegeschichte und auch neueren Datums untersucht, für die sichnoch weitere Schwächen aufzeigen ließen.

Nachdem somit einige grundsätzlich andere Zugangsweisen zu epi-stemischen Rechtfertigungen als untauglich zurückgewiesen wurden,ging es im folgenden darum, den einzig verbliebenen Weg auszugestal-ten: Rechtfertigungen sind immer inferentieller Natur und haben sich je-weils auf andere Aussagen zu stützen. Allerdings ist zu diesem Zeitpunktnoch offen, wie diese inferentiellen Beziehungen beschaffen sein sollen.Natürlich sind zunächst die deduktiven Schlüsse geeignete Kandidaten,

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um Begründungen zu liefern. Ihre Reichweite ist aber bekanntlich sehrbeschränkt und auch in Fällen, in denen wir umgangssprachlich häufigso reden, als ob es sich um logische Schlüsse handelt, stoßen wir bei ge-nauerem Hinsehen auf eine Inferenz eines anderen Typs, nämlich aufSchlüsse auf die beste Erklärung. Anhand einer ganzen Reihe von Bei-spielen aus den unterschiedlichsten Bereichen unseres Wissens konnteich demonstrieren, wie weit verbreitet die Abduktion ist und daß auchandere bekannte Schlußformen wie die konservative Induktion sich ambesten als Unterarten der Abduktion verstehen lassen. Da der Schluß aufdie beste Erklärung intuitiv eine große rechtfertigende Wirkung besitztund Erklärungen auch in der anderen Richtung begründend wirken,übernehmen Erklärungsbeziehungen eine zentrale Rolle in meinerRechtfertigungstheorie als Kohärenzstifter. Einige unangenehme Eigen-schaften, die Erklärungen für gewöhnlich unterstellt werden, wie daß sieauf unsere jeweiligen Interessen zu relativieren seien und damit subjektivin einem vitiösen Sinn des Wortes wären oder daß sie selbst wiederumnur anhand des Begriffs der Rechtfertigung zu definieren seien, konntenzurückgewiesen werden. Wie die logischen Beziehungen sind damit dieErklärungsbeziehungen objektive Beziehungen zwischen unseren Mei-nungen und fügen diese zu einem komplizierten Netz von Überzeugun-gen, einem System, zusammen.

Sowohl für Rechtfertigungen wie auch für Erklärungsbeziehungenwissen wir, daß sie nicht nur lokal zu beurteilen sind, sondern danebenglobale Bezüge aufweisen, die in einer Kohärenztheorie der Rechtferti-gungen ebenfalls zu berücksichtigen sind. Mein eigenes Modell von Ko-härenz versucht gerade die verschiedenen Aspekte von Kohärenz sauberauseinanderzuhalten, aber auch die wechselseitigen Abhängigkeiten dar-zustellen.

Für diese Kohärenztheorie der Rechtfertigung läßt sich dann zeigen,daß sie eine Reihe grundlegender epistemischer Aufgaben besser erfüllenkann als ihre Konkurrenten. Zunächst kann sie in die Domäne der empi-ristischen Erkenntnistheoretiker einbrechen und sowohl die Rechtferti-gung wie auch die Zurückweisung von Beobachtungsüberzeugungen innatürlicherer Weise beschreiben als empiristische Fundamentalisten. Diehaben Schwierigkeiten, die zuverlässigen von den unzuverlässigen Wahr-nehmungen zu trennen. Diese beiden Klassen von Wahrnehmungen las-sen sich nämlich nicht in einfacher Weise nach inhaltlichen Aspekten un-terscheiden, sondern, wohin eine Meinung gehört, variiert insbesonderein Abhängigkeit von äußeren Situationsbedingungen und unserem Hin-tergrundwissen darüber. Der Kohärenztheoretiker kann für die Beurtei-

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lung einer Beobachtungsüberzeugung all unser Wissen über Wahrneh-mungen und die jeweilige Situation in Anschlag bringen, wodurch er vielflexibler auf die verschiedenen Fälle und Wissensentwicklungen einge-hen kann, als das einem Empiristen möglich ist.

Auch zum Regreßproblem hat der Kohärenztheoretiker eine zufrie-denstellende Antwort anzubieten, die jedenfalls plausibler ausfällt, alsdie des Fundamentalisten. Während es für letzteren eine Gruppe vonMeinungen gibt, die in dem anspruchsvollen Sinn, der hier zur Debattesteht, letztlich nicht zu rechtfertigen sind, sind in einem hochkohärentenÜberzeugungssystem alle Elemente durch verschiedene inferentielle Ver-bindungen der Überzeugungen untereinander gerechtfertigt. Dabei spre-chen wir nicht mehr von linearen Rechtfertigungen, die in unendlicheKetten von Aussagen münden oder sich zu einfachen Zirkeln zusammen-schließen, sondern von einer holistischen Rechtfertigung in einem Netzvon sich wechselseitig stützenden Meinungen. Das Zusammenpassen un-serer Meinungen zu einem Gesamtbild bietet für uns einen guten Grund,davon überzeugt zu sein, daß es wesentliche Aspekte der Welt richtig be-schreibt. Unsere Weltsicht ist vergleichbar mit der Vorlage für ein Puzzle.Ob wir dabei die richtige Vorlage ausgewählt haben, ergibt sich daraus,ob die Puzzlesteinchen, die wir schon haben und die, die wir noch fin-den, in dieser Vorlage unterzubringen sind. Je mehr Steinchen wir tat-sächlich einfügen können, um so mehr spricht das für unsere Vorlage.Wenn diese Steine noch zu ganz unterschiedlichen Gebieten der Vorlagegehören, um so besser. Das deutet darauf hin, daß die Vorlage und unse-re Puzzlesteinchen nicht nur in bestimmten Teilbereichen zusammenpas-sen, sondern auch im Großen einander entsprechen. Das Passen derSteinchen zur Vorlage an einer bestimmten Stelle ist dabei schon als indi-rekter Hinweis zu werten, daß unsere Vorlage wohl auch an andererStelle stimmen wird. Diese Analogie soll noch einmal den intuitivenAspekt von holistischer Rechtfertigung und speziell der Rechtfertigungeinzelner Meinungen anhand des guten Zusammenpassens der vielenkleineren Bestimmungsstücke anhand umfassender Theorien vorfüh-ren.114 Den internen Skeptiker können wir also auf die hohe Kohärenz

114 Haack (1993, 84ff) erläutert diesen holistischen Zusammenhang an-hand der Lösung eines Kreuzworträtsels, bei der die Richtigkeit jeder Eintragungaufgrund ihres Zusammenpassens mit den anderen Eintragungen ermittelt wird.Lipton (1991, 159f) gibt uns das Beispiel einer Landkarte, von der wir zunächstnicht wissen, ob sie ein bestimmtes Gebiet korrekt wiedergibt. Aber je mehr Teil-gebiete sich als zutreffend herausstellen, desto mehr Grund haben wir anzuneh-men, daß die ganze Landkarte stimmt.

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und Stabilität des Netzes trotz zahlreichen Beobachtungsinputs über ei-nen längeren Zeitraum verweisen, der dafür spricht, das ganze Netz alseine angemessene Repräsentation der Wirklichkeit zu betrachten. Nurder radikale Skeptiker, der alle unsere gewöhnlichen Überzeugungen zu-nächst beiseite schieben möchte, kann dann noch nach einer externenRechtfertigung des Netzes als Ganzem fragen.

Sobald uns ein Skeptiker zugesteht, daß die Beobachtungsüberzeu-gungen zum überwiegenden Teil wichtige Informationen über unsereUmwelt verkörpern, haben wir damit eine gewisse Handhabe, um seineEinwände zurückzuweisen. Wir verfügen über eine gute Erklärung fürihr Auftreten, die diese in ein komplexes Gesamtbild der Welt einbettet,zu dem er keine gleichwertige Alternative anzubieten weiß. Das Netz un-serer Meinungen dient dabei als eine Art von globaler Theorie, die unse-re Tatsachen, die alten und die neu hinzukommenden, sehr gut assimi-liert, was intern eine weitere Bewährung der Theorie bedeutet.

Auch den anderen naheliegenden und häufig gegen Kohärenztheo-rien ins Feld geführten Einwänden kann man begegnen. Die Befürch-tung, daß das Netz sich kausal isoliert von der Welt entwickeln könnte,ließ sich mit dem Hinweis zerstreuen, daß die spontanen Meinungen ge-nau den gesuchten kausalen Input verkörpern, der diese Isolation ver-hindert. Dem Einwand, es könne verschiedene gleichkohärente Netzegeben, muß die Kohärenztheorie insoweit zustimmen, daß sie – wie an-dere Erkenntnistheorien auch – das Auftreten theoretischer Unterbe-stimmtheit nicht völlig ausschließen kann, ihm jedoch weit mehr entge-genzusetzen hat, als das z. B. für fundamentalistische Rechtfertigungs-theorien der Fall ist. Das gilt besonders dann, wenn sie wie in der vorlie-genden Theorie noch mit einer konservativen Metaregel kombiniertwird, die die Stabilität eines Überzeugungssystems unterstützt. Damitkann die KTR insgesamt als eine sinnvolle und begründete Fortentwick-lung der Theorie der epistemischen Rechtfertigung betrachtet werden,in der ein vorläufiges reflektives Gleichgewicht zwischen theoretischenAnforderungen, typischen Beispielen von Rechtfertigungen und intuiti-ven Vorstellungen von Rechtfertigung erreicht wurde. Die größere Her-ausforderung findet sich dann wohl nur noch in den radikaleren Formender Skepsis, denen ich den größeren Teil des Kapitels gewidmet habe.

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B. Externe Skepsis

Die antike Skepsis etwa eines Sextus Empiricus verfolgte noch durchauspraktische Absichten und hoffte mit ihren Argumenten eine bestimmteGeisteshaltung fördern zu können, die aus einem sich Enthalten von al-len Urteilen besteht, von der sie annahm, daß sie zu innerer Ruhe unddamit letztlich zum Glücklichsein führt. Die modernen Skeptiker findendagegen ihren geistigen Urvater in Descartes und insbesondere in seinerersten Meditation. Ihre Ziele sind eher theoretischer Natur. Sie wolleneine bestimmte Position in der Erkenntnistheorie beziehen, nach derz. B. Wissen unmöglich ist. Der Gesprächspartner in diesem Kapitel istnaheliegender Weise ein Skeptiker des zweiten Typs, da nur er als Kon-trahent zur hier vertretenen Theorie der Rechtfertigung anzusehen ist.

Trotzdem möchte ich vorab noch kurz auf eine vermeintlich prakti-sche Konsequenz des Skeptizismus eingehen, die schon Russell für denSkeptiker einnahm und in neuerer Zeit von Popperianern wie Musgrave(1993, 25ff) wiederum aufgegriffen wird. Danach sind Skeptiker diebesseren Menschen, denn sie verschreiben sich nicht mit Leib und SeeleInstitutionen wie z. B. der Inquisition. Das ist nur von einem Dogmati-ker – so nennt Musgrave etwas irreführend den Gegner des Skeptikers –zu erwarten. Musgrave zitiert dazu Montaigne, der gegenüber den Prak-tiken der Inquisition anmerkt: „Es heißt unsere Vermutungen sehr hocheinzuschätzen, wenn man auf ihrer Grundlage Leute röstet.“ Doch so-wenig sich ein wirklicher Skeptiker von Überlegungen der Kirche zumSeelenheil der Befragten beeindrucken und in seinem Handeln leiten lie-ße, sowenig würden ihn auch moralische Appelle vom Foltern seinerMitmenschen abhalten können, wenn er dazu gerade einmal Lust hätte.Er würde auf Vorhaltungen entgegnen, wir hätten keinen Grund anzu-nehmen, unsere moralischen Überzeugungen wären richtiger als beliebi-ge andere Verhaltensregeln. Außerdem wären sie schon dadurch unbe-gründet, daß unsere Annahme, es gäbe eine Person, die dabei Schmerzenempfindet, von ihm nicht mitgetragen würde.

Musgrave (1993, 23ff) selbst weist auf Anekdoten aus der Antikehin, die praktische Konsequenzen aus einer skeptischen Haltung in die-ser Richtung erkennen lassen. So erzählt Pyrrho, daß er an seinem altenPhilosophielehrer vorbeigegangen sei, als der in einer äußerst mißlichenLage im Graben feststeckte, ohne ihm zu helfen. Für ihn läge nämlichkein ausreichender Grund vor zu glauben, er täte etwas Gutes, wenn erihm geholfen hätte. Natürlich lobte ihn sein Lehrer ob seiner konse-quenten Haltung.

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Tatsächlich geht es in Fällen wie der Inquisition auf der einen Seiteum eine gewisse Toleranz gegenüber Andersdenkenden, die vermutlichdurch einen Fallibilismus gefördert wird. Er macht uns klar, daß unsereeigenen Meinungen fehlbar sind und wir daher nach Möglichkeit keineKonsequenzen aus ihnen ziehen sollten, die schreckliche Folgen für an-dere Menschen haben können. Auf der anderen Seite ist der umfassendeSkeptizismus wiederum zu tolerant, wenn es um die Beurteilung sozialschädlichen menschlichen Verhaltens geht. Für ihn lassen sich nämlichkeine Gründe auch gegen die schlimmsten Auswüchse menschlichen Ver-haltens geltend machen. Ein konsequenter Skeptizismus würde alsohöchstens dazu führen, daß sich Menschen vollkommen nach ihren mo-mentanen Neigungen verhalten und keine motivierenden Vernunftgrün-de für eine Änderung ihres Verhaltens akzeptieren. Er würde die Weltnur dann zu einem „glücklicheren Platz machen“ (Musgrave 1993, 28),wenn sie bereits von besonders sanftmütigen Menschen bewohnt würde.Doch daran zu zweifeln haben wir gewiß gute Gründe.

Doch nun zurück zu den theoretischen Konsequenzen des Skeptizis-mus. Im Unterschied zum internen Skeptiker geht der externe Skeptikereinen Schritt weiter und greift nicht nur bestimmte Teile oder Bereicheunserer Annahmen an, sondern stellt alle auf einmal in Frage. Er ver-langt nach einer unvoreingenommenen Sicht von einem zu unseren Mei-nungen externen Standpunkt auf unser gesamtes Überzeugungssystem.Der externe Skeptizismus scheint damit auf den ersten Blick nur einekonsequente und etwas weitergehende Fortführung der internen Skepsisdarzustellen – aber dieser Schritt erweist sich letztlich doch als schwer-wiegender. Ein erster Schritt in der Auseinandersetzung mit dem exter-nen Skeptiker wird in der Klärung bestehen, wie folgenschwer dieserSchritt tatsächlich ist. Erst diese Präzisierung ermöglicht eine Untersu-chung verschiedener Erwiderungen. So ist der radikale Skeptizismus zu-nächst von der Position des Fallibilismus zu unterscheiden, gegen die ichmich keineswegs wenden möchte, die aber in ungenauen Formulierun-gen dem Skeptizismus sehr ähnlich scheint. Verfällt man jedoch einerKonfusion von Fallibilismus und radikalem Skeptizismus gewinnt derletztere erheblich an Attraktivität, gehört doch eine fallibilistische Hal-tung geradezu zum modernen wissenschaftlichen Weltbild dazu.

1. Fallibilismus und Skeptizismus

Das wohl klarste Plädoyer gegen jede Form von Dogmatismus und spe-ziell gegen eine dogmatische Auffassung wissenschaftlicher Erkenntnisse

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stellt Poppers Logik der Forschung dar. Aber als Vorläufer Poppers sindaus Gründen der Gerechtigkeit zumindest Whewell und Peirce zu nen-nen. Sie haben demonstriert, daß wir für jede unserer Überzeugungenfür Kritik offen bleiben müssen und sie immer nur als vorläufige Hypo-these gelten darf, die im Prinzip falsch sein kann. Es gibt gemäß dieserfallibilistischen Ansicht von unserer Erkenntnis keinen Königsweg vonsicheren Beobachtungssätzen – etwa mit Hilfe einer induktiven Logik –zu sicheren wissenschaftlichen Theorien. Nach Popper sollten wir unse-re Theorien solange akzeptieren, wie sich keine widersprüchlichen Be-obachtungen gefunden haben, die zu einer Falsifikation führen, dabei je-doch immer die metatheoretische Einschätzung unseres Wissens als hy-pothetisch im Hinterkopf behalten. Von der realen Möglichkeit falschzu sein, sind dabei nicht nur unsere Theorien betroffen, sondern sie istdurchgängig und betrifft genauso unsere Wahrnehmungsüberzeugungenverschiedenster Herkunft. Dieser Fallibilismus auf der Metaebene kannmit einem festen Glauben an bestimmte Theorien auf der Objektebeneeinhergehen, der allerdings mit der Bereitschaft zu einer Revision fürden Fall verknüpft sein muß, daß Falsifikationsinstanzen auftreten. Auchwenn Poppers Konzeption der Wissensdynamik inzwischen zu Rechtkontrovers betrachtet wird (s. II.A.3.b), bleibt doch der Fallibilismus alswesentliche Einsicht Poppers erhalten.

An dieser Stelle kann der Skeptiker einbringen, ein Fallibilist seidoch im Grunde seines Herzens auch ein radikaler Skeptiker, erwägt erdoch für all unser Wissen die Möglichkeit, daß es falsch sein könnte.Das vorläufige Festhalten des Fallibilisten an unseren bisherigen Theo-rien läßt sich dabei als eine bloß pragmatische Einstellung interpretieren,um für praktische Entscheidungen gerüstet zu bleiben. Seine epistemi-sche Überzeugung, daß im Prinzip alle unsere Meinungen unzutreffendsein könnten, deckt sich dagegen mit den erkenntnistheoretischen An-sichten des Skeptikers.

Um Fallibilist bleiben zu können, ohne sich damit dem radikalenSkeptizismus verschreiben zu müssen, ist eine deutlichere Abgrenzungdieser Positionen notwendig geworden. Die ist nicht unproblematischund wird in der Regel nicht explizit thematisiert. In hauptsächlich zweiAspekten möchte ich diese Unterscheidung vornehmen.115 Da ist zu-nächst der epistemologische Konservatismus, den ich als Bestandteil mei-ner fallibilistischen Metatheorie verstehe. Die vorläufige Beibehaltungmeiner bisherigen Überzeugungen wird damit nicht als bloß pragmati-

115 Die folgenden Bedingungen sollen mein Verständnis des Fallibilismuserläutern und nicht etwa Poppers Erkenntnistheorie darstellen.

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scher Natur eingestuft, sondern hat durchaus epistemischen Wert. Dasbisherige Haben einer Überzeugung wird als ein, wenn auch schwacher,aber doch epistemischer Grund für diese Überzeugungen betrachtet. Daspaßt zur wissenschaftlichen Praxis, in der Theorien nicht zunächst auseiner bloßen Laune heraus akzeptiert und dann erst Falsifikationsversu-chen ausgesetzt werden, die als erste epistemische Tests gelten können.Sie entstehen bereits in einem bestimmten Umfeld, das diese Theorienmit (eventuell theoretischen) Gründen nahelegt, selbst wenn noch keinekonkreten empirischen Tests angegeben werden können. Dafür sprechenunter anderem die vielen gleichzeitigen Entdeckungen der Wissen-schaftsgeschichte und die Entwicklung von Theorien wie z. B. den Rela-tivitätstheorien, für die es zu Beginn praktisch keine direkten Belegegab, die aber deshalb nicht von ihren Vertretern aus rein pragmatischenErwägungen vorgeschlagen wurden. Die frisch akzeptierten Theoriensind trotz ihres Hypothesencharakters bereits durch einige im Anfangmeist noch schwache Kohärenzüberlegungen zu begründen. Im Unter-schied zur Position des radikalen Skeptikers sind also nicht alle denkba-ren Theorien epistemisch gleichwertig, sondern einige sind besser be-gründet als andere. Der Fallibilist muß ihnen gegenüber keine radikalskeptische Haltung einnehmen.

Ein anderer Aspekt für eine Unterscheidung ist der des Umfangs vonMeinungen, die gleichzeitig falsch sein können. Auch wenn das im Falli-bilismus nicht explizit angesprochen wird, denkt man doch eher an denFall, in dem jeweils nur kleinere Teile unseres Wissens gleichzeitig be-troffen sind – selbst wenn keine bestimmten Teile von der Möglichkeit,falsch zu sein, auszunehmen sind. Sonst wäre auch nicht verständlich,wie Popper erwarten könnte, daß sich bestimmte Theorien widerlegenlassen oder anhand ernsthafter Falsifikationsversuche bewähren können,denn in diesen Falsifikationsversuchen sind wir darauf angewiesen, unsanderer Überzeugungen und Theorien zu bedienen. Der Fallibilistgleicht hier eher dem internen Skeptiker als dem externen.

Gegen diesen zweiten Aspekt kann der radikale Skeptiker allerdingsgeltend machen, daß in der ursprünglichen Einsicht des Fallibilisten,nach der wir uns in keiner Überzeugung völlig sicher sein können, ei-gentlich kein Platz für eine Beschränkung des Umfangs vorgesehen ist.Wenn wir zustimmen, daß im Prinzip alle unsere Meinungen auf der Ob-jekt- und auch auf der Metaebene betroffen sein können, warum sollteder Irrtum dann etwa bei einem Anteil von 30% oder irgendeinem ande-ren Prozentsatz stehenbleiben? Der Fallibilismus allein gibt für eine Be-

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schränkung noch keine Handhabe, aber er soll im folgenden hier immerso verstanden werden.

Die Unterscheidung des radikalen Skeptikers von einem Fallibilistensollte klären, wogegen ich nicht argumentieren möchte, nämlich dieIdee des Fallibilismus, wonach wir keine irrtumssichere Erkenntnis ha-ben. Daraus muß natürlich noch keineswegs folgen, daß es kein Wissenoder keine Rechtfertigungen geben kann. Diese weitergehenden skepti-schen Behauptungen sind erst noch zu untersuchen. Zur Debatte stehendabei nur die Annahmen des Skeptikers, die über den Fallibilismus, demich zustimme, hinausgehen.

2. Wissensskeptizismus und Rechtfertigungsskeptizismus

Um die Behauptung des radikalen Skeptikers in bezug auf mein Projekteiner Theorie der Rechtfertigung zu bestimmen, ist wiederum die Unter-scheidung in verschiedene erkenntnistheoretische Unternehmungensinnvoll. Vis-à-vis dem Wissensbegriff stehen ihm andere Schachzüge zurVerfügung als gegenüber epistemischen Rechtfertigungen. Der Wissens-begriff enthält z. B. einige spezielle inhaltliche Aspekte, die als Ansatz-punkte für den Skeptiker geeignet erscheinen.

Da findet sich zunächst für den Wissensbegriff – wenigstens in eini-gen Kontexten – die Forderung nach Gewißheit. Wenn ich eines von ei-ner Million Lose gekauft habe, von denen nur eines gewinnt, stehtmeine Chance zu gewinnen, außerordentlich schlecht. Trotzdem kannich kaum mit Recht behaupten, ich wüßte schon, daß mein Los verliert.Es gibt immer noch eine klar erkennbare Möglichkeit, doch zu gewin-nen. Würde ich diese Möglichkeit nicht zur Kenntnis nehmen, hätte ichmir auch kaum ein Los gekauft. Dieser Aspekt der für Wissen erforderli-chen Gewißheit gibt dem radikalen Skeptiker die Möglichkeit seineSkepsis ins Spiel zu bringen, denn im allgemeinen verfügen wir nichtüber diese Gewißheit, oder sie ist jedenfalls unbegründet.116 Das besagtgerade die metatheoretische Ansicht des Fallibilismus. Können wir dannalso niemals Wissen erlangen?

116 Diese Komponente stellt auch ein tieferliegendes Problem für eine Ex-plikation von „Wissen“ dar, denn in anderen umgangssprachlichen Verwendun-gen des Begriffs sprechen wir auch von Wissen, ohne daß eine entsprechendeGewißheit vorliegt. Der Wissenstheoretiker möchte sich deshalb und aus theore-tischen Gründen gern von der Gewißheitsforderung befreien. Es ist aber schwerzu sehen, wie er dann auf der anderen Seite mit den skizzierten Intuitionen, daßWissen Gewißheit impliziert, umgehen soll.

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Für den Rechtfertigungsbegriff ist dieser Schachzug des Skeptikersglücklicherweise nicht in derselben Weise möglich. In unserem Beispielkann ich durchaus behaupten, sehr gute Gründe für meine Annahme zuhaben, daß ich nicht gewinnen werde. Dem steht auch die kleine Chan-ce, daß mein Los doch gezogen wird, nicht im Wege. Diese Gründe sindauch nicht durch den Zusammenhang von epistemischen Rechtfertigun-gen und Rationalität gefährdet. Es kann rational sein, sich ein Los zukaufen, obwohl wir gute Gründe haben anzunehmen, daß wir nicht ge-winnen. Zwar ist es prima facie nicht rational, auf eine sehr kleineChance, Erfolg zu haben, ein Los zu kaufen, aber ich muß neben denWahrscheinlichkeiten für das Eintreten von Gewinn und Verlust für eineKalkulation der rationalen Handlungsweise ebenso ihre jeweilige Höhemit einberechnen. Hier steht bei Lotterien einem relativ kleinen Einsatzein großer Gewinn gegenüber, der Defizite bei den Wahrscheinlichkeitenausgleichen kann.

Außerdem hat das Lottospielen Spielcharakter, wobei man den Ge-winn nicht nur aus dem materiellen Gewinn, sondern auch aus dem Ver-gnügen am Spiel bezieht. Würde man davon absehen, wäre es vielleichtnüchtern betrachtet nicht rational, Lotto zu spielen. Daß wir gute Grün-de haben, von einem Verlust auszugehen, zeigt sich dann eher für unserVerhalten nach dem Loskauf. Wir würden denjenigen, der sich auf einLos hin mit entsprechend teuren Gegenständen eindeckt, als irrationalbezeichnen. Bis zum tatsächlichen Gewinn besteht eine rationale Strate-gie nur darin, von einem Verlust auszugehen und keine Investitionen aufeinen zu erwartenden Lottogewinn zu tätigen. Der Ankauf des Losesselbst kann aber deswegen noch nicht als irrational bezeichnet werden.Das erklärt, wie wir darin gerechtfertigt sein können, einen Verlust zuerwarten, obwohl es vernünftig sein kann, sich ein Los zu kaufen. Wirkönnen uns unseres Verlustes eben noch nicht sicher sein. Rechtferti-gung ist eine Sache des Grades, und erst bei „vollkommener“ Rechtferti-gung oder Wissen bleibt dieser Spielraum für rationales Verhalten nichtmehr übrig.

Ein weiterer Punkt für eine Unterscheidung ist die Notwendigkeit,radikale skeptische Hypothesen definitiv zurückzuweisen. Unter ande-rem Stroud (1984, 29) weist darauf hin, daß wir für Wissen auch alle dieHypothesen widerlegen können müssen, die dem Wissen im Wege ste-hen, ja sogar wissen müssen, daß sie falsch sind. Wir können das alsPrinzip (Z) für Zurückweisung formulieren:

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Zurückweisung skeptischer Hypothesen (Z)Wenn S weiß, daß p, so weiß S, daß nicht-H, für alle skeptischen Hy-pothesen H, die mit dem Wissen, daß p für S inkompatibel sind.

Das Prinzip (Z) scheint für Wissen recht plausibel, weil für Wissen dasbereits (in III.A.1.c) genannte Prinzip der logischen Abgeschlossenheitnaheliegt. Zusammen mit unserem Wissen um die skeptischen Hypothe-sen führt es nach Stroud (1984, 30) unausweichlich in den Wissensskep-tizismus. Eine entsprechende Forderung ist jedoch für Rechtfertigungenkaum vertretbar. Um über eine Rechtfertigung für meine Annahme zuverfügen, daß die Erde um die Sonne kreist, muß ich noch keine Recht-fertigungen besitzen, daß ich kein Gehirn im Topf bin. Unser Rechtferti-gungsbegriff ist in diesem Punkt schwächer und läßt es sogar zu, guteGründe für inkompatible Meinungen haben. Um nicht inkonsistent zusein, werden wir nicht zwei inkompatible Meinungen gleichzeitig akzep-tieren, aber wir können Gründe für beide Meinungen besitzen, dennGründe sind nur Wahrheitsindikatoren und implizieren nicht bereitsWahrheit, wie das für Wissen der Fall ist. Damit wir dann eine der bei-den Meinungen begründet akzeptieren können, müssen unsere Gründeallerdings für eine Seite deutlich überwiegen. Der Skeptiker muß gegenRechtfertigungen seine skeptischen Einwände also anders formulierenals gegen Wissensbehauptungen.117

Ein zusätzlicher Punkt, wo der Skeptiker gegen WissensansprücheAnsatzpunkte für plausible Einwendungen finden kann, den er fürRechtfertigungen so nicht vorfindet, ist die Mischung von externen undinternen Aspekten im Wissensbegriffs. Auf der externen Seite wird vonWissen unter anderem verlangt, daß es sich um wahre Überzeugungenhandelt und auf der internen Seite, daß man über entsprechende Be-gründungen für die Überzeugungen verfügt. Damit diese Begründungenaber nicht nur Beiwerk bleiben, müssen sie an die externen Forderungenheranreichen und Begründungen sein, die tatsächlich die „richtigen“Gründe für die Annahme der jeweiligen Überzeugung darstellen undnicht bloß Gründe, die mit der Wahrheit der Überzeugung nur zufälligzusammentreffen. Das können wir aus der Diskussion der Gettier-Bei-spiele lernen. Damit ist die interne Komponente des Wissensbegriffsaber überfordert, so daß man häufig versucht, auch sie durch externeKomponenten abzustützen, die Rechtfertigungen eigentlich fremd sind.

117 Audi (1993, 356ff) belegt anhand von Beispielen, daß ein entsprechen-des Prinzip der deduktiven Abgeschlossenheit für Rechtfertigungen nicht gilt.Eine derartiges Prinzip müßte sich übrigens auch wieder auf die schon abge-lehnte lineare Vorstellung von Rechtfertigungen stützen.

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Z. B. Moser (1991, 242ff) verlangte von den Rechtfertigungen, die zuWissen führen, sie müßten wahrheitsresistent („truth resistant“) sein;d.h. daß die Rechtfertigungen mit allen wahren Aussagen – auch sol-chen, von denen das epistemische Subjekt nichts weiß – verträglich sind.Dem Skeptiker gibt das Gelegenheit einzuwenden, Wissen sei nicht mög-lich, weil wir nie wirklich über Begründungen verfügen, die solch hohenAnforderungen genügen können, wie sie von der Wahrheitsresistenzfor-derung ins Spiel gebracht werden.

Das Konzept der allgemeinen epistemischen Rechtfertigung ist dage-gen rein intern. Was eine Rechtfertigung ist, läßt sich allein aus der In-nenperspektive beurteilen. Da die selbst von Skeptikern wie dem Carte-sischen meist als unproblematisch zugestanden wird, hat der Skeptikerdann keine Möglichkeit sich einzuschalten mit einer Bemerkung wie: Duglaubst nur, über eine Rechtfertigung zu verfügen, aber es ist in Wirk-lichkeit keine. Wir könnten ihm entgegenhalten: Wenn alle internenMerkmale einer Rechtfertigung vorliegen, können wir zu Recht behaup-ten – anders als beim Wissensbegriff, bei dem eine entsprechende Recht-fertigung externe Anforderungen zu erfüllen hat –, es sich auch umwirklich eine Rechtfertigung handelt.

Den Skeptiker, der diese Erwiderung nicht zu akzeptieren gedenkt,möchte ich auf ein Beispiel verweisen, das in ähnlicher Form Stroud(1984, 41) diskutiert. Jemand stellt die ungewöhnliche Behauptung auf,es gäbe keine Ärzte in Berlin, die unserem Wissen massiv zu widerspre-chen scheint. Er begründet sie dann damit, daß er unter „Arzt“ nur je-mand mit einem „Dr. med.“ und der Fähigkeit, jede Krankheit in zweiMinuten zu heilen, versteht. Diese Definition von „Arzt“ erlaubt es ihmnun tatsächlich, seine ursprüngliche Behauptung aufrecht zu erhalten,aber sie steht auch nicht mehr im Widerspruch zu unserer Überzeugung,daß es sehr viele Ärzte – im gewöhnlichen Sinn des Wortes – in Berlingibt. Wenn der radikale Skeptiker in bezug auf Rechtfertigungen nureine Art von „Ärzte-Skeptiker“ wie in unserem Beispiel sein möchte,kann er sich weigern, das, was wir üblicherweise als Rechtfertigungenanerkennen, ebenfalls anzuerkennen. Aber er äußert dann keine Behaup-tung, die unserer widerspricht, und wir können auf seinen Einwand miteinem Achselzucken reagieren.

So leicht wird sich der Skeptiker natürlich nicht geschlagen geben.Er kann uns mit einem entsprechenden Problem auf einer anderen Ebe-ne erneut konfrontieren. Epistemische Rechtfertigungen werden von unsintern als solche eingestuft – soweit so gut. Auf der Metaebene der epi-stemischen Überzeugungen erwarten wir jedoch auch von gewöhnlichen

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epistemischen Rechtfertigungen, daß sie eine externe Eigenschaft auf-weisen. Rechtfertigungen müssen zwar keine Wahrheitsgaranten sein,denn das ist keineswegs schon im Rechtfertigungsbegriff angelegt, aberum ihre Funktion als epistemische Rechtfertigungen erfüllen zu können,müssen sie immerhin Wahrheitsindikatoren sein. Neben den internen Be-dingungen für Rechtfertigungen, die etwa in entsprechenden Kohärenz-forderungen bestehen können, bleibt also noch die Metaforderung, daßsie wahrheitsdienlich sein sollen. Das zeigt einen Ansatzpunkt auf, dender Skeptiker für einen Einwand von einem externen Standpunkt ausnutzen kann. Er fragt nun: Wie kannst du begründen, daß deine inter-nen Rechtfertigungen auch tatsächlich wahrheitsdienlich sind? Daraufkönnen wir ihm wieder nur interne Gründe entgegenhalten, wobei wiruns auf unsere gewöhnlichen epistemischen Überzeugungen zu berufenhaben. Diese Antwort wird den radikalen Skeptiker natürlich nicht zu-friedenstellen, denn für all diese internen Gründe stellt er ja gerade inFrage, daß sie wahrheitsdienlich sind. Damit stürzt der Skeptiker einenInternalisten in ein Dilemma, hat der Internalist doch darauf bestanden,für Begründungen nur das zu zählen, was uns kognitiv zugänglich ist.Das jedoch stellt der Skeptiker komplett in Frage. Er verlangt geradenicht nach internen Gründen, sondern nach einem davon unabhängigenexternen Standpunkt von dem aus sich die internen Rechtfertigungen alswahrheitsdienlich erweisen lassen. Stützen wir uns in unserer Argumen-tation gegen den Skeptiker z. B. auf den Schluß auf die beste Erklärung– indem wir etwa argumentieren, eine realistische Position in bezug aufdie Außenwelt sei die beste Erklärung unserer Wahrnehmungen –, sokann der Skeptiker erwidern: Gerade für dieses Verfahren haben wirnoch keinen unabhängigen Grund erhalten, warum wir es als Wegweiserzur Wahrheit einsetzen sollten.

Über eine schnelle Antwort auf den Skeptiker der Metaebene verfügtnatürlich wieder der Externalist, der auch an dieser Stelle erwidernkönnte, die Frage nach der Wahrheitsdienlichkeit interner Begründun-gen sei nur eine Tatsachenfrage. Die könne man zwar nicht schlüssig ent-scheiden, aber wenn es eben der Fall ist, daß wir zuverlässige Informati-onsverarbeiter sind, deren Weltmodell einigermaßen zutreffend ist, sosind auch unsere gewöhnlichen Rechtfertigungsverfahren (insbesonderedie Abduktion) wahrheitsdienlich und damit epistemische Rechtfertigun-gen – Schluß. Es ist dann nicht noch zusätzlich erforderlich, auch dafürwieder über Argumente zu verfügen. Der Skeptiker weist demnach nurnoch auf eine Möglichkeit hin, die wir nicht ausschließen können, deren

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Möglichkeit allein aber Wissen und vor allem Rechtfertigungen nochnicht bedroht.

Als Internalisten können wir uns nicht so einfach aus der Schlingeziehen. Uns wird der Skeptiker in die Pflicht nehmen, doch bitte auchauf der Metaebene Internalist zu bleiben und mit Argumenten aufzuwar-ten, die gegen die skeptischen Hypothesen sprechen. Solange das nichtgeschehen ist, hätten wir auch keine Rechtfertigungen von denen wirmit guten Gründen sagen könnten, daß es sich um Wahrheitsindikatorenhandelt. Der skeptische Einwand gegen Rechtfertigungen kann kurz sozusammengefaßt werden:

RechtfertigungsskeptizismusWir verfügen über keine (überzeugenden) Gründe für die erkenntnis-theoretische Annahme, daß unsere (internen) Rechtfertigungen tat-sächlich auf Wahrheit abzielen, solange wir keine Gründe dafür an-führen können, daß die skeptischen Hypothesen falsch und unsererealistische Sicht der Welt richtig ist.

Der radikale Skeptiker kann also zugestehen, intern seien unsere Recht-fertigungen als Rechtfertigungen anzuerkennen, wird aber unsere epi-stemische Überzeugung, daß solche Rechtfertigungen auch die Wahr-scheinlichkeit des Gerechtfertigten erhöhen, bestreiten. Als radikalerSkeptiker wird er sogar für alle unsere Rechtfertigungen bezweifeln, daßsie der Wahrheitsfindung dienen. Um das zu erläutern und plausibel er-scheinen zu lassen, kann er seine skeptischen Hypothesen ins Spiel brin-gen. Wenn wir nur Gehirne im Topf sind, ist aller Input, den wir erhal-ten, als Hinweis auf die Beschaffenheit der Außenwelt ungeeignet. Wirmögen auch als Gehirn in einer Nährlösung noch in bestimmten Annah-men im gewöhnlichen Sinn des Wortes gerechtfertigt sein, weil Rechtfer-tigung eine Angelegenheit interner Kohärenz ist, aber unsere Metaüber-zeugung, diese Rechtfertigungen könnten uns helfen, die Wahrheit überdie Außenwelt zu entdecken, ist in diesen Fällen falsch. Welchen Grundhaben wir dann noch, so fragt der Skeptiker, die realistische Sicht derWelt gegenüber der des Skeptikers zu bevorzugen?

Von der Frage des Skeptikers, welche Argumente wir gegen seinekausalen skeptischen Modelle von unserer Stellung in der Welt anführenkönnen, sind auch unsere anderen epistemischen Überzeugungen betrof-fen. Auch sie stützen sich im Rahmen einer naturalistisch begründetenKohärenztheorie auf unsere Konzeption von spontanen Beobachtungs-überzeugungen als wenigstens in gewissen Grenzen zuverlässigem Inputvon der Außenwelt, mit dessen Hilfe wir die Wahrheitsdienlichkeit unse-

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rer Schlußverfahren überprüfen können. Daher dürfen wir uns gegenden Skeptiker seiner Ansicht nach auch nicht auf sie berufen, ohne einepetitio principii zu begehen.118 Das läßt uns nur wenig Spielraum füreine Antwort, denn die hätte sich ganz im Sinne von KTR wiederum aufandere Annahmen zu stützen. Insbesondere können wir uns daher gegenden Skeptiker nicht auf den epistemologischen Konservatismus berufen,da sich unsere Begründungen für diese Metaregel auf wesentliche Teileunseres Weltbildes stützen und nicht völlig apriorischen Charakter ha-ben.119

Was läßt sich dann noch seinen Argumenten entgegenhalten? JedesArgument gegen den Skeptiker muß sich auf andere Überzeugungen be-rufen und dabei etwa auf epistemische Überzeugungen oder Überzeu-gungen über unsere kausale Einbettung in die Außenwelt zurückgreifen.Die sind selbst zumindest zum Teil auch empirische Behauptungen oderauf solche angewiesen, auf die zu berufen uns der radikale Skeptiker un-tersagt hat, solange wir sie nicht vorher anderweitig gerechtfertigt ha-ben. Der Skeptiker läßt somit unsere normalen Argumentationsverfah-ren nicht zu und gibt uns keine Chancen zur Verteidigung. Betrachtenwir dazu kurz einige Vorschläge, auf ihn zu reagieren, um diese pessimi-stische Ansicht zu untermauern. Die Antwortmöglichkeiten lassen sichgrob in einteilen in Zurückweisungen der skeptischen Frage, denen ichim nächsten Abschnitt exemplarisch nachgehe, und Versuchen, eine Ant-wort auf sie zu geben, die im übernächsten Abschnitt zu Wort kommenwerden.

118 Auch diesen Punkt kann man eventuell gegen den Skeptiker wenden.Williams „Unnatural Doubts“ kann als ein längeres Argument gelesen werden,daß der Skeptiker an dieser Stelle einen Fundamentalismus voraussetzt und so-mit schon in seiner Frage eine falsche theoretische Annahme macht, die es unsgestattet, die Frage schließlich zurückzuweisen. Der Skeptiker kann sich aber un-ter anderem mit der Ansicht wehren, daß man ihn nicht zu Recht auf eine anti-fundamentalistische Erkenntnistheorie festlegen könne.

119 Lipton (1991, 158ff) gibt zu, daß wir uns mit Hilfe der Abduktion nichtgegen den Skeptiker wenden dürfen, da wir dann einen Zirkelschluß begehen,aber er versucht zu zeigen, daß sie aus interner Sicht trotzdem eine wichtige Be-stätigung unserer realistischen Auffassung der Außenwelt darstellt. Das ist intui-tiv für ihn ähnlich überzeugend, wie der Hinweis, daß sich ein Vorgehen nachkonservativen Induktionsprinzipien bisher sehr bewährt hat. Den Induktions-skeptiker läßt das natürlich kalt, aber uns „gewöhnlichen Menschen“ erscheintdas dennoch als plausible Stützung unserer Ansicht. Es ist ein weiterer interner„Kohärenzcheck“.

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3. Unnatürliche Zweifel?

Ein erstaunliches Merkmal der skeptischen Positionen, das Hume schonthematisierte, ist ihre starke Kontextabhängigkeit. So natürlich die skep-tischen Hypothesen, daß wir uns in unserem Weltbild komplett irrenkönnen, auch aus unserer fallibilistischen Ansicht erwachsen, wenn wirtheoretisch darüber nachdenken, so wenig kann uns diese Erkenntnis inpraktischen Zusammenhängen tatsächlich beunruhigen. Ohne über eineerkenntnistheoretische Antwort auf den Skeptiker zu verfügen, konntesich Hume mit dieser Einsicht beruhigen und dafür plädieren, den Skep-tizismus auf sich beruhen zu lassen, weil er sowieso praktisch unwirksamsei. Eine Reihe späterer Autoren hat versucht, mehr theoretisches Kapi-tal aus dieser Einsicht zu schlagen, zeigt sie doch, daß die skeptischenEinwände und Fragen nach weiteren Rechtfertigungen in irgendeinerWeise unnatürlich sind.

Relativ leichtes Spiel haben wir mit dem Skeptiker, der seine Positionunachtsam formuliert, also z. B. behauptet: „Ich weiß, daß ich nichtsweiß.“ Das sieht schon auf den ersten Blick widersprüchlich aus. Ein ra-dikaler Rechtfertigungsskeptiker sollte seine Auffassung auch nicht miteiner direkten Begründung versehen, denn sonst müßte er seine eigeneBegründung von dieser Skepsis ausnehmen, was keinen überzeugendenEindruck hinterläßt. Am ehesten kann er seine Überlegungen in Form ei-ner „reductio ad absurdum“ vortragen. Er zeigt, daß seine skeptischenHypothesen – wie die, ein Gehirn im Topf zu sein – kohärent in unsernormales Hintergrundwissen einzupassen sind; jedenfalls wenn wir ein-mal von unserer üblichen (Meta-) Annahme absehen, daß Beobachtungs-überzeugungen uns zuverlässige Informationen über die Welt vermitteln.Wenn der Skeptiker darin Recht hat, daß wir gemäß unseren gewöhnli-chen Standards ebensogut Skeptiker wie Realisten sein könnten, weil als(Meta-) Annahme eine skeptische Hypothese ein ebenso kohärentes Bildergibt wie die realistische, dann hat er uns darauf hingewiesen, daß sichin unserem Hintergrundwissen keine guten Gründe für die realistischeMetaannahme finden lassen. Wie sollen wir ihm dann noch begegnen?

An dieser Stelle kann keine ausführliche Erörterung einsetzen, wiedie verschiedenen anti-skeptischen Strategien, die Unnatürlichkeit derZweifel gegen den Skeptiker ins Feld zu führen, im Detail zu beschreibensind und welche Antworten dem Skeptiker offenstehen; das ist auchschon an anderen Stellen geschehen (z. B. Stroud 1984 oder Williams1991). Aber ich möchte noch einmal auf einige Punkte hinweisen, diemich pessimistisch stimmen. Meistens ist der radikale Skeptiker zunächstnoch relativ großzügig zu uns. Er gesteht uns z. B. zu, wir wüßten, wel-

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che Überzeugungen und welche subjektiven Empfindungen wir haben,wobei er uns oft noch nicht einmal nur auf die momentan bewußten ein-schränkt, was de facto wohl eine Beschränkung auf eine einzige bedeu-ten würde. Weiterhin akzeptiert er, daß wir auf der Metaebene be-stimmte plausible Begründungsformen benutzen, deren Anwendung wie-derum Erinnerung und korrekte Ausführung und nicht zuletzt ihreWahrheitsdienlichkeit voraussetzt. Diese Großzügigkeit kann er uns na-türlich jederzeit wieder entziehen und etwa als Rechtfertigungsskeptikereinwenden: Warum sollte ich den Induktionsschluß auf der Metaebeneals guten Wahrheitsindikator akzeptieren, wenn ich ihn auf der Objekt-ebene in seiner Anwendung in wissenschaftlichen Kontexten gerade inFrage stelle? Er kann sogar logische Schlußregeln in Frage stellen. DieSpielregeln für die Auseinandersetzung mit dem Skeptiker sind also – zuseinen Gunsten – nicht so weit geklärt, daß wir ihm irgendwann epi-stemische Unfairness vorwerfen könnten. Das können sie auch nichtsein, denn warum sollte der radikale Skeptiker überhaupt auf irgendwel-che bestimmten Metaüberzeugungen oder Schlußformen festgelegt sein?Das entspricht nicht seinem wahren Naturell. Kutschera (1982, 61) hatdaher Recht mit seiner Ansicht zum Skeptizismus, daß man nicht gegeneine Position argumentieren kann, die keine Argumente zuläßt. Aber die-ser Vorwurf an die Adresse des Skeptikers hat eher moralischen als er-kenntnistheoretischen Charakter. Er entscheidet nicht die Frage vonWahrheit und Falschheit der skeptischen Hypothesen, sondern ist eherein neuer Ausdruck der Humeschen Resignation gegenüber dem Skepti-zismus. Wir können uns über seine Gnadenlosigkeit beklagen, doch un-beantwortet zurückweisen dürfen seine Fragen deshalb noch nicht.

Neben dem Vorwurf der Unfairness läßt sich noch weitergehend ge-gen den Skeptiker einwenden, daß seine Worte irgendwann jeden Sinnverlieren, wenn er zu viele Überzeugungen in Frage stellt. In Kapitel(IV.A.2) hatte ich schon darauf hingewiesen, daß für das Verfügen überBegriffe bestimmte Stereotype oder Minitheorien notwendig sind, wo-nach der radikale Skeptiker, sollte er keine Meinungen mehr akzeptie-ren, auch keine Begriffe mehr verwenden kann. Damit, so könnte mandenken, fällt es ihm schwer, sein Anliegen sinnvoll vorzutragen. Das istvielleicht die weitgehendste Form, den Einwand der Unnatürlichkeit ge-gen die skeptischen Zweifel stark zu machen.

Doch auch dagegen kann sich der Skeptiker wehren, indem er seinenAusführungen die Form einer „reductio“ gibt, die von unseren gewöhnli-chen Meinungen ausgehend diese letztlich als unbegründet erweist. Au-ßerdem ist gerade der oben beschriebene Rechtfertigungsskeptiker mit

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diesem Einwand nur schwer zu erwischen. Er kann in den meisten Über-zeugungen erster Stufe und unseren Rechtfertigungen für sie sogar mituns übereinstimmen. Anders als wir, ist er aber der epistemischen(Meta-)Überzeugung, daß wir für all die überzeugenden Rechtfertigun-gen, über die wir heute verfügen, keinen guten Grund anführen können,daß sie tatsächlich epistemische Rechtfertigungen also Wahrheitsindikato-ren in einem anspruchsvollen Sinn des Wortes sind. Angesichts der vie-len Überzeugungen erster Stufe über die Außenwelt, die wir in diesemFall mit ihm teilen, können wir dann kaum noch behaupten, seine Wortewären sinnlos, weil er etwa über die notwendigen Putnamschen Stereo-typen nicht verfüge.

Es fällt mir ebenso schwer, einen ähnlichen Standpunkt zu vertreten,wonach ich den Skeptiker nicht verstehen könne, denn sein Skeptizismusverlange, daß ich einen zu meiner Perspektive externen Standpunkt ein-nehmen muß, eine Art von Gottesperspektive, die mir fremd ist, weil ichmeine eigene Perspektive nicht wirklich verlassen könne. Doch reichtder Hinweis auf die Ungewöhnlichkeit der externen Sichtweise kaum,um bereits ein Verständnis auszuschließen; zumal ich mir die vom Skep-tiker genannten skeptischen Hypothesen, nach denen ich etwa ein Ge-hirn im Topf sein könnte, wiederum zumindest in Analogie denkenkann. Z. B. indem ich mir zunächst vorstelle, entsprechende Experi-mente vielleicht eines (nicht allzu fernen) Tages mit Ratten durchzufüh-ren, deren Gehirne ich an einen Computer anschließe. Warum sollte ichdann nicht auch umgekehrt in eine entsprechende Situation als Versuchs-person geraten können? Diese einfache Analogie, die nur einen Wechselder Perspektive in meinem Rattenexperiment verlangt, ist mir leider nurallzu gut vorstellbar. Das skeptische Gedankenexperiment scheint mirauch verständlich, ohne großen theoretischen Aufwand betreiben zumüssen. Es ist noch nicht einmal so utopisch oder sogar physikalisch un-möglich, daß wir es deshalb in unserem realistischen Rahmen nichtmehr zur Kenntnis zu nehmen hätten.

Trotzdem ist dieser Weg, dem Skeptiker Unverständlichkeit vorzu-werfen, von Anti-skeptikern gern mit einigen Variationen beschrittenworden. In dieser Richtung war schon Carnaps (1956) Kritik angesie-delt, daß bestimmte Fragen des Skeptikers nach der Existenz von Dingender Außenwelt sinnlos seien, weil ontologische Fragen nach der Existenzvon Gegenständen immer nur relativ zu einem bestimmten sprachlichenRahmen bedeutungsvoll wären. Für Carnap sind nur die „internen Fra-gen“, die in einem solchen Rahmen aufgeworfen werden, sinnvoll, weilwir nur für sie Verifikationsbedingungen kennen. „Externe Fragen“, wie

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die, in welcher Sprache wir reden wollen, ob z. B. in einer Dingspracheoder einer phänomenalistischen, sind dagegen keine theoretischen Fra-gen nach Wahrheit oder Falschheit mehr, sondern eine Angelegenheitder Konvention ohne kognitiven Gehalt. Für Carnap wird damit wie fürPutnam Wahrheit ein interner Begriff, der an unsere Verifikationsbedin-gungen gekoppelt ist. Hier ist kaum der Ort, die Verifikationstheorie derBedeutung zu diskutieren, aber sie ist sicher eine Schwachstelle in Car-naps Reaktion auf den Skeptiker. Die Kopplung des Wahrheitsbegriffs anden der Verifizierbarkeit ist außerdem eine Schachzug, der dem Skepti-ker bereits viel zu weit entgegenkommt, gibt er doch unser ursprüngli-ches Projekt der Erkenntnis einer von uns unabhängigen Außenweltpreis. Wenn wir dazu gewillt sind, lassen sich allerdings Antworten aufden Skeptiker finden. Der Skeptiker weist gerade an solchen Stellen aufLücken in unserer Erkenntnis hin, an denen externe Gesichtspunkte insSpiel kommen, die durch das intern Zugängliche nicht voll erfaßt wer-den; also für Rechtfertigungen dort, wo wir verlangen, daß sie wahr-heitsdienlich in einem anspruchsvollen korrespondenztheoretischen Sinndes Wortes sind. Gibt man daher die Unterscheidung von externen undinternen Ebenen auf, verliert er seinen wichtigsten Angriffspunkt. Auchtranszendental idealistische Ansätze kommen dem Skeptiker in ähnlicherForm entgegen, wenn sie Wahrheit auf der Ebene der Erscheinungen an-siedeln, die zumindest nicht völlig unabhängig von uns ist, sondern zueinem Teil von uns konstruiert wird. In der vorliegenden Arbeit habe ichmich für einen anspruchsvolleren Wahrheitsbegriff mit einer realisti-schen Konzeption der Außenwelt entschieden, der eher unserer Vorstel-lung von objektiver Erkenntnis entspricht, und kann daher keine Zu-rückweisung der skeptischen Einwände auf diesem Wege mittragen.

Es gibt eine Reihe anderer Versuche, die skeptischen Einwände zu-rückzuweisen, weil sie zu unnatürlich sind. Man könnte hier Wittgen-stein, Ayer, Stanley Cavell oder Crispin Wright nennen, aber für michbleibt das Fazit all dieser Versuche: Die skeptischen Einwände mögenzwar praktisch irrelevant erscheinen, unnatürlich wirken und nur intheoretischen philosophischen Kontexten auftreten oder sogar unfair ab-gefaßt sein, denn sie verletzen die üblichen Regeln für die Frage nachBegründungen, aber damit ist noch nicht erwiesen, daß sie erkenntnis-theoretisch unzulässig oder sogar falsch sind.

Deshalb gibt es auch eine Reihe von Autoren, die die Herausforde-rung des Skeptikers annehmen und versuchen, ihm eine direkte Erwide-rung entgegenzubringen. Das reicht von Descartes, der Schlüsse aus er-sten unbezweifelbaren Gewißheiten zieht, die keine Lücke zwischen un-

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serer Erkenntnis der Welt und der Welt zulassen sollen, bis hin zu Moo-re, der in seinem bekannten „Beweis der Außenwelt“ unsere Gewißhei-ten erster Ordnung gegen die eher theoretischen Einwände des Skepti-kers auszuspielen versucht. Einen solchen Widerlegungsversuch möchteich nun noch genauer unter die Lupe nehmen, weil gerade er die konse-quente Anwendung der wichtigsten internen Schlußform auf die meta-theoretischen externen Fragen verkörpert.

4. Realismus als beste Erklärung?

Immer wieder versuchen Philosophen mit dem Schluß auf die beste Er-klärung – nun eingesetzt auf der Metaebene – den Skeptiker zu bekämp-fen. Ansätze hierfür sind schon bei Hume zu finden, der die Kohärenzbestimmter Wahrnehmungen als Indiz für die Existenz einer entspre-chenden Außenwelt erwägt. Ihm reichte dieser Schluß nicht aus, aber ei-nigen heutigen Autoren, u.a. Devitt (1991, 73ff), Moser (1989, 158ff)und BonJour (1985, Kap. 8), scheint er stärker zu sein, als Hume nochannahm. Sie argumentieren, die beste Erklärung für unsere Beobach-tungsüberzeugungen und ihre Konstanz sei in der Annahme zu finden,daß die Außenwelt in vielen Eigenschaften so ist, wie sie uns erscheint.Dieser Weg wirkt besonders auf dem Hintergrund von KTR zunächstplausibel, weil ich auf der Objektebene von KTR den Schluß auf die be-ste Erklärung als das zentrale Schlußverfahren für gehaltvermehrendeSchlüsse bezeichnet habe; außerdem erwies er sich als ein wichtiges In-strument gegen den internen Skeptiker. Betrachten wir anhand der Ar-gumentation von BonJour, die ebenfalls auf der Grundlage einer Kohä-renztheorie abgegeben wird, ob er sich auch gegen den radikalen Skepti-ker wirksam anwenden läßt.

BonJour (1985, 169ff) versucht den Schluß auf die beste Erklärungsowohl gegen einen internen wie gegen einen externen Skeptiker einzu-setzen. Er vertritt dazu zwei Thesen (1985, 171), die ich in abgekürzterForm wiedergebe:

(B1) Wenn ein Überzeugungssystem über einen längeren Zeitraum ko-härent und stabil bleibt, obwohl es gleichzeitig BonJours „obser-vation requirement“ erfüllt, so gibt es wahrscheinlich eine Erklä-rung dafür.

(B2) Die beste Erklärung dafür ist, daß (a) die Beobachtungsüberzeu-gungen auf approximativ zuverlässige Weise von entsprechendenSituationen verursacht sind und (b) das ganze Überzeugungssy-

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stem eine unabhängige Realität approximativ zutreffend be-schreibt.

Die erste Forderung ist vorerst nicht besonders kontrovers, da beide Sei-ten, sowohl der Skeptiker wie auch sein Gegner, der erkenntnistheoreti-sche Realist, Erklärungen für die stabile Kohärenz anbieten. Sie scheinendamit implizit zu akzeptieren, daß es sich um ein erklärungsbedürftigesFaktum handelt, für das wir nach Erklärungsmodellen suchen sollten.(Diese Zustimmung kann der Skeptiker natürlich, wie oben schon er-wähnt, jederzeit auch wieder zurückziehen, wenn ihm die Suche nachErklärungen zu brenzlig wird.) Wirklich spannend wird es demnach erstfür die zweite These (B2), in der die realistische Erklärung als die besteausgewiesen werden soll. Hier muß man unterscheiden, ob man sich ge-gen den internen oder den externen Skeptiker wenden möchte.

Fangen wir wiederum mit dem internen an, um den Unterschied zwi-schen den beiden Formen von Skeptizismus noch einmal zu beleuchten.Auch für ihn lassen sich weitere Unterscheidungen treffen. Als internerSkeptiker wird er der Konzeption von Schlüssen auf die beste Erklärungals Wahrheitsindikatoren prinzipiell zustimmen, weil diese Intuition einzentraler Aspekt unserer epistemischen Überzeugungen ist, aber er könn-te Einwände bezüglich ihres Anwendungsbereich erheben. Als einen in-ternen Skeptizismus dieser Art kann man z. B. van Fraassens konstrukti-ven Empirismus (s. z. B. van Fraassen 1980) beschreiben. Van Fraassenversucht eine Kluft zwischen beobachtbaren und unbeobachtbaren Din-gen in der Erkenntnistheorie stark zu machen. Während seiner Meinungnach Schlüsse auf Beobachtbares, auch wenn es nicht beobachtet wird,epistemisch zulässig sind, sind entsprechende Schlüsse auf Unbeobacht-bares für ihn erkenntnistheoretisch nicht statthaft. BonJour versucht dieArgumente solcher wissenschaftlichen Antirealisten durch eine Reihekleinerer Einwände gegen ihre Position zu entschärfen, aber er wird da-mit der umfangreicheren Debatte um den wissenschaftlichen Realismuskaum gerecht. Insbesondere müßte er sich noch einer anderen Diskussi-on stellen, die durch Wissenschaftshistoriker wie Kuhn und Feyerabendausgelöst wurde. Die bestreiten, daß sich eine stabile Kohärenz, wie siein (B1) von BonJour behauptet wird, in den Wissenschaften tatsächlichfeststellen läßt. Wenn die Vertreter einer InkommensurabilitätstheseRecht behalten und aufeinanderfolgende Theorien in der Wissenschaftmiteinander inkommensurabel sind, und sich weiterhin daraus ergibt,daß sie auch nicht in bezug auf einen epistemischen Fortschritt im Sinneeiner Vermehrung von Wissen verglichen werden können, entfällt be-

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reits ein Teil von BonJours Prämisse (B1) eines entsprechenden erklä-rungsbedürftigen Faktums.

Die diachronische Kohärenztheorie der Rechtfertigung erklärt andieser Stelle sehr schön, wieso der Inkommensurabilitätsdebatte eine sogroße erkenntnistheoretische Bedeutung zukommt. Ihr Ausgang hatnämlich auch wichtige Auswirkungen auf die Beurteilung unserer nicht-wissenschaftlichen Erkenntnis, denn diese ist – nicht zuletzt durch dieepistemische Arbeitsteilung – für Rechtfertigungsfragen eng mit unseremwissenschaftlichen Wissen verknüpft. Außerdem stellen die Wissenschaf-ten einen wesentlichen Teil unseres Wissens dar, dessen Stabilität undKohärenz einen paradigmatischer Testfall für die Stabilitätsbehauptungausmacht. Für eine rein synchronisch verfahrende Rechtfertigungskon-zeption erschiene dagegen die Vorgeschichte unseres Meinungssystemsbedeutungslos. Zur Inkommensurabilitätsfrage und auch zur Diskussionum den wissenschaftlichen Realismus werde ich in einem wissenschafts-theoretischen Kontext Stellung beziehen. Dabei werde ich für eine reali-stische Deutung der Wissenschaften und gegen relativistische Deutungender Wissenschaftsgeschichte plädieren. Das begründet dann (B1) und lie-fert die Voraussetzungen, sich mit (B2) zumindest gegen den internenSkeptiker zu wehren. Vor dem Hintergrund, daß gehaltreichere Theo-rien die besseren Erklärungen anbieten können,120 scheint die realisti-sche Behauptung (B2) dann gegenüber den skeptischen Erklärungen zufavorisieren sein. Doch dieser Punkt bedarf umfangreicherer Analysenvon Beispielen aus den Wissenschaften, die in dem jetzigen Kontextnicht zu leisten sind.

Gegen den internen Skeptiker können wir also vermutlich mit Hilfedes Schlusses auf die beste Erklärung etwas erreichen, wenn wir uns aufdie entsprechenden wissenschaftsphilosophischen Debatten einlassen.BonJour macht es sich dabei allerdings viel zu leicht. Dieser Erfolg istfür meine Theorie der Rechtfertigung auch nicht unbedingt erstaunlich,weil der Schluß auf die beste Erklärung von ihnen bereits als wahrheits-dienlich auf der Objektebene akzeptiert wird. Warum sollten sie ihndann auf der Metaebene nicht als Wahrheitsindikator akzeptieren? Zu-sätzlich tragen die internen Skeptiker die Beweislast für Einschränkun-gen des Abduktionsschlusses auf bestimmte Bereiche.

Weit schwieriger ist wiederum der Umgang mit dem radikalen Skep-tiker. Noch einmal: Der könnte zunächst auf der Metaebene den Schlußauf die beste Erklärung als nicht wahrheitsdienlich zurückweisen. Dannbleibt uns auf der Metaebene nichts anderes übrig, als an die Plausibili-

120 Diese Behauptung wird im 3. Teil erläutert und begründet.

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tät der Abduktion appellieren, haben aber keine wirkliche Handhabe ge-gen den Skeptiker, weil unsere zahlreichen intuitiven Beispiele für er-folgreiche Schlüsse auf die beste Erklärung allesamt seinem radikalenSkeptizismus zum Opfer fallen. Der Skeptiker erscheint damit wieder alsunfairer Diskussionspartner, weil er uns auf der Metaebene keine reelleChance für eine Erwiderung gibt, denn irgendeiner Argumentform müs-sen wir uns zur Begründung unserer anti-skeptischen Haltung ja schließ-lich bedienen. Doch leider läßt uns dieser moralische Einwand nochkeine erkenntnistheoretischen Pluspunkte sammeln.

Überraschenderweise wird der Skeptiker meist nicht ganz so skrupel-los dargestellt, sondern er versucht selbst alternative Erklärungen für un-sere Wahrnehmungen zu entwerfen, wie daß sie von einem Dämonstammen oder uns von einem Supercomputer eingeflüstert werden.Wenn er sich erst auf das Erklärungsgeschäft eingelassen hat, wird er al-lerdings prinzipiell anfällig für die BonJoursche Argumentation, und wirwollen nun untersuchen wie groß diese Anfälligkeit tatsächlich ist. Wirkönnen fragen, wer die bessere Erklärung anzubieten hat. BonJour(1985, 179ff) hält die realistische Hypothese für den klaren Sieger, aberauch der Skeptiker hat für die stabile Kohärenz eine Erklärung vorzu-schlagen, nämlich, daß uns der Dämon hinters Licht führen will, unddas geschieht natürlich am besten anhand einer derartig stabilen illusio-nären Umgebung. Auf welcher Grundlage können wir dann noch skepti-sche oder idealistische Hypothesen als minderwertige Erklärungen ge-genüber der realistischen zurückweisen? Akzeptiert der Skeptiker auchnur einige unserer gewöhnlichen Annahmen über die Welt dürfte seineHypothese schnell unterliegen, aber gerade das dürfen wir vom radika-len Skeptiker unglücklicherweise nicht erwarten, weil er diese Annah-men allesamt ablehnt. In dieser skeptischen Situation verbleiben wirmeines Erachtens ohne den erforderlichen epistemischen Hintergrund,vor dem wir die eine oder andere Erklärung als die bessere bevorzugenkönnten. Gegen den Skeptiker sind wir womöglich in einer nochschlechteren Situation als es Moser war (s. III.B.5.b), der mit demSchluß auf die beste Erklärung auf einer Art von Sinnesdatenbasis basaleÜberzeugungen begründen wollte. Er scheiterte daran, daß die Beurtei-lung von Erklärungen nur auf der Grundlage eines umfangreicherenHintergrundwissens möglich ist. Die Sinnesdaten ohne semantischen Ge-halt reichten als Basis für eine Entscheidung nicht aus. Gegen den radi-kalen Skeptiker haben wir noch weniger in der Hand, auf das wir unsstützen könnten. Wie sollen wir uns dann per Abduktion gegen denSkeptiker wenden? Die Erklärungstheorie, die ich in Kapitel 9 präsentie-

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ren werde, gibt zwar auch einige Anhaltspunkte, die realistische Erklä-rung wegen ihres weit größeren Gehalts zu bevorzugen, doch wiederumist unklar, wie ich einen radikalen Skeptiker zu dieser speziellen Erklä-rungstheorie bekehren soll. Sie wird wesentlich durch eine Analyse vonBeispielen mitbegründet und stützt sich auf andere epistemische Intuitio-nen, die der radikale Skeptiker als illusionär einstufen wird.

BonJour (1985, 181ff) bringt deshalb an dieser Stelle a priori Wahr-scheinlichkeiten ins Spiel und meint grob gesagt, eine Ausarbeitung derDämonenhypothese würde ihre apriorische Unwahrscheinlichkeit ansLicht bringen, denn warum sollte der Dämon gerade die vom Skeptikergenannten Ziele haben und nicht eines von den vielen anderen, die ihmals allmächtigen Dämon doch offenstehen?

Diese Überlegung wirkt recht gewagt und scheint mir wenigstens auszwei Gründen fehlerhaft zu sein. Erstens knüpfen diese Überlegungenstark an das an, was wir bereits über die normalen Interessen und Viel-gestaltigkeit von intelligenten Lebewesen wissen und sind daher nichtauf der Grundlage einer tabula rasa zu haben. Hier gerät der Einwand inden Verdacht einer petitio principii. Außerdem ist der Einwand auch fürsich nicht überzeugend, wissen wir doch, daß es manchen „Lebewesen“– und ganz besonders Dämonen – Spaß macht, Experimente mit ande-ren Lebewesen auszuführen. Das muß für ihn nicht zu einseitig werden,denn in der Regel wird dieses Experiment nicht sein ganzer Lebensinhaltsein, sondern nur ein kleiner Teil seiner Vergnügungen, von denen derDämon noch viele andere hat. Zweitens, und hier wird es ernsthafter,zieht BonJour hier einen bekannten und populär erfolgreichen, abernichtsdestoweniger fehlerhaften statistischen Schluß.

Betrachten wir diesen Schluß an einem anderen bekannten Beispiel,in dem er für die Lösung einer anderen Fragestellung mißbraucht wird.Es wird manchmal mit der Unwahrscheinlichkeit, der „zufälligen“ Ent-stehung von Leben für die Existenz eines Schöpfers argumentiert. DerBiologe Monod (1971) unterstützt solche Ansichten unfreiwillig, indemer die Entstehung des Lebens als ein Ereignis mit astronomischer Un-wahrscheinlichkeit bezeichnet. Solche Unwahrscheinlichkeiten ergebensich aber eigentlich immer, wenn wir im nachhinein Wahrscheinlichkei-ten für das Vorliegen des gegenwärtigen Zustands berechnen. Wenn wirmit einem Würfel 10 000 mal würfeln, wird irgendeine Ziffernfolge her-auskommen. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit 1. Wie groß war aber dieWahrscheinlichkeit für gerade diese Folge? Nun genau: (1/6)10 000. Dasist eine extrem kleine Zahl. Wir waren also im Sinn des betrachtetenSchlußverfahrens wieder Zeuge eines astronomisch unwahrscheinlichen

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Ereignisses, ohne daß es uns so bedeutsam vorkommt (s. dazu Stegmül-ler 1987 III, 206). Doch tatsächlich wäre es das nur gewesen, wenn wirgerade dieses Ereignis vorhergesagt hätten. Derartige nachträgliche Kal-kulationen von Wahrscheinlichkeiten bleiben wertlos, solange man sichnicht auf bestimmte vorher festgelegte Referenzklassen bezieht. Daß ir-gendeine Folge von Würfelziffern dabei herauskommen würde, war vonAnfang an alles andere als erstaunlich. Ähnlich wenig hilfreich sind dienachträglichen Unwahrscheinlichkeitsvermutungen von BonJour für dieInteressen des Dämons. Gerade für unsere Kenntnis der Situation, dieuns der Skeptiker läßt, sind wir nicht in der Lage, Referenzklassen zu be-stimmen, die uns relevante Wahrscheinlichkeitseinschätzungen ermögli-chen würden. Eine apriorische Beurteilung von Wahrscheinlichkeitenkönnte in dieser Situation eigentlich nur alle aufgezählten Möglichkeitenaus Mangel an weiteren Informationen als gleichwahrscheinlich ein-schätzen, woraus kein Argument gegen den Skeptiker erwächst. Er kannsich mit zahlreichen skeptischen Möglichkeiten zufrieden zeigen, wäh-rend wir auf der einen realistischen Deutung bestehen möchten. DerSchluß auf die beste Erklärung ist daher kaum als Waffe gegen den radi-kalen Skeptiker einzusetzen, weil er nur bei vorliegendem Hintergrund-wissen anhand dessen sich eine Beurteilung von Erklärungen vornehmenläßt, eine vergleichende Bewertung erlaubt. Doch die läßt der radikaleSkeptiker gerade nicht zu.

Unsere Chancen, den Skeptiker tatsächlich zu widerlegen, beurteileich deshalb trotz der zahlreichen interessanten Überlegungen, die bishervon Philosophen vorgetragen wurden, ähnlich pessimistisch wie Hume(1978, 218):

This skeptical doubt, both with respect to reason and the senses, is amalady, which can never be radically cur’d, but must return upon usevery moment, however we chace it away, and sometimes seem en-tirely free from it. ‘Tis impossible upon any system to defend eitherour understanding or senses;

Allerdings ist es nicht in erster Linie mein Ziel, die Gegner des Skeptizis-mus zu kritisieren, sondern die Skeptiker selbst. Es war nur meine Ab-sicht, die Ausgangslage für meine Haltung gegenüber dem Skeptiker zuerläutern und einzugestehen, daß der von mir so geschätzte Schluß aufdie beste Erklärung hier versagen muß. Findet sich entgegen dieser Er-wartung doch eine geeignete Widerlegung der skeptischen Bedrohung,bin ich natürlich nur zu gerne bereit, mich ihr anzuschließen.

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5. Erkenntnistheoretische Ziele

Ehe ich genauer bestimmen möchte, was sich nach dieser pessimisti-schen Beurteilung noch Sinnvolles vis-à-vis dem Skeptiker sagen läßt,möchte ich einen Schritt zurücktreten und die Ziele etwas genauer klä-ren, die wir mit der Erkenntnistheorie verfolgen. Wir fahnden, so könn-te man dieses Gebiet charakterisieren, nach einem Verfahren zur Wahr-heitssuche. Dieses Verfahren besteht aus einem Abwägen von Begrün-dungen für eine Meinung. Da wir keinen direkten Zugang zur Wahrheitunserer Meinungen besitzen, sind wir auf derartige Wahrheitsindikato-ren angewiesen. Der erhoffte Erkenntnisgewinn beinhaltet dabei zweiZiele: Zum ersten unser Meinungssystem so zu gestalten, daß es mög-lichst viele wahre und begründete Meinungen enthält, und zum zweitenfalsche Meinungen möglichst zurückzuweisen. Wir versuchen, möglichstviele Erkenntnisse über die Welt zu erwerben und dabei Irrtümer, so gutes eben geht, zu vermeiden.

Ideal wäre es natürlich, überhaupt keine falschen Meinungen zu ak-zeptieren, aber dieses Ideal ist offensichtlich kaum erreichbar, und wirkönnen uns nicht sicher vor Irrtum schützen. Wir müssen uns daher aufdie bescheidenere fallibilistische Position zurückziehen, daß es Irrtümerunter unseren Überzeugungen geben kann, und wir versuchen sollten,ihren Umfang so gering wie möglich zu halten. Als Fallibilisten müssenwir aber anerkennen, daß im Prinzip jede einzelne unserer Überzeugun-gen falsch sein könnte und schwören damit der Cartesischen Forderungnach Sicherheit für unsere Meinungen ab. Die beiden Ziele, die wirbeim Erkenntnisgewinn verfolgen, die schon William James (1956, Kap.VII) explizit als zwei getrennte Ziele beschrieben hat, lassen sich daherdarstellen als Suche nach möglichst vielen Informationen über die Weltund gleichzeitig nach möglichst großer Irrtumsfreiheit.

Epistemische Ziele

InformationMöglichst viele, möglichst empirisch gehaltvolle und epistemischwertvolle Meinungen über die Welt zu besitzen.

IrrtumsfreiheitMöglichst wenige falsche Meinungen über die Welt zu akzeptieren.

Das erste Ziel ist selbstverständlich nicht nur so zu lesen, daß man ein-fach möglichst viele wahre Meinungen zu sammeln braucht, denn wirwollen in der Regel nicht beliebige Erkenntnisse über die Welt, sondern

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solche, die uns wichtig und gehaltvoll erscheinen. Meinungssammlungenwie:

- Zwei Liter Wasser sind mehr als ein Liter Wasser.- Drei Liter Wasser sind mehr als zwei Liter Wasser.- ...

können zwar zu potentiell unendlich vielen wahren Überzeugungen füh-ren, aber sie sind kaum besonders informativ. Wie sich der Informations-gehalt von Meinungen bestimmen läßt, ist sicher keine einfache Frage,aber es gibt etwa in der Informationstheorie und auch der Wissen-schaftstheorie einige interessante Vorschläge dazu. Die Falsifikationistenz. B. haben das Ziel möglichst riskanter Theorien (möglichst viele poten-tielle Falsifikationsinstanzen) auf ihre Fahnen geschrieben, was eng da-mit zusammenhängt, daß diese Theorien informationsreich sind. An die-ser Stelle genügt ein intuitives Verständnis von „Informationsgehalt“,um einzusehen, daß die bloße Anzahl an Überzeugungen kein geeignetesMaß für unser erstes epistemisches Ziel ist. Für wissenschaftliche Theo-rien läßt sich der empirische Gehalt in präziser Weise bestimmen, womitich mich im letzten Teil der Arbeit beschäftigen werde (s. VII.C.9). Mit„epistemisch wertvoll“ sind natürlich insbesondere die Meinungen ange-sprochen, die wesentlich zur Kohärenz unseres Überzeugungssystems imSinne von KTR beitragen. Diese Forderung überschneidet sich ein wenigmit der nach hohem Informationsgehalt, ist aber spezifischer für ein be-stimmtes Überzeugungssystem als diese.

Auf der anderen Seite streben wir nicht einfach nach vielen informa-tiven Annahmen über die Welt, sondern möchten dabei möglichst nurwahre oder jedenfalls so wenig falsche Annahmen wie möglich unter un-seren Meinungen wissen. Auch für dieses zweite Ziel ist eigentlich wie-derum eine Gewichtung erforderlich. Einige Irrtümer sind für unsschwerwiegender als andere. Das ist nicht nur auf Personen relativiert zuverstehen, wonach für jeden bestimmte Überzeugungen wichtig sind,sondern hat auch eine stärker theoretische Komponente, wonach be-stimmte Meinungen, etwa aufgrund ihres Allgemeinheitsgrads, eine zen-tralere Position in unserem Überzeugungssystem einnehmen und stärke-re Auswirkungen auf andere Überzeugungen haben. So führt die Annah-me eines radikalen Skeptikers, wir wären Gehirne in einer Nährflüssig-keit und würden unseren Input von einem Computer erhalten, zu einerUmdeutung nahezu aller unserer Ansichten über die Welt. Die prakti-schen Folgen sind vermutlich nur deshalb nicht so bedeutend, weil wirdie skeptischen Annahmen nicht wirklich glauben, während ein Irrtum

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bezüglich der Vornamen von Cicero im allgemeinen nicht derartig weit-reichende Schlußfolgerungen auf andere Teile unseres Meinungssystemszuläßt.

Erst diese Qualifizierungen der epistemischen Ziele machen letztlichdeutlich, worum es uns beim Erkenntniserwerb geht. Wie auch immersie ausgestaltet werden, dürfte erkennbar sein, daß die beiden Ziele ineinem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Da es uns nicht gelingt,sicheres Wissen über die Welt zu erlangen, sind wir mit jeder Meinung,die wir zusätzlich akzeptieren, gezwungen, ein höheres Irrtumsrisikoeinzugehen, das um so höher liegt, je informativer die jeweilige Mei-nung ist. Je konkretere Aussagen der Wetterbericht über das Wetter vonmorgen macht, desto größer ist ceteris paribus auch die Wahrscheinlich-keit, daß sie nicht zutreffen. Sobald man eines der beiden Ziele völligvernachlässigt, wird die Erfüllung des anderen trivial. Um möglichstviele Überzeugungen zu akzeptieren, könnte ich, wenn ich vom Problemder falschen Meinungen absehe, einfach alle möglichen Aussagen akzep-tieren. Das zweite Ziel läßt sich hingegen optimal erreichen, indem ichmich jeder Meinung enthalte.

Genau für diesen zweiten Vorschlag macht sich der Skeptiker stark.Seiner Meinung nach verfügen wir für keine unserer Meinungen tatsäch-lich über epistemische Gründe und sollten uns daher aller Annahmenüber die Realität enthalten. Der Skeptiker gewichtet dabei das zweiteZiel so hoch, daß er für die Erfüllung des ersten keinen Raum mehrläßt. Das muß jedenfalls unsere Konklusion sein, wenn wir die bekann-ten Erwiderungen auf den Skeptiker und Diagnosen des Skeptizismusnicht für erfolgreich halten.

6. Eine Entscheidung gegen den Skeptiker

Wenn wir über keine epistemischen Gründe für eine Zurückweisung desSkeptikers – allerdings auch nicht des Realisten – verfügen, müssen wiruns mittels anderer Überlegungen zwischen Skeptizismus und Anti-skep-tizismus entscheiden. Das beinhaltet eine Gewichtung zwischen den bei-den genannten epistemischen Zielen. Eine solche Entscheidung sollkeine bloß pragmatische Entscheidung sein, da sie nicht primär an prak-tischen Zielen oder Bedürfnissen orientiert ist, sondern auf einer theore-tischen Ebene stattfinden, denn die beiden genannten Ziele sind dietheoretischen Ziele der Erkenntnistheorie selbst; trotzdem handelt essich nichtsdestoweniger um eine Wertentscheidung.

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Gegen den Skeptiker möchte ich die Bedeutung des ersten Ziels stär-ker betonen. Die Suche nach informativen Erkenntnissen über die Weltist für die Erkenntnistheorie zu wichtig, als daß wir sie dem zweiten Zielganz opfern dürften. Nur eine Ablehnung der radikalen skeptischen Hal-tung kann zu einem fruchtbaren Forschungsprogramm führen, in demwir ein gehaltvolles Bild unserer Welt erhalten, das nicht vollkommenwillkürlich ist. Der Skeptiker kann seine Hypothesen dagegen nur aufwillkürliche Weise ausbauen, weil er die einzigen Indizien, die wir fürdie Beschaffenheit der Welt zu besitzen scheinen, unsere sich spontaneinstellenden Beobachtungsüberzeugungen, nicht ernst nimmt. Für jedeVermutung, wie sich seine skeptische Hypothese entfalten läßt, welcheEigenschaften wir etwa dem Dämon und seiner Umwelt zuschreiben, hater in der skeptischen Situation keine überprüfbaren Anhaltspunkte mehranzubieten, sondern nur noch seine Phantasie.

Der hier beschriebene Kohärenztheoretiker läßt sich demgegenübervon gewissen spontanen Meinungen, die sich als Beobachtungsinputdeuten lassen, inhaltlich leiten und versucht sein Bild der Welt aus seinerInnenperspektive zu entwickeln. Dabei knüpft er im Sinne des epistem-ologischen Konservatismus immer an das an, was er bisher schonglaubte. Doch er vertraut seinen Meinungen keineswegs blind. Es istihm klar, daß er nicht über sicheres Wissen und auch nicht über eine si-chere Basis für Wissen verfügt. Jede eingehende Information wird an-hand von Kohärenztests auf ihre Glaubwürdigkeit geprüft, und auch dasdafür eingesetzte Hintergrundwissen wird ständigen Prüfungen unter-worfen.

Der Skeptiker wird ebenso mit spontan auftauchenden Meinungenkonfrontiert werden. Er steht aber auf der Ebene seiner epistemischenÜberzeugungen nicht dazu, sondern verwirft sie als Vorspiegelungen ei-nes Dämons. Nur der Anti-Skeptiker steht auch auf der Ebene der Me-taüberzeugungen hinter seinen Überzeugungen erster Stufe und fällt sichdort nicht selbst immer wieder in den Rücken mit der epistemischenVermutung, alle seine Meinungen erster Stufe seien falsch. Der radikaleSkeptiker muß seine spontan auftauchenden Beobachtungsüberzeugun-gen tatsächlich jedesmal bekämpfen, ohne besondere Anhaltspunkte da-für zu haben. Schon das scheint mir eine recht paradoxe Situation fürdie Entwicklung unseres Meinungssystems zu sein.

Das zweite epistemische Ziel der möglichst wenigen Irrtümer soll imRahmen der Kohärenztheorie dadurch berücksichtigt werden, daß manimmer den internen Skeptiker zu Wort kommen läßt, der anhand inter-ner Kohärenzüberlegungen jede unserer Meinungen in Frage stellen

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kann. Die interne Skepsis bietet daher eine wertvolle Hilfe für eine Ab-wägung zwischen den beiden erkenntnistheoretischen Zielen, die der ex-terne Skeptiker nicht vornehmen kann. Er rät uns schlicht, alle unsereMeinungen aufzugeben, und das ohne uns irgendeinen Ersatz für dieAufgabe all unserer Meinungen im Hinblick auf das erste epistemischeZiel anzubieten. Wir sollten uns daher gegen radikale skeptische Hypo-thesen entscheiden zugunsten einer stärkeren Betonung des 1. Ziels derErkenntnistheorie und damit das einzige interessante Forschungspro-gramm ergreifen, das sich uns bietet.

Da die skeptischen Hypothesen in der Regel kausale Hypothesenüber den Ursprung unserer Meinungen sind, können wir die Entschei-dung gegen den radikalen Skeptizismus auch in positiver Form vorneh-men, als eine Entscheidung für die Überzeugung zweiter Stufe, daß unse-re spontanen Meinungen im allgemeinen zuverlässige Informationenüber unsere Umgebung liefern, oder anders ausgedrückt, daß wir in ei-nem geeigneten kausalen Kontakt zur Welt stehen. Das läßt sich in ersterNäherung so beschreiben:

Kausaler Kontakt (KK)Mein kausaler Kontakt zur Außenwelt ist so beschaffen, daß meinespontanen Beobachtungsüberzeugungen in vielen Fällen in relativ zu-verlässiger Weise über die Welt um mich herum Auskunft geben.

Sollte die Annahme (KK) wesentlich falsch sein, wird es uns wohl mitkeiner noch so phantasievoll ersonnenen Erkenntnistheorie gelingen, zu-verlässige Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen. Diese Behauptung istmeines Erachtens der wahre Kern der empiristischen Erkenntnistheorie,den wir beibehalten sollten. Nicht in Form apriorischen Wissens, son-dern als metatheoretische Hypothese, die notwendig ist, um uns zu denEinwänden des radikalen Skeptikers zu verhalten. Dabei kommt demWort „kausal“ eigentlich keine wichtige Rolle außer einer didaktischenzu, aber das wird erst in dem Kapitel über eine deflationäre Theorie derKausalität deutlicher werden (s. VIII.C.2.e).

Die Annahme (KK) kann natürlich intern auch begründet werdenund ist eine empirische Annahme, gegen die intern tatsächlich empiri-sche Gründe sprechen können, die letztlich sogar zu ihrer Aufgabe füh-ren könnten. Im Fall von Träumen entscheiden wir uns dafür – wennauch meist nicht zur gleichen Zeit wie wir träumen – unsere „Wahrneh-mungen“ nicht als geeignete Informationen über unsere Umwelt zu ak-zeptieren. Ulises Moulines (1993) beschreibt zu diesem Zweck nach derGeschichte von Pedro Calderón de la Barca „Das Leben ein Traum“ den

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Fall des Königssohns Sigismund, der in Ketten in einem Turm aufwach-sen muß, weil sein Vater ihn aufgrund einer astrologischen Prophezeiungfürchtet. Zu Probezwecken wird er aber gelegentlich in tiefem Schlaf inden Palast gebracht, in dem er als Prinz aufwacht. Weil sich die Prophe-zeiungen jedoch zu erfüllen scheinen, muß er dann doch immer wieder –jeweils im Schlaf – in seinen Turm zurückgebracht werden. Daher glaubter auch später, nachdem er durch eine Revolution befreit wurde, immernoch zu träumen. Für ihn muß mindestens eine der beiden für ihn un-verbundenen Welten als bloße Illusion erscheinen. Diese Fällen lassensich natürlich beliebig ausbauen – dafür sind aber Science Fiction Auto-ren wohl findiger –, so daß es uns schließlich nicht mehr gelingt, ein ko-härentes Bild unserer Außenwelt zu erstellen. Dann würde wir uns letzt-lich dazu genötigt sehen, die Annahme einer Außenwelt als Verursacherunserer Meinungen aufzugeben. Die Existenz der Außenwelt ist dahereine empirische Hypothese, die durch die Erfahrung zu Fall gebrachtwerden kann – und das sogar in Fällen wie dem von Sigismund, wo sieeigentlich zutreffend ist.

Wir können entsprechende Überlegungen wie die, die meine Ent-scheidung gegen den Skeptiker tragen, auch als ein entscheidungstheore-tisches Problem formulieren. Gehen wir der Einfachheit halber von zweiMöglichkeiten aus, obwohl sich natürlich auch Zwischenstufen formu-lieren ließen:

(H1) Eine der radikalen skeptischen Hypothesen ist wahr.

(H2) Alle radikalen skeptischen Hypothesen sind falsch und bedeu-tende Teile unseres Überzeugungssystems wahr.

Um den „erkenntnistheoretischen Erwartungswert“ dieser konkurrieren-den epistemischen Forschungsprogramme zu bestimmen, überlegen wiruns, welcher Gewinn oder Verlust (orientiert an den beiden Zielen derErkenntnistheorie) in beiden Fällen zu verzeichnen ist. Beginnen wir mit(H1). Im Fall von (H1) haben sowohl der Skeptiker wie auch Vertretervon KTR kaum wahre Meinungen über die Welt aufzuweisen. Der Skep-tiker kann die eine metatheoretische Überzeugung für sich verbuchen,daß er so etwas befürchtet hatte. Er wird aber kaum unter den vielendenkbaren skeptischen Hypothesen die zutreffende ermitteln könnenund sie schon gar nicht informativ ausgestalten können, indem er uns et-wa Interessantes über den Dämon und dessen Leben zu berichten wüßte.Er hat also ebensowenig wie der Realist von dieser Möglichkeit größereerkenntnistheoretische Gewinne zu erwarten. Der Vertreter von KTRhat darüber hinaus allerdings noch einige Verluste zu verzeichnen, näm-

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lich eine Reihe von falschen Überzeugungen, eben alle unsere gewöhnli-chen Meinungen über die Welt. Das ist für den Skeptiker nicht so klar.Wenn er ehrlich ist, muß er eigentlich zugeben, daß er die meisten unse-rer Überzeugungen erster Stufe auch geteilt hat und er nur auf der Meta-ebene den bereits genannten Pluspunkt verbuchen kann. Anderenfalls,wenn er sich in völliger Enthaltsamkeit bezüglich aller Meinungen übt,kann, wie oben bereits vermerkt, eingewandt werden, daß er dadurchunverständlich wird; denn damit seine Meinungen überhaupt eine Be-deutung besitzen können, müssen seine Begriffe anhand einiger Meinun-gen, wenigstens den entsprechenden Stereotypen dieser Begriffe, ge-deckt sein. Für (H1) sieht die Bilanz dann wie folgt aus: Der Skeptikerhat praktisch keine Gewinne und fast genauso wie der Vertreter vonKTR etliche Verluste aufzuweisen.

Anders ist es im Fall (H2). Der Skeptiker hat wieder weder großeVerluste noch irgendwelche Gewinne aufzuweisen, während jetzt derKTR Proponent immense Gewinne bei nur kleinen Verlusten verbuchenkann. Der Anti-Skeptiker setzt also auf eine risikoreichere Strategie, beider man viel gewinnen und auch einiges verlieren kann, während derSkeptiker fast jedem Risiko aus dem Wege geht, aber auch nichts zu ge-winnen hat. Mir scheint es dabei fraglich, ob man den möglicherweisegrößeren „Verlusten“ des Realisten im Falle von (H1) große Bedeutungbeilegen sollte. Wenn eine der radikalen skeptischen Hypothesen wahrist, sind praktisch alle unsere Meinungen falsch, ob wir nun Skeptikersind oder nicht, und keine Erkenntnistheorie kann für diesen Fall hilfrei-che Anmerkungen abgeben. Wichtiger scheint mir der zweite Fall zusein, und auf den müssen wir uns mit unserer Erkenntnistheorie vorbe-reiten, um uns die dort möglichen Gewinne nicht entgehen zu lassen.

Da wir über keine Wahrscheinlichkeitsschätzungen für (H1) und(H2) verfügen, können wir keine Entscheidung anhand eines Erwar-tungswerts treffen, sondern nur eine unter Unsicherheit. Dafür gibt esbekanntlich nicht nur eine rationale Strategie, sondern ein Kontinuumvon möglichen Strategien. Es ist auch nicht klar, welches Ergebnis etwadie Regel Maximin, nach der man sich für die Option entscheiden sollte,bei der der kleinste mögliche Nutzen maximal ist, zeitigen würde. Dashängt davon ab, wie man die entgangenen Möglichkeiten für wahreMeinungen im Fall (H2) und die Möglichkeit von falschen Meinungenin (H1) epistemisch gegeneinander abwägt. Die Entscheidung für odergegen den radikalen Skeptiker kann aus erkenntnistheoretischer Per-spektive also nicht anhand einfacher Regeln als rational oder irrationalbezeichnet werden. Ich plädiere für die risikofreudigere Variante des An-

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ti-Skeptikers (mit den Vorbehalten des Fallibilisten), da nur so Erkennt-nisse über die Welt zu erhalten sind und die Verluste des Anti-Skeptikersfür (H1) mir relativ unbedeutend scheinen. Die Entscheidung für Er-kenntnisse mit Risiko und gegen den Skeptiker ist aber auch in dieserDarstellung eine Wertentscheidung zugunsten einer optimistischerenStrategie gegenüber der pessimistischen. Daß man vor eine derartigeWahl gestellt wird, ist nicht untypisch für Entscheidungen unter Unsi-cherheit. Vor dieser Wahl stehen z. B. auch die Rawlsschen Entschei-dungsträger im Urzustand ohne Lüftung ihres Schleiers des Nichtwis-sens. Sie würden sich nach Rawls mit Maximin für die vorsichtigereStrategie entscheiden, aber auch das ist nicht unkontrovers und natür-lich nicht auf unseren Fall übertragbar, weil die im Urzustand auftreten-den Risiken eine ganz andere Bedeutung für unser Leben besitzen, alsdie epistemischen Risiken unserer Entscheidung für eine erkenntnistheo-retische Vorgehensweise.

Wenn sich also auch aus rein epistemischer Perspektive keine zwin-genden Gründe für oder gegen den radikalen Skeptiker angeben lassen,sondern eine Entscheidung unter Unsicherheit notwendig wird, so sinddoch die Gründe pragmatischer Art gegen den Skeptiker sofort offen-sichtlich, und ich möchte sie noch einmal erwähnen. Für den Fall (H1)kann es uns ziemlich gleichgültig sein, ob wir uns aller Meinungen ent-halten oder lauter falsche haben, denn in diesem Fall ist für unser Lebenauch durch falsche Überzeugungen nicht viel zu verlieren; wir werdenals uns Anti-Skeptiker vermutlich sogar besser fühlen. Im Fall (H2) hin-gegen, führt die Strategie des Skeptikers zu einem kognitiv armseligenwenn nicht sogar recht kurzen Leben, weil er nicht auf der Grundlagevon Meinungen über die Welt entscheiden und handeln kann. In diesemfür uns bedeutsamen Fall ermöglicht allein eine anti-skeptische Strategieein interessanteres und besseres Leben, in dem wir uns bewußt und mitGründen in unserer Umwelt entscheiden und danach handeln können.In modernerer Terminologie könnte man auch sagen: Der Skeptikermöchte uns auf ein Forschungsprogramm festlegen, von dem wir schonwissen, daß es zu keinen Erkenntnissen führen wird, während der Anti-Skeptiker ein Forschungsprogramm favorisiert, das uns ein reichhaltigesBild der Welt verspricht, aber nicht ausschließen kann, daß wir dabei ei-ner Chimäre nachjagen.

Die Strategie des Skeptikers läßt sich mit einer Wettervorhersage ver-gleichen, die um keinen Preis falsche Vorhersagen machen möchte, undweil bei jeder nicht gehaltsleeren Aussage bekanntlich eine Irrtumsmög-lichkeit besteht, sich einfach entschließt, gar keine Vorhersagen mehr zu

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geben, außer solchen wie: Morgen regnet es oder es regnet nicht. DasZiel der Irrtumsvermeidung wird dabei überbewertet und das der Wet-tervorhersage kommt zu kurz.

Unser Motto sollte also nicht das des Skeptikers sein, lieber keineAussage zu glauben, als auch nur eine falsche, sondern im Vordergrundsollte das Ziel stehen, auch unter Risiken, Erkenntnisse über die Welt zusammeln. Damit das nicht unmäßig oder willkürlich wird, bietet KTRdafür Beschränkungen an. Es tauchen spontane Meinungen auf, die inunser Überzeugungssystem in vielfältiger Weise kohärent integriert wer-den müssen. Das betrifft sowohl ihre Entstehung wie auch ihren Inhalt.Dazu kommen interne Kohärenzchecks, die etwa durch interne Kritiken,aber auch unsere Wissenschafts- und Erkenntnistheorie motiviert wer-den können. Die Kohärenzforderungen in KTR verhindern den allzuleichtfertigen Einbau neuer Annahmen in unser Überzeugungssystem.

Z. B. Überzeugungen über Ufos und Dämonen haben einen schwe-ren Stand, wenn sie in unsere Meinungssysteme gemäß KTR aufgenom-men werden möchten, weil sie meist ein isoliertes Subsystem bilden, dasdie Gesamtkohärenz des Systems herabsetzt. Auf der anderen Seite brin-gen allein die Berichte über Ufos schon eine Inkohärenz in unser System,die nach einer Kohärenzerhöhung durch Erklärungen, wie es dazu kom-men konnte, verlangt. Gelingt es nicht, diese Inkohärenz auf andereWeise zu beseitigen, so kann das letztlich auch zur Anerkennung der Exi-stenz von Ufos führen. Das Überzeugungssystem schottet sich unter KTRalso nicht dogmatisch ab, sondern weist höchstens eine gewisse generelleTrägheit auf, was die Aufnahme von Fremdkörpern betrifft, die nicht guthineinpassen. Sollte z. B. geklärt werden, daß die bekannten magischenKreise in Kornfeldern von Witzbolden angelegt wurden, um uns an derNase herumzuführen, ist damit die Kohärenz wiederhergestellt, ohnedaß es großer Revisionen des bisherigen Systems bedurft hätte. Daher istdiese Option sicher eine zunächst naheliegende Vermutung, die ohneweitere Informationen von unserem Überzeugungssystem am ehesten ge-deckt ist. Gelingt es dagegen nicht, entsprechende Erklärungen kohärentin unsere Meinungen einzupassen, oder können sie sogar ausgeschlossenwerden, kommen in KTR letztlich auch unbekannte Kräfte und schließ-lich sogar die Annahme der Existenz Außerirdischer in Frage.

Zum Schluß möchte ich noch kurz auf einige bekannte Einwände ge-gen verwandte Vorgehensweisen eingehen. Schon William James tritt inThe Will to Believe (1956) für Entscheidungen in epistemischen Fragenein, für die wir keine hinreichenden erkenntnistheoretischen Entschei-dungsgründe besitzen. Sein Vorgehen unterscheidet sich aber dennoch in

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wesentlichen Aspekten von meinem. James wendet die Möglichkeit, sichfür bestimmte Meinungen zu entscheiden, viel freizügiger und vor allemin moralischen und religiösen Fragen an. Ihm geht es nicht nur um eineerste grundsätzliche Entscheidung zwischen totalem Skeptizismus undeiner anti-skeptischen Haltung in einer Frage, in der wir der Natur derSache nach für keine Seite über epistemische Entscheidungsgründe ver-fügen, sondern auch um Entscheidungen in vielen weiteren Fällen wieetwa religiösen Fragen. Russell (1978, 823f) versucht an einigen Beispie-len zu erläutern, zu welch willkürlichen Annahmen und relativistischenAnsichten dieser freizügige Umgang mit Entscheidungen in der Erkennt-nistheorie führen kann. Mit der Entscheidung für die Annahme (KK) istein solcher Relativismus natürlich nicht impliziert, denn für alle weiter-gehenden Annahmen sind in KTR keine Entscheidungen für Überzeu-gungen ohne epistemische Gründe mehr vorgesehen, sondern nur nochsolche, auf der Grundlage von Kohärenz. Dabei wird selbstverständlichnicht ausgeschlossen, daß wir in manchen Fällen für Aussagen p keineepistemische Entscheidung zwischen p und non-p treffen können, unduns der Übernahme beider Möglichkeiten enthalten, weil gerade das an-gesichts der epistemisch gleichwertigen Alternative am ehesten zu Kohä-renz in unserem Meinungssystem führt.

Auch Russells (1980, 67f) Vorwurf gegen James, eine entsprechendeEntscheidung könnte die Wissenschaft behindern, weil man nicht bereitsei, sie wie eine Arbeitshypothese in der Wissenschaft zu revidieren, paßtauf die hier getroffene Entscheidung nicht. Erstens ermöglicht sie erstdie Wissenschaft und zweitens wird sie als Arbeitshypothese aufgefaßt,die dann aufgegeben wird, wenn unsere spontanen Meinungen kein ko-härentes Weltbild mehr erlauben.

Entsprechendes gilt für Vergleiche mit der berühmten PascalschenWette, wie sie Watkins (1984, 36ff) für eine verwandte pragmatischeVorgehensweise zieht. Im Fall der Pascalschen Wette, ist man darauf an-gewiesen, den jeweiligen praktischen Nutzen der unterschiedlichen Op-tionen (an Gott glauben oder nicht) zu ermitteln. Dazu benötigt man na-türlich eine Menge an Hintergrundwissen etwa über Gottes Vorlieben,über die wir angesichts der Unbegreiflichkeit Gottes dort nicht verfügen.So könnte Gott z. B. die aufrechte Art des Atheisten der kleinkrämeri-schen und berechnenden Entscheidung Pascals vorziehen. Auf derartigeinhaltliche Annahmen bin ich an dieser Stelle natürlich nicht angewie-sen, weil ich keine praktischen Konsequenzen zu berechnen habe. DieAlternativen liegen bereits in Form der ausgearbeiteten Meinungssy-

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steme auf dem Tisch, und der Maßstab der Beurteilung sind die genann-ten epistemischen Ziele.

C. Resümee

Der radikale Skeptiker, der unsere Meinungen als Ganzes in Frage stelltund ihre Rechtfertigung von einem externen Standpunkt aus verlangt,stellt damit Anforderungen an uns, denen wir nicht genügen können. Injedweder Begründung müssen wir uns immer wieder auf einige andereunserer Meinungen stützen. Von einem solch externen Standpunkt aus,verfügen wir daher über keine epistemischen Entscheidungsgründemehr, die uns den Weg weisen können, sondern sind auf eine Wertent-scheidung und Gewichtung zwischen den zwei epistemischen Zielen desmöglichst umfassenden Informationsgewinns und der weitgehenden Ver-meidung von Irrtümern angewiesen. Der Skeptiker betont ganz das letz-tere und nimmt dafür in Kauf, daß wir uns für den Fall, daß unsere reali-stische Sicht der Welt und unserer kausalen Kontakte zu ihr im wesentli-chen richtig sind, aller Informationsmöglichkeiten begeben. Gerade fürdiesen Fall sind aber Erkenntnistheorien für uns interessant. Sind wirnur die Spielbälle eines bösen Dämons, können wir von keiner Vorge-hensweise zur Pflege unseres Meinungssystems Erkenntnisse erwarten.Wir sollten uns daher gegen den Skeptizismus entscheiden, weil wir nurso hoffen können, ein gehaltvolles Bild der Welt zu gewinnen.

Diese Form der Entscheidung gegen den Skeptiker, für die ich hiereintrete, ist auch der ehrlichere Weg gegenüber etwa dem der Externali-sten, dem unangenehmen Skeptiker durch einen Themawechsel entkom-men zu wollen. Der stellt natürlich auch eine Entscheidung dar, nämlichgegen die klassischen Fragestellungen. Ebenso unredlich erscheint esmir, sich den skeptischen Fragen als unsinnigen Fragen schlicht zu ver-schließen. Statt dessen werden die skeptischen Einwände als durchausverständlich akzeptiert und erkannt, daß es in der radikalen skeptischenSituation eigentlich keine überzeugende Widerlegung des Skeptikers ge-ben kann. Man ist gezwungen, sich für ein erkenntnistheoretisches Pro-gramm anhand der zwei obersten Ziele der Erkenntnistheorie zu ent-scheiden.

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VII Wissenschaftliche Theorien

Menschliche Erkenntnisse sind in dem bisher skizzierten epistemischenBild zunächst in bezug auf ihre Allgemeinheit hierarchisch geordnet. Da-zu kommt eine Einordnung in Metaebenen und darüber hinaus sind siein einem komplexen Netz erkenntnistheoretischer Beziehungen vielfältigmiteinander verknüpft. Für den Empiristen, der den Aufbau nach Allge-meinheitsgraden im wesentlichen mit einer erkenntnistheoretischen Ein-stufung identifiziert, bilden die Beobachtungsaussagen als Grundlage al-ler Erkenntnisse den natürlichen Ausgangspunkt für eine erkenntnis-theoretische Analyse. Für die höheren Stufen stellt sich dann in bezugauf ihre Begründung „nur“ noch die Frage, inwieweit sie durch die Be-obachtungsaussagen gedeckt sind. Für den Kohärenztheoretiker gibt esdagegen nicht mehr einen Typ epistemisch primärer Aussagen, dem eineähnliche Stellung zukäme und vor allem auch keine Entsprechung vonBegründungsebenen und Allgemeinheitsgraden. Eine ausgezeichnete epi-stemische Stellung nehmen für ihn sogar eher die allgemeineren Aussa-gen oder Theorien ein, denn ihnen verdanken wir schließlich die Ver-knüpfung unserer Überzeugungen zu einem Netz von rechtfertigendenZusammenhängen. Es ist deshalb nur naheliegend, daß ein Kohärenz-theoretiker anders als ein Empirist eine Analyse von Theorien ins Zen-trum seiner Erkenntnistheorie stellt. Die dafür erforderlichen Hilfsmittelmöchte ich in diesem Kapitel bereitstellen, wobei ich mich auf ausgear-beitete wissenschaftliche Theorien konzentrieren werde, da sie im Unter-schied zu Alltagstheorien explizit vorgegeben sind.

Die vielleicht wichtigste Frage für den Kohärenztheoretiker ist da-bei: Wie können unsere Theorien die ihnen auferlegte Systematisierungs-leistung überhaupt erbringen? Sind sie einfach Klassen von Allsätzen, ausdenen sich die spezielleren Aussagen deduzieren lassen, wie z. B. Popperund andere Wissenschaftstheoretiker es annehmen? Beginnen möchteich die Untersuchung mit einer einfachen Beobachtung, die mir leidertypisch für die philosophische Beschäftigung mit den Naturwissenschaf-ten zu sein scheint. Schaut man in ein Physiklehrbuch (ein echtes, nichtein populärwissenschaftliches) oder noch besser entsprechende Fachzeit-schriften, wird man von einer großen Fülle von Fakten geradezu „er-schlagen“. Da sind zahllose Meßwerte, Gleichungen und Zusammenhän-

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ge zwischen Gleichungen, Ableitungen und viele andere Überlegungenin einem bunten Gemisch zu finden. Wie soll man zu zuverlässigen me-tatheoretischen Aussagen über eine solch scheinbar amorphe und un-übersichtliche Menge von Aussagen kommen? Es verwundert angesichtsdieses Problems nicht, daß Wissenschaftstheoretiker und auch Wissen-schaftshistoriker Theorien häufig stark vereinfacht darstellen. Oft be-gnügen sie sich mit nur wenigen Verweisen auf bestimmte Grundglei-chungen, oder kaprizieren sich in ihrer Darstellung auf ein bestimmtesPhänomen, das die Theorie beschreibt und das sie für charakteristischhalten, wie z. B.: „Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum begrenzt in derRelativitätstheorie alle Geschwindigkeiten für Massen“. Doch dabei ge-hen wichtige Aspekte dieser Theorien verloren. Um die Theorien nun ineiner für wissenschaftstheoretische Analysen geeigneten Form über-schaubar zu präsentieren, ist sicherlich eine Rekonstruktion notwendig,die eine logische Ordnung in die Formulierung der Theorien bringt. An-dererseits benötigen wir jedoch auch eine Darstellung, die alle wesentli-chen Aspekte der Theorie berücksichtigt, um ein einigermaßen realisti-sches Bild wissenschaftlicher Theorien zu zeichnen.

Um nur eine Gefahr für wissenschaftstheoretische Untersuchungenbeispielhaft zu nennen: In zu stark vereinfachenden Betrachtungen gehtein für Kohärenztheorien bedeutsames Merkmal der naturwissenschaftli-chen Erkenntnis verloren, nämlich ihr hoher Vernetzungsgrad. Die vielenFakten bilden ein sehr komplexes Netz von sich gegenseitig stützendenAussagen, wobei sich Aussagen von unterschiedlichem Status, mit unter-schiedlichen Funktionen und Gewicht identifizieren lassen. Wenn dieseZusammenhänge außer acht bleiben, erliegen wir z. B. leichter relativi-stischen Einwänden. Ohne die Komplexität des Netzes mit den vielengegenseitigen Absicherungen sind schnell alternative Theorien zu finden,die uns epistemisch gleichwertig erscheinen. Für das tatsächliche hoch-komplexe Netzwerk von wissenschaftlichen Hypothesen und Begrün-dungen erscheint es dagegen weit utopischer, daß sich solche Alternati-ven konstruieren lassen.121 Eine Metatheorie der Wissenschaften stehtdaher im Spannungsfeld zwischen den beiden entgegengerichteten An-forderungen, Ordnung in der amorph erscheinenden Vielfalt wissen-schaftlicher Äußerungen sichtbar werden zu lassen und zugleich die in-nere Komplexität nicht durch willkürliche Beschränkung auf wenigeAspekte einfach über Bord zu werfen.

121 Das gilt zumindest, wenn wir an „lokale“ Alternativen denken undnicht an vollständig andere Überzeugungssysteme wie etwa die skeptischen.

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A. Die Entscheidung für den Strukturalismus

Aus den verschiedenen Ansätzen, um unser wissenschaftliches Wissenmetatheoretisch zu repräsentieren, habe ich mich aus unterschiedlichenGründen, von denen ich nur einige in diesem Abschnitt erläuternmöchte, für die sogenannte strukturalistische Auffassung wissenschaftli-cher Theorien entschieden. Sie geht auf den modelltheoretischen Ansatzvon Suppes und Sneed zurück und wurde in den letzten Jahren von Steg-müller und anderen weiterentwickelt. Die Gründe für meine Entschei-dung zerfallen in zwei Klassen: die pragmatischen und die inhaltlichen;zunächst zu einigen pragmatischen Gründen.

Im Unterschied zu Auffassungen der logischen Empiristen be-schränkt sich der Strukturalismus nicht auf die logisch unproblematischeSprache der Prädikatenlogik erster Stufe zur Darstellung von Theorien,sondern wählt die informelle Mengenlehre als Instrumentarium, wie sieauch in der Mathematik eingesetzt wird. Die ist zwar „unsauberer“, aberweit flexibler und ermöglicht eine Rekonstruktion von Theorien nahean den Formulierungen der Naturwissenschaftler selbst; jedenfalls weitnäher als Formulierungen im strengen Rahmen der Prädikatenlogik, dieausgesprochen unhandlich und kompliziert wirken, so daß auch bisheute noch keine komplexeren physikalischen Theorien in dieser Stren-ge umfassend axiomatisiert wurden. Das Motto des Strukturalismus istin dieser Frage: Keine überzogenen Forderungen – etwa im Sinne derMetamathematik – an den formalen Apparat zur Darstellung von Theo-rien zu stellen, dessen eigene Komplexität von den eigentlichen wissen-schaftsphilosophischen Fragestellungen ablenken würde. Vielmehr sollnur der formale Aufwand betrieben werden, der unbedingt erforderlichist, wenn man die heutigen Theorien noch angemessen darstellenmöchte. Da viele modernen Theorien im Rahmen einer aufwendigenMathematik formuliert sind, kommt man allerdings um den Einsatz zu-mindest der Mengenlehre nicht umhin, wenn man diese Theorien nochadäquat rekonstruieren möchte. Doch ihr Einsatz sollte eigentlich keinernsthaftes Hindernis für eine Kommunikation mit Philosophen undauch mit Fachwissenschaftlern darstellen, zumal sie nur in informellerForm eingesetzt wird.

Ein weiterer praktischer Vorteil des Strukturalismus gegenüber ande-ren metatheoretischen Auffassungen ist, daß er schon für eine Reihe vonlogischen Rekonstruktionen für Theorien aus unterschiedlichen Berei-chen eingesetzt wurde und seine Begrifflichkeit anhand dieser Beispiel-analysen systematisch weiterentwickelt wird. Dabei bemüht man sich

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vor allem, die innere Struktur von Theorien besser zu verstehen. Dahermuß ich nicht nahezu bei Null anfangen, wenn ich für bestimmte Kom-ponenten in naturwissenschaftlichen Theorien eintrete, sondern kannmich auf wertvolle Vorarbeiten aus den unterschiedlichsten Bereichender Wissenschaft stützen.

Nun komme ich auch schon zu einigen stärker inhaltlichen Grün-den, die für meine Wahl sprechen. An dieser Stelle werde ich nur einigeallgemeine nennen, während die konkreteren Punkte sinnvollerweise imRahmen der Entfaltung der Konzeption angesprochen werden. Der ersteist – und das ist für mich ein wesentlicher Aspekt des Wortes „Struktura-lismus“ –, daß Theorien nicht als amorphe Satzklassen betrachtet wer-den, sondern als Gegenstände mit einer reichhaltigen inneren Struktur,deren Zusammenspiel zu untersuchen für viele wissenschaftsphilosophi-sche Fragestellungen lohnend ist. Für die logischen Empiristen sindTheorien Satzklassen, die gerade noch eine Unterscheidung in Beobach-tungsaussagen, theoretische Aussagen und Brückenprinzipien erlauben,wobei selbst diese Unterscheidungen eher kritisch zu beurteilen sind;weitere innere Komponenten treten in Theorien dann jedoch nicht mehrauf. Das wird der hohen Komplexität moderner Theorien jedoch nichtgerecht.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang außerdem eine erste grund-sätzliche Unterscheidung zwischen den sogenannten syntaktischen undden semantischen Auffassungen von Theorien. Die letzteren gerieten erstin den letzten zwei Jahrzehnten in den Blick der Wissenschaftsphiloso-phen und erfreuen sich seither einer zunehmenden Zahl von Proponen-ten. In der syntaktischen Sichtweise sind Theorien durch Mengen vonSätzen (ev. deduktiv abgeschlossen und effektiv entscheidbar) repräsen-tiert, während sie in der semantischen Auffassung – zu der auch derStrukturalismus zählt – als Mengen von Modellen verstanden werden.Es gibt natürlich viele Entsprechungen zwischen diesen beiden Vorge-hensweisen, aber an einigen Stellen erweist die semantische Sichtweisesich doch als die geeignetere.

Der Modellbegriff wird dabei wie folgt verstanden: Modelle sindRelationsstrukturen <D,R>, die aus bestimmten Grundmengen D =<D1,,Dn> und Relationen R = <R1,,Rk> auf den Grundmengenbestehen. Intuitiv ist das so gemeint, daß die Grundmengen die Objekteenthalten, über die eine Theorie spricht – wobei es verschiedene Typen

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von Objekten geben kann – und die Relationen geben die Beziehungenwieder, die die Theorie zwischen diesen Objekten behauptet.122

Eine wesentliche Absicht der Hervorhebung von Modellen gegen-über Aussagen war, die Abhängigkeit von der jeweiligen sprachlichenDarstellung einer Theorie zu verringern. Dadurch bleiben Umformulie-rungen einer Theorie als dieselbe Theorie erkennbar, solange sie nochimmer dieselben Modelle auszeichnen. Van Fraassen (1991, 5) vergleichtden Übergang von syntaktischen zu semantischen Darstellungen vonTheorien mit dem von Koordinatendarstellungen zu entsprechenden ko-ordinatenfreien Formulierungen innerhalb der Physik selbst. Wörter sinddabei die Koordinaten, mit deren Hilfe wir die Theorien wiedergeben,aber sie stellen eine überflüssige Relativierung auf ein bestimmtes Be-zugssystem dar, das eigentlich keinen bevorzugten Status für die Theoriebesitzt. Ein anderer Aspekt, der der semantischen Auffassung eigentüm-lich ist und in dieser Arbeit noch an mehreren Stellen zum Tragen kom-men wird, ist die Einbettung von Modellen. Ihr kommt eine wichtige in-tuitive Bedeutung zu (s. dazu van Fraassen 1980, 41ff), aber sie läßt sichauf der syntaktischen Ebene der Sätze nicht angemessen darstellen.

Spätestens um Approximationen und Unschärfen in Theorien in un-sere Untersuchungen einzubeziehen sind wir gezwungen, auf die seman-tische Ebene zu wechseln. Für approximative Zusammenhänge – mandenke z. B. an approximative Reduktionen, die den Großteil von Reduk-tionen ausmachen – stehen die einander entsprechenden Komponentender Modelle und nicht die Formulierungen, mit denen wir die Theorienbeschreiben, ganz im Vordergrund. Bei einem Vergleich zwischen vorre-lativistischen Theorien und speziell relativistischen Theorien, der die en-ge Beziehung zwischen beiden Theorien aufzeigen soll, ist es nur wenighilfreich, sich auf die Gestalt der Gesetze zu beziehen und etwa daraufzu verweisen, daß sie ineinander übergehen, wenn wir c gegen unend-lich gehen lassen. Günther Ludwig (1974 II, 369) spricht in diesem Zu-sammenhang von unerlaubten „Limes-Tricks“, die die Situation eher ver-schleiern als aufhellen können. Sie sind unerlaubt, weil es gerade einezentrale Aussage der Relativitätstheorie ist, daß die Lichtgeschwindigkeitc eine endliche Konstante ist, und solange sie das bleibt, sind die Gesetzeder beiden Theorien verschieden. Es ist daher fraglich, welchen erkennt-nistheoretischen Wert eine derartige Limesbetrachtung für das Verhältnisvon relativistischen und vorrelativistischen Theorien überhaupt habensoll. Allerdings sind die Lösungen der Differentialgleichungen beider

122 Beispiele werden im folgenden deutlicher machen, wie solche Modelleauszusehen haben.

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Theorien für weite Bereiche eng benachbart, und das gibt uns auf der se-mantischen Ebene eine Möglichkeit, den engen Zusammenhang derTheorien angemessen zu analysieren.123 Zumindest an dieser Stelle dermetatheoretischen Darstellung von Theorien scheint mir die Überlegen-heit eines semantischen gegenüber einem syntaktischen Ansatz offen-sichtlich.

B. Mehrdeutigkeiten des Theoriekonzepts

Im Zentrum unseres Wissens steht, wie schon bemerkt, das wissenschaft-liche Wissen und dieses Wissen ist konzentriert in Theorien, wobei hierder Begriff „Theorie“ zunächst in einem relativ weiten Sinn verstandenwerden soll, so daß auch „kleine Theorien“, für die man manchmal ehervon Hypothesen oder Modellvorstellungen spricht, darunter mitgemeintsind. Doch was sind „Theorien“? Der Sprachgebrauch ist an dieser Stellealles andere als einheitlich. Was als eine Theorie anzusehen ist, wechselthäufig mit dem Kontext. So spricht man z. B. von „der NewtonschenMechanik“ oder auch von der „Newtonschen Gravitationstheorie“. Istnun die zweite Theorie als eine Teiltheorie der ersten zu verstehen?Oder wie ist das Verhältnis von Elektrodynamik zu Elektrostatik oderzur Ohmschen Theorie etc.? Man spricht sogar von „der Relativitäts-theorie“ oder „der Quantenmechanik“, obwohl wir unter diesem Begriffauf relativistisch formulierte Mechaniken, die Elektrodynamik und einerelativistische Thermodynamik stoßen, die man in vielen anderen Kon-texten als mindestens drei Theorien betrachten würde. Der Theoriebe-griff wird also auf recht unterschiedlich große Einheiten gleichermaßenangewandt.

Ein erster Schritt, um für größere terminologische Klarheit zu sor-gen, ist die begriffliche Unterscheidung dieser Einheiten. Der Struktura-lismus unterscheidet Theorien zunächst in Theorien-Holons, Theorien-Netze und Theorie-Elemente, den kleinsten selbständigen Einheiten vonTheorien. Die größten wissenschaftlichen Einheiten mit einheitlicher Be-grifflichkeit wie die „Newtonsche Partikelmechanik“ oder die „Maxwell-sche Elektrodynamik“ werden „Theorien-Netze“ genannt. Diese Netzesetzen sich in Form von Baumstrukturen aus den sogenannten Theorie-Elementen zusammen, die durch „Spezialisierungsbeziehungen“ ver-knüpft sind. Holons sind darüber hinaus Gruppierungen größerer Teile

123 Für das genannte Beispiel siehe etwa Bartelborth (1988, 143ff).

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einer wissenschaftlichen Disziplin, die in einem bestimmten Sinn zusam-mengehören und durch eine Reihe intertheoretischer Beziehungen ver-knüpft sind, aber mit unterschiedlichen Begriffen operieren können.124

All diese Konzepte möchte ich anhand eines etwas ausführlicher be-trachteten Fallbeispiels erläutern, nämlich der Klassischen Partikelme-chanik (KPM) oder manchmal sage ich auch der „Newtonschen Partikel-mechanik“. Daneben skizziere ich immer wieder Beispiele aus anderenBereichen, erstens um die Konzepte weiter zu erläutern und zweitensum der Vermutung entgegenzutreten, der metatheoretische Apparat desStrukturalismus sei speziell auf die Mechanik zugeschnitten, was aller-dings auch durch die zahlreichen strukturalistischen Rekonstruktionenaus anderen Bereichen widerlegt wird. Die klassische Partikelmechanikbietet sich für Illustrationszwecke an, weil sie auf der einen Seite bereitseine hinreichend komplexe Theorie ist, um alle Komponenten, dieStrukturalisten bisher in Theorien identifizieren konnten, zu beinhaltenund weil sie auf der anderen Seite eine relativ einfache und noch gut zu-gängliche Theorie darstellt.

C. Das Netz einer Theorie am Beispiel der klassischenPartikelmechanik

Beginnen möchte ich meine Skizze der klassischen Partikelmechanik, miteinem kurzen Überblick über das grobe Gerüst dieser Theorie.125 Nebenden grundlegenden Newtonschen Axiomen, die im Zentrum der Theo-rie stehen, finden sich eine Reihe von spezielleren Gesetzen, die für be-stimmte Anwendungen zugeschnitten sind, wie das Gravitationsgesetz,das Hookesche Gesetz, Reibungsgesetze, etc. Jedes dieser „Spezialgeset-ze“ beschreibt eine sogenannte Spezialisierung der Theorie, die eine Spe-zialisierung der Basisaxiome darstellt. Jede Spezialisierung wird im

124 Für weitere Erläuterungen zu diesen Aspekten der strukturalistischenAuffassung möchte ich hauptsächlich auf Balzer/Moulines/Sneed (1987) im fol-genden kurz (BMS) verweisen und auf die Beispiele, die noch folgen werden.

125 Dabei stütze ich mich auf strukturalistische Rekonstruktionen sowohlder historischen Entwicklung der Theorie (Moulines 1979; BMS 1987, 223ff)wie auch auf synchronische Axiomatisierungen (Balzer/Moulines 1981; BMS1987, 180ff), weiche aber u.a. aus Gründen der verständlicheren Darstellung ge-legentlich von ihnen ab. Die Komponenten der Theorien, die ich im folgendenvorstelle, sind ebenfalls in BMS (1987) zu finden und dort ausführlicher erläu-tert.

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baumartigen Netz der Theorie durch ein eigenes Theorie-Element reprä-sentiert, wobei die Newtonschen Axiome gerade das Basis-Theorie-Ele-ment definieren. Die Theorie-Elemente weisen ihrerseits eine innereStruktur mit einer Reihe von Komponenten auf.

1. Die begriffliche Struktur und die Gesetze von Theorie-Elementen

Jede Theorie T beschreibt die Systeme, über die sie Aussagen machenmöchte, in einer bestimmten ihr eigentümlichen Begrifflichkeit. Dieklassische Partikelmechanik spricht etwa von Massenpunkten und Kräf-ten zwischen diesen. Die Elektrodynamik spricht von elektrischen La-dungen und elektromagnetischen Feldern, die Evolutionstheorie von Ar-ten, Selektionsdruck, Migration, genetischer Drift etc. und die Psycho-analyse z. B. von Neurosen, Über-Ich, Ich und Es. Diese Begrifflichkei-ten der jeweiligen Theorien geben den konzeptuellen Rahmen ab, inner-halb dessen die Gesetze der Theorie formuliert werden, wobei dieserRahmen für alle Theorie-Elemente eines Netzes derselbe bleibt. Um ihnzu beschreiben, werden zunächst alle Relationsstrukturen <D,R> unterdem Stichwort „potentielle Modelle“ von T [Mp(T)] versammelt, die diegewünschte begriffliche Struktur aufweisen. Das geschieht durch die An-gabe eines mengentheoretischen Prädikats, das die Menge der potentiel-len Modelle definiert.

In unserem konkreten Beispiel der klassischen Partikelmechanik(KPM) benötigen wir als Grundmenge: Eine Menge von Partikeln P, ei-nen Zeitraum T, über den hinweg die Bahnen der Partikel beschriebenwerden, und einen Ortsraum S, in dem die Partikel sich bewegen. Umdie Rekonstruktion einfach zu halten, sehe ich von der Einführung un-terschiedlicher Koordinatisierungen ab und identifiziere T mit einem re-ellen Intervall und S mit dem R3, wobei ich mir bewußt bin, daß dieKPM damit nicht vollständig erfaßt werden kann.126 Außerdem sind wirin der KPM zur Bestimmung der Kraftfunktion immer wieder gezwun-gen, auf bestimmte Materialkonstanten zurückzugreifen, wie Federkon-stanten, Reibungswerte und andere mechanische Parameter, die in einerMenge Z zusammengefaßt werden.

Neben den Grundmengen finden wir drei Grundgrößen der Theorie:Da ist als erstes die Weg-Zeit-Funktion s(p,t), die jedem Partikel p zu je-

126 In Bartelborth (1988) und (1993) wird im Rahmen der speziellen undder allgemeinen Relativitätstheorie ausgeführt, wie man Koordinatisierungeneinzubringen hat und wie man der Lokalitätsbedingung an strukturalistische Mo-delle (s.u.) genügen kann.

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der Zeit t T einen Ort s S zuordnet. Außerdem die Massenfunktionm(p), die für jeden Partikel seine Masse angibt, und schließlich dieKraftfunktion f, der eine zentrale Rolle innerhalb von KPM zufällt, diedaher aber auch mit f(p, i, t, z) die komplizierteste Struktur aufweist. Siebestimmt Kräfte für die Partikel p, gibt aber möglicherweise nicht nureine Kraftkomponente an, sondern gleich mehrere, die durch den zwei-ten Parameter i ℕ durchgezählt werden sollen. Das wird der TatsacheRechnung tragen, daß mehrere Kräfte wie Gravitationskräfte von ver-schiedenen Planeten, dazu Reibungskräfte bei einer Bewegung durch dieAtmosphäre usw. gleichzeitig auf einen Partikel wirken können. DieKräfte können darüber hinaus im Laufe der Zeit t variieren und mögli-cherweise von bestimmten mechanischen Parametern z Z abhängen.127

Mit diesen Bestimmungen ergibt sich folgendes Prädikat zur Definitionder Menge der potentiellen Modelle:

x ist ein potentielles Modell der KPM [x Mp(KPM)] gdw:1) x = <P, T, S, Z, s, m, f>2) P ist eine nichtleere Partikelmenge.3) T ist ein zusammenhängendes, offenes Intervall in ℝ und S eine

offene, einfach zusammenhängende Teilmenge des ℝ3.4) Z ist eine Zusammenstellung mechanischer Parameter.5) s: PT S ist eine differenzierbare Funktion.128

6) m: P ℝ+.7) f: PℕnTZ ℝ3.

Unter den so definierten potentiellen Modellen bilden die aktualen Mo-delle jedes Theorie-Elements jeweils eine Teilmenge, nämlich die Mengeder zugelassenen Relationsstrukturen, die die jeweiligen Gesetze undSpezialgesetze des Theorie-Elements erfüllen. Betrachten wir als Beispieldas Basis-Theorie-Element der KPM, das das erste und zweite Newtons-chen Gesetz beinhalten soll. Diesen Gesetzen gibt man üblicherweise diebekannte Form „f=ma“, was unter Berücksichtigung der Kraftkompo-nenten allerdings noch etwas komplizierter zu formulieren ist, da überdiese aufsummiert wird:

x ist ein Modell der KPM [x M(KPM)] gdw:1) x = <P, T, S, Z, s, m, f>

127 z wird dabei als ein Vektor von solchen Parametern angesehen, auf des-sen innere Struktur ich aber nicht weiter eingehen möchte.

128 Unter „differenzierbar“ verstehe ich hier aus Gründen der Vereinfa-chung immer „unendlich oft differenzierbar“.

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2) x Mp(KPM)

3) Für alle p P und t T gilt:

In (3) werden nun die Teilkräfte zu einer Gesamtkraft vereinigt, die an-hand des zweiten Newtonschen Axioms über die Beschleunigung vonPartikeln Auskunft gibt. Vergißt man die Aufspaltung der Gesamtkraft inTeilkräfte, hat das mindestens zwei negative Folgen: Erstens erhält daszweite Newtonsche Axiom die Gestalt einer Definition für die Kraft-funktion, was zu etlichen wissenschaftsphilosophischen DiskussionenAnlaß gab. Zweitens ist die dabei entstehende Theorie nur noch auf dieSpezialfälle anwendbar, in denen auf einen Partikel nicht mehrere Kräftegleichzeitig wirken.

Mit den aktualen Modellen haben wir die Modellmenge bestimmt,die die Gesetze und später in den Spezialisierungen auch die Spezialge-setze einer Theorie repräsentieren soll. Doch mit dem konzeptuellenRahmen und den Gesetzen ist natürlich noch nicht die gesamte inneretheoretische Struktur eines Theorie-Elements erfaßt.

2. Innertheoretische Querverbindungen: Constraints

Ein Punkt, der bisher noch nicht explizit zur Sprache kam, sondern nurstillschweigend angenommen wurde, ist die lokale Konzeption von Mo-dellen, die vom Strukturalismus vertreten wird; im Unterschied etwa zursemantischen Konzeption von van Fraassen (z. B. in 1980), die globaleModelle zum Gegenstand hat. Im Strukturalismus beabsichtigt man, je-des physikalische System – etwa ein bestimmtes Experiment –, das manmit einer Theorie behandeln möchte, durch ein eigenes Modell darzu-stellen. Die Beschreibung der Welt durch eine Theorie gibt damit nichtnur ein globales Modell für das ganze Universum an, sondern beinhalteteine Vielzahl lokaler Modelle für viele lokale Anwendungen der Theo-rie.129 Das entspricht zunächst der Vorgehensweise von Physikern, dieauch in jedem Experiment immer nur ein bestimmtes System behandelnund die Größen der Theorie für dieses System bestimmen.

Ein anderer Vorteil der lokalen Konzeption von Modellen einerTheorie besteht darin, daß sie eine differenziertere Behandlung inter-theoretischer Approximationsbeziehungen ermöglichen, als das für glo-

129 Natürlich kann eine lokale Anwendung entsprechender Theorien aucheine kosmologische sein.

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bale Modelle gelingt. Wenn etwa vorrelativistische und relativistischeTheorien miteinander verglichen werden sollen, nimmt man – im allge-meinen ohne das explizit zu machen – auf lokale Modelle bezug, dennnur für diese wird der enge Zusammenhang der Theorien sichtbar (vgl.dazu Bartelborth 1988, 143ff und Bartelborth 1993). Globale relativisti-sche und vorrelativistische Modelle passen nicht zusammen, weil erstensfür unbeschränkte Raum-Zeiten keine approximative Beziehung zwi-schen den Theorien besteht und zweitens Tensoren in der klassischenTheorie auch Werte für beliebig große Überlichtgeschwindigkeiten bein-halten, die in der relativistischen Theorie keine Entsprechung mehr be-sitzen. Dagegen weisen zumindest entsprechende Teilklassen lokalerModelle beider Theorien enge approximative Beziehungen auf. Sokommt gerade lokalen Modellen auch für die intertheoretischen Relatio-nen eines Theorien-Holons große Bedeutung zu. In Bartelborth (1993)wird gezeigt, wie die lokale Auffassung von Modellen in der allgemeinenRelativitätstheorie eine Einschränkung eines sonst unmäßig erscheinen-den Holismus gestattet.

Die lokale Konzeption von Modellen macht allerdings die Angabevon Querverbindungen, sogenannten „Constraints“, zwischen den lokal-en Modellen erforderlich. Lokale Modelle können z. B. „überlappen“indem ein Partikel in verschiedenen Systemen auftritt. So kann ein Mo-dell das System Erde-Mond und ein anderes Sonne-Erde darstellen, wo-bei die Erde in beiden Systemen vertreten ist. Dann muß unter anderemgewährleistet werden, daß ihr keine unterschiedlichen Massenwerte inden beiden Modellen zugeordnet werden. Oder eine Feder wird in meh-reren Anwendungen eingesetzt, dann erwarten wir, daß sie dieselbe Fe-derkonstante in allen Anwendungen aufweist.130 Solche innertheoreti-schen Forderungen nach konsistenter Zuweisung von Werten zu unserenphysikalischen Größen werden als „Constraints“ umgesetzt. Constraintsoder innertheoretische Querverbindungen, manchmal auch „Brücken-strukturen“ genannt, werden dargestellt durch Mengensysteme von po-tentiellen Modellen, deren Mengen (die Elemente des Constraints) unsalle Kombinationen zusammenpassender potentieller Modelle angeben.Allgemein hat ein Constraint C(T) für eine Theorie T die folgenden for-malen Anforderungen zu erfüllen:

130 Für weitere Beispiele siehe BMS (1987, 41ff) und für einen Constraint,der raumzeitliche Invarianzen beschreibt, Bartelborth (1993).

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C(T) ist ein Constraint für T gdw.:1) C Pot(Mp(T))131

2) x Mp(T): {x} C(T)3) C(T)

Derartige Brückenstrukturen werden in Lehrbuchdarstellungen vonTheorien entweder nur implizit mitgedacht, oder sie werden auf dersel-ben Ebene wie ihre Gesetze behandelt. Sie haben aber eine etwas andereFunktion als diese, nämlich einen Informationstransfer zwischen ver-schiedenen Anwendungen zu bewirken.

Es gibt inzwischen einige rekonstruierte Fälle aus der Wissenschafts-geschichte, in denen sie ihre Eigenständigkeit offenbaren und in denenihre Bedeutung gerade für theoriendynamische Zusammenhänge deut-lich wird. Ein besonders schönes Beispiel aus der astronomischen Theo-rie der Cepheiden untersuchte Ulrich Gähde (1989, 166ff). Darin konn-ten Anomalien der Cepheidentheorie durch eine Veränderung von Brük-kenstrukturen beseitigt werden. Die Cepheiden sind Sterne, die Hellig-keitsveränderungen mit regelmäßiger Frequenz unterliegen, wobei dieVeränderungen in systematischer Weise mit ihrer absoluten Helligkeitzusammenhängen. Das führte zu der Annahme einer Konstante für denZusammenhang zwischen Perioden und Helligkeit, die man für alleSterne des Cepheiden Typs annahm. Aus bestimmten Fällen, in denenman die Entfernung kannte, ließ sich die gesuchte Konstante bestimmenund dann diese Information für andere Cepheiden nutzbar machen, sodaß für sie ihre Entfernung anhand der Konstante und ihrer Verände-rungsfrequenz bestimmt werden konnte. Dieses Verfahren ließ sich auchauf weit entfernte Galaxien ausdehnen und war daher von großer Be-deutung für die Vermessung des Weltalls. Unter anderem konnte mandadurch erstmals die Kantische Vermutung beweisen, daß es andere Ga-laxien gibt. Eine Reihe von Anomalien führten fast 40 Jahre nach derEntdeckung eines konstanten Perioden-Leuchtkraft Zusammenhangsschließlich zur Aufgabe des skizzierten Constraints – der dieselbe Kon-stante für alle Cepheiden verlangt – durch den amerikanischen Astrono-men Baade. Tatsächlich müssen wir zwischen zwei Populationen von Ce-pheiden unterscheiden, für die zwar beide ein entsprechender Zusam-menhang gilt, aber mit jeweils einer anderen Konstante.132 Diese Ein-sicht führte zu revolutionären Änderungen unserer Ansichten über ex-tragalaktische Entfernungen.

131 Mit Pot(A) bezeichne ich die Potenzmenge von A.132 Die Darstellung ist sehr vereinfacht und für die detaillierte Geschichte

s. Gähde (1989, 166ff) oder auch Gähde (1989b) in etwas kürzerer Form.

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Das Gähdesche Beispiel illustriert recht eindrucksvoll, wie groß dieBedeutung von Constraints sein kann, die zunächst nicht einmal explizitformuliert wurden, sondern als nahezu selbstverständliche implizite Prä-misse auftraten. Außerdem demonstriert es, wie Constraints den Infor-mationstransfer zwischen einzelnen Anwendungen einer Theorie be-werkstelligen, so daß damit Größen bestimmt werden können – hier dieEntfernung von Galaxien –, die wir bei isolierten Betrachtungen einzel-ner Systeme nicht bestimmen konnten. Dabei stellt es auch ein weiteresBeispiel gegen Poppers rigide Auffassung von wissenschaftlicher Ratio-nalität dar. Ihm hätte es als eine ad hoc Hilfsannahme zur Rettung derTheorie erscheinen müssen, daß wir zwei Cepheiden Populationen ein-führen, um den Zusammenhang zwischen Helligkeitsperioden und abso-luter Helligkeit zu retten. Das wirkt besonders dann ad hoc, wenn unsnicht klar ist, daß wir an dieser Stelle vorher eine recht starke Behaup-tung aufgestellt hatten, die wir nun abschwächen.

Weiterhin ist das alte Problem, wie die Beschreibungen eines physi-kalischen Systems aus unterschiedlichen Bezugssystemen heraus unter-einander zusammenhängen, eine Frage nach Querverbindungen zwi-schen lokalen Modellen. Jede derartige Beschreibung bietet – entspre-chend der lokalen Auffassung von Modellen – ein anderes potentiellesModell und Konsistenzbetrachtungen gestatten natürlich nicht, beliebigesolcher Modelle gleichzeitig zu akzeptieren. Welche Kombinationen indiesen Fällen zulässig sind, hängt wesentlich von den Invarianz- bzw. Ko-varianzforderungen einer Theorie ab. Für galilei-invariante und lorentz-invariante Theorieformulierungen finden sich die entsprechenden Inva-rianzconstraints in Bartelborth (1988, 46ff und 103ff) und für den Be-reich der allgemeinen Relativitätstheorie sind die entsprechenden Kova-rianzconstraints in Bartelborth (1993) formuliert worden.

Für die KPM in der hier angegeben Form benötigen wir keine Inva-rianzconstraints, da ich sie der Einfachheit halber auf ein feststehendesKoordinatensystem bezogen habe. Es bleibt aber noch, den Identitäts-und Extensivitätsconstraints für die Massenfunktion zu formulieren.133

Der Identitätsconstraint verlangt, daß Partikel, die in verschiedenen po-tentiellen Modellen auftreten, dort dieselben Massenwerte annehmen,während der Extensivitätsconstraint die Fälle abdecken soll, in denenzwei Partikel, die wir aus anderen Systemen „kennen“, nun zu einemneuen Partikel eines dritten potentiellen Modells zusammengefügt wer-

133 Auf den in BMS (1987, 106) zusätzlich formulierten Identitätscon-straint für die Kraft verzichte ich an dieser Stelle, da es einen etwas höheren for-malen Aufwand erfordert, einzelne Kraftkomponenten zu identifizieren.

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den. Seine Masse muß dann (jedenfalls im Rahmen von KPM) natürlichgenau der Summe der Einzelmassen entsprechen. Das Zusammenfügenwird dabei durch eine Konkatenationsfunktion ausgedrückt, die eineFunktion von PP nach P sein soll.

Identitätsconstraint für KPMCid(KPM) := {X Mp(KPM); X & x, y X, p Px Py:

mx(p) = my(p)}134

Extensivitätsconstraint für KPMCext(KPM) := {X Mp(KPM); X & x X, p, p’ Px:

mx(p p’) = mx(p) + mx(p’)}135

Um die Anforderungen, die durch die einzelnen Constraints einer Theo-rie eingebracht werden, zu vereinen, bilden wir den allgemeinen Con-straint C(T) einer Theorie als Durchschnitt aller Einzelconstraints:

C(KPM) := Cid(KPM) Cext(KPM)

In C(KPM) werden nur noch die Kombinationen von Modellen erlaubt,die sowohl den Identitäts- wie auch den Extensitivitätsconstraint erfül-len, d.h. C(KPM) drückt nun alle innertheoretischen Konsistenzforde-rungen aus.

3. Intertheoretische Querverbindungen: Links

Konsistenzforderungen gibt es natürlich nicht nur innerhalb von Theo-rien, sondern auch in vielfältiger Weise zwischen Theorien. Solche inter-theoretischen Brückenstrukturen haben im strukturalistischen Theorien-konzept den Namen „Links“ bekommen. Sie können in verschiedenenFunktionen auftreten, aber als eine Gemeinsamkeit verbindet sie dieAufgabe, Informationen aus einer Theorie an eine andere zu übergeben.Am deutlichsten wird das für die sogenannten „presupposition links“. Ih-re Aufgabe ist es, für eine Theorie bestimmte Terme aus einer „Vortheo-rie“ bereitzustellen. Für die KPM sind das etwa räumliche und zeitlicheEntfernungskonzepte, die aus einer physikalischen Geometrie und ent-sprechenden chronometrischen Theorien stammen. Die KPM stellt ih-rerseits z. B. der Elektrodynamik den Kraftbegriff zur Verfügung. Siegibt jedenfalls seine grundlegenden theoretischen Zusammenhänge und

134 Wobei mit Px und mx jeweils die Partikelmenge bzw. die Massenfunkti-on des potentiellen Modells x gemeint ist.

135 Siehe dazu BMS 105f.

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auch grundlegende Meßverfahren für ihn an. „Stellt zur Verfügung“ isthierbei allerdings nicht im Sinne einer expliziten Definition zu verste-hen, sondern bestenfalls gibt die Vortheorie ein Bestimmungsverfahrenfür eine Größe an und auch das meist nur für bestimmte Anwendungender Theorie und nicht gleich für alle Situationen.

Das soeben skizzierte Bild von Vortheorien, auf die sich eine Theorieanhand von „presupposition links“ stützt, ist natürlich im günstigstenFall eine Idealisierung und soll nicht dazu verführen, von einer einfa-chen Hierarchie unter Theorien auszugehen. Allerspätestens in der allge-meinen Relativitätstheorie stößt die hierarchische Konzeption an offen-sichtliche Grenzen (vgl. Bartelborth 1995).

Die der hierarchischen Konzeption zugrundeliegende Vorstellung,nach der etwa Raum-Zeit Theorien in der Schichtung relativ weit untenangesiedelt sind und in den oberen Schichten als eine Art vorgegebenerBehälter dienen können, in dem sich das Geschehen, das etwa von denMaxwellschen Gleichungen beschrieben wird, abspielt, ist spätestens fürdie Allgemeine Relativitätstheorie nicht mehr aufrechtzuerhalten. DieStruktur der allgemein-relativistischen Raum-Zeit ist nämlich abhängigvom Energie-Impuls-Tensor, der seinerseits von allen Größen aus Me-chanik, Thermodynamik und Elektrodynamik abhängt, also von Grö-ßen, die laut der Schichtenkonzeption eigentlich weiter oben angesiedeltsein sollten.136 Als einfacher Ausweg, der allerdings methodologisch un-befriedigend erscheint, bleibt die Flucht in einen Holismus, der Raum-Zeit-Theorie, Mechanik, Thermodynamik und Elektrodynamik als einegroße Einheit betrachtet, die in sich keiner hierarchischen Struktur fähigist. Gelingt es dagegen, eine wenn auch schwache Schichtenstruktur die-ses Theorie-Holons aufzuzeigen, die näher an der Praxis von Physikernliegt, ergibt sich ungefähr das nebenstehende Bild der allgemeinen Rela-tivitätstheorie (s. Bartelborth 1993). Die dicken Pfeile stehen für appro-ximative „presupposition links“, während die dünnen die Spezialisie-rungszusammenhänge in den jeweiligen Netzen darstellen sollen, die nurangedeutet sind.137

136 In Bartelborth (1993) findet sich eine Rekonstruktion dieses Theorien-komplexes, die zeigt wie sich hierarchische versus holistische Ansichten in die-sem Fall verhalten. Ein Vorschlag, wenigstens eine approximative Hierarchieaufrechtzuerhalten, stützt sich schließlich wesentlich auf die Konzeption lokalerModelle.

137 Die Spezialisierungsbeziehung wird später noch präzisiert.

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Theorien-Holon: Allgemeine Relativitätstheorie

Neben den intertheoretischen Beziehungen zwischen Vortheorien undTheorien, in denen die Vortheorien gewisse Begriffe bereitzustellen ha-ben, gibt es natürlich zahlreiche andere intertheoretische Beziehungen,die durch Links auszudrücken sind. Auch intertheoretische Beziehungenwerden nicht immer explizit in den Textbüchern der Fachwissenschaftenerwähnt, obwohl sie von grundlegender Bedeutung sein können. Dazuein prominentes Beispiel: Es ist üblich, die Theorien Mechanik, Ther-modynamik und Elektrodynamik auseinanderzuhalten und ihre jeweili-gen Beiträge zur Bewegungsgleichung, etwa einer Flüssigkeit in einemelektromagnetischen Feld, getrennt zu bestimmen. Das ist sicher auchsinnvoll, aber es sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bewe-gungsgleichung einer Flüssigkeit letztlich nur anhand der Energie- undImpulsbilanzen aus allen drei Theorien zusammengenommen ermitteltwerden kann. Nur für diese Gesamtsumme gilt eine Erhaltungsglei-chung, die damit wesentlich intertheoretischen Charakter hat.138 In Bar-telborth (1988) wird dieser Zusammenhang für vorrelativistische Theorienund speziell relativistische Theorien untersucht, in Bartelborth (1993) auchnoch für den allgemeinrelativistischen Fall. In den genannten Beispielen läßtsich die Bewegungsgleichung so ausdrücken:

(*) div(Tmech+Ttherm+Telektro) = 0,

wobei die drei Terme, von deren Summe dann die Divergenz zu bildenist, jeweils die Energie-Impuls-Tensoren der drei Theorien darstellen sol-len. Der intertheoretische Charakter dieser Gleichung wird augenfällig,

138 Eine innerphysikalische Diskussion, die diesen intertheoretischen Cha-rakter der Bewegungsgleichung des öfteren aus den Augen verloren hat und da-durch einige unnötige Wellen schlug, war die um die korrekte Gestalt des elek-tromagnetischen Energie-Impuls-Tensors, die u.a. in Bartelborth (1988, Kap. II)analysiert wird.

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wenn man sie ausführlich formuliert, und ebenso, daß es sich um eineintertheoretische Beziehung zwischen drei Theorien handelt, was einekanonische Erweiterung des bisherigen Linkkonzepts des Strukturalis-mus erforderlich macht, das nur Links zwischen zwei Theorien kannte.Entsprechendes gilt um so mehr für die Einsteinsche Gravitationsglei-chung, die einen Zusammenhang zwischen dem gesamten Energie-Im-puls-Tensor und der Raum-Zeit darstellt. Hier werden sogar vier Theo-rien durch einen Link zusammengebunden. Im Fall der Gleichung (*) be-sagt der Link, daß nur solche Modelle der drei Theorien zusammenpas-sen, deren Energie-Impuls-Tensoren aufaddiert eine verschwindende Di-vergenz besitzen. Abstrakt läßt sich ein Link ℒ als eine Relation zwi-schen den potentiellen Modellen von n-Theorien T1,,Tn verstehen:

ℒ(T1,,Tn) Mp(T1) Mp(Tn),

aber für konkrete Beispiele lassen sich die Links auch als Beziehungenbestimmter Terme der jeweiligen Theorien betrachten.139 Dem möchteich nicht weiter nachgehen, sondern nur noch den Effekt eines Linksℒ(T1,,Tn) auf die einzelne Theorie, nehmen wir T1, bestimmen.ℒ(T1,,Tn) sondert in T1 eine Teilmenge von potentiellen Modellenaus, nämlich gerade die, die mit entsprechenden potentiellen Modellenaus T2,,Tn so „gelinkt“ werden können, daß die Bestimmungen desLinks – z. B. die Bewegungsgleichung (*) – erfüllt werden. Mengentheo-retisch läßt sich der Link L(T1) für T1 damit, wie auch die Modellmengevon T1, als eine Teilmenge von Mp(T1) formulieren:

L(T1) := {x Mp(T1); x2 Mp(T2) xn Mp(Tn) mit:<x,x2,,xn> ℒ(T1,,Tn)}

Mit den Links sind die Theoriekomponenten, die sich auf den potentiel-len Modellen einer Theorie formulieren lassen, bis auf die Einbeziehungvon Approximationen abgeschlossen. Nun wird die begriffliche Strukturder Theorie noch um eine Komponente erweitert, nämlich die Auszeich-nung von Submodellen einer bestimmten Art.

4. Die „empirische“ Ebene einer Theorie

In der syntaktischen Sichtweise von Theorien wurden die Terme einerTheorie in zwei Klassen eingeteilt: die Beobachtungsterme und die theo-retischen Terme. Damit vermengte man zwei unterschiedliche Kategori-

139 Zur formalen Präzisierung von abstrakten und konkreten Links s. BMS(1987, 61).

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sierungen, nämlich die in theoretisch/nichttheoretische Terme und die inAusdrücke für beobachtbare und nichtbeobachtbare Größen einer Theo-rie (s. dazu van Fraassen 1980, 14ff), von denen keineswegs klar ist, daßes sich um deckungsgleiche Taxonomien handeln muß. Van Fraassen(1980, 45ff) wendet sich der zweiten zu und führt in seinem semanti-schen Theorienkonzept eine Unterscheidung zwischen den empirischenSubstrukturen, die nur Beobachtbares repräsentieren sollen und denübrigen Anteilen des vollständigen Modells ein, die unbeobachtbarsind.140 Mit Hilfe dieser „empirischen Substrukturen“ gedenkt van Fraas-sen (1980, 45), den empirischen Gehalt von Theorien wiederzugeben,wonach eine Theorie genau dann empirisch adäquat ist, wenn es einModell der Theorie gibt, so daß sich alle Phänomene, die die Theorie zuerklären beabsichtigt, isomorph in die empirische Substruktur diesesModells einbetten lassen.

Auch der Strukturalismus kennt derartige Substrukturen von poten-tiellen Modellen, die er in anschaulicher Weise „partielle Modelle“nennt. Doch dabei stützt er sich anders als van Fraassen auf die theore-tisch/nichttheoretisch Unterscheidung. Statt von einer grundlegendenBeobachtungsebene auszugehen – was sich als recht problematisch er-wiesen hat – und alle anderen Teile als „theoretisch“ zu klassifizieren,werden bestimmte Theoriekomponenten einer Theorie T als theoretischbezüglich T oder T-theoretisch eingestuft. Für diese Einstufung ist we-sentlich ihre Stellung in der Theorie T selbst verantwortlich, unabhängigvon Fragen ihrer Beobachtbarkeit.

Dahinter steht die Vorstellung, daß Theorien oft bestimmte neueTerme einführen, aber daneben auch auf Terme aus anderen Theorienzurückgreifen. Die ersteren Terme sollen dann die T-theoretischen sein,während die zweite Sorte als T-nichttheoretisch bezeichnet wird. DieseUnterscheidung hat verschiedene Präzisierungen erfahren, von denen ichnur zwei nennen möchte. Die meßtheoretische, die auf Balzer/Moulines(1980) zurückgeht, nennt einen Term t T-theoretisch, wenn alle Meßver-fahren für t sich letztlich als Anwendungen der Theorie T erweisen oderanders gesagt, wenn es für t keine Meßverfahren gibt, die unabhängigvon T die Werte von t bestimmen können. Meßverfahren sind aber (s.Forge 1984a) vielfach hochgradig intertheoretische Gebilde, die nurschwer zu beschreiben sind, und in der Praxis erweist es sich meist alsproblematisch, sich einen Überblick über die tatsächlichen Meßverfah-ren und ihren theoretischen Hintergrund zu verschaffen.

140 Auch Friedman spricht in (1983) von Submodellen, wobei er manchmalähnliche Unterscheidungen im Auge hat.

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Deshalb hat Ulrich Gähde (1980) einen rein innertheoretischen Ab-grenzungsvorschlag entwickelt, der als Ausgangspunkt die möglichenZerlegungen der Terme einer Theorie in zwei Klassen nimmt. Die theo-retischen Terme gehören dabei zu einer Klasse von Termen, die in demBasis-Theorie-Element einer Theorie noch nicht eindeutig durch die an-dere Klasse festgelegt wird, also insbesondere nicht im strengen Sinn de-finierbar ist, die aber trotzdem in einigen Anwendungen der Theorie an-hand von Spezialgesetzen und den nichttheoretischen Termen eindeutigbestimmbar ist. Auch dieser Ansatz weist einige Probleme in der An-wendbarkeit auf. Zum einen sind die mathematischen Zusammenhängefür komplexere Theorien noch nicht weit genug aufgeklärt, um das Kri-terium immer anwenden zu können (s. dazu Bartelborth 1988, 95ff),und zum anderen kann es mehrere Zerlegungen mit den genannten Ei-genschaften geben, so daß das Kriterium allein keine eindeutige Eintei-lung zuläßt. Es scheint dann zwar als notwendige, aber nicht als hinrei-chende Bedingung geeignet zu sein (s. dazu Schurz 1990 und Gähde1990).

An dieser Stelle mag es genügen, den intuitiven Gehalt der T-theore-tisch/T-nichttheoretisch Unterscheidung im Auge zu behalten. BestimmteTerme werden von Vortheorien über „presupposition links“ zur Verfü-gung gestellt, während andere „vor“ der Theorie nicht vorkommen. Ab-standsbegriffe und den Kraftbegriff bezieht die Elektrodynamik aus an-deren Theorien, während sie selbst das Konzept der elektro-magnetischen Felder einführt. Um sie zu messen, sind wir auf Gleichun-gen aus der Elektrodynamik, wie dem Lorentzschen Kraftgesetz, ange-wiesen. Für viele Theorien und Terme lassen sich derartige Unterschei-dungen in hinreichend präziser Form vornehmen, um damit die Mengeder partiellen Modelle zu definieren. Für die klassische Partikelmecha-nik ergibt sich etwa, daß Masse und Kraft KPM-theoretisch sind (s. Gäh-de 1983 oder BMS 47ff). Damit erhalten wir in unserem Beispiel alsMenge der partiellen Modelle:

x ist ein partielles Modell der KPM [x Mp(KPM)] gdw:1) x = <P, T, S, Z, s>2) P ist eine nichtleere Partikelmenge.3) T ist ein zusammenhängendes, offenes Intervall in ℝ.4) Z ist eine Zusammenstellung mechanischer Parameter.5) s: PT S ist eine differenzierbare Funktion.141

141 Unter „differenzierbar“ verstehe ich immer unendlich oft differenzier-bar.

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Um auf die Zusammenhänge zwischen Modellen und ihren partiellenModellen leichter Bezug nehmen zu können, definieren wir die „Ab-schneidefunktion“ r:Mp Mpp durch r(<P,T,S,Z,s,m,f>) =<P,T,S,Z,s>, die uns zu jedem potentiellen Modell das entsprechende„gekürzte“ partielle Modell liefert.

Von früheren Konzeptionen theoretischer Terme in anderen meta-theoretischen Ansätzen unterscheidet sich die strukturalistische Auffas-sung nicht nur durch die theorienbezogene oder sogar theorienimma-nente Auszeichnung der theoretischen Ebene, sondern ebenfalls durchdie Schichtung von immer neuen Ebenen von theoretischen Begriffen,die über das alte Zweistufenmodell der Wissenschaftssprache, aber auchüber die semantische Zweistufenkonzeption van Fraassens hinausgehtund im Prinzip beliebig viele Theoretisierungsstufen zuläßt. Außerdemgibt es keine Verpflichtung auf eine klare Hierarchie solcher Stufenmehr, sondern man ist offen für eine vorurteilslose Untersuchung holisti-scher Phänomene.

5. Der Anwendungsbereich einer Theorie

Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, aber trotzdem wird sie oftgenug nicht zur Kenntnis genommen, daß jede Theorie nur auf ganz be-stimmte natürliche Systeme, beschrieben in einer bestimmten Weise, an-gewendet wird und nicht etwa auf alle Phänomene in der Welt. Mit derEvolutionstheorie oder anderen biologischen Theorien erklären wirnicht das Verhalten mechanischer Systeme, etwa des Planetensystems,und mit mechanischen Theorien, wie der Newtonschen Partikelmecha-nik, versuchen wir nicht evolutionäre Vorgänge zu beschreiben. DieMenge von Systemen, die mit einer Theorie beschrieben werden sollen,soll Menge der „intendierten Anwendungen“ (formal: I(T)) der Theorieheißen. Sie wird für empirische Theorien im Unterschied zu mathemati-schen nicht bereits durch die Gesetze einer Theorie bestimmt, sondernmuß zusätzlich explizit angegeben werden, um die Theorie vollständigdarzustellen. Mathematische Theorien wie z. B. Theorien aus dem Be-reich der Zahlentheorie gelten für alle Systeme, die sich als Systeme na-türlicher Zahlen auffassen lassen, also etwa alle Peanosysteme. Es ist al-lein die allgemeine Struktur eines Objekts, die darüber bestimmt, ob eszum Anwendungsbereich einer mathematischen Theorie gehört. Für em-pirische Theorien ist das ganz anders. Nicht jedes natürliche System, dassich mit den Ausdrücken der Partikelmechanik beschreiben läßt, wird

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dadurch schon zu ihrem Gegenstand.142 Ihre intendierten Anwendungensind eigens als solche zu kennzeichnen, und das kann auf unterschiedli-che Weise geschehen; z. B. durch die Angabe einzelner konkreter Sy-steme wie {Sonne, Erde, Mond} aber häufig werden die Anwendungendurch typische Exemplare, also auf paradigmatischem Wege, beschrie-ben.

Für die Newtonsche Partikelmechanik läßt sich die Menge der inten-dierten Anwendungen in erster Näherung vielleicht folgendermaßencharakterisieren:

I(KPM) = {Planetensysteme, schiefe Würfe, zusammenstoßendePartikel (Billiardbälle), Pendel, }.

Diese Menge steht nicht für alle Zeiten fest, sondern kann sich ändern,je nachdem, auf welche Bereiche man die Partikelmechanik anzuwendengedenkt. Newton hoffte noch, optische und chemische Phänomene mitseiner Theorie behandeln zu können, doch diese Hoffnung wurde nieeingelöst, so daß spätere Physiker diese Phänomene wieder aus dem in-tendierten Anwendungsbereich herausgenommen haben.

Diese erste Bestimmung der intendierten Anwendungen greift aller-dings noch zu kurz, denn als intendierte Anwendungen der Mechanikkommen natürlich nicht einfach Partikel sondern Partikel und ihre Bah-nen über einen gewissen Zeitraum hinweg in Frage. Die intendiertenAnwendungen sollen daher als Modelle der KPM mit den entsprechen-den Komponenten verstanden werden, wobei sie zunächst noch alsKPM-nichttheoretisch also als partielle Modelle von KPM beschriebenwerden.143 Die Menge der partiellen Modelle charakterisiert größereKlassen derartiger Bahnstücke für die betreffenden Partikel. Weitgehendunerforscht ist im strukturalistischen Theorienkonzept allerdings derAufstieg von einzelnen Meßwerten für Partikel zu ganzen Bahnen, derschon einen ersten wichtigen Schritt in der theoretischen Beschreibungdes Systems darstellt. Hier sind Lücken der metatheoretischen Aufarbei-

142 Nichts hindert uns daran, nichtmechanische Systeme mit der Begriff-lichkeit der Mechanik zu beschreiben. Von Kräften spricht man z.B. in Kontex-ten wie „den Kräften des Marktes“ usw. Die so beschriebenen Systeme werdenaber natürlich damit noch nicht zu intendierten Anwendungen der klassischenPartikelmechanik.

143 Auch an dieser Stelle gibt es einen wichtigen Unterschied zur Anwen-dung mathematischer Theorien. Da es für rein mathematische Größen keine em-pirischen Meßverfahren und damit auch keine analoge theoretisch/nichttheore-tisch Unterscheidung gibt, können wir ihre Anwendungen nicht auf einer vor-theoretischen Ebene beschreiben. Derartige Differenzierungen entfallen dort.

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tung empirischer Theorien zu konstatieren, die im Rahmen zukünftigerFallstudien und entsprechender Erweiterungen der Metatheorie zuschließen sind.

Aber schauen wir uns die intendierten Anwendungen nun im ganzenNetz einer Theorie am Beispiel der Newtonschen Partikelmechanik kon-kret an.

6. Das Theorien-Netz der Newtonschen Partikelmechanik

Wir haben schon längere Zeit von Theorien-Netzen und ihren Speziali-sierungen gesprochen, uns aber bisher ausschließlich der Ausgestaltungeinzelner Theorie-Elemente T gewidmet. Für die haben wir die folgendeStruktur erhalten:

T = <Mp,M,Mpp,C,L,I>,

wobei die folgenden mengentheoretischen Beziehungen gelten:

(a) M Mp

(b) Mpp ist eine Menge von Substrukturen zu Mp

(c) C Pot(Mp)(d) L Mp

(e) I Mpp

Das Netz der KPM besteht nun aus solchen Theorie-Elementen, die alsSpezialisierungen aus dem oben definierten Basis-Theorie-Element her-vorgehen, wie das schon informell beschrieben wurde. Dabei werden fürkleinere Bereiche von intendierten Anwendungen jeweils stärkere Be-hauptungen anhand von Spezialgesetzen aufgestellt, die zusätzlich zuden Basisaxiomen eingebracht werden. Für eine Spezialisierung T’ einesTheorie-Elements T gilt daher:

T’ ist ein Spezialisierung von T (T’ T) gdw:i) Mp’ = Mp

ii) Mpp’ = Mpp

iii) M’ Miv) C’ Cv) L’ Lvi) I’ I,

wobei die beiden ersten Bedingungen zum Ausdruck bringen, daß diebegriffliche Struktur für alle Elemente eines Netzes gleich ist, währenddie weiteren Bedingungen die Verstärkung der inhaltlichen Anforderung

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durch die Theorie für ein eingeschränktes Anwendungsgebiet I’ ange-ben. Für ein ganzes Theorien-Netz N = (Ti)iJ (J ℕ) mit einem Basis-Theorie-Element T0, dessen Elemente durch die Spezialisierungsbezie-hung partiell geordnet sind, ergibt sich:144

N = (Ti)iJ ist ein (baumartiges) Theorien-Netz gdw:(a) Für alle i J: Ti ist ein Theorie-Element.(b) Für alle i J: Ti T0.

So erhält man für die Newtonsche Partikelmechanik in ihrer heutigenGestalt z. B. ein Netz (s. Balzer/Moulines 1981, BMS 180ff), das ich nurin Ausschnitten und in informeller Form wiedergeben möchte.

Das Netz der KPM

Die einzelnen Theorie-Elemente des Netzes entstehen alle durch Spezia-lisierung, d.h. genauere Bestimmung des Kraftgesetzes, das im Ausgangs-element des Netzes noch relativ unbestimmt gelassen worden war. DasBasis-Theorie-Element wird einfach mit „KPM“ bezeichnet. Es enthältnoch nicht das Impulserhaltungs- oder „actio-reactio“-Gesetz, weil esTheorie-Elemente der KPM gibt, die nicht-abgeschlossene Systeme be-handeln. NKPM entsteht gerade durch Hinzunahme des Impulserhal-tungssatzes und soll alle abgeschlossenen mechanischen Systeme be-schreiben. Eine andere Spezialisierung ist die auf konservative Kräfte, al-so Kräfte, die sich als Gradienten einer Potentialfunktion beschreibenlassen. Dazu gibt es wiederum eine Reihe von weitergehenden Speziali-

144 Neben den strikten Spezialisierungen stoßen wir auch manchmal auf ap-proximative Spezialisierungen, so etwa im Falle der Elektrodynamik (s. Bartel-borth 1988).

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 355

sierungen, deren berühmteste das Newtonsche Gravitationsgesetz dar-stellt. Ein weiteres Beispiel finden wir in Galileos Gesetz vom freien Fallund ein anderes im Hookeschen Gesetz für harmonische Oszillatoren.Ein dritter Zweig des Netzes, der noch kurz angedeutet werden soll,nimmt Spezialisierungen des Kraftgesetzes vor, die hauptsächlich ge-schwindigkeitsabhängig sind. Prominente Beispiele dafür sind zunächstdie Reibungsgesetze, aber auch Kräfte wie die Lorentzkraft.145

Ein wesentlicher Aspekt dieses Netzes soll noch kurz zur Sprachekommen. Natürlich kann ein und dasselbe mechanische System eine in-tendierte Anwendung mehrerer Theorie-Elemente sein, die noch dazuauf unterschiedlichen Ästen liegen können; etwa wenn wir es als abge-schlossenes System von gravitierenden Körpern beschreiben, so daß essowohl das Impulserhaltungsgesetz erfüllen soll wie auch das Gravitati-onsgesetz. Bei der Formulierung der empirischen Behauptung der KPMwird deshalb eine Konsistenzforderung zu erheben sein, nach der dieKraftfunktionen und Massenfunktionen, die den Partikeln dieses Sy-stems in den unterschiedlichen Theorie-Elementen zugeordnet werden,zusammenpassen. Das kann anhand einzelner explizit formulierter Linksgeschehen, die das für spezielle Partikel sichern, aber auch – wie hier –durch eine allgemeine Verträglichkeitsbedingung in der empirischen Be-hauptung für ein ganzes Netz.

Eine Ausgestaltungsmöglichkeit von Theorien-Netzen ist bisher nochnicht erwähnt worden: Sie lassen sich im Prinzip an den Enden der Ästeimmer weiter ausdehnen bis in Bereiche des technischen Wissens hinein.Für das Hookesche Gesetz ließen sich z. B. weitere Spezialisierungen an-führen, die angeben, welche Federkonstanten für welche Materialienund welche Federformen bei bestimmten Temperaturen vorliegen. Daswird man i.a. nicht mehr zum engeren Bereich der klassischen Partikel-mechanik zählen, aber es zeigt, wie die hierarchische Anordnung vonwissenschaftlichen Erkenntnissen in Baumstrukturen auch für außerwis-senschaftliche Bereiche Ordnung schaffen hilft.

7. Theoriendynamik

Das bisher angegebene Instrumentarium des Strukturalismus stammt zu-nächst aus der synchronischen Untersuchung von Theorien und ihrer in-neren Struktur, doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß alle

145 In diesem Punkt beziehe ich mich einfach auf die Darstellung der KPMin (BMS, 189f), um auch die Flexibilität des strukturalistischen Instrumentari-ums zu zeigen, ohne sie inhaltlich weiter zu diskutieren.

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genannten Komponenten von Theorien gerade auch zur Aufklärungtheoriendynamischer Vorgänge eine wesentliche Rolle spielen. Ein Bei-spiel dafür bot bereits die Studie von Ulrich Gähde über die CepheidenAnomalien, die ich im Abschnitt (C.2) skizziert hatte. Ein weiteres schö-nes Beispiel bietet ebenfalls Gähde (1989, 236ff), wo er beschreibt, wiedie Anomalie des Merkurperihels zu einer Folge von Korrekturversu-chen an der Newtonschen Gravitationstheorie geführt hat, die sich suk-zessive von der Peripherie des Newtonschen Netzes auf sein Basis-Theo-rie-Element hinbewegt, bis schließlich auch dieses aufgegeben wird.

Eine solche diachronische Analyse der Wissenschaftsgeschichte warnatürlich erst anhand der Kenntnis der reichhaltigen inneren Strukturvon Theorien möglich, die zahlreiche Ansatzpunkte für Veränderungensowie ihre gegenseitige Gewichtung aufzeigt. Mit diesem komplexerenBild wissenschaftlicher Theorien lassen sich Metaphern wie die vomNetz unserer Erkenntnisse und daß wir versuchen, unsere Theorien mitmöglichst geringfügigen Änderungen gegen widerspenstige Experimentebeizubehalten, endlich mit Inhalt füllen. Grob gesagt sind die Theorie-teile peripherer, die weiter unten im Netz und weiter hinten in den Tu-peln der Theorie-Elemente auftreten.

Um in unserer Fallstudie der klassischen Partikelmechanik (KPM) zubleiben, möchte ich kurz auf eine grundlegende Arbeit von Moulines(1979) (s. a. BMS 205ff) eingehen, in der das metatheoretische Instru-mentarium des Strukturalismus nebenbei auch noch um eine ganze Rei-he von pragmatischen und systematischen Begriffen erweitert wurde, dieebenfalls aufzeigen können, wie der synchronische Apparat für diachro-nische Fallstudien eingesetzt werden kann. Im Zentrum dieser Arbeitsteht die Konzeption von sogenannten Theorie-Entwicklungen, die dieEntwicklung einer Theorie als Abfolge von Theorien-Netzen begreift,die untereinander in engen Zusammenhängen stehen. Sie repräsentierenjeweils den Zustand der Theorie für einen gewissen Zeitraum. Je nach-dem, wie diese Theorie-Entwicklungen beschaffen sind, können wirdann von progressiven Entwicklungen im Sinne von Lakatos oder etwavon Kuhnschen Theorie-Entwicklungen sprechen (s. BMS 221ff).

An dieser Stelle kann ich nicht den Details dieser Erweiterung desBegriffsapparats folgen, sondern werde mich auf einige Aspekte be-schränken. Als erstes werden pragmatische Konzepte eingeführt, die hel-fen sollen, eine Struktur in den historischen Geschehnissen zu identifi-zieren.146 Dazu gehört zunächst der Begriff einer historischen Periode h,innerhalb derer die Theorie einigermaßen unverändert geblieben ist. Au-

146 Für eine ausführlicher Darstellung s. BMS (205ff).

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ßerdem ist dann die „scientific community“ (SC) zu erwähnen, die da-durch gekennzeichnet ist, daß sie in dieser Zeit die Theorie – das jeweili-ge Theorien-Netz – akzeptiert hat oder ihr gegenüber eine ähnliche epi-stemische Einstellung eingenommen hat. Besondere Aufmerksamkeit istin solchen Theorie-Entwicklungen auf die Frage zu richten, welche Spe-zialisierungen des Netzes neu hinzugekommen sind (oder auch aufgege-ben wurden) und wie sich dabei die Menge der intendierten Anwendun-gen eines Netzes gegenüber dem Vorgängernetz geändert hat. Kontinui-täten in diesen beiden Bereichen während der Theorie-Entwicklung sindein wesentlicher Aspekt der Identität einer Theorie. So sollten die neuenSpezialisierungen sich als Spezialisierungen der Theorie-Elemente desVorgängernetzes zeigen und eine größere Überschneidung mit den inten-dierten Anwendungen des Vorgängernetzes gegeben sein, damit wir vonunterschiedlichen Stadien einer Theorie sprechen können. Die größteBedeutung für die Identität einer Theorie besitzt dabei sicherlich das Ba-sis-Theorie-Element, das für eine Theorie unverändert bleiben sollte.

Die Menge der intendierten Anwendungen können wir auch nachverschiedenen epistemischen Einstellungen der „scientific community“,die die Theorie akzeptiert, unterscheiden, z. B. in die Menge der als gesi-chert angenommenen Anwendungen und die der nur vermuteten Anwen-dungen der Theorie. Es dürfte gewiß sein, daß man gesichert geglaubteAnwendungen der Theorie nicht ohne größere Not aufzugeben bereitist. Die nur vermuteten Anwendungen sind jedenfalls peripherer als diegesicherten. Wissenschaftler sind sehr wohl in der Lage, solche erkennt-nistheoretischen Unterscheidungen für ihre eigenen Theorien zu treffen.Sie haben nicht unbedingt Kuhnsche Scheuklappen, die sie nicht nach al-ternativen Theorien und deren Qualitäten schielen lassen. Man muß al-lerdings bedenken, daß sie oft als Anwälte ihrer Theorien auftreten müs-sen und dann natürlich nicht gerne bereit sind, bestimmte Anwendungenals weniger sicher oder sogar noch recht spekulativ einzustufen. Auf derGrundlage solcher Unterscheidungen lassen sich schließlich auch Bewer-tungsmaßstäbe für ganze Theorien vorschlagen. Für progressive Theo-rie-Entwicklungen im Sinne von Lakatos erwarten wir etwa, daß sichder Anteil der als gesichert geltenden Anwendungen erhöht hat. FürKuhnsche Theorie-Entwicklungen erwarten wir dagegen vor allem, daßes ein paradigmatisches Basis-Theorie-Element und eine Menge von pa-radigmatischen Anwendungen der Theorie gibt, die sich durch alleTheorien-Netze der Entwicklung ziehen.

Um ein gewisses Gefühl dafür zu bekommen, wie derartige Theorie-Entwicklungen konkret aussehen, verweise ich auf die anfängliche Ent-

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wicklung der klassischen Partikelmechanik, wie sie von Moulines (1979)rekonstruiert wurde und auch in BMS (223ff) wiedergegeben ist.

8. Die empirische Behauptung einer Theorie

Nun haben wir alle wesentlichen Komponenten von Theorien beisam-men, die notwendig sind, um die empirische Behauptung, die man mit ei-ner Theorie T aufstellt, präzisieren zu können. Beginnen wir dazu mitdem Fall eines einzelnen Theorie-Elements ehe wir zu den Behauptun-gen ganzer Theorien-Netze übergehen. Wir haben gesehen, daß die Da-ten, auf die wir eine Theorie T stützen möchten oder die wir mit ihr er-klären möchten, in Form eines partiellen Modells als Instanzen einesPhänomens in der T-nicht-theoretischen Begrifflichkeit beschrieben wer-den. Von jedem derartigen System aus der Menge der intendierten An-wendungen können wir sagen, daß es die Gesetze der Theorie erfüllt,wenn es sich so um theoretische Komponenten erweitern läßt, daß dievollständige Beschreibung des Systems ein Modell der Theorie darstellt.Verschieben wir die möglicherweise noch einzubeziehenden Approxima-tionen zunächst einmal auf den nächsten Abschnitt, sind trotzdem nochzwei andere Theoriekomponenten für die mit einer Theorie verknüpfteBehauptung zu berücksichtigen: Nämlich erstens die intertheoretischenAnforderungen, die aus Verbindungen zu anderen Theorien herrührenund durch Links wiedergegeben werden – unser Modell sollte also auchElement des globalen Links sein, d.h. in L(T) liegen. Zweitens ist die ho-listische Komponente, die uns die Constraints angeben, zu berücksichti-gen, denn es geht nie nur darum, ein einzelnes partielles System zu ei-nem Modell zu erweitern, sondern immer darum, mehrere Systemegleichzeitig und in konsistenter Weise als Modelle der Theorie zu erwei-sen. Deshalb betrachten wir immer gleich Mengen von Modellen. DieModellmenge, die auf der theoretischen Ebene damit anvisiert wird, istder theoretische Gehalt TG von T:

TG(T) := Pot(M) C Pot(L)

r gibt uns alle theoretischen Anforderungen die die Theorie T an dieStrukturen stellt, auf die sie angewandt werden soll. Durch die Projekti-onsfunktion r, die die theoretischen Größen „abschneidet“, erhalten wirein entsprechendes Mengensystem auf der nicht-theoretischen Ebene,das man auch den empirischen Gehalt EG von T nennt:

EG(T) := r[Pot(M) C Pot(L)] = r[TG(T)]

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 359

Die empirische Behauptung von T = <K,I> läßt sich dann schreiben:

Empirische Behauptung von T: I EG(T),

d.h. die intendierten Anwendungen lassen sich gemeinsam in den empi-rischen Gehalt der Theorie einbetten, der wiederum nur solche Mengenenthält, die sich als Ganzes zu Modellen erweitern lassen, die im theore-tischen Gehalt der Theorie liegen, also alle Anforderungen der Theorie(Grundgesetze, Spezialgesetze, innertheoretische Konsistenzforderungenund intertheoretische Beziehungen) erfüllen.

Auf Theorien-Netze läßt sich diese Formulierung nicht in ähnlicheinfacher Weise übertragen, denn die empirische Behauptung von gan-zen Netzen ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und läßt sich auchnicht als bloße Konjunktion der empirischen Behauptungen der Elemen-te des Netzes verstehen. Eine solche Konjunktion könnte nämlich nichtsicherstellen, daß dasselbe partielle Modell aus I0, wenn es in verschiede-nen Spezialisierungen des Netzes auftritt, auch in gleicher oder zumin-dest konsistenter Weise zu einem vollständigen Modell erweitert wird (s.dazu Gähde 1989, 66ff).

Um eine Formulierung zu gewinnen, die es gestattet, Theorien-Netzein ähnlicher Weise wie Theorie-Elemente zu behandeln und die formaleDarstellung außerdem verständlicher zu gestalten, führe ich Einbettungs-funktionen ℰ ein, die die Faserbündelstruktur von <Mp, r, Mpp> respek-tieren:

ℰ(T) := {e:Mpp Mp; mit r ∘ e = idMpp}

Eine Einbettungsfunktion ordnet also jedem partiellen Modell x ein po-tentielles y zu, das in dem Sinne „über“ ihm liegt (in der Faser von xbzgl. r), daß das „Abschneiden“ der theoretischen Funktionen wieder zux zurückführt. Sie bettet, anders ausgedrückt, ein partielles Modell x ineine theoretische Erweiterung y zu x ein. Diese Einbettungsfunktionen(oder Erweiterungsfunktionen) drücken so anschaulicher aus, worum esin der empirischen Behauptung von T geht, nämlich die Einbettung ei-nes Phänomens in ein Modell der Theorie. Damit ergibt sich für die em-pirische Behauptung von T:

Empirische Behauptung von Te ℰ(T) mit: e(I) TG(T)

D.h., es gibt eine gemeinsame Einbettung der intendierten Anwendun-gen, die die theoretischen Anforderungen von T erfüllt.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 360

Diese Einbettung läßt sich in dem nebenstehenden Diagramm, indem die erlaubten Erweiterungen zu jedem Punkt x Mpp (oder andersausgedrückt: die Fasern zu x bzgl. r) jeweils senkrecht über x angeordnetsind, auf einfache Weise geometrisch veranschaulichen. Die Modellmen-ge wird hier als ovales Gebiet in der Menge der begrifflichen StrukturenMp (dem Totalraum des Bündels) und die Constraints werden durch Li-nien repräsentiert. Die Linien sollen die Verträglichkeit potentieller Mo-delle untereinander etwa im Rahmen eines Identitätsconstraints reprä-sentieren. Sie fügen jeweils die erlaubten Kombinationen von Modellenzusammen. Die Einbettungsfunktion e hat dann die Aufgabe, „oberhalb“von I (in den potentiellen Modellen) einen Constraintabschnitt e(I) her-auszugreifen, der dazu noch in der Modellmenge liegt (und natürlichauch noch L erfüllt, auf dessen Darstellung ich aber hier verzichte). Gibtes eine derartige Einbettungsfunktion, so liegt natürlich auch I im empi-rischen Gehalt von T und umgekehrt.147

Nun sind wir auch gerüstet, die empirische Behauptung eines Theo-rien-Netzes N = (Ti)iJ mit einer endlichen Indexmenge J = {0,…,n},das durch die Spezialisierungsbeziehung geordnet ist und als Basis-Theorie-Element T0 enthält, zu bestimmen. Die Lösung zu diesem Pro-blem stammt von Ulrich Gähde, der in seiner Arbeit (1989) den folgen-den Vorschlag begründet hat.148 Betrachten wir als erstes ein kleinesNetz mit nur zwei Theorie-Elementen T0 und T1. Unzureichend ist zu-nächst die schlichte Konjunktion der empirischen Behauptungen der bei-den Theorie-Elemente, denn dabei kann eine netzinterne Konsistenzfor-derung im Stile der Identitätsconstraints verletzt werden. Konkreter aus-gedrückt: Dasselbe partielle Modell kann in T0 anders eingebettet wer-den als in T1. Damit wird ein und dieselbe Situation in einer auf zweiwomöglich inkonsistente Weisen beschrieben. Um das zu verhindern, be-zieht sich Gähde (1989, 66ff) explizit auf die jeweiligen gesuchten Er-weiterungsmengen X0 und X1:

Empirische Behauptung des kleinen NetzesX0 X1 [r(X0) = I0 X0 TG(T0) r(X1) =

I1 X1 TG(T1) X1 X0] 149

147 Denn I = r[e(I)] und da e(I) TG(T) gilt, ist I r[TG(T)].148 Außerdem hat er (1989, 120ff) gezeigt, daß die Vorschläge von Bal-

zer/Sneed (1977/78), Zandvoort (1982) und Stegmüller (1986) nicht ausrei-chend sind.

149 In der Notation sind schon einige Abkürzungen gegenüber Gähde(1989, 97) vorgenommen worden.

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Daß die beiden theoretischen Ergänzungen X0 und X1 nicht unterschied-liche Zuschreibungen für die theoretischen Größen vornehmen wirddurch die Inklusionsbeziehung am Ende ausgedrückt. Mit Hilfe der Ein-bettungsbeziehungen läßt sich das etwas einfacher angeben für ℰ(N) :=ℰ(T0):

(*) e ℰ(N) [e(I0) TG(T0) e(I1) TG(T1)]

Die Konsistenzforderung wird in (*) dadurch ausgedrückt, daß beideMengen intendierter Anwendungen durch dieselbe Einbettungsfunktionzu Modellmengen erweitert werden, was verhindert, daß es dabei zu un-terschiedlichen theoretischen Erweiterungen für ein partielles Modellkommen kann.

Die Äquivalenz der beiden Formulierungen läßt sich leicht anhandder Identifizierung Xi = e(Ii) erkennen. In der einen Richtung erhältman damit schnell eine der gesuchten Einbettungsfunktionen, die manin willkürlicher Weise auf den Rest von Mpp ausdehnen kann. Von (*)zur Gähde Formulierung: Es folgt r(Xi) = Ii, weil e eine Einbettungs-funktion ist und X1 X0 aus I1 I0, also aus der Spezialisierungsbezie-hung.

In (*) wird für die gesuchte Einbettungsfunktion nicht nur gefordert,daß sie eingeschränkt auf I0 in den theoretischen Gehalt von T0 führenund dabei auf einem Constraint liegen muß, sondern für den kleinerenBereich I1 muß sie darüber hinaus den kleineren Bereich des theoreti-schen Gehalts von T1 treffen.

Wie Spezialisierungen so zu einer Verstärkung der empirischen Be-hauptung führen, läßt sich am leichtesten graphisch verstehen. Das ersteTheorie-Element T definiert die große Ellipse im Bereich der potentiel-len Modelle der Theorie, der das Bild von I unter e enthalten muß (s.Pfeile), während T’ ein noch kleineres Oval M’ bestimmt, das für diekleinere Teilmenge I’ von I das Bild unter e zu umfassen hat (s. Pfeile),wodurch eine neue Anforderung an e hinzukommt. Das zeigt auch be-reits, wie die Konzeption für ein umfangreicheres Netz erweitert werdenkann, nämlich indem die zusätzlichen Bereiche intendierter Anwendun-gen und die entsprechenden Modellmengen aufgetragen werden und ane analoge zusätzliche Einbettungsaufgaben wie für die ersten beidenTheorie-Elemente formuliert werden.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 362

Einbettung von 2 Theorie-Elementen

Komplizierter wird die Gähdesche Formulierung schon für drei-elemen-tige Netze, weil die Netzstruktur entweder linear (Gähde 1989, 100)oder eine Verzweigung (Gähde 1989, 102) sein kann, wonach sich dieInklusionsbeziehungen in der Gähdeschen Formulierung jeweils zu rich-ten haben. Für allgemeine Netze N = (Ti)iJ wird die Formulierung derempirischen Behauptung (EB) dann noch komplizierter (s. Gähde 1989,119).150 Hier erweisen sich die Einbettungsfunktionen als hilfreich, mitdenen sich (EB) als gradlinige Verallgemeinerung von (*) abfassen läßt:

Empirische Behauptung von NNN(EB) e ℰ(N) j J [e(Ij) TG(Tj)]

Im Faserbündeldiagramm für zwei Theorie-Elemente könnten wir nunim Prinzip die neuerlichen Anforderungen in kanonischer Weise ergän-zen, wodurch die sukzessive Verstärkung der empirischen Behauptunganschaulich wird.

9. Approximationen und erlaubte Unschärfemengen

Es ist eine offensichtliche Tatsache, daß in quantitativen empirischenTheorien Approximationen und Unschärfen an den unterschiedlichstenStellen eine Rolle spielen. Weniger offensichtlich ist dagegen, warum dieWissenschaftstheorie diese Tatsache überwiegend kaum zur Kenntnis ge-nommen hat. Jede quantitative empirische Theorie, die ihre Werte imBereich der reellen Werte ansiedelt, wäre längst falsifiziert, würden wir

150 Dabei hat die Forderung nach einer bijektiven Abbildung von I0 nachX0 für unendliche Mengen auch nicht ganz den erwünschten Effekt.

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die im Experiment ermittelten Werte und die von der Theorie vorherge-sagten als absolut exakte Werte ernstnehmen.151 Physiker arbeiten daherimmer mit bestimmten Unschärfemengen (statt einzelnen Meßwerten et-wa mit „Balken“ oder Intervallen von reellen Zahlen) innerhalb derersie noch von Übereinstimmung sprechen.152 Doch wie beschreibt manmetatheoretisch diese Unschärfen? Oft werden sie nicht als ein Problemdes Verhältnisses von Theorie und Erfahrung betrachtet, sondern manhandelt sie mehr oder weniger unter „Beobachtungsfehler“ oder „Meß-fehler“ ab, als ob der beobachtende Wissenschaftler beim Ablesen ir-gendwelcher Instrumente eines Experiments nicht genau genug hinge-schaut hätte. Doch das trifft das Phänomen kaum, um das es beim The-ma Unschärfen in quantitativen empirischen Theorien geht, denn erstensgibt es digitale Anzeigeinstrumente und zweitens wissen wir, daß wirviele Abweichungen zwischen Theorien und Meßwerten nicht dem Ex-perimentator in die Schuhe schieben können. Damit kommen wir nichtmehr umhin, an dieser Stelle ein Problem der Beziehung zwischen Theo-rie und Empirie zu konstatieren, auf das wir in einer metatheoretischenBehandlung wissenschaftlicher Theorien zu reagieren haben.

Sind die Meßgeräte dafür verantwortlich? Beschreibt eine exakteTheorie eine exakte Wirklichkeit, aber die Ungenauigkeit der Meßinstru-mente verhindert, daß diese exakte Übereinstimmung jemals deutlichwird? Ein derartiger Vorschlag übersieht meines Erachtens zunächst, daßauch das Verhalten der Meßinstrumente, z. B. in der Physik, geradedurch die Theorien beschrieben wird, um deren Exaktheit es uns geht.Zumindest für die Meßgeräte scheinen die Theorien dann keine zutref-fende Beschreibung abzugeben, sondern wir müßten Unschärfen in unse-re Darstellung mit einbeziehen. Daß man die auf Meßverfahren be-schränken sollte, ist natürlich keine plausible Annahme. Daher möchteich den Vorschlag machen, Approximationen in der metatheoretischenBehandlung von Theorien endlich ernst zu nehmen und explizit in unserBild quantitativer Theorien einzubauen, um so ein realistischeres Bildquantitativer Theorien zu zeichnen.

Das scheint mir auch für die diachronische Wissenschaftstheorie spe-ziell zur Beurteilung eines eventuellen Fortschritts in den Wissenschaftenunerläßlich zu sein. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt überdeutlich, daß

151 Für eine Reihe von Beispielen einschließlich einer Klassifikation für ap-proximative Zusammenhänge siehe BMS 323ff.

152 Eine perfekte Übereinstimmung zwischen Daten und Theorie würdenwir nicht als Indiz für eine besonders gute Theorie, sondern für „gefilterte“ oder„getürkte“ Daten betrachten.

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das Fortschreiten der empirischen Wissenschaften nicht als einfache Ku-mulation von Erkenntnissen betrachtet werden kann, sondern viele altePositionen wie das heliozentrische Weltbild oder die Phlogistontheorieganz aufgegeben wurden. In anderen Fällen bauen dagegen Theorien ineinem stärkeren Maße auf den Einsichten ihrer Vorgängertheorien auf,als das in den eben genannten Beispielen der Fall ist. Trotz gewisser Ver-änderungen (oder auch „Revolutionen“) gibt es z. B. in der Mechanikeine relativ kontinuierliche Entwicklung von Newton bis zur speziellenRelativitätstheorie, die in einer wissenschaftstheoretischen Darstellungnicht ignoriert werden sollte und in vielen formalen Untersuchungenpräzisiert wurde. Dabei knüpft die Nachfolgertheorie sowohl begrifflichwie auch in ihren Gesetzen direkt an ihre Vorgängerin an. In diesem Fallspricht man davon, daß sich die alte Theorie auf die neue reduzierenläßt, um die engen Beziehungen der Theorien und die Fortschrittlichkeitder neueren Theorie wiederzugeben. Doch nahezu alle interessantenBeispiele derartiger Reduktionen erwiesen sich nicht als strikte Reduktio-nen der alten auf die neue Theorie, sondern es waren Approximationennötig, um den reduktiven Zusammenhang zu etablieren.

Das ist auch nicht erstaunlich, bringt doch die neue Theorie meistneue Einsichten mit sich, die aufdecken, in welchen Bereichen die alteTheorie noch nicht gut genug war. Sie enthält daher die alte Theorienicht in unveränderter Form, sondern nur noch ungefähr, d.h. sie ent-hält eine zur alten Theorie ähnliche „Teiltheorie“. Diese approximativeEinbettung der alten Theorie in die neue ist daher die zentrale Bezie-hung für eine Explikation von wissenschaftlichem Fortschritt, der nichtnur auf der empirischen Ebene stattfindet, sondern auch mit einer gewis-sen theoretischen Kontinuität einhergeht. Für einige Übergänge ist es ge-rade die Verkleinerung der Unschärfen, in der sich die Fortschrittlichkeitder neuen Theorie ausdrückt, die man nicht nachzeichnen könnte, wür-den wir uns ganz auf die logisch strikten Zusammenhänge beschränken.Unsere Auffassung von Theorien und ihren Beziehungen wird durch dieEinbeziehung von Unschärfen grundlegend verändert; man könnte fastvon einer metatheoretischen „Revolution“ sprechen. Gehören „Ver-schmierungen“ von Theorien nämlich wesentlich zu ihrer Darstellungder Welt und sind nicht bloß „Meßfehler“, so sind Theorien wie die re-lativistischen und die vorrelativistischen nicht nur eng benachbart, son-dern in großen Anwendungsbereichen ununterscheidbar. Sie überlappenin systematischer Weise, so daß wir damit zumindest für die Extensionenihrer Begriffe konstatieren können, daß sie enge Beziehungen aufweisen.

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Theorien geben uns (mathematische) Modelle der Welt, die in einerArt von Isomorphiebeziehung bestimmte Aspekte der Wirklichkeit re-präsentieren sollen, doch diese Beziehung wird nicht als vollkommen be-trachtet. Genauso wie es viele Aspekte der Welt gibt, die in diesen Mo-dellen nicht auftauchen – in der KPM wird die Welt schließlich aufPunkte mit Weg-Zeit Bahnen, Massen und Kräften reduziert –, gibt esimmer Bestandteile der Modelle, mit denen man nicht gedenkt, Aspekteder Wirklichkeit abzubilden; man denke nur an die Phasenräume einerPartikelmechanik (s. dazu auch Friedman 1981, 4 und Bartelborth1994a). Entsprechendes gilt auch für bestimmte Aspekte der Komponen-ten. Die reellen Zahlenräume, die wir in quantitativen Theorien tatsäch-lich vorfinden, besitzen Einiges an Struktur, für das wir keine isomorpheAbbildung mehr postulieren können.

Diese Bemerkung scheint mir auch auf die Kontinuumsannahme die-ser Räume zuzutreffen. Physiker beweisen für diesen Punkt schon seitlangem ein Problembewußtsein, das sich in vielen Äußerungen von Hil-bert bis heute gezeigt hat. So resümiert Günther Ludwig (1978, 52)seine Überlegungen zu dem Thema: „Die kontinuierliche Struktur von Xin MT [der mathematischen Theorie] ist also kein Bild der Wirklichkeit,sondern ein Ausweg aus einer Unkenntnis durch Idealisierung“. AuchPenrose weist (1989, 86) darauf hin, daß wir Entfernungen, die etwa ein1020-tel der Größe eines subatomaren Partikels entsprechen, in physika-lischen Theorien überhaupt keine Bedeutung mehr geben können (ausf.Bartelborth 1994a). Insbesondere gestattet die Kontinuitätsannahme so-gar Grenzwertprozesse, die noch zu viel kleineren (bis zu unendlich klei-nen) Abständen übergehen.

Über welche Gründe verfügen wir aber für die Kontinuumsannahmeim mathematischen Bild unserer Theorien? Da sind meines Wissens nurzwei zu nennen. Der erste ist, daß wir keine bestimmte untere Schrankefür räumliche Abstände kennen, der andere ist, daß wir unsere Differen-tial- und Integralrechnung für kontinuierliche Räume entwickelt haben– sie läßt sich natürlich auch auf diskrete Räume übertragen –, und eseinfach mathematisch bequemer erscheint, mit kontinuierlichen Räumenzu arbeiten. Doch das sind beides keine erkenntnistheoretisch stichhalti-gen Gründe dafür, daß die Kontinuitätsannahme ein wichtiges Merkmalder Beschaffenheit unserer Welt wiedergibt.153

Um die Konflikte zwischen Theorie und Erfahrung, die durch die ge-nannten Abweichungen der Werte entstehen, in der metatheoretischen

153 In Bartelborth (1994a) verweise ich auch noch auf Gründe, die gegeneine solche Interpretation kontinuierlicher Räume sprechen.

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Behandlung von Theorien angemessen berücksichtigen zu können, wur-den im strukturalistischen Theorienkonzept verschiedene Topologienauf der Menge der potentiellen Modelle eingeführt, die unsere intuiti-ven Vorstellungen der Nachbarschaft von Modellen präzisieren sollen.Moulines (1976, 1980 und 1981) hat dazu – wie schon Günther Ludwig(1978, 49ff) – die topologische Konzeption uniformer Strukturen fürsehr allgemeine Fälle von Approximationen eingesetzt. In Bartelborth(1988, 125ff) bevorzuge ich das einfachere Konzept der Quasimetrik füreine Rekonstruktion approximativer Zusammenhänge innerhalb derElektrodynamik, das mir ebenso für die meisten quantitativen Theorieneinsetzbar zu sein scheint. Eine Quasi- oder Pseudometrik wird definiertauf einer Menge M durch eine Distanzfunktion d:

d:MM [0,] ist eine Quasimetrik gdw: x,y,z M gilt:1) d(x,x) = 02) d(x,y) = d(y,x)3) d(x,y) + d(y,z) d(x,z)

Wie sich mit Hilfe einer solchen Quasimetrik intuitive Abstandsbegriffepräzisieren lassen, möchte ich an einem Beispiel skizzieren. Beschreibenwir in der Mechanik z. B. zwei Einteilchensysteme x und y mit den Par-tikeln px und py über denselben Zeitraum T, können wir zunächst mitden Supremumsnormen der Weg-Zeit-Funktionen als Abstandsfunktio-nen beginnen:

a) d(x,y) = suptT s(px,t) - s(py,t) 154

Das wird allerdings unsere Intuitionen zur Distanz solcher physikali-schen Systeme allein kaum abdecken können, bedeutet es doch, das zweiSysteme ähnlich sind, für die der eine Partikel in Spiralen um den ande-ren herumfliegt, also ganz andere Geschwindigkeiten und Beschleuni-gungen aufweist. Diese weiteren Parameter könnte man beide mit ein-bauen und erhielte dann z. B.:

b) d(x,y) = suptT s(px,t) - s(py,t) + suptT s'(px,t) - s'(py,t) +suptT s"(px,t) - s"(py,t),

wobei „s'“ und „s"“ jeweils die erste und zweite Ableitung von s nach derZeit bezeichnen soll. Das ergäbe zunächst eine relativ feine Ordnungvon Nachbarschaftsbeziehungen, die man auch je nach Absicht wieder li-

154 Dabei bezeichne ich die Weg-Zeit-Funktionen aus beiden Modellen derEinfachheit halber mit s, zumal sie sich auf dieselbe Koordinatisierung beziehensollen.

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beralisieren könnte. Um etwa eine galileiinvariante Quasimetrik zu er-halten, würde es sich anbieten, von der speziellen Koordinatisierung undauch davon, wo sich der Partikel bewegt, abzusehen und zum Beispielnur nach den auftretenden Beschleunigungen zu fragen. Je nachdem,wie unsere Abstandsintuitionen sich für verschiedene Untersuchungengestalten, wird man die angemessene Quasimetrik wählen. Kann manzwei Modelle nicht miteinander vergleichen, weil sie über ganz unter-schiedliche Systeme – x mit einem Partikel, y mit 20 – sprechen, hatman die Möglichkeit, den Abstand mit unendlich anzugeben. Sind meh-rere Partikel zu berücksichtigen, können wir etwa das Maximum derentsprechenden Supremumsnormen wählen etc. Enthält ein Modellmehrere Funktionen wird auch über deren Supremumsnormen entweder(gewichtet) aufzusummieren sein oder schlicht ein Maximum davon ge-wählt, je nachdem, was unsere Vorstellungen von Abständen im speziel-len Fall besser wiedergibt.155

Auf eine Besonderheit und einen Vorzug der Abstandsdefinition an-hand einer Quasimetrik gegenüber allgemeineren topologischen Kon-zepten möchte ich noch hinweisen. Da man nicht nur auf der theoreti-schen Ebene der potentiellen Modelle mit Approximationen arbeitenmöchte, sondern ebenso auf der „empirischen“ der partiellen Modelle,hat man in BMS (334ff) versucht, aus den Uniformitäten auf Mp Unifor-mitäten auf Mpp zu gewinnen. Das gelang jedoch nur dadurch daß mansich „oben“ auf sogenannte „empirische Uniformitäten“ beschränkt hat,die jedoch ungeeignet sind, um Abstände im Bereich der theoretischenGrößen wiederzugeben (s. dazu Bartelborth 1988, 119ff). Für Quasime-triken d auf Mp erhalten wir dagegen auf natürliche Weise Quasimetri-ken d’ auf Mpp. Dazu wählen wir auf Mpp die induzierte Quasimetrik, diesich wie folgt definieren läßt:

d’: MppMpp [0,] und für x, y sei:d’(x,y) := inf {d(z,w); z Fx w Fy},wobei mit Fx := {z Mp; r(z) = x} die Faser von x unter r ge-meint ist.

Daß auch d’ eine Quasimetrik ist, läßt sich dann allgemein beweisen:Daß d’ die ersten beiden Bedingungen für Quasimetriken erfüllt, ist offen-sichtlich, so bleibt nur die Dreiecksungleichung nachzuweisen. Dazu ist zu

155 In Bartelborth (1988, 125ff) wird erläutert, wie sich eine Quasimetrikfür Kontinuumstheorien einführen läßt und wie fruchtbar sie für einen Vergleichzwischen vorrelativistischen und relativistischen Theorien ist.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 368

zeigen: Für alle r,s,t Mpp gilt: d’(r,s) + d’(s,t) d’(r,t) oder dementspre-chend (in etwas abgekürzter Schreibweise):

(*) inf {d(x,y)} + inf {d(y’,z’)} inf {d(x’’,z’’)},

wobei die Infima jeweils immer über alle x, x’’ Fr, y, y’ Fs, z’, z’’ Ft

zu nehmen sind. Im folgenden seien alle Größen ebenfalls immer aus denentsprechenden Fasern gewählt. Dann erhalten wir für alle x’’, z’’ und y:

d(x’’,z’’) d(x’’,y) + d(y,z’’) inf {d(x,y)} + inf {d(y’,z’)}.

Da das für alle x’’ und alle z’’ gilt, folgt daraus (*).

Diese induzierte Quasimetrik ist auch in der Praxis – man denke nur anunser Beispiel – leicht anzugeben, resultiert sie doch einfach aus derKombination der Supremumsnormen für die nichttheoretischen Größen.

Anhand der Abstandsfunktion d können wir dann festlegen, welcheAbweichungen wir in welchen Bereichen noch tolerieren wollen. Dassoll in eine (symmetrische) Relation der Verschmierung „~“ einfließen.Zwei potentielle Modelle gelten als zulässige „Verschmierungen“ von-einander, wenn z. B. d(x,y) < 0,01 in bestimmten Einheiten ist, oderwenn d(x,y) kleiner ist als 1% vom räumlichen Durchmesser des be-trachteten Raumgebiets (bezogen auf entsprechende Einheiten) oderähnliche Bedingungen gelten, die natürlich auch bereichsspezifisch er-klärt werden können, so daß für Pendel andere Maßstäbe gelten als fürPlaneten usw. Die erlaubten Verschmierungen sind eventuell von techni-schen Faktoren einzelner intendierter Anwendungen abhängig, also etwavon den zur Verfügung stehenden Meßinstrumenten und der Zugäng-lichkeit des Systeme. Entscheidend für den Gehalt einer Theorie ist da-bei hauptsächlich die Funktion „~“ für die erlaubten Unschärfen, dieuns angibt, welche Abweichungen zwischen Theorie und Empirie jeweilsnoch tolerierbar sind. Damit läßt sich nun auf naheliegende Weise dieempirische Behauptung eines Theorien-Netzes N = (Ti)iJ in approxima-tiver Form formulieren:

Approximative Empirische Behauptung von NNN(AEB) e ℰ(N) j J [e(Ij) ̃ TG(Tj)],

wobei mit „̃“ das approximative Enthaltensein für Mengen auf derGrundlage der Verschmierungsfunktion ~ gemeint ist.156 Das heißt, es

156 Für zwei Mengen A und B gilt A ̃ B gdw: Es gibt eine Menge C, sodaß A ~ C und C B gilt.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 369

gibt eine Menge Aj, die eine Verschmierung von e(Ij) darstellt und inTG(Tj) enthalten ist.

Die Verschmierungsbeziehung „~“ ist aber ebenso zur Untersuchungund Interpretation anderer Beziehungen erforderlich, von denen diewichtigste wohl die der approximativen Reduktion ist, weil sie für unserVerständnis von Fortschritt in den Wissenschaften von grundlegenderBedeutung ist.

10. Zusammenfassung der strukturalistischen Theorienauffassung

Als Kurzübersicht möchte ich alle bisher eingeführten Konzepte derstrukturalistischen Auffassung noch einmal zusammenstellen. Theorienin einem gebräuchlichen Sinn des Wortes bestehen meist aus zahlreichenTheorie-Elementen Ti, die zu einem baumartigen Theorien-Netz N =(Ti)iJ mit einem Basis-Theorie-Element T0 zusammengefügt sind. Weiter-hin können mehrere Netze verbunden in einem Theorien-Holon wie imBeispiel der allgemeinen Relativitätstheorie eine größere Einheit bilden.

Theorie-Elemente

Jedes Theorie-Element T ist eine Struktur der Form:T = <Mp,M,Mpp,C,L,I,~>,

wobei die folgenden mengentheoretischen Beziehungen gelten:(a) M Mp

(b) Mpp ist eine Menge von Substrukturen zu Mp

(c) C Pot(Mp)(d) L Mp

(e) I Mpp

(f) ~ Mp Mp

Die potentiellen Modelle sollen all die Systeme beschreiben, die für dieTheorie von der begrifflichen Struktur her überhaupt als Anwendungs-fälle in Frage kommen, dabei ist jedes potentielle Modell x Mp eineRelationsstruktur <D,R> bestehend aus den Grundmengen D =<D1,,Dn> und den Relationen R = <R1,,Rk> darauf, wobei dieModelle die Teilmenge von Strukturen darstellen, die die Gesetze desTheorie-Elements erfüllen. Die partiellen Modelle sind Substrukturender potentiellen Modelle, die nur die nicht-T-theoretischen Komponen-ten enthalten. Sie bilden die vortheoretische Ebene von T, die man mitder Abschneidefunktion r:Mp Mpp aus den potentiellen Modellen er-

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hält. Die Constraints sollen dagegen die innere Konsistenz von T sicher-stellen und sind daher Mengen von solchen Modellen, die zusammen-passen und folgende Bedingungen erfüllen:

C(T) ist ein Constraint für T gdw.:1) C Pot(Mp(T))2) x Mp(T): {x} C(T)3) C(T)

Außerdem gibt es auch Konsistenzforderungen zwischen verschiedenenTheorie-Elementen, die sogenannten Links, die zwischen n-Theorie-Ele-menten vermitteln sollen.

ℒ(T1,,Tn) Mp(T1) Mp(Tn),

Dabei wird der Effekt auf die empirische Behauptung eines einzelnenTheorie-Elements wie z. B. T1 wird durch die folgende Teilmenge derpotentiellen Modelle von T1 ausgedrückt:

L(T1) := {x Mp(T1); x2 Mp(T2) xn Mp(Tn) mit:<x,x2,,xn> (T1,,Tn)}

Die beiden Ebenen und ihre wichtigsten Komponenten und Zusammen-hänge für ein Theorie-Element sind noch einmal im nebenstehendenMengendiagramm zusammengestellt. Den Zusammenhang dieser Theo-riekomponenten kann man in einem Bild veranschaulichen, das darüberhinaus noch den theoretischen Gehalt TG und den entsprechenden em-pirischen Gehalt EG kennzeichnet.

Theorien-NetzeAus den eben beschriebenen Theorie-Elementen setzen sich die Theo-rien-Netze zusammen, wobei alle Elemente sich als Spezialisierungen ei-nes Basis-Theorie-Elements ergeben. Sie geben uns spezielle Gesetze füreinen eingeschränkten Teilbereich der intendierten Anwendungen. DieSpezialisierungsbeziehung läßt sich daher mengentheoretisch folgender-maßen beschreiben:

T’ ist ein Spezialisierung von T (T’ T) gdw:i) Mp’ = Mp

ii) Mpp’ = Mpp

iii) M’ Miv) C’ Cv) L’ Lvi) I’ I,

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Für ein baumartiges Netz N mit dem Basis-Theorie-Element T0 partiellgeordnet durch die Spezialisierungsbeziehung und J = {0,…,n}ergibtsich:157

N = (Ti)iJ ist ein (baumartiges) Theorien-Netz gdw:(a) Für alle i J: Ti ist ein Theorie-Element.(b) Für alle i J: Ti T0.

Empirische Behauptung von TheorienFür die Bestimmung der empirischen Behauptung von Theorie-Elemen-ten und Theorien-Netzen benötigen wir einige Hilfsbegriffe, wie dentheoretischen Gehalt von T:

TG(T) := Pot(M) C Pot(L)

Durch die Projektionsfunktion r erhalten wir ein entsprechendes Men-gensystem auf der nicht-theoretischen Ebene, das man auch den empiri-schen Gehalt von T nennt:

EG(T) := r[Pot(M) C Pot(L)]

Die empirische Behauptung von T = <K,I>, die besagt, daß alle inten-dierten Anwendungen der Theorie (zusammengefaßt in I) sich in gleich-zeitig und in konsistenter Weise um theoretische Komponenten zu ak-tualen Modellen erweitern lassen, läßt sich dann schreiben:

I EG(T),

oder auch mit Hilfe der Einbettungsfunktionen ℰ von T:

ℰ(T) := {e:Mpp Mp; mit r ∘ e = idMpp}

wird daraus schließlich:

Empirische Behauptung von T:e ℰ(T) mit: e(I) TG(T)

Das läßt sich ausdehnen auf Einbettungsfunktionen für ganze Netze N =(Ti)iJ von Theorie-Elementen, und es ergibt sich dann für die empiri-sche Behauptung ganzer Netze N:

Empirische Behauptung von N(EB) e ℰ(N) j J [e(Ij) TG(Tj)]

157 Neben den strikten Spezialisierungen stoßen wir auch manchmal auf ap-proximative Spezialisierungen, so etwa im Falle der Elektrodynamik (s. Bartel-borth 1988).

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 372

Wenn man nun noch die Approximationen berücksichtigt, die jede empi-rische Behauptung begleiten, erhalten wir anhand der tolerierbaren Ver-schmierungen die:

Approximative Empirische Behauptung von N(AEB) e ℰ(N) j J [e(Ij) ̃ TG(Tj)],

die den Gehalt des gesamten Theorien-Netzes zum Ausdruck bringt unddabei alle Komponenten von Theorien berücksichtigt.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 373

VIII Wissenschaftliche Erklärungen

A. Erkenntnistheoretische Funktionen von Erklärungen

In früheren Kapiteln der Arbeit besonders in (IV) hatte ich argumentiert,daß wir für begründete Meinungen immer auf ein kohärentes Netz vonÜberzeugungen angewiesen sind, in dem Theorien oder zumindest allge-meine Überzeugungen eine verbindende Rolle zu übernehmen haben.Mit Hilfe der durch sie verfügbaren Erklärungen konnten Beobachtun-gen und andere Bestimmungsstücke unseres Wissens in einen indirektenBestätigungszusammenhang gebracht werden, der gerade Kohärenz aus-macht. Theorien erwiesen sich dabei insbesondere in den Wissenschaf-ten als Gebilde mit einer komplizierten inneren Struktur, die sich amleichtesten durch Tupel von Modellmengen darstellen läßt (s. VII). WasErklärungen sind, wurde bisher allerdings noch nicht beantwortet. Dochimmerhin verfügen wir über viele klare Beispiele für gute und schlechteErklärungen und besitzen überdies allgemeine Vorstellungen von Erklä-rungen, die uns nun für eine Präzisierung des Erklärungsbegriffs anleitenwerden. Dabei soll die kohärenzstiftende Funktion von Erklärungenzum Maßstab erhoben werden, um die geeigneten Explikationen des Er-klärungsbegriffs von weniger angemessenen zu trennen. Die Erkenntnis-theorie steckt somit den Rahmen ab, den Erklärungen mit Inhalt zu fül-len haben.

Natürlich verlangen wir von der gesuchten Explikation paradigmati-sche Beispiele von Erklärungen aus dem Alltag und den Wissenschaftenzu erfassen. Zwar kann man sich in bestimmten Fällen dazu entschlie-ßen, einige Zusammenhänge, die wir bisher für erklärend hielten, nunals solche zurückzuweisen, aber man kann das nicht unbegrenzt tun,ohne den Anspruch aufzugeben, eine Explikation von „Erklärung“ vor-zulegen. Der Test einer Erklärungstheorie an Beispielen von Erklärungenwird also eine bedeutsame Rolle spielen. Aber er ist in der bisherigen Er-klärungsdebatte zu stark in den Vordergrund getreten. Die Diskussionenum eine angemessene Erklärungstheorie haben sich fast ausschließlich aneinzelnen meist noch nicht einmal realistischen Beispielen orientiert. Da-

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 374

mit ließ man größere wissenschaftsphilosophische oder erkenntnistheo-retische Zusammenhänge einfach außer Acht.

Ein anderer Aspekt für eine moderne Erklärungstheorie, der in denletzten Jahren immer stärker in den Blick genommen wurde, ist der Zu-sammenhang von Erklärungen und Verstehen. Ein wesentliches Ziel wis-senschaftlichen Erkenntnisstrebens ist es, Einblicke in die Welt und ihrFunktionieren zu geben, die es gestatten, unsere Umwelt zu verstehen.Das beinhaltet dann meist auch, daß wir sie beeinflussen oder sogar be-herrschen können, wofür die technische Entwicklung unseres Jahrhun-derts ein beredtes – wenn auch nicht immer wünschenswertes – Zeugnisablegt.

Da die Explikation von Erklärung im wissenschaftlichen Bereich ih-ren Schwerpunkt haben soll – denn hier finden sich die typischen undexpliziten Exemplare von Erklärungen –, geht es mir in erster Linie umein wissenschaftliches Verstehen von Vorgängen oder Tatsachen. Wissen-schaftliche Erklärungen sollten also in der Lage sein, wissenschaftlichesVerstehen zu befördern. Eine typische Frage könnte in diesem Zusam-menhang etwa lauten: Ich verstehe nicht, warum in Lebewesen nur diesogenannten L-Aminosäuren zu finden sind und nicht die chemischgleichwertigen D-Formen. Kannst Du mir das erklären? Oder: Warumlaufen die Planeten auf Ellipsenbahnen um die Sonne? Das verstehe ichnicht. In all diesen Fällen versprechen wir uns von Erklärungsepisoden,daß sie das Verstehen eines wissenschaftlichen Sachverhalts zur Folge ha-ben. Die Erklärungen, um die es dabei geht, sind typischerweise – abernicht ausschließlich, wie wir noch sehen werden – Antworten auf War-um-Fragen.

B. Wissenschaftliches Verstehen

Was aber ist mit wissenschaftlichem Verstehen gemeint? Schon Hempel(1977, 148ff) untersuchte diese Frage und beschäftigte sich mit der oftdazu geäußerten Ansicht, daß eine Erklärung die Verwirrung des Frage-stellers beseitigen soll, indem sie ein Phänomen, das er nicht versteht,auf uns Vertrautes zurückführt.158 Diese Ansicht, die insbesondere vonBridgeman vertreten wurde, hat eine ganze Reihe von Beispielen auf ih-rer Seite. Etwa die in der Physik häufig anzutreffenden Versuche, mecha-nische Modelle für physikalische Vorgänge zu finden. Das reicht von

158 Siehe auch die entsprechende Diskussion bei Friedman (1988, 177ff).

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 375

Analogien zwischen Licht und Wasserwellen über Maxwells mechani-sche Modelle des Äthers und Bohrs Atommodell als einem kleinen Pla-netensystem bis hin in die Thermodynamik, die man durch einen Ver-gleich mit sich elastisch stoßenden Billiardbällen zu verstehen hofft. Ge-rade für den Bereich der wissenschaftlichen Erklärungen besitzt die Zu-rückführung auf Vertrautes aber auch mindestens genauso viele Gegen-beispiele. Viele Phänomene unseres Alltags vom Sonnenaufgang und hel-len Strahlen der Sonne, über den Regenbogen, dem Wachsen der Pflan-zen und Tiere bis hin zu dem Funktionieren unserer elektrischen Gerätesind uns sehr vertraut. Wir können aber deshalb noch nicht sagen, wirhätten sie auf einem wissenschaftlichen Niveau verstanden. Außerdemwerden gerade diese relativ vertrauten Phänomene häufig durch uns vielunvertrautere Theorien erklärt, wobei insbesondere die Quantenmecha-nik an prominenter Stelle zu nennen ist, die in der heutigen Physik einenausgezeichneten Platz einnimmt.

Statt Zurückführung auf Vertrautes möchte ich daher eher kohärenteEinbettung in unser Überzeugungssystem als charakteristisch für wissen-schaftliches Verstehen vorschlagen. Die Zurückführung auf Vertrautesbestand in der Regel in dem Verbinden zweier Vorgänge, die vorher iso-liert nebeneinander standen. Wir zeigen für Wellenvorgänge im Wasserund bei elektromagnetischen Phänomenen, daß sich viele Phänomenewie Interferenz oder Beugung in beiden Bereichen strukturell gleich ver-halten. Das Entscheidende daran ist, daß wir sie unter eine gemeinsameTheorie der Wellenphänomene subsumieren. Hempel (1977, 162) nenntdazu das Beispiel von Gauß, der eine explizite Theorie der Potential-kräfte für Gravitations-, elektrische und magnetische Kräfte entwickelthat. Diese Verknüpfung erhöht für die verschiedenen beteiligten Berei-che ihre Kohärenz in unserem Überzeugungssystem. Alle bekannten Ei-genschaften solcher konservativen Kräfte, wie die Wegunabhängigkeitder Energiebilanz, können nun durch die abstraktere allgemeine Theoriekonservativer Kräfte erklärt werden. Diese Erklärung auf recht abstrak-tem Niveau erhöht eindeutig die Anzahl der inferentiellen Zusammen-hänge zwischen Überzeugungen, die zunächst unverbunden nebeneinan-der standen. Dabei kann eines der Phänomene vertrauter und damit be-reits in unserem Meinungssystem besser verankert sein, so daß die epi-stemische Stützung stärker das andere betrifft, dessen kohärente Einbet-tung noch zu wünschen übrig läßt. Die Überlagerung von Wasserwellenist uns wahrscheinlich so vertraut, daß wir für das Vorliegen und die Be-schreibung dieses Phänomens durch ihren Zusammenhang zur Überlage-rung elektromagnetischer Wellen keinen erkenntnistheoretischen Ge-

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winn erwarten, während das für das Verständnis der elektromagneti-schen Phänomene durchaus der Fall ist.

Natürlich erfolgt eine Verstärkung der Einbindung in unsere Über-zeugungssyteme aber auch in der anderen Richtung von den wenigervertrauten zu den vertrauteren Vorgängen. Insbesondere ist der Vertrau-theitsgrad kein zuverlässiger Maßstab für die Kohärenz der Einbettung.Das Strahlen der Sonne ist uns zwar durch alltägliche Wahrnehmungensehr vertraut, aber ein wissenschaftliches Verständnis erfordert danebenauch eine theoretische Einordnung, die in diesem Fall in einer kausalenErklärung zu suchen ist. Die liefert uns erst die Quantenmechanik mitihrer Beschreibung des „Wasserstoffbrennens“ der Sonne. Die Quanten-mechanik ist uns zwar im Alltag nicht vertraut, aber sie ist nichtsdesto-weniger erkenntnistheoretisch hervorragend in unser wissenschaftlichesWissen eingebettet und besitzt daher die Kraft, auch die wissenschaftli-che Einbettung der Sonnenvorgänge wesentlich zu befördern. Die Be-schreibung vom Verstehen als kohärenter Einbettung in unser Überzeu-gungssystem kann damit beide Klassen von Beispielen abdecken und un-terstreicht noch einmal die Bedeutung des allgegenwärtigen Kohärenzge-dankens.

Außerdem paßt die Konzeption von kohärenter Einbettung als Ver-stehen auch gut zur Ansicht von Lambert (1988, 304ff), für den wissen-schaftliches Verstehen einer Tatsache E darin besteht, zu zeigen, wie E ineine Theorie T hineinpaßt. Das Einbetten einer Tatsache in eine Theorieist ein wesentlicher Spezialfall wissenschaftlichen Verstehens im Sinneder kohärenten Einbettung in unser ganzes Überzeugungssystem. In eini-gen Fällen, so z. B. beim Verstehen historischer Daten, können wir aller-dings auch von Verstehen sprechen, ohne daß wir eine bestimmte Theo-rie zitiert hätten oder auch nur zitieren könnten, in die sich diese Dateneinpassen ließen. Dabei stehen zwar oft allgemeine Modelle menschli-chen Verhaltens im Hintergrund, die lassen sich aber wohl nicht in ge-radliniger Weise zu einer bewährten wissenschaftlichen Theorie ausbau-en.

Ein Argument von Hempel (1977, 149) gegen die Vorstellung, daßErklärungen eine Zurückführung auf Vertrautes anzubieten hätten, sollnoch erwähnt werden, weil es sich vielleicht auch gegen die Konzeptionder kohärenten Einbettung wenden ließe. Hempel weist darauf hin, daßnach dieser Konzeption Erklärungen auf Personen zu relativieren sind,während wissenschaftliche Erklärungen sich für ihn als objektive Bezie-hungen darstellen. Dieser Einwand trifft meines Erachtens die angegrif-fene Position nicht wirklich. Welche Erklärungen uns offenstehen, hängt

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natürlich immer davon ab, über welche Theorien wir bereits verfügen,und ist daher auch in diesem harmlosen Sinn personenrelativ, weil ver-schiedene Personen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Theorienakzeptieren. Doch damit werden Erklärungen selbst noch nicht eine per-sonenrelative und subjektive Angelegenheit. Entsprechendes läßt sich et-wa von den sicher objektiven logischen Schlüssen sagen. Welche ich tat-sächlich ziehen kann, hängt von meiner Prämissenmenge ab und wie ein-fallsreich ich im Durchführen logischer Beweise bin. Davon bleibt unbe-rührt, daß deduktive Zusammenhänge eine objektive Beziehung zwi-schen Aussagenmengen sind. Entsprechendes gilt auch für den objekti-ven Teil in Erklärungen, wie wir später sehen werden. Nur über welchewir verfügen, ist von der jeweiligen Person abhängig. Für wissenschaftli-che Erklärungen tritt dieses Phänomen der Personenrelativität schon des-halb nicht so stark in Erscheinung wie für Alltagserklärungen, weil es ei-nen großen Bereich wissenschaftlich akzeptierten Standardwissens gibt,so daß beträchtlich abweichende Meinungen und Erklärungen oft nichtmehr als wissenschaftlich zu betrachten sind. Durch diese gemeinsameBasis für Ansichten der Wissenschaftlergemeinschaft (auch auf der Ebeneder wissenschaftlichen Methodologie) herrscht eine relativ große Einig-keit, was als wissenschaftliche Erklärung zu gelten hat und was nicht.Dieses Phänomen mag Hempel über den Punkt der Abhängigkeit vomjeweiligen Wissenstand hinwegtäuschen, aber er liegt natürlich auch hiervor. Zumindest für meine Einbettungskonzeption von Verstehen habenwir jedenfalls keinen Grund anzunehmen, daß die Personenrelativitätüber dieses harmlose Maß hinausgeht.

C. Die klassische Erklärungskonzeption

Ausgangspunkt nahezu aller heutigen Debatten um Erklärungen ist dieklassische Konzeption wissenschaftlicher Erklärungen von Hempel undOppenheim (1948): das deduktiv-nomologischen Modells (kurz: DN-Schema) von Erklärung.159 Auch wenn hier die Idee zum erstenmal mitder gebotenen Klarheit ausgedrückt wurde, findet sie sich schon vorherbei Carnap oder auch bei Popper. Der Grundgedanke Hempels ist rechtelementar: Eine Erklärung ist demnach ein Argument, das uns angibt,

159 Der klassische Aufsatz von 1948 wurde in den Band „Aspekte wissen-schaftlicher Erklärungen“ (1977) integriert, auf den ich mich im folgenden stüt-zen werde.

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warum ein zu erklärendes Ereignis zu erwarten war. Natürlich ist nichtjedes beliebige Argument schon eine wissenschaftliche Erklärung, wes-halb dieser Gedanke weiter spezifiziert werden muß. Die erste zusätzli-che Anforderung Hempels ist die nach einem Naturgesetz unter den Prä-missen des Arguments, was geradezu dokumentieren soll, daß es sich umeine wissenschaftliche Erklärung handelt. Ein weiterer grundlegenderPunkt ist die Forderung, der Schluß im Argument müsse ein deduktiverSchluß sein. Für alltägliche Argumentationen lassen sich nur schwer ent-sprechend präzise Standards für eine Beziehung zwischen Prämissen undKonklusion finden, aber für wissenschaftliche Erklärungen verlangt dasDN-Schema den strengstmöglichen, nämlich den des logisch gültigenSchlusses. Wissenschaftliche Erklärungen eines Ereignisses sind folglichlogische Subsumptionen unter Naturgesetze.

Im allgemeinen reichen Naturgesetze allein natürlich nicht aus, umein konkretes Ereignis abzuleiten, weil sie nur angeben, welche Weltver-läufe möglich sind und nicht, welche tatsächlich realisiert werden. Hem-pels erstes Beispiel (1977, 5ff), das ein uns vertrautes Phänomen zumGegenstand hat, soll diesen Aspekt von Erklärungen deutlich machen.Wenn ich ein Wasserglas aus dem heißen Seifenwasser herausnehme undumgekehrt auf den Tisch stelle, kommen unterhalb des Glasrandes Sei-fenblasen hervor, die zunächst größer werden und sich später wieder zu-rückziehen. Schon John Dewey hatte eine Erklärung für dieses Phäno-men anzubieten: Die anfangs noch kalte Luft wird von dem warmenGlas erwärmt, dehnt sich aus und quillt unter dem Glasrand hervor, wo-durch der zwischen Glas und Tisch befindliche Seifenfilm Blasen bildet.Später kühlen Glas und Luft darin ab, die Luft zieht sich zusammen unddie Blasen schrumpfen wieder. Implizit bezieht man sich in dieser Erklä-rung auf Naturgesetze etwa über die Ausdehnung von Gasen bei Erwär-mung und den Wärmeaustausch von Körpern mit unterschiedlicherTemperatur. Daneben werden aber genauso Angaben über die Startbedin-gungen des Vorgangs benötigt, wie die Ausgangstemperatur des Glasesund der in ihr befindlichen Luft, sowie das Vorhandensein von Seifen-wasser. Diese werden als Antezedenzbedingungen neben den Gesetzenstehen, um das Explanandumphänomen abzuleiten. Das DN-Schema er-hält damit nach Hempel (1977, 6) die folgende Gestalt:

DN-Schema der wissenschaftlichen ErklärungA1,…, An

ExplanansG1,…, Gk

E Explanandum-Satz

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Hierbei stehen die Ai für singuläre Antezendenzsätze und die Gi für dieverwendeten Gesetze. Neben den eher formalen Anforderungen an dieStruktur von Erklärungen gibt Hempel noch zwei inhaltliche Adäqua-theitsbedingungen an. Die Sätze des Explanans sollen empirischen Gehaltbesitzen, denn es geht Hempel um naturwissenschaftliche Erklärungenempirischer Phänomene. Außerdem sollen die Sätze wahr sein. Dannspricht Hempel (1977, 7) von einer wahren Erklärung und anderenfallsvon einer bloß potentiellen DN-Erklärung.

Mir geht es im Unterschied zu Hempel natürlich in erster Linie umeine Explikation der potentiellen Erklärung, denn die (potentiellen) Er-klärungen sollen im Rahmen dieser Arbeit erst als Indikatoren dienen,mit denen wir der Wahrheit auf die Schliche kommen wollen. Darunterfallen dann auch Wie-möglich-Erklärungen, die neben den Antwortenauf Warum-Fragen einen Großteil der Erklärungen stellen. Auch Salmon(s. 1989, 137ff) und andere Wissenschaftstheoretiker glauben inzwi-schen nicht mehr, daß sich im Prinzip alle Erklärungen als Antwortenauf Warum-Fragen darstellen lassen.

Für eine große Zahl wissenschaftlicher Erklärungen konnten Hem-pel und seine Nachfolger zeigen, daß sie recht genau dem DN-Schemader Erklärung entsprechen. Trotzdem ergaben sich von Beginn an zahl-reiche Schwierigkeiten für das Hempelsche Modell, von denen ich eini-ge, die von Bedeutung für den Fortgang der Debatte um eine Explikati-on von „wissenschaftlicher Erklärung“ sind, nun besprechen möchte.160

1. Erste Probleme des DN-Schemas

a) Das Problem der Gesetzesartigkeit

Ein erstes und offensichtliches wissenschaftstheoretisches Problem desDN-Schemas ist es, genauer zu bestimmen, was unter einem Naturgesetzzu verstehen ist. Bekanntlich ist nicht jede Allaussage wie

(*) Alle Münzen in der Tasche von Fritz sind aus Silber.

schon ein Naturgesetz. Auf das Problem, Bedingungen für Gesetzesartig-keit zu formulieren, hat sich schon Hempel (1977) eingelassen, aberseine Hinweise (1977, 10), daß sie eine wesentlich generelle Form haben

160 Eine ausführliche systematische Darstellung der verschiedenen Debattenzu diesem Thema findet sich in Stegmüller (1969) und eine Darstellung der ver-schiedenen historisch-systematischen Phasen der Erklärungsdebatte in Salmon(1989) mit einigen Ergänzungen durch Fetzer (1990).

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sollen, nicht aus logischen Gründen auf eine endliche Menge beschränktsein dürfen und ebensowenig auf spezielle Individuen (1977,12) bezugnehmen dürfen, reichen aus heutiger Kenntnis des Problemfeldes Geset-zesartigkeit für eine Lösung kaum aus. Da die Forderung nach einemGesetz in den Explanansbedingungen jedoch eine der wenigen substan-tiellen Klauseln des DN-Schemas darstellt, ist ihre Explikation ein uner-läßliches Erfordernis für die DN-Konzeption.

Die akzidentelle Allausage (*) ist offensichtlich ungeeignet, zu erklä-ren, warum bestimmte Münzen in der Tasche von Fritz aus Silber sind.Ein weiterer Hinweis auf ihre Unbrauchbarkeit findet sich in ihrer Unfä-higkeit, Voraussagen oder irreale Konditionalsätze zu stützen, was geset-zesartigen Aussagen dagegen gelingt. So wird man auf der Grundlagevon (*) kaum schließen dürfen, daß auch in Zukunft die Münzen in derTasche von Fritz alle aus Silber sein werden oder sogar, daß eine be-stimmte Münze, wäre sie in Fritz Tasche gewesen, auch aus Silber gewe-sen wäre. Entsprechende Schlüsse sind auf der Grundlage von Naturge-setzen dagegen typischerweise möglich. Das Newtonsche Gravitations-gesetz gestattet uns zu bestimmen, mit welcher Kraft ein Körper angezo-gen würde, würde man ihn im Schwerefeld der Erde deponieren. Leidererlaubt diese Eigenschaft von Gesetzen, irreale Konditionalaussagen zubestätigen, ebenfalls keine einfache Charakterisierung von Gesetzesartig-keit, da irreale Konditionalsätze sich ihrerseits hartnäckig einer Analysezumindest mit logisch unbedenklichen Mitteln widersetzen. Quine äu-ßert sogar Zweifel, ob sie überhaupt wahrheitswertfähig sind, und weißdas mit einem simplen Beispiel zu untermauern. Welcher von den fol-genden beiden Sätzen hätte denn eher Anspruch darauf, wahr zu sein?

1) Wenn Bizet und Verdi Landsleute gewesen wären, dann wären sieFranzosen gewesen.

2) Wenn Bizet und Verdi Landsleute gewesen wären, dann wärensie Italiener gewesen.

Dabei scheint es sich nicht um eine Tatsachenfrage zu handeln, wodurchdie irrealen Konditionalsätze weiter ins Zwielicht geraten. Auch andereVorgehensweisen zur Bestimmung von Gesetzesartigkeit werden kontro-vers diskutiert, zumal beispielsweise die schon erwähnten Goodmans-chen Pseudogesetze alle syntaktischen Merkmale von echten Gesetzenhaben und trotzdem intuitiv nicht als Naturgesetze gelten können. Unge-achtet aller Fortschritte in diesem Gebiet, denen ich an dieser Stellenicht weiter nachgehen möchte, bleibt hier ein Bedenken gegen das DN-

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 381

Schema zurück, denn es gibt immer noch keine zufriedenstellende Lö-sung für das Problem der Gesetzesartigkeit.

b) Sind Gesetze für Erklärungen notwendig?

Hempel kann auf das Problem der Gesetzesartigkeit zumindest mit demHinweis reagieren, daß, wenn wir auch nicht über ein Kriterium für Ge-setzesartigkeit verfügen, wir doch in konkreten Fällen meist entscheidenkönnen, ob es sich um ein Gesetz handelt oder nur eine akzidentelleVerallgemeinerung. Das mag uns zunächst für eine Explikation von wis-senschaftlichen Erklärungen genügen. Doch wie essentiell sind Naturge-setze wirklich für wissenschaftliche Erklärungen? Tatsächlich stoßen wirim Alltag und in der Wissenschaft auf eine ganze Reihe von Erklärun-gen, die auf den ersten Blick ohne Gesetze auszukommen scheinen.Hempel (1977,170ff) geht selbst auf derartige Fälle ein. Er untersuchtetwa die Erklärung des Historikers Gottlob, wie es zur Sitte des Ablaß-verkaufs kam. Zusammengefaßt stellt Gottlob diese Institution als eineMaßnahme der Päpste im Kampf gegen den Islam und knappe Kassendar: Während den mohammedanischen Kriegern zugesagt war, daß sienach einem Tod in der Schlacht in den Himmel gelangen würden, muß-ten die Kreuzritter ewige Verdammnis befürchten, wenn sie nicht regel-mäßig Buße für ihre Sünden taten. Um sie hier zu entlasten, versprachJohannes VIII im Jahr 877 den Kreuzrittern für den Fall ihres Ablebensin der Schlacht die Absolution ihrer Sünden. Dieser Kreuzablaß wurdedann auch auf die ausgedehnt, die zwar nicht an den Kreuzzügen teil-nehmen konnten, aber sie mit Geld unterstützten. Auch nach einem Ab-flauen der Kreuzzüge wollte die Kirche diese zusätzliche Möglichkeitder Geldschöpfung nicht aufgeben und da die Gläubigen ebenfalls sehran der Sitte des käuflichen Sündenerlasses interessiert waren – war die-ser Weg für viele doch erfreulicher, als die unangenehmen kirchlichenBußstrafen auf sich zu nehmen, ganz zu schweigen vom drohenden Fege-feuer nach dem Tode –, kam es letztlich zu einer weiteren Verbreitungdes Ablasses.

i. Unvollständige Erklärungen

Hempel (1977, 172) gesteht sehr wohl zu – und das ist auch offensicht-lich –, daß diese Schilderung das Verständnis eines geschichtlichen Phä-nomens durchaus erweitern kann und eine Form von Erklärung dafürbietet, obwohl sie nicht dem DN-Schema genügt. Zunächst sind solchegenetischen Erklärungen Schilderungen, wie in einer Abfolge von Zu-

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ständen jeweils einer zum nächsten führt (was man auch für physikali-sche Prozesse kennt), aber es werden für die Übergänge keine Gesetzebemüht, sondern nur dargestellt, daß der Übergang verständlich undplausibel ist. Hempel gibt eine Reihe von Möglichkeiten an, wie derarti-ge Beispiele mit seinem DN-Schema zu harmonisieren sein könnten. Dieerste ist die der elliptischen Erklärung (Hempel 1977, 128). Man ver-zichtet in einigen Fällen darauf, explizit bestimmte Gesetze anzugeben,über die wir aber im Prinzip verfügen und die in der elliptischen Formu-lierung der Erklärung implizit mitgedacht werden.161 Dieser Auswegscheint uns jedoch in vielen Fällen, wie auch dem Hempelschen Beispiel,für eine genetische Erklärung nicht offen zu stehen, weil wir nicht überentsprechende historische Gesetze verfügen, um die wir die Einzelerklä-rungen der genetischen Erklärung so ergänzen könnten, daß jeweils de-duktiv-nomologische Erklärungen entstünden.

Die zweite Rückzugsmöglichkeit sucht Hempel (1977, 128ff) in derpartiellen Erklärung. Zur Erläuterung dieses Konzepts gibt uns Hempelein Beispiel für eine Erklärung Freuds aus seiner Psychopathologie desAlltagslebens, in der uns Freud schildert, wieso es seiner Theorie nach zudem Fehler kam, daß er inmitten seiner geschäftlichen Aufzeichnungenmit Daten des Septembers eine mit dem Datum „Donnerstag, den 20.Oktober“ notiert hat. Freud schreibt dazu:

Es ist nicht schwierig, diese Antizipation aufzuklären und zwar alsAusdruck eines Wunsches. Ich bin wenige Tage vorher frisch vonder Ferienreise zurückgekehrt und fühle mich bereit für ausgiebigeärztliche Beschäftigung, aber die Anzahl der Patienten ist noch ge-ring. Bei meiner Ankunft fand ich einen Brief von einer Krankenvor, die sich für den 20. Oktober ankündigte. Als ich die gleiche Ta-geszahl im September niederschrieb, kann ich wohl gedacht haben:Die X. sollte doch schon da sein; wie schade um den vollen Monat!und in diesem Gedanken rückte ich das Datum vor.

Zunächst ist diese Erklärung elliptisch, weil kein Gesetz genannt wird,obwohl eine Art von Gesetz Freud dabei vorschwebt, das Hempel cha-rakterisiert:

Wenn jemand einen starken, vielleicht auch unterbewußten Wunschhat und einen Schreib-, Sprech-, oder Erinnerungsfehler begeht,

161 Ein typisches Beispiel dafür stellt Hempels erster Fall der quellendenSeifenblasen dar.

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dann nimmt dieser Fehler eine Gestalt an, in der der Wunsch ausge-drückt und eventuell symbolisch erfüllt wird. (Hempel 1977, 129)

Doch darüber hinaus kann das Gesetz nach Hempel nicht erklären, war-um der Fehler zu einer bestimmten Zeit auftrat oder warum er geradediese Gestalt annimmt und nicht eine der vielen anderen Möglichkeiten.Damit ist die Freudsche Erklärung nur partiell, denn sie erklärt eigent-lich weniger als das konkrete Ereignis, zu dessen Erklärung Freud sichaufgemacht hatte. Da jede Erklärung eines bestimmten Ereignisses wohlnicht alle Aspekte dieses Ereignisses abzuleiten vermag, vertritt Hempel(1977, 136ff) die Ansicht, daß wir nicht für ein konkretes Ereignis in al-len seinen Aspekten und Einzelheiten eine Erklärung verlangen dürfen,sondern nur für die Aspekte eines Ereignisses, die im Explanandum Satzbeschrieben sind. Damit ist aber nicht gemeint, wogegen sich Hempel(1977, 139) explizit wendet, daß ein bestimmter Typ von Ereignis er-klärt wird, sondern nur daß bestimmte Aspekte eines konkreten Einzeler-eignisses in einer wissenschaftlichen Erklärung erklärt werden.

ii. Statistische Erklärungen

Doch auch der Fall der partiellen Erklärung liegt für historische Erklä-rungen wie dem oben beschriebenen Beispiel nicht vor, denn es wurdenkeine impliziten wissenschaftlichen Gesetze mitgedacht, die zumindestbestimmte Aspekte der mittelalterlichen Ablaßpraxis deduktiv erklären,und auch im Fall der Freudschen Erklärung müßte man das Gesetz ver-mutlich vorsichtiger formulieren, was Hempel (1977, 173) schließlichzu seinem dritten und gewichtigsten Ausweg führt. Hempel spricht da-von, wir hätten in diesen Fällen implizite statistische Gesetze, die uns dieErklärungen liefern, und ergänzt das DN-Schema für Erklärungen umdie induktiv-statistischen Erklärungen (Hempel 1977, 60ff), die von ih-rer Gestalt her dem DN-Schema sehr nahe kommen. Freud würde ver-mutlich nicht behaupten wollen, daß die unterbewußten Wünsche im-mer zu Fehlleistungen führen müssen, sondern nur, daß sie es häufigoder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit tun. Das IS-Schema erhältdann die Gestalt:

Induktiv-Statistische Erklärung (IS-Schema)W(G/H) > p

GaHa (mit Wahrscheinlichkeit > p)

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Dabei soll W(G/H) > p bedeuten, daß die Wahrscheinlichkeit für dasVorliegen von G bei Vorliegen von H größer als p ist und p sollte nachHempel nahe bei 1 liegen. Der Schluß auf Ha mit Hilfe der Antezen-denzbedingung Ga ist dann natürlich auch nur noch mit der Wahr-scheinlichkeit p zu ziehen.

Jedoch auch dieses dritte Ausweichmanöver ist nicht unproblema-tisch. Zunächst ist es strenggenommen schon eine wesentliche Aufwei-chung des DN-Schemas, weil man die Forderung nach logischer Gültig-keit für den Schluß aufgegeben hat. Aber darüber hinaus ist das IS-Sche-ma für Erklärungen mit einer Reihe von Problemen behaftet, die ich nurskizzieren kann, da die statistischen Erklärungen hier nur am Rande be-handelt werden sollen.

Ein Problem, das Hempel selbst sehr lange beschäftigt hat und dasauch heute noch virulent ist, ist das der Erklärungsmehrdeutigkeit vonIS-Erklärungen. Danach ist das, was in einer solchen Erklärung erklärtwerden kann, stark abhängig davon, auf welche Informationen man sichjeweils stützt. Hempel (1977, 76ff) erläutert sie an folgendem Beispiel.Beziehe ich mich darauf, daß die Streptokokkeninfektion von HerrnMüller mit Penicillin behandelt wird, kann ich seine Genesung dadurchprobabilistisch erklären, daß ein sehr hoher Prozentsatz der Streptokok-kenerkrankten durch Penicillin geheilt werden kann. Hat Herr Mülleraber das Pech von einem penicillinresistenten Streptokokkenstammheimgesucht zu werden, wo die Heilungschancen durch Penicillin mini-mal sind, wirft diese zusätzliche Information den bisherigen inferentiel-len Zusammenhang über den Haufen. Das Explanans von IS-Erklärun-gen ist nicht stabil unter zusätzlichen Informationen und spricht für ver-schiedene Explananda, je nachdem wieviele Informationen wir jeweilsberücksichtigen. Der einzige Ausweg aus diesem Problem, der in nichtwillkürlicher Weise einen bestimmten Informationsstand vorschreibt,scheint Hempels Forderung (1977, 76ff) nach maximaler Spezifizierungim Explanans zu sein, wonach alle zur Verfügung stehenden Informatio-nen zu berücksichtigen sind. Damit sind IS-Erklärungen allerdings im-mer in einer Form auf den jeweiligen Informationsstand zu relativieren,wie das für DN-Erklärungen nicht der Fall ist.

Noch problematischer ist für das IS-Modell jedoch ein Aspekt aufden Salmon schon Anfang der 70er Jahre aufmerksam gemacht hat. Eswird zwar gefordert, daß die statistischen Gesetze hohe Wahrscheinlich-keiten für das Explanandum aussagen, aber nicht, daß sie die Wahr-scheinlichkeit des Explanandums überhaupt erhöhen. So sind statistische„Erklärungen“ der folgenden Form durch das IS-Schema gedeckt:

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(G) Menschen, die erkältet sind, erholen sich mit hoherWahrscheinlichkeit innerhalbvon 14 Tagen, wenn sie Vitamin C nehmen.

(A) Franz war erkältet und nahm Vitamin C.(E) Franz erholte sich von seiner Erkältung in 14 Tagen.(s. Salmon 1984, 30)

Dieses Beispiel hat zwar die Form einer IS-Erklärung, aber ob es sich da-bei tatsächlich um eine Erklärung handelt, ist von Gegebenheiten abhän-gig, die überhaupt nicht angesprochen wurden, nämlich davon, ob dieGabe von Vitamin C tatsächlich Einfluß auf die Dauer der Erkältunghat. Sollte das nicht der Fall sein und fast jeder erholt sich mit hoherWahrscheinlichkeit nach 14 Tagen von einer Erkältung, können wir indiesem Beispiel nicht von einer Erklärung der Genesung von Franz spre-chen. Wir müßten zusätzlich fordern, daß die eingesetzte gesetzesartigeAussage für das Explanandum relevant ist, d.h. die Wahrscheinlichkeitdes Explanandum-Ereignisses erhöht.

Für Salmons Erklärungsmodell der statistischen Relevanz (SR-Mo-dell) ist daher gerade diese Forderung die entscheidende, während dieHempelsche der hohen Wahrscheinlichkeit, die das IS-Schema der de-duktiv-nomologischen Erklärung angleichen sollte, nach Salmon über-flüssig wird. Das trifft auch bestimmte Teile unserer Erklärungspraxisbesser als der Hempelsche Ansatz, denn typischerweise erklären wir ei-nen Lungenkrebs z. B. durch das vorgängige Rauchverhalten des Er-krankten, selbst wenn die Erkrankung nicht mit 95%-iger Wahrschein-lichkeit, sondern nur mit relativ geringen Werten auftritt. Auf Einzelhei-ten des SR-Ansatzes von Salmon möchte ich hier nicht eingehen (s. dazuetwa Salmon 1984, 36ff oder 1989, 62ff), aber bemerkenswert ist einVergleich Salmons (s. dazu 1984, 45) zwischen IS-Konzeption und SR-Konzeption, in dem er noch einmal die grundlegenden Ideen der beidenErklärungsstrategien zusammenfaßt:

IS-model: an explanation is an argument that renders the explanan-dum highly probable.SR-model: an explanation is an assembly of facts statistically rele-vant to the explanandum, regardless of the degree of probability thatresults.

Für die momentane Diskussion ist vor allem bedeutsam, daß das Sal-monsche SR-Erklärungskonzept eine Verbesserung gegenüber dem Hem-pelschen Vorschlag der IS-Erklärung darstellt und dabei gerade ohne Ge-setze auskommt und sich außerdem noch weiter von der Vorstellung ei-

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ner Erklärung als Deduktion des Explanandums entfernt hat, als esschon für das IS-Schema der Fall ist. Damit ist der dritte Ausweg Hem-pels aus dem Vorwurf, daß sein DN-Modell der Erklärung viele tatsäch-liche Erklärungen nicht angemessen beschreibt, der auf statistische Er-klärungen hinauslief, letztlich in einen Vorschlag für statistische Erklä-rungen gemündet, der auf keine Gesetze im Hempelschen Sinn mehr an-gewiesen ist. Auf die Ausgangsfrage, ob Gesetze für Erklärungen immernotwendig sind, müssen wir an dieser Stelle daher mit einem „Nein“antworten.

Außerdem ist ebenfalls fraglich, wie weit das IS-Schema trägt, dennin vielen Fällen, wie den beiden obigen Beispielen aus der Geschichts-wissenschaft und der Psychologie, aber auch z. B. in der Evolutionstheo-rie oder den Sozialwissenschaften verfügen wir nicht über statistischeGesetze, in denen wir Wahrscheinlichkeiten nennen oder auch nur be-gründet abschätzen könnten. Wie hoch ist denn bitte schön die Wahr-scheinlichkeit, daß eine Organisation vom Typus der Kirche in Situatio-nen des entsprechenden Typs so etwas wie den Ablaß von den direkt be-troffenen auf weitere Bevölkerungskreise ausdehnt? Schon wenn manversucht eine gesetzesartige Aussage entsprechenden Inhalts zu formulie-ren, die sich nicht nur auf konkrete Individuen bzw. Institutionen zu ei-nem historischen Zeitpunkt bezieht, gerät man in ernste Schwierigkei-ten, die aber nicht kleiner werden, wenn man auch noch Wahrschein-lichkeiten für derartige Vorgänge abschätzen möchte. Es gibt nur wenigeAnhaltspunkte, in diesen Fällen guter Hoffnung zu sein, daß wir noch zuentsprechenden statistischen Gesetzen kommen werden. Aber selbstwenn Schurz (1983, 128) mit seinem Optimismus Recht haben sollte,daß die methodologischen Besonderheiten der Geschichtswissenschaft eszwar erschweren, historische Gesetze zu gewinnen, das aber keineswegsprinzipiell unmöglich ist, und wir daher auch in diesem Zweig der Wis-senschaften hoffen dürfen, Gesetze zu finden, mit denen sich DN-Erklä-rungen erstellen lassen, bleibt die offene Frage doch: Sind die angegebe-nen Erklärungen in den Geschichtswissenschaften, solange wir keine Ge-setze angeben können, überhaupt keine Erklärungen oder nur nicht sogute Erklärungen wie wir sie mit historischen Gesetzen hätten? Da dasDN-Schema inzwischen umstritten ist, kann es aufgrund seiner eigenenepistemischen Stellung kaum als guter Grund dafür dienen, die zweiteVermutung zurückzuweisen.

Diese entspricht auch besser unserer Vorstellung von Erklärungen alsgradueller Abstufungen fähig, nach der nicht alle Erklärungen gleich gutsind. Die Allgemeine Relativitätstheorie liefert bessere Erklärungen der

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Planetenbewegungen als die Newtonsche Theorie und die wiederumbessere Erklärungen als die Keplersche Theorie usw. Jeder kann sichereine Reihe von Beispielen auch aus dem Alltag für bessere und schlechte-re Erklärungen geben. Trotzdem liefern alle diese Theorien zumindestpotentielle Erklärungen und zumindest die Newtonsche Theorie auchheute noch aktuelle Erklärungen, die für die meisten mechanischen Phä-nomene Geltung haben. Für solche Einschätzungen und Abstufungengibt das DN-Schema freilich keine Anhaltspunkte, denn es kennt nur dasVorliegen von Gesetzen und das Bestehen einer deduktiven Beziehungzwischen Explanans und Explanandum oder das Nichtvorliegen.

iii. Erklärungen in der Evolutionstheorie

Auch Erklärungen im Bereich der Evolutionstheorie haben neben Erklä-rungen in der Geschichtswissenschaft oder der Psychologie häufig nichtdie von Hempel verlangte DN-Struktur. Trotzdem scheinen sie brauch-bare Erklärungen darzustellen, die z. B. erklären können, wie es zu derEntstehung von bestimmten Arten durch natürliche Auslese kam. Die Er-klärungen, die die Theorie erbringen kann und die Erklärungs-zusammenhänge, in die sie eingebettet ist, sind dabei so vielfältig, daßich nur auf einen sehr kleinen Teil davon hinweisen kann. Da sind diezahlreichen Erklärungen für die Entstehung bestimmter Organe als An-passung an die speziellen Umweltgegebenheiten. Schon Darwins WerkDie Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl bietet eine Füllevon Beispielen dafür:

Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlender Nagetiere sind ru-dimentär, zuweilen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Das rührtwahrscheinlich vom Nichtgebrauch her, der vielleicht von der natür-lichen Zuchtwahl unterstützt worden ist. Ein südamerikanisches Na-getier, der Tukutuko oder Ctenomys, lebt noch ausschließlicher un-ter der Erde als der Maulwurf, und ein Spanier, der häufig solcheTiere fing, versicherte mir, daß sie häufig blind seien. Ein Tukutuko,den ich lebend erhielt, war es tatsächlich; wie sich bei der Sektion er-gab, war eine Entzündung der Nickhaut die Ursache. Da häufige Au-genentzündungen jedem Tier schädlich sein müssen und da fernerTiere mit unterirdischer Lebensweise die Augen nicht brauchen, sowird deren verminderte Größe, das Verwachsen der Augenlider unddas Überwachsen mit Pelz ihnen vorteilhaft sein; ist dies aber derFall, so wird die natürliche Zuchtwahl die Wirkungen des Nichtge-brauchs unterstützen. (Darwin 1990, 159f)

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Auch die Abhängigkeit der Ausbreitung bestimmter Arten von Bedingun-gen ihrer Umwelt wird zwanglos durch Darwins Ansichten vom Überle-benskampf erklärt. Darwin (1990, 83ff) gibt etwa an, wie sich die Vege-tation eines Heidegebietes von mehreren hundert Hektar in Staffordshi-re geändert hat, das sich von seiner Umgebung nur dadurch unterschied,daß es vor 25 Jahren eingezäunt wurde. Die angepflanzten schottischenKiefern, konnten sich ausbreiten, während sie in den nichteingezäuntenHeidegebieten nicht Fuß fassen können, weil ihre Sämlinge und kleinenBäumchen sofort vom Vieh abgeweidet werden. In diesem Beispiel sinddie kausalen Mechanismen, die hier am Werk waren, nahezu direkt be-obachtbar, und es kann somit der Darwinschen Vorstellung von demEinfluß des Konkurrenzkampfs auf die Verbreitung von Arten epistemi-sche Unterstützung verleihen.

In ähnlicher Weise kann Darwin eine Reihe von Aspekten der geo-graphischen Verbreitung von Arten erklären, das Auftreten bestimmterVerhaltensweisen von Tieren, das Vorkommen von rudimentären Orga-nen früherer Arten, morphologische Ähnlichkeiten, die Zusammenhän-ge der zahlreichen Fossilienfunde, das Aussterben von Arten und vielesmehr. Dazu sind inzwischen die zahlreichen Zusammenhänge zur Gene-tik und viele weitere z.T. singuläre Fakten bekanntgeworden, wie z. B.das Razematproblem, daß in Lebewesen nur die L-Aminosäuren undnicht auch die chemisch gleichen D-Formen vorkommen (s. Jeßberger1990, 78ff). Eine präzise Darstellung der Erklärungskraft der heutigenEvolutionstheorie könnte nur anhand einer ausführlicheren Rekonstruk-tion der Theorie vorgenommen werden, die ich in dieser Arbeit natür-lich nicht leisten kann.

Klar dürfte aber sein, daß wir trotz der offensichtlichen Erklärungs-leistungen der Evolutionstheorie in keinem der genannten Beispiele überGesetze verfügen, die eine wirkliche Deduktion (selbst keine statistische)der heute zu beobachtenden Arten und ihrer Eigenschaften gestatten.Das scheitert zunächst natürlich schon daran, daß wir die Ausgangssitua-tionen nicht hinreichend genau kennen, was es in vielen Fällen nur er-laubt, wie-möglich-Erklärungen anzubieten. Sie sagen uns, wie es zu be-stimmten Arten und Eigenschaften kommen konnte, wenn die und dievermuteten Bedingungen vorgelegen haben. Daneben haben die evolu-tionären Erklärungen aber auch nicht die Gestalt der Subsumption unterGesetze und gehen auch bei exakter Kenntnis der Ausgangsbedingungen

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nicht in DN-Erklärungen oder IS-Erklärungen über.162 Welche der Erklä-rungen tatsächlich zutreffen, ist wegen der genannten epistemischenSchwierigkeiten nicht immer leicht zu ermitteln, aber Fazit der Diskussi-on bleibt doch, daß wir in vielen Bereichen Erklärungen akzeptieren, diekeine Gesetze benutzen und damit nicht die Struktur des DN-Schemasbesitzen, und es gibt keine metatheoretisch überzeugenden Gründe,diese von vornherein als nichterklärend zurückzuweisen. Von diesen Bei-spielerklärungen ohne Gesetzesprämisse sind vermutlich alle deduktivi-stischen Konzeptionen von Erklärung betroffen, denn ohne strikte Ge-setze können wir nicht erwarten, die Explanandumereignisse logisch ab-leiten zu können. Auf diesen Punkt werde ich später wieder zurückgrei-fen, denn er ist ein Kritikpunkt auch an einigen moderneren Ansätzen inder Erklärungsdebatte.

2. Asymmetrie und Irrelevanz

Im Zusammenhang mit der IS-Erklärung hatten wir schon das Problemirrelevanter Bestandteile in Erklärungen kennengelernt. Doch das bleibtnicht auf statistische Erklärungen beschränkt, sondern findet sich eben-falls für deterministische Erklärungen. Ein für diese Diskussion klassi-sches Beispiel, das auf Kyburg zurückgeht, ist das des verzauberten Tafel-salzes. Auf die Frage, warum sich ein bestimmtes Stück Salz in Wasserauflöst, scheint die Antwort, es sei eine verzauberte Probe Salz und ver-zaubertes Salz löse sich in Wasser auf, keine brauchbare Erklärung zubieten. Auch die Erklärung eines Mannes, daß er nicht schwanger wer-de, weil er die Antibabypille nehme und Männer, die die Antibabypillenehmen, nicht schwanger werden, erscheint uns mehr als ein Irrwegdenn eine Erklärung. Beispiele dieser Art lassen sich zahlreiche konstru-ieren, die sogar die Bedingungen des DN-Schemas erfüllen können, dieaber offensichtlich trotzdem keine Erklärungen darstellen.163 Das DN-Schema gibt uns für diese Fälle keine Anhaltspunkte, warum bestimmteGesetze relevant erscheinen und andere nicht und kann die Pseudoerklä-rungen mit irrelevanter Gesetzesprämisse nicht abweisen. Es ist daher indiesem Punkt mindestens unvollständig.

162 Einen interessanten Vorschlag, wie evolutionäre Erklärungen besser zubeschreiben sind, finden wir in Sober (1983), den ich in Abschnitt (C.2.a.1)schildere.

163 Schurz (1983, 254ff) bietet eine Typisiserung derartiger Fälle mit Bei-spielen an.

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Salmon (z. B. 1984, 89ff) geht noch weiter in seiner Kritik des DN-Schemas und stellt die Frage, wieso solche Irrelevanzen sich zwar für Er-klärungen als desaströs erweisen, nicht aber für Argumentationen. Dasist für ihn ein klarer Hinweis, daß die ganze Hempelsche Konzeption,die Erklärungen als eine Form von Argumenten rekonstruiert, verfehltsein muß. Dem möchte ich nicht weiter folgen, belegt es doch nur, wasinzwischen klar geworden sein sollte, nämlich daß das DN-Modell beiweitem nicht ausreicht, um den Erklärungsbegriff angemessen zu expli-zieren.

Ein anderes Phänomen, das Erklärungen aufweisen, ist das derAsymmetrien. Das inzwischen klassische Beispiel ist das vom Fahnen-mast, dessen Höhe die Länge seines Schattens anhand einiger geometri-scher Überlegungen erklären hilft, während umgekehrt zwar die Höhedes Mastes sich anhand derselben geometrischen Überlegungen und derLänge das Schattens berechnen läßt, wir aber in diesem Fall nicht von ei-ner Erklärung für die Höhe des Mastes reden möchten.164 Ähnliche Bei-spiele lassen sich natürlich auch im wissenschaftlichen Bereich finden, soläßt die von Hubble entdeckte Rotverschiebung der Spektrallinien zwaranhand der Theorie von Doppler einen Schluß auf eine Expansion desWeltalls zu, aber wir würden nicht behaupten, daß sie diese Expansionerklärt. Umgekehrt kann die Ausdehnung des Universums die zu beob-achtende Rotverschiebung als Auswirkungen des optischen Doppleref-fekts erklären. Kennzeichnend für alle Beispiele solcher Asymmetrien ist,daß – um es in der Terminologie des DN-Schemas auszudrücken – be-stimmte Gesetze G zusammen mit einer Antezendensbedingung A einExplanandum E erklären, während umgekehrt A zwar aus G und E her-leitbar ist, aber wir diese Herleitung nicht als Erklärung betrachten wür-den. Doch Hempels DN-Schema gibt uns wiederum keine Anhalts-punkte, weshalb diese beiden Ableitungen in bezug auf ihre Erklärungs-kraft überhaupt zu unterscheiden sind, und kann daher dieses Phänomennicht erklären.

Die beiden genannten metatheoretischen Beobachtungen – das derErklärungsirrelevanz bestimmter DN-Herleitungen wie auch das der Er-klärungsasymmetrien – stellen Anomalien für Hempels Erklärungskon-zeption dar, denen mit den Mitteln seines Ansatzes nicht wirklich zu be-

164 Auch van Fraassens Versuch (1980, 132ff) dieses Phänomen anhand ei-ner netten Geschichte als ein Problem des Kontextes auszuweisen, war nicht er-folgreich, weil die beiden Erklärungen, die er einander gegenüberstellte, nichtwirklich symmetrisch gebildet wurden.

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gegnen ist. Spätere Erklärungskonzeptionen können auch daran gemes-sen werden, ob sie zu diesen Problemen Lösungen anzubieten haben.

3. Grade von Erklärungen

In Hempels DN-Schema, aber auch in vielen späteren Ansätzen, gibt eseigentlich keinen Platz für eine graduelle Bewertung von Erklärungen.Einige Fälle geben uns aber eindeutig bessere Erklärungen als andere,die wir ihrerseits durchaus noch als Erklärungen akzeptieren würden.Das Spektrum reicht von naiven Alltagserklärungen über fortgeschritte-ne Alltagserklärungen bis hin zu hochentwickelten wissenschaftlichenErklärungen. Im DN-Schema gibt es jedoch nur Platz für alles-oder-nichts Forderungen, so daß demnach etwas eine Erklärung ist odernicht.

Eine Mißachtung dieses Punkts der Abstufungen von Erklärungenhat auch wissenschaftstheoretische Konsequenzen. So nutzt van Fraassen(1980, 98ff) sie in einem Argument für seine (instrumentalistische) Posi-tion des konstruktiven Empirismus. Er verweist darauf, daß auch dieNewtonsche Theorie uns die Bewegung einiger Planeten erklärt, obwohlwir inzwischen wissen, daß sie genaugenommen falsch ist. Die Rede-weise von einer Erklärung durch die Newtonsche Theorie scheint mirzunächst tatsächlich unseren Vorstellungen von wissenschaftlichen Erklä-rung zu entsprechen. Nur die Konsequenz, die van Fraassen darauszieht, ist fehlerhaft, denn für ihn zeigt dieses Beispiel allgemein, daßauch falsche Theorien erklären können. Eine angemessenere Beschrei-bung ist dagegen, daß die Newtonsche Theorie den Großteil der Plane-tenbewegungen erklärt, weil sie für diese Fälle approximativ zutreffendeModelle bereithält.165 Ob man auch von einer Theorie über Klabauter-männer, die man für gänzlich falsch hält, sagen kann, daß sie für unsheute das Auftreten bestimmter Erscheinungen auf Schiffen erklärenkann, ist dagegen mehr als zweifelhaft. Die Newtonsche Theorie erklärtsomit zwar eine Reihe von Planetenbewegungen, aber die AllgemeineRelativitätstheorie erklärt einige dieser Bewegungen nach heutiger An-sicht noch besser, schon weil sie kleinere Unschärfemengen benötigt alsdie Newtonsche Theorie. Die Abstufung von Erklärungsgüte entkräftetso van Fraassens Beispiel, denn etwas unvorsichtig ausgedrückt, ist dieNewtonsche Theorie nicht falsch, sondern approximativ wahr und pro-

165 Siehe dazu auch (VII.C.9), wo ich schon auf die wissenschaftsphiloso-phische Bedeutung der Berücksichtigung von Approximationen hingewiesen ha-be.

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duziert daher auch entsprechend approximativ wahre Erklärungen mitetwas größeren Unschärfemengen als die Allgemeine Relativitätstheorie.Die Klabautermann Theorie bietet dagegen immer nur falsche Erklärun-gen, weil sie nicht einmal ein approximativ zutreffendes Bild der Weltzeichnet.

Ein anderes Beispiel sind zweifellos die statistischen Erklärungen, beidenen es naheliegt, von unterschiedlich guten Erklärungen zu sprechen.Im IS-Modell kann das Explanandum verschieden stark durch das Ex-planans gestützt werden, und es scheint natürlich, entsprechend von un-terschiedlichen Graden der Erklärung zu sprechen. Noch deutlicherwird das im SR-Konzept, wo die Bandbreite von Wahrscheinlichkeitengrößer ist und auch sehr kleine Wahrscheinlichkeiten als erklärend zuge-lassen sind. Die Erklärungen, die uns für ein Ereignis weit höhere Wahr-scheinlichkeitszuwächse anbieten können, sind dann auch als besser zubezeichnen, als andere, die uns nur 10%-ige zusätzliche Wahrscheinlich-keiten geben. Vermutlich hat Sober (1987, 245) Recht, daß deterministi-sche Erklärungen dabei weiterhin als das Ideal für Erklärungen geltenkönnen und Erklärungen um so besser sind, je mehr sie sich diesem Ide-al nähern. Eine adäquate Erklärungstheorie muß neben der Beschrei-bung des Ideals aber zumindest Raum für eine metatheoretische Be-schreibung der graduellen Abstufungen von Erklärung lassen, was fürdas DN-Schema zunächst nicht der Fall ist.

D. Neue Ansätze in der Erklärungstheorie

Trotz der über 500 Aufsätze, die Salmon (1989) in seiner Bibliographieder Erklärungsdebatte zu nennen weiß, gibt es nur wenige systematischneue Ansätze mit ausformulierten Erklärungstheorien. Einige der inter-essanteren und prominenteren Ansätze möchte ich nun besprechen. Einewichtige Ergänzung des DN-Schemas sah schon Hempel in der Berück-sichtigung von pragmatischen Aspekten.

1. Zur Pragmatik von Erklärungen

Mit Erklärungen verfolgt man im allgemeinen nicht nur theoretischeZiele des Erkenntnisgewinns, sondern auch praktische. Wir suchen z. B.nach Erklärungen für Unfälle oder Krankheiten, um diese in Zukunftvermeiden zu können. Spätestens an dieser Stelle sind pragmatischeAspekte, etwa Fragen danach, wofür ich mich jeweils interessiere, oder

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andere Aspekte des Kontexts der nach einer Erklärung verlangendenWarum-Frage bedeutsam für die Einschätzung, was für uns eine gute Er-klärung darstellt und was nicht. Einige Wissenschaftsphilosophen sindsogar der Meinung, daß die pragmatischen Aspekte von Erklärungen im-mer von grundlegender Bedeutung für die Erklärungsgüte sind und so-gar alle wesentlichen Probleme der Erklärungstheorie durch eine geeig-net gewählte Pragmatik von Erklärungen erledigt werden können. Umeinen Einstieg in diese Ansätze zur Erklärungsdebatte zu bekommen,möchte ich exemplarisch die recht einflußreiche Theorie von Bas vanFraassen diskutieren, die er unter anderem in The Scientific Image(1980, Kap. 5) präsentiert hat.

Van Fraassen richtet sein Augenmerk zunächst auf die Warum-Fra-gen, mit denen wir um eine Erklärung nachsuchen. Sein Beispiel dazuist:

(1) Warum aß Adam den Apfel?

So unschuldig dieser Warum-Fragesatz auch erscheint, so weist er docheine wesentliche Mehrdeutigkeit auf, die durch unterschiedliche Beto-nungen zum Ausdruck gebracht werden kann.

(1a) Warum aß Adam den Apfel?(1b) Warum aß Adam den Apfel?(1c) Warum aß Adam den Apfel?(1d) Warum aß Adam den Apfel?

In (1a) fragt man etwa, warum gerade Adam und nicht jemand anderesden Apfel aß. In (1b) fragt man dagegen, warum Adam einen Apfel aßund nicht eine Birne oder etwas anderes, in (1c), warum er den Apfel ge-gessen hat und ihn nicht statt dessen weggeworfen oder zu Apfelmusverarbeitet hat und schließlich in (1d), warum er diesen Apfel und nichteinen anderen gegessen hat. Mit dem Fragesatz (1) können somit minde-stens vier unterschiedliche Fragen gemeint sein, die zunächst auseinan-dergehalten werden müssen, denn auf jede der vier Fragen sind natür-lich andere Antworten erforderlich. Um diese unterschiedlichen Beto-nungen und damit unterschiedliche Lesarten der Frage in einer Rekon-struktion deutlich machen zu können, führt van Fraassen die Kontrast-klasse X von Antwortalternativen ein, unter denen jeweils nach einerAntwort gesucht wird. Erst sie charakterisieren die Frage hinreichend. Inunserem Beispiel kann sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext derFrage z. B. folgendes ergeben:

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(1a) X = {Adam, Eva}(1b) X = {Apfel, Birne, Kiwi, Butterbrot}(1c) X = {Essen, Wegwerfen, Einkochen, am Baum hängenlassen}(1d) X = {dieser Apfel, jener Apfel}

Jede dieser verkürzt angegebenen Kontrastklassen166 kann zusammenmit dem Thema der Frage (hier: Adam aß den Apfel) klären, welche Fra-ge genau gemeint ist. Die Angabe einer Kontrastklasse spezifiziert dieFrage dabei mehr als die Angabe der Betonung, denn z. B. der genaueUmfang von X wird durch die Betonung allein noch nicht festgelegt. Beider Bestimmung der Frage können noch andere Aspekte des Kontexteseingehen, wie die Situation, in der die Frage gestellt wird.Eine Antwort auf die Frage (1a) könnte angesichts der angegebenenKontrastklasse die folgende Gestalt annehmen:

(A) Adam aß den Apfel und nicht Eva, weil Adam neugierigerwar als Eva.

Wenn wir das Thema (wie van Fraassen) mit T bezeichnen und die Kon-trastklasse mit X = {P1,...,T,..}, so läßt sich eine Antwort allgemein cha-rakterisieren durch:

(*) T im Unterschied zu den Alternativen aus X, weil A.

Man fragt nicht mehr direkt „Warum trat T ein?“, sondern stellt viel-mehr eine kontrastierende Warum-Frage „Warum T und nicht...?“ Lip-ton (1991, 35ff) argumentiert sogar dafür, daß eigentlich alle Warum-Fragen von dieser Art sind. In unserer Antwort (*) gibt A den Grund an,warum gerade T und nicht eine der Alternativen aus der Kontrastklasseverwirklicht wurde. Was als Grund zu akzeptieren ist, ob z. B. in unse-rem Fall Adams Neugier überhaupt als Grund betrachtet werden kannoder nicht, ist für van Fraassen in einem weiteren kontextabhängigenBestandteil der Frage zu sehen, der Relevanzbeziehung R. Sie besagt,wann das „weil“ in (*) zu Recht steht. Damit erhält man insgesamt (s.van Fraassen 1980, 143ff), daß die Frage Q = <T, X, R> drei Kompo-nenten aufweist, die zusammengenommen festlegen, um welche Frage essich handelt. Dann gilt: A ist der Kern einer Antwort auf Q, wenn A inder Beziehung R zu <T, X> steht.

Mit dieser Analyse von Warum-Fragen, die van Fraassen schlicht miteiner Analyse von Erklärungen identifiziert, versucht er im wesentlichen

166 Die Elemente von Kontrastklassen sind eigentlich vollständige Aussa-gen, aber diese werden hier immer durch Stichworte abgekürzt, die sich leicht zuganzen Sätzen ergänzen lassen.

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zwei Probleme der Erklärungsproblematik zu behandeln. Das ist zum ei-nen das Asymmetrieproblem und zum anderen das der Zurückweisungenvon Fragen nach Erklärungen. Für das zweite weiß er eine relativ nahe-liegende Analyse anzubieten. Aus der Fragelogik wissen wir bereits, daßFragen im allgemeinen neben ihrer fragenden Funktion auch bestimmteBehauptungen aufstellen. Das klassische Beispiel „Schlagen Sie immernoch ihre Frau?“ macht etwa die Präsupposition, daß dieses schändlicheVerhalten zumindest früher schon des öfteren beim Gefragten vorge-kommen sein muß. Warum-Fragen haben eine Reihe spezieller Präsuppo-sitionen, die van Fraassen (1980, 144f) auflistet:

(a) Das Thema ist wahr.(b) In der Kontrastklasse ist nur das Thema war.(c) Es gibt zumindest eine wahre Aussage A, die in der Beziehung R

zu <T, X> steht.

Haben wir im Lichte unseres Hintergrundwissens Grund zu der Annah-me, daß eine dieser Präsuppositionen nicht erfüllt ist, so stellt das aucheinen guten Grund dar, die Forderung nach einer entsprechenden Erklä-rung zurückzuweisen. Hat Adam keinen Apfel gegessen, kann ich natür-lich die Frage nicht beantworten, warum er es tat; haben sich sowohlAdam wie auch Eva als Obstfreunde erwiesen und einen Apfel verspeist,ist die Frage (1b), warum gerade Adam und nicht Eva den Apfel geges-sen hat, unsinnig; und schließlich, wenn es schon aufgrund der Fragekein relevantes Faktum geben kann, daß unser Thema erklärt, ist derAnspruch, nun doch eine Antwort zu finden, nicht zumutbar. Die frage-logische Theorie der Präsuppositionen von Warum-Fragen kann also ge-nauer klären, unter welchen Bedingungen wir eine Erklärungsforderungsinnvollerweise zurückweisen dürfen.

Nicht so günstig steht es um van Fraassens Vorschlag zur Lösung desAsymmetrieproblems, das er mit Hilfe seiner Fabel „The Tower and theShadow“ (van Fraassen 1980, 132ff) zu behandeln gedenkt. In dieserAusschmückung des Flaggenmastbeispiels wollte er zeigen, daß, wenndie Höhe des Stabes zur Erklärung der Länge seines Schattens herange-zogen werden kann, es ebenso Kontexte gibt, in denen dazu symme-trisch die Länge des Schattens die Höhe des Stabes erklärt. In seinerphantasievollen Fabel wird die Höhe eines Turmes dadurch erklärt, daßihn jemand mit der Absicht gebaut hat, zu einer bestimmten Zeit einenSchatten an einen bestimmten Ort zu werfen, an dem ein Mord geschah.Doch damit wird die Symmetrie verletzt. Es ist nicht mehr dieselbe Ge-schichte von Lichtstrahlen und dem Satz von Euklid, die zur Erklärung

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der Schattenlänge herangezogen wurde, die nun umgekehrt zur Erklä-rung der Turmhöhe erzählt wird, sondern in van Fraassens Fabel ist eswesentlich die Intention des Erbauers, den Turm so zu erbauen, daß eran den Mord erinnert, die zum Explanans gehört, die in der ursprüngli-chen Erklärung nicht erforderlich war. Damit haben wir in diesem Bei-spiel keinen echten Fall von symmetrischen Erklärungen, sondern dieAsymmetrie der Erklärung bleibt auch bei Änderung der pragmatischenFaktoren bestehen.

Das faszinierende an van Fraassens Analyse ist die Reduktion derzahllosen Aspekte eines Kontextes, die darüber mitbestimmen können,welche Frage man mit der Äußerung eines Fragesatzes meint, auf nurdrei Komponenten (Thema, Kontrastklasse, Relevanzrelation) für dasErgebnis der Interpretation. Mit diesem Instrumentarium möchte ichnoch einmal die schon in (IV.E.2) gestellte Frage aufwerfen, ob Erklä-rungen wesentlich interessenrelativ sind. Williams (1991, 279ff) hattedas gerade unter Berufung auf die Fragetheorie der Erklärung behauptetund damit Konzeptionen von Kohärenz als Erklärungskohärenz zurück-gewiesen, weil sie keine objektive Beziehung zwischen unseren einzelnenMeinungen und unserem Hintergrundwissen etablieren könnten. Be-trachten wir noch einmal die beiden in (IV.E.2) diskutierten Beispielevon Williams. Zunächst den Pfarrer, der den Bankräuber fragt: „Warumraubst Du Banken aus?“ Auch diese Frage ist mehrdeutig. Der Pfarrerwird sie vermutlich mit einer Kontrastklasse gemeint haben, die ehrlicheFormen des Gelderwerbs im Auge hat, wie z. B. X1 = {Banken ausrau-ben, ehrlicher Beruf, Sozialhilfe kassieren}. Der Bankräuber antwortetihm: „Weil dort das meiste Geld zu holen ist.“ Diese Antwort ist garkeine Antwort auf die Frage des Pfarrers, sondern eine Antwort auf eineFrage etwa eines Kollegen mit der Kontrastklasse X2 = {Banken ausrau-ben, Supermärkte ausrauben, alte Damen überfallen}. Entsprechendeszeigt auch die Analyse der anderen Frage aus (IV.E.2), warum Williamsum zwei Uhr in seinem Büro war. Auch diese Frage ist mehrdeutig, undwir müssen zunächst verstehen, wie sie gemeint ist, also ihre Kontrast-klasse kennenlernen, wenn wir seine Frage beantworten wollen. Wirdihm diese Frage in den Ferien gestellt, könnte die lauten X1 = {Büro, zuHause, Palm Beach}. Als Besonderheit nennt Williams für dieses Beispieleine Antwort, die zwar dem DN-Schema genügt, aber trotzdem nachWilliams auf keine Frage antworten können soll, nämlich: Er war einenkurzen Moment vor zwei Uhr in seinem Büro und niemand kann sichschneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, woraus folgt, daß erauch noch um zwei Uhr in seinem Büro sein mußte. Daß Williams keine

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Warum-Frage findet, auf die diese Deduktion antwortet, ist übrigenseher ein bedauerlicher Mangel an Phantasie, als ein zwingender Ein-wand gegen Hempels Erklärungstheorie. Denken wir z. B. an einen klei-nen Fan der Serie Raumschiff Enterprise, der glaubt, Williams könne sichjederzeit aus seinem Büro „wegbeamen“ und kurz vor zwei wäre in sei-nem Büro eine Gefahr aufgetreten, die es jedem hätte ratsam erscheinenlassen, von dieser Fähigkeit Gebrauch zu machen. Das Kind fragt Wil-liams also, warum er sich nicht kurz vor zwei Uhr schnellstens aus demBüro „gebeamt“ hat, wenn es ihn fragt, warum er um zwei Uhr noch inseinem Büro war (X´={Büro,weggebeamt}). Der Hinweis, daß sich abertatsächlich niemand schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegenkann, so etwas wie „beamen“ also nur in schlechten Science Fiction Se-rien möglich ist, bietet dann eine geeignete Erklärung.167

Doch zurück zur Frage der Interessenrelativität von Erklärungen.Zeigen die Beispiele, daß es von unseren Interessen abhängt, was einegute Erklärung ist? Betrachten wir dazu noch ein krasseres Beispiel. Aufmeine Frage, warum wir eine Rotverschiebung beobachten können, er-klärt mir jemand, warum es zur Februarrevolution von 1917 in der So-wjetunion gekommen ist. Selbst wenn seine Erläuterungen nun deduk-tiv-nomologische Struktur hätten, würde ich diese als Erklärung aufmeine Frage zurückweisen. Danach hatte ich nun einmal nicht gefragt.Wieso sollte das aber zeigen, daß Erklärungen interessenrelativ sind?Seine Erklärung kann für andere Fragen eine brauchbare Erklärung bie-ten. Sie verweist eventuell auf andere objektive und an anderer Stelle un-seres Meinungssystems bedeutsame Zusammenhänge, die nur im Mo-ment nicht zur Debatte stehen. Das macht Erklärungen nicht mehr inter-essenrelativ als mathematische Beweise. Wenn ich nach einem Beweisdes Fermatschen Satzes frage und man präsentiert mir einen Beweis fürden Satz von Stokes, weise ich diese Antwort auch zurück,168 aber nie-mand käme deshalb auf die Idee, was ein guter mathematischer Beweissei, sei pragmatisch zu relativieren. Genauso sieht meine jetzige Analyseder Beispiele von Williams aus. Hier werden bestimmte Erklärungennicht deshalb zurückgewiesen, weil unsere Interessen gerade so sind, daßdiese Erklärungen in diesem Fall uns schlecht erscheinen, sie aber in an-deren Kontexten gut wären, sondern weil sie auf eine ganz andere Fra-

167 Das Beispiel belegt wiederum, daß die meisten Warum-Fragen kontras-tierende Fragen sind.

168 Wenn man mir einen Beweis präsentiert, der keinen interessanten Satzbeweist, sondern nur eine beliebige mathematische Aussage, rüttelt das natürlichauch nicht an der Ansicht, daß Deduktionen gute Beweise sind.

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ge, mit einer völlig anderen Kontrastklasse, antworten. Auf die tatsäch-lich gestellte Frage sind die genannten Antworten jedoch immerschlecht. Nur wenn durch den Kontext geklärt wird, daß es sich um eineganz andere Frage handelt, kommen sie als gute Antworten in Frage.Was überhaupt auf meine Warum-Frage eine Erklärung ist, hängt alsoganz sicher davon ab, wonach ich frage, und das kann sehr wohl vonmeinen Interessen abhängen, aber welche Antwort auf eine ganz be-stimmte Frage gut ist, wird dadurch noch nicht interessenrelativ. Es er-schien uns nur auf den ersten Blick so, daß die Antwort des Bankräubersauf die Frage des Pfarrers zwar eine Antwort auf seine Frage, aber des-halb keine gute Erklärung sei, weil der Pfarrer andere Interessen ver-folgte. Die Analyse der Frage mit fragelogischen Mitteln, die die Kon-trastklasse als identifizierenden Bestandteil von Warum-Fragen ausweist,offenbart jedoch, daß der Bankräuber mit seiner Antwort überhauptnicht auf die gestellte Frage antwortet, sondern im Gegenteil so tut, alsob er sie nicht richtig verstanden hätte. Er unterstellt dem Pfarrer dieunlauteren Interessen eines Berufskollegen. So war es nur die möglicheMehrdeutigkeit des Fragesatzes „Warum hast du eine Bank ausgeraubt?“,die uns dazu verführte, an eine Interessenabhängigkeit der Güte von Er-klärungen zu glauben.169

Mit dieser Erörterung der Interessenrelativität von Erklärungen kön-nen wir auch auf die Frage antworten, ob „Erklärung“ ein wesentlichpragmatischer Begriff ist. Die Antwort lautet, das hängt davon ab, waswir unter „pragmatisch“ verstehen wollen. Friedman (1988, 174ff) un-terscheidet zwei Bedeutungen von „pragmatisch“. Erstens kann damitgemeint sein, daß der Begriff etwas mit den jeweiligen Meinungen einerPerson zu tun hat und davon abhängt. Das trifft für Erklärungen weitge-hend in dem Sinn zu, daß jede Erklärung und auch jede logische Ablei-tung von dem jeweiligen Wissensstand eines epistemischen Subjekts ab-hängig sind, denn der bestimmt, über welche Prämissen für logischeSchlüsse bzw. erklärende Theorien wir verfügen. In diesem Sinn verstan-den ist „pragmatisch zu sein“ relativ unproblematisch für Erklärungen.Es offenbart sich damit nur eine Abhängigkeit von unseren Meinungen,wie wir sie auch für logische Schlüsse kennen. Wann eine Erklärung vor-liegt, unterliegt aber weiterhin einer objektiven Beurteilung, weil die Be-ziehung der logischen Ableitung oder Erklärungsbeziehung davon nicht

169 Für van Fraassen ist auch die Relevanzbeziehung R, die darüber ent-scheidet, was gute Antworten auf meine Frage sind, eine kontextabhängige Grö-ße. Doch das geben die bisherigen Beispiele nicht her. Daß wir van Fraassenhierin nicht mehr folgen sollten, zeigen entsprechende Beispiele weiter unten.

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betroffen ist, sondern nur die Frage, über welche Erklärung oder Ablei-tung ein epistemisches Subjekt verfügt. Die Konzepte der logischen Ab-leitung und der Erklärung sind in diesem Fall für verschiedene Personendieselben. Zweitens ist mit „Interessenrelativität“ aber wohl häufig ge-meint, daß der Erklärungsbegriff selbst „launenhaft“ von Person zu Per-son variiert, je nach dessen Geschmack oder momentanen Interessen. Indiesem zweiten Sinn würde „Erklärung“ ein subjektiver Begriff, für denes keine objektive Bewertung mehr gibt, sondern nur noch die subjekti-ven Einschätzungen verschiedener Personen. Wie Friedman richtet sichmeine Kritik nur gegen den zweiten Sinn von „pragmatisch“ und ichversuche eine objektive Erklärungstheorie zu konzipieren, die gleich-wohl im ersten Sinn pragmatisch genannt werden kann.

Die Frage nach einer Bewertung von Erklärungen ist wohl die größteSchwachstelle der van Fraassenschen Erklärungstheorie. Sie wurde inder bisher ausgeführten Theorie noch nicht erhellt. Es wurde einfachnur verlangt, daß es eine Relevanzbeziehung R gibt, die den Antwort-kern A als relevant für <T, X> ausweist. Der objektive Aspekt einer Er-klärungstheorie ist aber genau in den Bedingungen zu suchen, die R zuerfüllen hat. Doch was hat van Fraassen dafür anzubieten? Van Fraassen(1980, 146ff) nennt einige Bedingungen, wie daß:

1. A wahrscheinlich wahr sein sollte2. A gerade das Thema T gegenüber seinen Konkurrenten in der

Kontrastklasse favorisieren muß3. A anderen Weil-Antworten überlegen sein muß.170

Van Fraassens Bedingungen lassen sich auf sehr unterschiedliche Weisepräzisieren, aber ich möchte wenigstens einen ersten wahrscheinlich-keitstheoretischen Vorschlag unterbreiten, dessen subjektive Lesart vanFraassen im Sinn haben könnte. Die erste Bedingung besagt schlicht, daßdie Wahrscheinlichkeit von A groß sein sollte:

1’) p(A) 1- mit sehr klein

Die zweite Bedingung ist etwas schwieriger zu explizieren, weil „favori-sieren“ unterschiedlich gedeutet werden kann. Eine möglichst einfacheVariante erhalten wir durch:

2’) Für van Fraassen steht die Umverteilung von Wahrscheinlichkei-ten im Vordergrund. Dazu müssen wir die Wahrscheinlichkeits-

170 Van Fraassen spezifiziert insbesondere die dritte Bedingung weiter, aberauch diese Klärungen der Bedingungen können die Schwächen seiner Erklä-rungstheorie nicht beheben.

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differenzen vorher und hinterher betrachten und die von T mußgegenüber den Konkurrenten in der Kontrastklasse X ={T,B1,..,Bn} angehoben worden sein, d.h. für alle i sollte die Un-gleichung gelten:p(T)-p(Bi) p(T,A)-p(Bi,A) und für mindestens ein i sollte eineechte Ungleichung gelten.

Um die dritte Bedingung zu präzisieren, könnten wir den Unterschiedder Differenzen als Maß MA für die Erhöhung der Erklärung durch Abezeichnen:

Damit läßt sich dann der Vergleich zu alternativen Erklärungen präzisie-ren:

3’) MA ist größer als MA’ für alle alternativen Erklärungen A’, dieebenfalls die Bedingungen (1’) und (2’) erfüllen.171

Damit van Fraassens Theorie plausibel bleibt, müssen wir uns ganz aufdie kontrastierenden Erklärungen beschränken, denn die Konzeption er-laubt auch, daß A ein Thema T erklärt, indem A die Wahrscheinlichkeitvon T senkt. Haben wir etwa einen Patienten mit Röteln und fragen,warum er die bekommen hat, so ist es bestimmt keine gute Antwort zusagen: „Er bekam Kranckofit und das verringert zwar die Wahrschein-lichkeit für Röteln, aber macht etwa Masern noch viel unwahrscheinli-cher.“ Erst wenn jemand fragt: „Warum bekam er Röteln (was dochrecht unwahrscheinlich ist) und nicht Masern (wie alle anderen in seinerKlasse)?“, wird die Antwort wieder plausibel. Relativ zur Ausgangswahr-scheinlichkeit (bei der er wahrscheinlich auch Masern bekommen hätte)wurde die Wahrscheinlichkeit für Röteln gegenüber der von Maserndurch Kranckofit sehr erhöht.172 Das scheint als Antwort auf die kon-trastierende Warum-Frage und entsprechende Erklärung zunächstbrauchbar.

Diese Vorgehensweise – eine Explikation mit Hilfe subjektiver be-dingter Wahrscheinlichkeiten zu geben, erinnert an Erklärungskonzep-tionen aus der epistemischen Logik wie z. B. die von Gärdenfors (1988).Sie hat aber auch in der subjektivistischen Lesart der Wahrscheinlichkei-

171 Eine weitergehende Analyse anhand von Beispielen zeigt leider schnell,daß wir die Bedingungen noch koplexer gestalten müssen, wenn wir eine vertret-bare Konzeption erhalten wollen.

172 Das Beispiel stammt von Gerrit Imsieke.

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ten mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen wie diese Ansätze. Wennwir – und das ist ein Normalfall für Erklärungen – bereits wissen, daß Tund A vorliegen, d.h. alle unsere Wahrscheinlichkeitseinschätzungen be-reits unter der Annahme T und A erfolgen, wie groß ist dann p(T) oderp(Bi) vor der Annahme von T und A? Hier werden gewagte kontrafakti-sche Konstruktionen nötig, bei denen wir unser Wissen etwa um A kon-trahieren sollen, also die „kleinste Änderung“ unseres Meinungssystemssuchen, bei der wir A nicht annehmen, oder Ähnliches. Außerdem bleibtnatürlich die spannende Frage offen, welche Bedingungen wir an dieWahrscheinlichkeiten richten können, um sicherzustellen, daß sie nichtwillkürlich und unwissenschaftlich sind. Von einer tatsächlichen undnicht nur vermuteten Erklärung würden wir etwa verlangen, daß Kran-ckofit die Umverteilung der Wahrscheinlichkeiten in einem objektivenSinn bewirkt, wir uns also auf objektive Wahrscheinlichkeiten in unserenBedingungen beziehen. Wie wenig diese Bedingungen leisten, wenn wirkeine objektiven Anforderungen an R richten, zeigen die folgenden Bei-spiele von Kitcher und Salmon (1987).

Sie betrachten die Frage, warum John F. Kennedy am 22.11.1963starb, und verstehen die Frage Q = <T,X,R> wie folgt:

T = JFK starb am 22.11.63X = {am 1.1.63, am 2.1.63, ..., 31.12.63, er überlebte 1963}R = astrale Einflüsse

Jemand, der an eine astrologische Theorie glaubt, nach der die Konfigu-ration der Planeten und Sterne zum 22.11.63 zur Ermordung Kennedysan diesem Datum führt, erfüllt dann mit seiner Antwort die van Fraas-senschen Bedingungen:

JFK starb am 22.11.63, weil die Konfiguration der Sterne und Plane-ten so und so ist.

Nehmen wir an, wir wüßten den Kern A der Antwort, nämlich die Kon-figuration der Sterne und Planeten mit beliebiger Genauigkeit und Ge-wißheit, so ist A beliebig wahrscheinlich vor unserem Hintergrundwis-sen.173 Damit ist van Fraassens erste Anforderung vollends erfüllt. Fürdie zweite Bedingung für gute Erklärungen muß der Erklärende übereine astrologische Theorie verfügen, die den entsprechenden Zusam-menhang behauptet. Nehmen wir an, daß JFKs Todestag sogar deduktiv

173 Zur Erläuterung von „wahrscheinlich vor unserem Hintergrundwissen“muß van Fraassen allerdings schon auf andere Induktionsschlüsse als die Abduk-tion setzen, denn sonst gerät er in einen Zirkel.

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aus dieser Theorie folgt und auch die dritte Bedingung erfüllt ist. Damitist die angegebene Antwort für van Fraassen unwiderruflich eine Erklä-rung. Andererseits denken wir, in solchen Fällen eine falsche Erklärung,ja sogar eine Pseudoerklärung vor uns zu haben, und eine Erklärungs-theorie, die wir zur Wahrheitsfindung einsetzen möchten, sollte in derLage sein, objektive Anhaltspunkte zur Überprüfung der Erklärung undder erklärenden Theorie anzubieten. In der rein pragmatischen Erklä-rungstheorie kommen dagegen keine Ansatzpunkte mehr vor, die zwi-schen tatsächlichen Erklärungen und Pseudoerklärungen zu differenzie-ren helfen. Wir dürften in diesem Fall nicht sagen, der Astrologiegläubi-ge glaubte nur, eine Erklärung für die Ermordung von JFK zu besitzen,hat aber in Wirklichkeit keine, sondern wir müßten sagen: Er hat tat-sächlich eine (sogar ziemlich ideale) Erklärung von JFKs Ermordung ge-geben, auch wenn wir sie nicht akzeptieren können. Kitcher und Salmonkonnten sogar zeigen, daß jede wahre Aussage A in der rein pragmati-schen Erklärungskonzeption von van Fraassen wesentlicher Bestandteiljedes Themas T mit beliebiger Kontrastklasse sein kann. Um plausibel zubleiben, müßte van Fraassen nach ihrer Meinung ergänzend eigentlicheine Bedingung der Art:

(*) R ist eine objektive Relevanzbeziehung

aufnehmen. Um diese Forderung explizieren zu können, stoßen wir aber(s. Salmon 1989, 143ff) auf all die aus der Erklärungsdebatte altbekann-ten Probleme, so daß wir in diesem Punkt eigentlich noch keinen we-sentlichen Fortschritt erzielt haben.

Das intuitive Problem des Ansatzes von van Fraassen ist, daß es sichauch in den metatheoretischen Beurteilungen ausschließlich auf dieÜberzeugungen des betrachteten epistemischen Subjekts stützt. Was einegute Antwort auf die Warum-Frage darstellt wird nur nach dessen An-sichten beurteilt, und van Fraassen läßt keinen Raum für metatheoreti-sche Hinweise darauf, was eine Erklärung objektiv als solche auszeich-nen kann. Im DN-Schema gibt Hempel dem Erklärenden zumindest ei-nige Hinweise, mit deren Überprüfung er feststellen soll, ob es sich umeine echte Erklärung handelt, nämlich die Forderung nach dem wesentli-chen Einsatz eines Naturgesetzes und die Forderung nach einem deduk-tiven Zusammenhang zwischen Explanans und Explanandum. Es ist da-her auch kein Wunder, daß van Fraassen seine Erklärungstheorie als ei-nen wichtigen Bestandteil seiner instrumentalistischen Sichtweise derWissenschaften entwickelt hat, denn nur vor einem antirealistischenHintergrund kann sie als die ganze Geschichte, die es zu Erklärungen zu

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erzählen gibt, Plausibilität beanspruchen. Eine ähnliche Kritik wie gegenvan Fraassens Erklärungstheorie läßt sich auch gegen andere erotetischeAnsätze wie den von Achinstein (1983) richten, denn auch bei ihmbleibt die Beziehung zwischen Explanans und Explanandum unterbe-stimmt, was etwa Salmon (1989, 146ff) ausführt.

Viele Aspekte des Kontextes einer Warum-Frage bestimmen, wonachwir genau fragen und welcher Typ von Antwort uns gerade interessiert.Das gilt insbesondere, wenn ich aus praktischen Motiven um eine Erklä-rung bitte. Der Pfarrer fragt deshalb den Bankräuber nach seinen Moti-ven, weil er seelsorgerisch auf ihn einwirken möchte. Das ist sicher einerichtige Beobachtung und sollte auch weiter in die Erklärungsdebatteeingebracht werden, aber damit ist noch nicht belegt, daß die Güte vonErklärungen nicht darüber hinaus einen harten Kern besitzt, der einerobjektiven Beurteilung zugänglich ist – insbesondere im Falle der wissen-schaftlichen Erklärungen –, und dessen Erforschung möchte ich michwidmen. Das dabei bestimmende Interesse ist ein theoretisches Interessedaran, einen bestimmten Vorgang oder Zusammenhang besser zu verste-hen. Gegen die Annahme von van Fraassen, daß über die Pragmatik hin-aus nichts zu entdecken ist, was Erklärungen zu solchen macht, versucheich eine Konzeption von objektiver Erklärungskraft zu setzen. Pragmati-sche Theorien der Erklärung bieten sicher eine sinnvolle Ergänzung da-zu, aber sie können sie nicht völlig ersetzen.

2. Kausale Erklärungen

Ein wichtiges Desiderat, das ich aus der Debatte um pragmatische Erklä-rungstheorien mitgenommen habe, ist also die Suche nach einer Explika-tion einer objektiven Relevanzbeziehung zwischen Explanandum und Ex-planans. Zwei prominente Ansätze der Erklärungsdebatte, die sich dem-selben Ziel verschrieben haben, sollen in diesem und dem nächsten Ka-pitel weiterverfolgt werden. Der eine besagt, daß Erklärungen die Ursa-chen eines Ereignisses aufzudecken haben und aufzeigen sollten, wie die-ses in die kausale Struktur unserer Welt einzubetten ist. Der andere stelltmehr die vereinheitlichende und systematisierende Funktion von wissen-schaftlichen Erklärungen in den Vordergrund. Wissenschaftliche Erklä-rungen zeigen uns demnach, wie sich eine Vielzahl von Tatsachen aufwenige allgemeine Zusammenhänge zurückführen läßt. Diese beidenAnsätze möchte ich in ihren neueren Versionen eine Weile verfolgen, umabzuschätzen, welche Perspektiven und Probleme sie meines Erachtensbieten, und werde innerhalb des zweiten eine eigene Konzeption von Er-

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klärung anbieten und präzisieren. Beginnen möchte ich mit der Vorstel-lung, jede Erklärung sei eine kausale Erklärung.

a) Kausale Prozesse

Insbesondere das obengenannte (B.2) Asymmetrieproblem verweist aufdie zugrundeliegende kausale Struktur zu seiner Lösung. Das Zurück-weichen der Sterne verursacht die Rotverschiebung ihres Spektrums undkann sie deshalb erklären, während das Umgekehrte nicht gilt. ÄhnlicheAuflösungen von Erklärungsasymmetrien anhand der Asymmetrie vonKausalbeziehungen lassen sich auch in den anderen Fällen finden, wennsie auch nicht immer so glatt erscheinen wie die der Rotverschiebung.Theorien oder Konzeptionen von Kausalität gibt es allerdings zahlreicheund nicht alle eignen sich gleichermaßen für eine Erklärungstheorie. Au-ßerdem hat sich jede heutige Kausalitätstheorie zum einen der Hume-schen Kritik an der Kausalitätsvorstellung zu stellen und sollte anderer-seits mit unseren gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Ansichten kom-patibel sein, was die Auswahl schon erheblich einschränkt. Trotzdembleiben verschiedene Theorien übrig, die alle zu diskutieren, den Rah-men des Buches sprengen würde. Daher möchte ich mich einem beson-ders namhaften Ansatz in der kausalen Erklärungstheorie zuwenden unddiesen ausführlicher besprechen, was in den kritischen Aspekten aber si-cher auch für andere Kausalitätskonzeptionen Ansatzpunkte für kritischeEinwendungen liefert. Darüber hinaus werde ich anhand allgemeinererÜberlegungen nahelegen, daß unsere Kausalitätsvorstellungen keinensehr informativen Beitrag zu unserem Verständnis der Welt leisten kön-nen, der zugleich ein wichtiger Beitrag zum Verständnis von Erklärun-gen sein könnte.

Es war insbesondere Wesley Salmon, der in neuerer Zeit mit seinemWerk Scientific Explanation and the Causal Structure of the World(1984) und einer Reihe anderer Arbeiten die kausale Erklärungstheoriebelebt und vor allem detailliert ausgearbeitet hat. Etwas unklar bleibt inSalmons kausaler Konzeption, inwiefern sie eine Ergänzung seiner älte-ren bereits kurz vorgestellten SR-Konzeption (s. B.1.b.2) darstellt odermit dieser zusammenhängt, doch es gibt zumindest auch eine probabili-stische Version für die kausale Theorie. Zunächst stellt sich Salmon al-lerdings der Aufgabe, zu erklären, was denn unter einer Kausalbezie-hung zu verstehen sei. Dabei versucht er der Kritik Humes und RussellsWarnungen vor der Kausalität zu begegnen. So hält er die Ansätze, dieKausalität mit Hilfe von Begriffen wie „notwendiger“ und „hinreichen-der Bedingung“ explizieren wollen, für grundsätzlich falsch (Salmon

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1984, 138), wobei ihm auch die INUS-Bedingung von Mackie (1974,62) (nach der eine Ursache ein nicht-hinreichender, aber notwendigerTeil einer nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung ist), diewohl den prominentesten Vertreter dieser Auffassung verkörpert, alsnicht akzeptabel erscheint.

Grundlegend in Salmons Erörterung von Kausalität sind Prozesse(processes) und nicht wie sonst häufig üblich Ereignisse. Prozesse sindraumzeitlich weiter ausgedehnt als Ereignisse. Wenn man Ereignisse imRaum-Zeit-Diagramm als Punkte darstellt, so können Prozesse als Linienrepräsentiert werden. Ein Gegenstand wird etwa in seiner Bewegungeine Zeit lang verfolgt. Das intuitive Problem, das Salmon mit demÜbergang zu Prozessen zu lösen versucht, beschreibt Kitcher (1989,461ff): Ein Ereignis U ist dann eine Ursache eines anderen EreignissesW (Wirkung), wenn von E ein kausaler Prozeß abläuft, der zu W führt,die Ereignisse also in geeigneter Weise kausal verbunden sind. Die abge-feuerte Kugel ist z. B. die Ursache für die durch die auftreffende Kugelentstehenden Schäden, wenn der „kausale Weg“ von der Kugel zu denSchäden nachzuzeichnen ist. Zwischen zwei Ereignissen (die nicht raum-oder lichtartig zueinander liegen) gibt es aber eine Vielzahl von Weltli-nien, die sie miteinander verbinden und das größte Problem einer Ana-lyse von Kausalität ist es, genau die wesentlichen und geeigneten vonden irrelevanten oder Pseudoverbindungen zu trennen. Genau dazu sollSalmons Explikation von „kausaler Prozeß“ dienen, die er auf dem na-turwissenschaftlichen Hintergrund der speziellen Relativitätstheorie ent-wirft, die für Salmon immer wieder leitende Funktion für seine Theorie-bildung besitzt.

Auch die Relativitätstheorie macht eine Unterscheidung der Prozessein kausale Prozesse und Pseudoprozesse erforderlich. In wirklichen kausa-len Prozessen im Sinne der speziellen Relativitätstheorie können z. B.keine höheren Geschwindigkeiten als die Vakuumlichtgeschwindigkeit cauftreten, während das für Pseudoprozesse nicht der Fall ist; in ihnenkönnen sogar beliebig hohe Geschwindigkeiten vorkommen. SalmonsBeispiele für Pseudoprozesse mögen diesen Unterschied verdeutlichen.Stellen wir uns einen dunklen, runden Raum vor, der in der Mitte einenrotierenden Lichtstrahl enthält. Der von dem Lichtstrahl erzeugte, sichüber die Wand bewegende Lichtfleck ist ein solcher Pseudoprozess, derbeliebige Geschwindigkeiten erreichen kann, je nachdem, wie schnellsich die Lichtquelle dreht und wie groß der Raum ist. Ebenso ist auchder Schatten eines fahrenden Autos ein Pseudoprozeß. Es handelt sichbei diesen Pseudoprozessen um Vorgänge, bei denen vorhergehende Zu-

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stände die späteren nicht verursachen und daher auch nicht direkt beein-flussen können. Der Schatten des Autos zu einer früheren Zeit kommtnicht als Ursache für den Schatten des Autos zu einer späteren Zeit inBetracht. Sober (1987, 252) hat das Verhältnis von kausalen Prozessenund Pseudoprozessen in einem Diagramm veranschaulicht:

Die schwarzen ausgefüllten Pfeile stellen kausale Zusammenhänge darund die schmalen nicht-kausale. Damit gibt uns die obere Reihe dieEreignisse an, die kausal auseinander hervorgehen, also etwa die ver-schiedenen Phasen der Fahrt eines Autos, während uns die untere Reiheeinen Pseudoprozeß darstellt, wie den sich bewegende Schatten des Au-tos. Nur zwischen den Zuständen des kausalen Prozesses gibt es kausaleBeziehungen, während die Zustände des Pseudoprozesses kausal unterei-nander unverbunden sind. Dieser Zusammenhang hat Salmon dazu an-geregt, für eine Präzisierung der Abgrenzung das folgende ursprünglichvon Reichenbach stammende Kriterium einzusetzen: Kausale Prozessekönnen Informationen übertragen und Pseudoprozesse nicht. Diese Ideehat Salmon anhand der Übertragung von Zeichen (transmitting of amark) in seinem „principle of mark transmission“ (Salmon 1984, 148)zu präzisieren versucht. Dieses Prinzip besagt informell ausgedrückt:

A genuine causal process is one that can transmit a mark: if the pro-cess is modified at one stage the modification persists beyond thatpoint without any additional intervention. (Salmon 1989, 108)

A „process“ that can be marked at one place, but without having anysuch modification persist beyond the point at which the mark ismade, cannot transmit marks. Such „processes“ are pseudoprocesses.(Salmon 1989, 109)

Ein Pferd, das über eine Wiese läuft, ist ein genuin kausaler Vorgang,aber nicht so der sich bewegende Schatten oder das laufende Pferd imFilm auf einer Leinwand. Natürlich ist der Projektionsvorgang im Kinoein kausaler Prozeß, aber die Bewegung des Pferdes im Bild ist ein Pseu-doprozeß. Wenn man dem Bild des Pferdes einen roten Punkt verpaßt,indem man mit einem roten Licht auf die Leinwand strahlt, verschwin-det dieser rote Punkt sofort wieder, wenn wir das Licht ausschalten unddas Bild des Pferdes gibt dieses Zeichen nicht weiter.

Dieses Beispiel von Salmon (1989, 109) zeigt aber auch schon ersteProbleme dieses Ansatzes, denn auch das Pferd selbst behält einen rotenPunkt, den man ihm mit einem roten Lichtstrahl zufügt, nicht bei. Aller-dings behält es, wenn man es genau nimmt, eine kleine Erwärmung an

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dieser Stelle, die es weiter transportiert. Deutlicher wird Salmons Unter-scheidung im Beispiel eines Autos, dem wir eine Beule zufügen. Diebleibt dauerhafter, während das Einbeulen der Leinwand an einer Stellekeine dauerhaften Zeichen auf dem Bild des Pferdes hinterläßt – höch-stens auf der Leinwand. Trotz dieser recht einleuchtenden Zusammen-hänge läßt einen die Definition von kausalen Prozessen mit intuitivenProblemen zurück, von denen ich nur einige von allgemeinerer Bedeu-tung aufgreifen möchte.174

Ein notorisches Problem vieler Explikationsvorschläge von Kausali-tät ist der Einsatz modaler Begriffe.175 Kausale Prozesse sind für Salmondie Mittel, durch die kausale Einflüsse weitergeleitet werden (s. Salmon1984, 170). Diese Mittel sind dadurch ausgezeichnet, daß sie Zeichenweitergeben können. Das müssen sie natürlich nicht in jedem Fall tat-sächlich tun, was Salmon auch deutlich macht (z. B. Salmon 1989, 110).Dazu erläutert Sober (1987, 254f) an einem leichtverständlichen Bei-spiel ein Problem dieser Definition: Wenn eine elektrische Lampe durchverschiedene elektrische Leitungen mit Schaltern an das Stromnetz ange-schlossen ist, sind sie alle im Sinne Salmons „kausale Prozesse“, da sieZeichen weitergeben können. Ein Schalter wird aber schließlich nur ein-geschaltet und transportiert tatsächlich ein „Zeichen“ und nur diese Lei-tung gibt uns die tatsächliche Ursache des aufleuchtenden Lichts. Wiekann Salmon in seiner Theorie der Kausalität jedoch von den bloß mög-lichen Ursachen zu den tatsächlichen übergehen? Salmon (1984, 171)gibt uns dazu ein Prinzip für die kausale Wechselwirkung (causal interac-tion) von Prozessen an, wonach eine tatsächliche Wechselwirkung dannvorliegt, wenn die Zustände der Prozesse nach der Wechselwirkung an-dere sind als vorher. Doch auch diese Vorgehensweise bleibt unbefriedi-gend, wie weitere Überlegungen und Beispiele Sobers (1987, 255f) zei-gen können. Ursachen müssen nämlich nicht immer zu Veränderungenführen. Sie können etwa durch entsprechende Gegenkräfte aufgehobenwerden. So kann ein Partikel in der Newtonschen Mechanik einer Viel-zahl von Kräften unterliegen, die seine geradlinig gleichförmige Bewe-

174 Zu den Schwierigkeiten, echte Zeichen etwa von Pseudozeichen zu un-terscheiden, bei denen sich auf einer anderen Ebene das Problem der Abgren-zung von Prozessen und Pseudoprozessen erneut stellt, siehe Kitcher (1989,463).

175 Er findet sich schon in Humes Untersuchung über den menschlichenVerstand und wurde von Lewis (1981) innerhalb seiner Analyse im Rahmen ei-ner mögliche-Welten Semantik wieder aufgegriffen. Der Aspekt von Kausalität,der hier verfolgt wird, ist folgender: Wäre das ursächliche Ereignis U nicht ge-wesen, so hätte auch die Wirkung W nicht stattgefunden.

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gung trotzdem nicht stören, weil sie sich gegenseitig aufheben. Obwohlhier also Ursachen am Werk sind, kann es vielleicht an entsprechendenWirkungen im Sinne einer Veränderung des Vorgangs fehlen.

Die Salmonsche Charakterisierung macht darüber hinaus einige An-nahmen über die Beschaffenheit der Welt, die Sober (1987, 255f) auf-deckt, die aber auch nicht verwundern können, wenn man bedenkt, daßSalmons Explikationsvorschlag auf dem Hintergrund der speziellen Re-lativitätstheorie entwickelt wurde. Doch ich möchte nicht weiter die fastschon technischen Details und Probleme dieses Ansatzes besprechen,sondern mich nun stärker der Frage zuwenden, was wir vom kausalenAnsatz zur Charakterisierung von Erklärungen generell erwarten kön-nen. Die dabei anzutreffenden Probleme sind nicht spezifisch für die Sal-monsche Explikation von Kausalität, sondern treffen in ähnlicher Weiseauf andere Kausalitätskonzeptionen zu.

b) Sind alle Erklärungen kausale Erklärungen?

Es war mir nicht möglich, verschiedene Vorschläge zur Explikation vonKausalität im Detail zu besprechen. Ich hatte mich deshalb auf den Sal-monschen konzentriert, weil dieser explizit zu einer prominenten Erklä-rungstheorie ausgearbeitet wurde, aber einige allgemeinere Überlegun-gen mögen meine Skepsis begründen, daß sich mit Hilfe des Kausalitäts-konzepts überhaupt eine gehaltvolle Konzeption von Erklärung findenläßt. Die kausale Erklärungstheorie wurde primär entwickelt, um singu-läre Tatsachen oder Ereignisse zu erklären. Aber sind in all diesen Fällenkausale Erklärungen möglich und auch die naheliegendsten Erklärun-gen? Tatsächlich scheint mir das nicht der Fall zu sein, und um diese Ver-mutung zu belegen, werde ich einige Beispiele und Überlegungen anfüh-ren.

Ein erster Punkt, auf den uns Kitcher (1989, 423ff) hinweist, sindErklärungen in der Mathematik. So können uns Sätze wie der Zwischen-wertsatz erklären, wieso eine stetige reellwertige Funktion f auf einemIntervall [a, b] eine Nullstelle haben muß, wenn f(a) < 0 und f(b) > 0ist. Kitcher weiß dazu Beispiele anzugeben, die insbesondere auf derGrundlage seiner Anschauungen von Mathematik nicht aus der Erklä-rungsdebatte ausgeschlossen werden sollten. Auch mir geht es darum, ei-nen möglichst breiten Erklärungsbegriff vor Augen zu haben, der vieleBeispiele von Erklärungen abzudecken gestattet, und ich bin darum mitKitcher bereit, geeignete Beispiele aus der Mathematik zu akzeptieren.Außerdem ist es zumindest ein methodologischer Vorteil einer Erklä-

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rungskonzeption, wenn sie einen großen Anwendungsbereich besitzt.176

Da aber die Einbeziehung mathematischer Erklärungen in die Erklä-rungsdebatte vielen Philosophen wahrscheinlich intuitive Schwierigkei-ten bereiten wird, möchte ich diese Beispiele hier nicht zu sehr strapazie-ren, sondern mich gleich anderen Typen von Fällen zuwenden.

Ein schönes Beispiel in dieser Richtung ist Kitchers (1989, 426)„Party Trick“ mit wissenschaftlich ernstzunehmendem Hintergrund. Indiesem Trick (man kann auch an einen Entfesselungskünstler denken)wird ein Knoten so um eine Schere geschlungen, daß er sofort aufgeht,wenn man zu Beginn die richtigen Entschlingungen vornimmt, aber mankann sich stundenlang damit abquälen, wenn man sie nicht findet. Waserklärt dann den Mißerfolg? Natürlich kann man in so einem Fall mitden kausalen Zusammenhängen der einzelnen Verschlingungen argu-mentieren, doch dabei verkennt man den wesentlichen Punkt, um den esgeht, nämlich die topologischen Zusammenhänge, die zwischen den un-terschiedlichen Fehlversuchen bestehen. Bestimmte Entwirrungsversuchemüssen aus topologischen Gründen fehlschlagen, während andere gelin-gen werden. Die kausalen Details der Versuche wie die Kräfte und Mate-rialeigenschaften etc. sind dabei eigentlich ganz unerheblich.

Auf das dabei erkennbare Phänomen stoßen wir in vielen Erklärun-gen. Es sind nicht die individuellen kausalen Beziehungen, die etwas er-klären, sondern abstraktere Zusammenhänge, die auf einer anderen Ebe-ne angesiedelt sind. Will ich etwa erklären, warum ein Holzpflock mitquadratischer Grundfläche und einer Kantenlänge von 1 m nicht durchein rundes Loch mit einem Durchmesser von 1,2 m paßt, so ist eine ein-fache geometrische Erklärung angemessen: Bei einer Kantenlänge von 1m weist die Diagonale eine Länge von 21/2 auf, und das ist größer als 1,2m. Also kann der Pflock nicht durch das Loch gehen. Natürlich ließesich dazu im Prinzip auch eine „tolle“ kausale Erklärung geben, die stattdessen die möglichen Trajektorien der einzelnen Moleküle des Pflocksunter gewissen Randbedingungen verfolgt. Doch käme uns jemand mitdieser „Erklärung“, würden wir sie als ziemlich uninformativ zurückwei-sen. Es wäre eine furchtbar lange Geschichte, die uns schließlich nichtmehr die wesentliche Information bieten würde. Die geometrische Er-klärung ist eindeutig die viel bessere und informativere. Und Entspre-chendes gilt auch für andere typisch wissenschaftliche Erklärungen. Et-

176 Die jeweilige Einschränkung des Erklärungsbegriff auf gerade die Fälle,die zu einem bestimmten Erklärungskonzept passen, ist natürlich außerdem eineImmunisierungsstrategie, die einem immer offensteht und damit die Gefahr derTrivialisierung in sich trägt.

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wa die Erklärung des Zwillingsparadoxon ist keine kausale Erklärung,sondern eine geometrische anhand der Raum-Zeit-Geometrie der spe-ziellen Relativitätstheorie (s. Ray 1991, 36ff).

Ein weiteres solches Beispiel von nicht-kausaler Erklärung stammtvon Sober (1983) und wird von Kitcher (1989, 426) wieder aufgegrif-fen. Sober beschreibt die Evolutionstheorie in Analogie zum Aufbau derNewtonschen Mechanik. Das Hardy-Weinberg Gesetz gibt uns demnacheinen „kräftefreien“ Gleichgewichtszustand für die Häufigkeiten ver-schiedener Genkombinationen an. Abweichungen davon können durchdas Wirken von „Evolutionskräften“ wie Migration, Selektion, Mutationund Zufallsdrift erklärt werden. Fragen wir uns dann, wie sich ein Ge-schlechterverhältnis aller Geburten einer Stadt von 1,04 zu 1 (Männer-Frauen) erklären läßt, könnte man eine sehr komplizierte kausale Ge-schichte über Spermien und Eier etc. erzählen,177 aber die meisten dieserkausalen Details sind eigentlich für unser Erklärungsvorhaben nicht in-teressant oder sogar hinderlich. Eine bessere wenn auch recht abstrakteAntwort zitiert den Selektionsdruck, der zunächst zu einem annähern-den 1 zu 1 Verhältnis geführt hat, weil sich dabei die höchsten Repro-duktionsraten erzielen lassen, gibt aber zusätzlich die etwas höhereSterblichkeit der Männer in der Zeitspanne von der Geburt bis zur Ver-mehrung zu berücksichtigen, so daß sich bei dem erwähnten Verhältnisvon 1,04 zu 1 ein Gleichgewicht der Evolutionskräfte einstellt.178 SowohlSober wie auch Kitcher halten diese Erklärung nicht für eine kausale Er-klärung im üblichen Sinn des Worts, denn es geht in der Erklärung wie-derum primär um einen strukturellen Zusammenhang, ein Gleichge-wicht bestimmter Größen, aber nicht um eine Beschreibung der kausa-len Prozesse, die zu diesem Gleichgewicht geführt haben.

Daß viele Erklärungen singulärer Tatsachen nicht nach kausalen Er-klärungen mit Angabe der speziellen kausalen Vorgeschichte verlangen,liegt unter anderem daran, daß man in diesen Beispielen nicht an der Er-klärung eines speziellen Ereignisses interessiert ist, sondern an der Erklä-rung allgemeinerer Regularitäten. Friedman (1988) geht sogar noch wei-ter und behauptet, daß eigentlich immer Regelmäßigkeiten oder Gesetzeerklärt werden sollen. Wenn man fragt, warum Wasser zu verdampfenbeginnt, wenn es erhitzt wird, und man darauf erklärt: „Die Erhitzung

177 In Wahrheit wäre eine derartige Geschichte viel zu kompliziert, als daßwir sie tatsächlich ohne große Lücken erzählen könnten.

178 Einen kurzen Einblick in die Geschichte des Geschlechterzahlenverhält-nisses im Rahmen der Evolutionstheorie bieten Uyenoyama/Feldman (1992,39f).

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besteht in einer Zunahme der Molekülbewegung, und wenn diese heftiggenug sind, zwischenmolekulare Kräfte zu überwinden, fliegen die Was-sermoleküle davon.“, so hat man ein ganzes Phänomen erklärt und nichtnur ein einzelnes Datum. Friedman (1988, 172) schreibt dazu:

Was erklärt wird, ist eine allgemeine Regelmäßigkeit bzw. ein Ver-haltensmuster – ein Gesetz, wenn man will – nämlich, daß Wasser zuverdampfen beginnt, wenn es erhitzt wird. Obwohl sich der überwie-gende Teil der philosophischen Erklärungsliteratur mit der Erklä-rung von Einzelereignissen beschäftigt, so scheint doch der in denobigen Beispielen illustrierte Erklärungstyp für die Naturwissen-schaften viel charakteristischer zu sein. Erklärungen von Einzelereig-nissen sind dagegen vergleichsweise selten – sie kommen höchstensvielleicht in der Geologie oder Astronomie vor.

Selbst wenn Friedman hier die Bedeutung von Gesetzeserklärungen et-was überbetont, bleibt doch der Punkt, daß zumindest ein großer Teilder wissenschaftlichen Erklärungen diesen allgemeineren Charakter be-sitzt. Erklärend sind dabei abstraktere strukturelle Zusammenhänge, dieeiner größeren Klasse von Fällen gemeinsam sind. Wie kann der Propo-nent einer kausalen Erklärungstheorie auf die Tatsache reagieren, daßErklärungen oft diese abstraktere Beschreibungsebene verlangen?

Diese Perspektive auf Erklärungen ermöglicht auch Einsichten in an-deren Bereichen der Philosophie. Auch wenn wir mit Davidson der Mei-nung sind, daß intentionale Zustände keine geeigneten Kandidaten fürechte physikalistische Erklärungen darstellen, so können sie trotzdemwesentliche Aspekte brauchbarer Erklärungen sein. Dennett hat gezeigt,wie wir selbst gegenüber Schachcomputern eine intentionale Einstellungmit Gewinn einnehmen können und ihnen einfache Wünsche und Über-zeugungen zuschreiben, um ihr Vorgehen zu verstehen. Das heißt nochnicht, daß sie diese Zustände im Sinne identifizierbarer konkreter kausa-ler Zustände besitzen. Das glauben wir nur von Menschen und eventuellnoch manchen Tieren. Trotzdem finden wir auch bei Schachcomputernentsprechende Verhaltensmuster mit Erklärungswert. Das läßt sich alsein Hinweis deuten, daß intentionale Erklärungen auch im allgemeinennicht als kausale Erklärungen gemeint sind. Überhaupt haben wir in vie-len Fällen vermeintlich kausaler Erklärungen noch genauer hinzuschau-en, ob es tatsächlich die Angabe von Ursachen ist, die erklärt, oder nichtvielmehr der Hinweis auf abstraktere Regelmäßigkeiten.

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c) Koexistenzgesetze

Verschärft wird das Problem für die kausalen Erklärungskonzeptionennoch durch einen speziellen Typ von Beispielen, den man als Erklärun-gen anhand von Koexistenzgesetzen bezeichnen kann. Unter einer kausa-len Beziehung stellt man sich normalerweise mindestens eine zeitlicheBeziehung vor, bei der die Wirkungen den Ursachen vorhergehen. Fürdie Koexistenzgesetze oder auch strukturelle Gesetze scheint diese Be-dingung aber nicht erfüllt zu sein, obwohl wir sie intuitiv trotzdem alserklärend einstufen. Ein klassisches Beispiel ist das Pendelgesetz, nachdem die Schwingungsdauer umgekehrt proportional zur Pendellänge fürideale Pendel ist. Mit seiner Hilfe können wir erklären, warum ein be-stimmtes Pendel eine bestimmte Schwingungsdauer aufweist, indem wirsie auf die Länge des Pendels zurückführen. Andere Beispiele sind Strah-lungsgesetze wie das Plancksche oder die Balmersche Serienformel oderauch Gleichgewichtsgesetze wie das Gasgesetz etc. Schurz (1983, 213ff)nennt noch andere Beispiele und meint, daß sogar die fundamentalenGrundgleichungen der Physik als Koexistenzgesetze aufgefaßt werdenkönnen, geben diese Differentialgleichungen doch immer einen momen-tanen Gleichgewichtszustand an. Das geht aber wohl etwas zu weit,denn immerhin tritt die Zeit in ihnen als ein wichtiger Parameter auf,der deutlich macht, wieso sie einen Ablauf beschreiben. Neben den Ko-existenzgesetzen finden wir Gesetze, die man eher als Strukturgesetzebezeichnen kann, die ebenfalls keinen Zeitfaktor enthalten. Etwa PaulisAusschlußprinzip, das im Rahmen der Quantenmechanik den Aufbaudes Periodensystems erklärt und speziell auch erklärt, wieso gerade Edel-gase chemisch besonders stabil und träge sind (s. Kitcher 1989, 428f).

Bemerkenswert ist dabei, daß auch für diese Gesetze das Phänomender Asymmetrie zu finden ist (s. dazu Schurz 1983), obwohl es in diesenBeispielgesetzen keine klar erkennbare kausale Struktur gibt. Sie deshalballe als nichterklärend auszuschließen, ist ebenfalls keine wirkliche Op-tion, denn damit würde man große Teile der Naturwissenschaften alsnichterklärend bezeichnen. Vielmehr zeigen sie, daß es dem kausalen Er-klärungsansatz nicht um wissenschaftliche Erklärungen per se geht, son-dern nur um einen bestimmten Typ von Erklärungen, nämlich kausaleErklärungen, was einem „Nein“ auf die Ausgangsfrage des Kapitelsgleichkommt. Natürlich können wir, um die kausale Erklärungstheoriean diesem Punkt zu retten, mit (Schurz 1983, 453ff) den Kausalitätsbe-griff entsprechend erweitern und auch diese Gesetze darunter fassen,wobei die Asymmetrie in einem versteckten Sinn doch auf eine zeitlicheBeziehung zurückzuführen ist. Aber das bedeutet erstens eine weitere

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Aufweichung und inhaltliche Entleerung des Kausalitätsbegriffs und au-ßerdem eine Interpretation der Gesetze, die man nicht unbedingt in al-len Fällen unterschreiben sollte.

Zwei weitere spezielle Typen von Erklärungen, die sich ebenfallsnicht ohne eine weitere Aushöhlung des Kausalitätskonzepts in den Rah-men der kausalen Erklärung einbetten lassen, nennt Achinstein (1983,233ff). Da sind zum einen die klassifikatorischen Erklärungen, die eineAntwort auf Fragen wie: „Warum hat Eisen die Nummer 26 im Peri-odenssystem der Elemente?“ geben. Eine derartige Erklärung würde et-wa darauf verweisen, daß die Nummern im Periodensystem anhand derProtonenzahlen im Atomkern vergeben werden und Eisen gerade 26Protonen aufweist. Einen anderen Typ von Erklärungen sieht Achinsteinnoch in „Identitätserklärungen“. Auf die Frage, warum auch Eis Wasserist, könnte man z. B. antworten, daß Wasser zu sein gerade durch die Ei-genschaft, aus H2O Molekülen zu bestehen, definiert ist und Eis eben-falls aus H2O Molekülen besteht. Auch auf die Frage, warum schwerereMassen höhere Kräfte benötigen, um beschleunigt zu werden, könnenwir eine Erklärung anhand der Identität von schwerer und träger Massegeben, die sich ebenfalls nicht als kausale Erklärung anbietet.

Angesichts der Vielzahl und Vielfältigkeit der Beispiele drängt sichder Eindruck auf, daß die kausalen Erklärungen nur eine echte Teilklasseder (wissenschaftlichen) Erklärungen ausmachen. Dieser Eindruck wirdnoch in zwei weiteren Bereichen bestätigt.

d) Theoretische Erklärungen

In Abschnitt (C.3.a) hatte ich bereits darauf hingewiesen, daß viele wis-senschaftliche Erklärungen nicht Erklärungen einzelner konkreter Ereig-nisse sind, sondern eher Erklärungen von Phänomenen also Ereignisty-pen oder sogar Gesetzen. Für den Fall von Gesetzeserklärungen oder Er-klärungen ganzer Theorien hat sich auch der Begriff der Reduktion ein-gebürgert, was uns aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß es ei-nen kontinuierlichen Übergang zwischen Erklärungen und Reduktionengibt, den eine Erklärungstheorie zumindest verständlich machen sollte.Man denke unter dem Stichwort der Reduktion oder „theoretischen Er-klärung“ etwa an Beispiele wie die Erklärung der Keplerschen Gesetzedurch die Newtonschen, der Mendelschen durch die Molekulargenetik,der phänomenologischen Thermodynamik durch die statistische Mecha-nik, der Balmer Formel durch das Bohrsche Atommodell usf.

Für die Hempelsche Erklärungstheorie ist es der Fall, daß sie für denZusammenhang zwischen Erklärungen und Reduktionen eine hilfreiche

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Erläuterung zur Hand hat. Im Prinzip können wir das DN-Modell näm-lich auch auf die Erklärung von Gesetzen ausdehnen. Die KeplerschenGesetze werden dabei z. B. abgleitet aus den Gleichungen der Newtons-chen Gravitationstheorie zusammen mit einigen Tatsachen über unserSonnensystem (s. etwa Scheibe 1973). Hempel und Oppenheim (1948)sahen bei dieser Art von Ableitungen allerdings ein Problem, daß sie da-vor zurückschrecken ließ, nämlich die Gefahr der irrelevanten Herlei-tung, die allerdings, wie wir heute wissen, ebenso andere DN-Ableitun-gen bedroht. Man könnte das Keplersche Gesetz auch aus einer Kon-junktion von Keplerschem Gesetz und einem chemischen Gesetz wiedem Kirchhoffschen Satz deduzieren. In solchen Fällen würden wir na-türlich nicht von einer Erklärung sprechen, denn die setzt eine „tiefere“Theorie voraus, die sich nicht einfach als Konjunktion zweier beliebigerGesetze erweist. Die erklärende Theorie sollte statt dessen eine „organi-sche Einheit“ bilden, die das zu erklärende Gesetz nicht konjunktiv ent-hält (s. dazu IX.E.8).

Anhand einer derartigen Erweiterung um eine Forderung nach orga-nischer Einheit wäre das Hempelsche Erklärungsmodell zumindest imPrinzip in der Lage, die Erklärung von Gesetzen analog zu der Erklärungvon Einzelereignissen zu beschreiben. Es bleibt allerdings noch ein Pro-blem, auf das man dabei in der Praxis solcher Erklärungen stößt, näm-lich daß alle interessanten Reduktionen aus der Physik aber auch ande-ren Gebieten immer approximative Reduktionen sind, die keine strengenDeduktionen gestatten. Auf den ersten Blick könnte man darin sogareine Unterscheidung zwischen Erklärungen und Reduktionen erblicken,aber eine genauere Untersuchung ergibt, daß auch alle Einzelfallerklä-rungen jedenfalls für quantitative Theorien letztlich approximativenCharakter haben. Mit solchen Approximationen nicht auf überzeugendeWeise fertigzuwerden, ist kein spezielles Manko des Hempelschen An-satzes, sondern eher ein allgemeines Problem syntaktischer Darstellun-gen von Theorien (s. VII.C.9).179

Lassen wir das Problem der Approximationen zunächst außer Acht,kann Hempel im Prinzip erklären, wie der Übergang von Erklärungen zuReduktionen aussieht, wenn das DN-Schema auch in der Ausgestaltungversagt. Doch was hat der Proponent kausaler Erklärungstheorien dem-gegenüber anzubieten? Kitcher (1989, 429ff) erörtert dazu einige Mög-lichkeiten, die aber alle nicht wirklich zufriedenstellen können. Der

179 Die notwendigen Approximationen sind auch wiederum ein Hinweis,daß das zu erklärende Gesetz nicht einfach konjunktiv in der erklärenden Theo-rie enthalten ist.

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Kausalitätstheoretiker muß immer weggehen von konkreten kausalenBeziehungen, wo er sich zu Hause fühlt, zu allgemeineren Beziehungen,für die keineswegs wesentlich ist, daß ihre Instanzen kausale Relationendarstellen.

e) Erklärungen in der Quantenmechanik

Ein Gebiet, das ich aus Gründen der Einfachheit weitgehend ausklam-mern möchte, muß an dieser Stelle nun doch noch kurz zur Sprachekommen, die statistischen Erklärungen. Unser Alltagsverständnis vonKausalität ist überwiegend das eines determinierten Ablaufs, wobei Inde-terminiertheiten und statistische Gesetze eher auf Unkenntnis also aufepistemische Inderterminiertheit zurückzuführen sind als auf ontologi-sche Unbestimmtheiten. Das entspricht zunächst auch dem SalmonschenAnsatz, der sich als Hintergrund auf die Spezielle Relativitätstheoriestützt, die eine deterministische Struktur besitzt. Doch in vielen Berei-chen stoßen wir auf statistische Erklärungen, die man zumindest imPrinzip in einem Erklärungsansatz berücksichtigen können muß. Seit derprobabilistischen Revolution dringen statistische Hypothesen in immergrößere Bereiche unseres Lebens vor. Man denke nur an die Gesell-schaftswissenschaften, in denen wohl die meisten Gesetze probabilisti-schen Charakter haben, aber auch an einige Bereiche der Naturwissen-schaften, für die schon Hempel höchstens statistische Gesetze erwartethat. Um das in der kausalen Erklärungstheorie umsetzen zu können,müssen wir von einer deterministischen Kausalitätsvorstellung zu einerprobabilistischen übergehen. Damit wird jede Kausalitätskonzeption aufeine schwere Probe gestellt, der sie sich stellen muß, will sie nicht nurlängst überholte Vorstellungen von Kausalität rekonstruieren, sondernauch in den heutigen Wissenschaften eine Rolle spielen können.

Dabei kann man die Bedeutung der Wahrscheinlichkeiten für dieklassische Physik noch herunterspielen, denn für sie läßt sich die epi-stemische Interpretation von Wahrscheinlichkeitsgesetzen vertreten. Da-nach könnten wir z. B. in der statistischen Mechanik im Prinzip die Bah-nen aller einzelner Moleküle im Rahmen der klassischen Partikelmecha-nik vorausberechnen, wenn wir ihre Anfangszustände nur genau bestim-men könnten und genügend Rechenkapazitäten besäßen – so lautet zu-mindest die klassische Vorstellung. Das zeigt, daß diese Bahnen im Sinneder klassischen Mechanik determiniert sind. Der Zustand der Welt zu ei-ner bestimmten Zeit legt die Zustände für alle weiteren Zeiten fest. Nurda wir die „Mühe scheuen“, dieses Unterfangen der einzelnen Vorausbe-rechnung und der Ermittlung aller Anfangswerte tatsächlich durchzufüh-

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ren, arbeiten wir mit statistischen Beschreibungen, die einfach unserenunvollständigen Kenntnisstand wiedergeben.180 Auf diese Art ließen sichschließlich kausale Erklärungstheorie und klassische statistische Gesetzeund Erklärungen miteinander versöhnen. Salmon (1984, Kap. 6) entwik-kelt zu diesem Zweck seine Theorie der kausalen Gabelungen (causalforks), mit den drei Typen „conjunctive fork“, „interactive“ und „perfectfork“, wobei die konjunktive Gabelung die wichtigste ist. Sie entsprichtweitgehend dem sogenannten „Common Cause“ Modell (CC Modell)der statistischen Erklärung aus Reichenbachs The Direction of Time(1956).

Dieses CC-Modell verfolgt einen elementaren Gedanken, den ich aneinem Beispiel erläutern möchte. Für zwei Ereignisse A und B liegt ge-nau dann eine positive Korrelation zwischen A und B vor, wenn gilt:

P(A&B) > P(A) P(B)181

In Salmons Beispiel (1984, 161f) sind die beiden Ereignisse jeweilsdurch das Würfeln einer 6 mit einem von zwei Würfeln charakterisiert.Handelt es sich um faire Würfel, treten die Ereignisse A (Würfel 1 zeigteine 6) und B (Würfel 2 zeigt eine 6) jeweils mit Wahrscheinlichkeit 1/6auf und A&B, wenn es sich beim Sechsenwerfen um voneinander unab-hängige Ereignisse handelt, mit Wahrscheinlichkeit 1/36. Findet sichaber eine Korrelation zwischen den beiden Würfelergebnissen, nach derein Pasch 6 signifikant häufiger auftritt als 1/36, stellt sich die Fragenach einer Ursache dieses Zusammenhangs. Beide Würfel enthalten viel-leicht einen kleinen Magneten und der Würfeltisch einen Elektromagne-ten, der die Wahrscheinlichkeit für gemeinsame Sechsen stark erhöht,wenn er eingeschaltet wird (Ereignis C). Von C sagen wir dann, daß es

180 Die Überlegungen über prinzipielle Unschärfen (s. VII.C.9) geben schonHinweise, daß diese Vorstellung auch im klassischen Rahmen nicht überzeugendwirkt. Für chaotische Systeme müßten wir die Anfangsbedingungen „unendlichgenau“ kennen, um eine Vorhersage abgeben zu können. Das setzt aber eineganz unrealistische Interpretation der Theorien voraus, die Unschärfen außerAcht läßt.

181 Zur Schreibweise: P(A) bezeichne die Wahrscheinlichkeit von A,P(A&B) die Wahrscheinlichkeit, daß A und B zusammen auftreten und P(A|B)die Wahrscheinlichkeit dafür, daß A auftritt, gegeben, daß B auftritt. Hier zeigtsich auch ein Zusammenhang zur statistischen Relevanzbeziehung, nach der Bstatistisch relevant für A ist, wenn P(A|b) P(A). Das ist äquivalent mit der Be-dingung, daß eine Korrelation zwischen A und B vorliegt und im Falle P(A|B) >P(A) ist diese positiv.

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die beobachtete Korrelation erklärt, wenn A und B bei gegebenem Cwieder statistisch unabhängig werden, d.h.:

(CC) P(A&B|C) = P(A|C) P(B|C)

Man sagt dann auch, daß C die gemeinsame Ursache (common cause)von A und B ist. Wissen wir schon, daß der Elektromagnet an ist, kön-nen wir die Wahrscheinlichkeit für A&B wieder aus den Einzelwahr-scheinlichkeiten durch Multiplikation bestimmen; es gibt also keine er-klärungsbedürftige Korrelation mehr.

Ein Beispiel aus der Praxis der Common-Cause-Vorstellung disku-tiert van Fraassen (1980, 25ff). Zwischen starkem Rauchen und Lungen-krebs tritt eine signifikante Korrelation auf, d.h. das Auftreten von Lun-genkrebs ist unter Rauchern deutlich höher als in der Gesamtbevölke-rung. Eine Erklärung, die dafür naheliegt, ist das vorgängige Rauchver-halten, das sowohl zu dem heutigen Rauchverhalten wie auch dem Lun-genkrebs geführt hat. Ob sie bereits die ganze Erklärung (im Sinne dervollständigen Ursache) liefert oder vielleicht andere Aspekte wie einGen, das für beide Neigungen verantwortlich ist – diese Alternative wur-de in amerikanischen Diskussionen über die Gefahren des Rauchens vonbestimmten Gruppen vertreten –, ebenfalls noch ins Spiel kommen,kann dann anhand der Gleichung (CC) im Prinzip ermittelt werden. Dasist in diesem Fall natürlich von großer praktischer Bedeutung. Wäre einGen der Common Cause und sowohl für die Neigung zum Lungenkrebswie auch die zum Nikotingenuß verantwortlich, hätten wir keinenGrund mehr, mit dem Rauchen aufzuhören oder es gesetzlich einzu-schränken. Das Risiko, Krebs zu bekommen, hinge in dem Fall nur vondem Gen und nicht vom Rauchverhalten ab.

Das CC-Modell gestattet es, eine Reihe von statistischen Zusammen-hängen zu erklären, und für Salmon sind es vor allem diese Zusammen-hänge zwischen Prozessen, die die kausale Struktur unserer Welt bestim-men. In der Diskussion von Salmons Ansatz haben sich aber inzwischeneine ganze Reihe von Schwachstellen des Modells gezeigt, die seine an-fängliche Plausibilität in Frage stellen. Von verschiedenen Seiten wurdeetwa ein Zirkularitätsvorwurf gegen Salmons Explikationen geäußert.Kitcher erwähnt in (1985, 638), wie eng die Begriffe „Prozeß“, „kausa-ler Prozeß“, „Wechselwirkung“ und „Zeichen“ zusammenhängen undDowe (1992, 200f) zeigt, daß hier eine Zirkularität der Explikationschlummert. Auch ist der Zusammenhang zwischen Ursachen und denkonjunktiven Gabelungen unklar. Dowe (1992, 204ff) greift einige Bei-spiele von Salmon für Verursachung auf: Die Wucht des Hammers treibt

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ihn in das Holz; der Blitz entzündet den Wald etc. In keinem dieser Fälleist überhaupt die Rede von einer Korrelation. Andererseits finden wirbemerkenswerte Korrelationen, die nichts mit Verursachung zu tun ha-ben. Unsere Theorien über Moleküle erklären, daß wir denselben Wertfür die Avogadrosche Zahl erhalten, ob wir sie mit Hilfe der Bro-wnschen Bewegung ermitteln oder anhand von Röntgenbeugungsexperi-menten. Die konjunktive Gabelung gestattet es, derartige Fälle zu analy-sieren, aber es liegen deshalb noch keine Kausalbeziehungen vor. Vieleweitere Einwände in dieser Richtung zeigen deutlich, wie schwer es ist,eine zweckmäßige Explikation von probabilistischer Kausalität zu geben,die vor unserem heutigen Weltbild bestehen kann und auch auf unseretypischen Fälle von kausalen Zusammenhängen anwendbar ist.

Endgültig problematisch wird diese Analyse probabilistischer Kausa-lität allerdings, wenn wir sie in der Quantenmechanik einsetzen wollen,die ja einen der Gründe für die große Bedeutung statistischer Analysendarstellt. Salmon ist sich der Bedeutung und Einzigartigkeit dieser Theo-rie voll bewußt, wenn er sagt (1989, 173): „Quantum mechanics (inclu-ding quantum electrodynamics and quantum chronodynamics) has hadmore explanatory succcess than any other theory in the history of sci-ence.“ Insbesondere wischt er auch die Konsequenzen aus der Theoriewie die Korrelationen vom „EPR-Typ“182 nicht leichtfertig vom Tisch,sondern unterschreibt David Mermins Einschätzung, daß „anyone whoisn’t worried about this problem has rocks in their head“ (Salmon 1989,186). In den von der Quantenmechanik beschriebenen Situationen vomEPR-Typ ist die Common-Cause Konzeption aber nicht anwendbar, wasauch Salmon zugibt.

Eine sehr sorgfältige Analyse, der hier auftretenden Probleme findetsich bei van Fraassen (1991, 81ff)183. Die formale Rekonstruktion derEPR-Situationen durch van Fraassen kann ich hier nicht aufgreifen, son-dern nur die inhaltlichen Ergebnisse informell erörtern. Auf Situationendieses Typs ist man zwar erstmalig innerhalb der Quantenmechanik indem berühmten Aufsatz von Einstein, Podolsky und Rosen aufmerksamgeworden, sie lassen sich aber unabhängig von der Quantenmechanikbeschreiben und inzwischen sogar experimentell realisieren. Das zeigt,daß sie nicht nur exotische Konsequenzen einer vielleicht doch nicht inallen Aspekten korrekten Theorie sind, sondern Merkmale unserer Welt,

182 „EPR“ bezieht sich auf Situationen des Typs, die in dem berühmtenAufsatz von Einstein-Podolsky-Rosen (1935) beschrieben werden und unter demNamen EPR-Paradoxon bekannt geworden sind.

183 Und schon in van Fraassen (1982).

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mit denen eine Kausalitätstheorie umzugehen hat. Um diese Situationenzu veranschaulichen, möchte ich nicht nur abstrakt über diese Situatio-nen sprechen, sondern anhand einer stark vereinfachten Skizze realisti-scher Beispiele.

Man denke dazu an Elektronen oder Photonen, die aus einer ge-meinsamen Quelle in zwei entgegengesetzte Richtungen ausgesandt wer-den. An zwei entfernten Stellen werden dann ihre jeweiligen Spins be-stimmt. Dabei ergibt sich – entsprechend dem Gesetz der Erhaltung desDrehimpulses – eine perfekte Korrelation, nach der die beiden Teilchenimmer entgegengesetzten Spin aufweisen. Nehmen wir als zusätzlichegenauere Beschreibung des Phänomens zur perfekten Korrelation nochdie Lokalitätsbedingung hinzu, die man auch experimentell überprüfenkann, daß der Ausgang des Experiments auf der einen Seite unabhängigdavon ist, ob ich auf der anderen Seite auch eine Messung vornehme.Dann erhalten wir eine Situation, die sich nach van Fraassen nur in ein„kausales Modell“ einbetten läßt, wenn gewisse empirische Annahmenzutreffen, die durch die Bellschen Ungleichungen184 beschrieben wer-den. Um diesen Gedanken besprechen zu können, stellt sich zunächstdie Frage, was dabei unter einem „kausalen Modell“ zu verstehen ist. Zudiesem Zweck nennt van Fraassen (1991, 89) drei Bedingungen, diekausale Modelle charakterisieren sollen185. Die wesentlichste ist die For-derung nach einer gemeinsamen Ursache für unsere Korrelation, die diebeiden Meßergebnisse gegeneinander abschirmt, die auch van Fraassenfür eine Art von Minimalbedingung für Kausalität hält. Dazu kommenzwei weitere Lokalitätsbedingungen, die besagen, daß die gemeinsameUrsache (als zeitlich vorgängiges Ereignis) nicht von den Messungen be-einflußt wird und auch bei gegebenem „Common-Cause“ die oben ge-nannte Lokalität erhalten bleibt (sonst würde eine Trivialisierung mög-lich, indem man als gemeinsame Ursache einfach die Konjunktion derMeßergebnisse wählt).

Sind diese fünf Bedingungen erfüllt (die zwei, die das Phänomen be-schreiben und die drei, die uns sagen, was ein kausales Modell für dasPhänomen sein soll), lassen sich, ohne die Quantenmechanik bemühenzu müssen, die auf Bell (1964 und 1966) zurückgehenden Ungleichun-gen für bestimmte konditionale Wahrscheinlichkeiten ableiten. Die Un-gleichungen der Wahrscheinlichkeiten sind aber einer experimentellen

184 Die Ungleichungen finden sich an verschiedenen Stellen bei van Fraas-sen (1991), z. B. auf S. 93.

185 Das sind die Bedingungen, die aus der Diskussion von EPR-Situationenbekannt sind.

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Überprüfung zugänglich, und wir können also testen, ob die Welt tat-sächlich so ist, wie es aus unserer Forderung nach einem kausalen Mo-dell folgen würde. Das EPR-Paradox sagt uns, daß die Quantenmecha-nik diese Behauptung verneint, aber es ist erst in den letzten Jahrzehnteninsbesondere in den Experimenten von Aspect und anderen (z. B. 1982und 1985) gelungen zu demonstrieren, daß das nicht nur eine exzentri-sche Konsequenz der Quantenmechanik ist, sondern daß die Verletzungder Bellschen Ungleichungen auch experimentell bestätigt werden kann.Intuitiv widerlegen die experimentellen Resultate unsere Anfangsvermu-tung, der jeweilige Spin der Teilchen wäre schon in der Abstrahlungs-quelle festgelegt worden. Ein solcher Common Cause für die perfekteKorrelation ist mit der Quantenmechanik und den Aspect Ergebnissennicht vereinbar. Das belegt, daß sich unsere präzisierten Vorstellungenvon Kausalität auf diese Systeme nicht anwenden lassen, obwohl wirauch nicht sagen möchten, es handele sich um nichtkausale Zusammen-hänge. Dabei ist „experimentelle Überprüfung“ natürlich immer mit denProblemen und Risiken behaftet, die Duhem schon genannt hat, wonachwir uns jeweils auf andere Theorien unseres Hintergrundwissens zu stüt-zen haben; sie ist daher natürlich mit der entsprechenden Vorsicht zu be-werten. Gleichwohl haben wir alle Gründe für die angegebenen Be-schreibungen auf unserer Seite und der bloße Hinweis, daß wir zurInterpretation der Messungen immer auf andere Annahmen angewiesensind, die vielleicht falsch sein könnten, trägt kaum zur Rettung der kau-salen Modelle bei.

Also haben wir wiederum einen grundlegenden Phänomenbereichgefunden, für den wir zwar über exzellente wissenschaftliche Darstellun-gen in Form der Quantenmechanik verfügen, der sich aber nicht in einkausales Modell, noch nicht einmal ein statistisches vom Typ CC, einbet-ten läßt. Die Forderung nach einem „Common Cause“ stößt spätestenshier an eine Grenze. Salmon erwägt noch zwei Hypothesen, um seineKausalitätsvorstellung mit den EPR-Situationen zu versöhnen. Die ersteist die Aufgabe der Lokalitätsvorstellung und die Annahme einer Fern-wirkung (Salmon 1984, 250ff). Allerdings ist die Annahme einer derarti-gen Fernwirkung relativ ad hoc, und es gibt keine empirischen Hinweiseauf Fernwirkungen. Gerade für Salmon würde dieser Weg auch eine wei-tere Aufweichung seiner Vorstellung von Kausalität bedeuten, weil damiteine wesentliche Eigenschaft der kausalen Übertragung in der Relativi-tätstheorie aufgegeben würde und man für Fernwirkungen nicht mehr ineinem anspruchsvollen Sinn des Wortes von einem kausalen Prozeß derÜbertragung sprechen könnte. Die zweite Brückenhypothese, die Sal-

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mon (1984, 256ff) in Betracht zieht, ist eine holistische Sicht physikali-scher Systeme mit „remote conservation“, aber sie wird auch nicht wei-ter ausformuliert, so daß Salmon das Gebiet der Erklärungen in derQuantenmechanik weitgehend unverrichteter Dinge verlassen muß.

Wie ausgesprochen schwierig es ist, eine statistische Theorie derKausalität zu entwerfen, dokumentiert auch ein Beispiel von MichaelTooley. Eine geradezu minimale Anforderung an die Ursache U einerWirkung E scheint zu sein, daß U die konditionale Wahrscheinlichkeitvon E erhöht:

P(W,U) > P(W)

Doch selbst diese harmlose Bedingung (Suppes spricht davon, daß U indiesem Fall prima facie Ursache von W sei) hat antiintuitive Konsequen-zen. Tooley (1987, 234f; Sosa/Tooley 1993, 20f) erläutern das an folgen-dem Fall: Nehmen wir an, es gäbe zwei Krankheiten A und B, wobei Amit Wahrscheinlichkeit 0,1 zum Tode führt und B mit 0,8. Jede derKrankheiten würde einen aber auf Dauer gegen die andere immunisie-ren. Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, die unangenehme Erkran-kung B zu bekommen gerade ½. Wenn wir einmal von anderen Risiko-faktoren absehen, wäre die unkonditionale Wahrscheinlichkeit zu ster-ben mindestens 0,4 — allein durch die Möglichkeit an B zu erkrankenund daran zu sterben. Wenn jetzt aber jemand A bekommt, sinkt seineSterbewahrscheinlichkeit auf 0,1, da ihm nun jedenfalls B erspart bleibt.Sollte diese Person dann an A sterben, war die Infizierung mit A die Ur-sache seines Todes, obwohl es seine Sterbewahrscheinlichkeit nur herab-gesetzt hat. Mit rein statistischen Mitteln scheinen wir dem Ursachen-konzept nicht so einfach beizukommen.

Das grundsätzliche Problem kausaler Theorien und speziell von Sal-mons Ansatz, die zwei folgenden Anforderungen unter einen Hut zubringen, ist daher nicht gelöst worden. Erstens eine gehaltvolle Analysevon Kausalität anzugeben, die auf der einen Seite möglichst alle Fälle be-inhaltet, in denen wir üblichererweise von Kausalität sprechen, die aberauf der anderen Seite noch Informationen liefert, die über eine Hume-sche Analyse hinausgehen und eine gewisse Substanz besitzen. Zweitenseine Explikation zu erbringen, die sich nicht kurzerhand auf geheimnis-volle Notwendigkeiten in der Natur stützt, sondern auf Zusammenhän-ge, die kohärent in unser heutiges Weltbild einzubetten sind und auf diewir daher auch in Erklärungen tatsächlich bezug nehmen können. Dazuberuft sich Salmon auf die Kausalitätsvorstellung der speziellen Relativi-tätstheorie, zumal diese unseren intuitiven Konzeptionen von Kausalität

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wohl am nächsten kommt. Damit kann er zwar gehaltvolle Aussagenüber Kausalität aufstellen – wenn auch keinesfalls unkontroverse, wiewir gesehen haben –, aber er ist dann auch auf eine bestimmte Vorstel-lung von Kausalität festgelegt, die sich für viele Bereiche als unangemes-sen erweist. Sie beinhaltet die Konzeption raumzeitlich kontinuierlicherVorgänge und ist weitgehend deterministisch. Daran ändert letztlichauch Salmons Theorie der Gabelungen nichts Wesentliches, denn auchdiese ist nur anwendbar, wenn die Vorgänge eigentlich deterministischsind (s. van Fraassen 1991, 85). Versuche, dennoch eine Versöhnung vonKausalität mit tatsächlich probabilistischen Vorgängen zu erreichen, wiedie genannten von Salmon oder andere von Cartwright (1988), habenzunächst einen gewissen ad hoc Charakter und entfernen sich immerstärker von unserem gewöhnlichen Kausalitätsbegriff, wodurch Kausali-tät als eine zunehmend uninteressantere Beziehung erscheinen muß. Imnächsten Abschnitt möchte ich der Vermutung, daß dieses Problem un-lösbar sein könnte, weitere Gründe hinzufügen.

f) Eine deflationäre Theorie der Kausalität

Was berechtigt uns dazu, in bestimmten Fällen das Vorliegen einer Kau-salbeziehung zu vermuten, und warum geht diese Vermutung über diebeobachteten Regularitäten oder gesetzesartigen Verknüpfungen hinaus?Van Fraassen argumentiert in (1980) und einer Reihe anderer Arbeitenfür seine empiristische Wissenschaftskonzeption, die er als konstruktivenEmpirismus bezeichnet. Dessen hervorstechendstes Merkmal ist sein wis-senschaftlicher Antirealismus und, man muß wohl sagen, eine letztlichinstrumentalistische Interpretation der Wissenschaft.186 Der möchte ichmich nicht anschließen, aber doch einem anderen Aspekt der van Fraas-senschen Wissenschaftsauffassung, nämlich seiner skeptischen Einschät-zung von Kausalität, die man eine Art von deflationärem Verständnis derKausalität nennen könnte. Es drückt sich aus in einem „Definitionsvor-schlag“ (van Fraassen 1980, 124):

the causal net = whatever structure of relations science describes

Van Fraassens Begründung für eine so stark verwässerte Konzeption dervon Philosophen geliebten Kausalität, stützt sich auf seine Untersuchun-gen zur Quantenmechanik. Dazu möchte ich noch einige allgemeinere

186 Van Fraassen ist ein wenig vorsichtiger als die klassischen Instrumentali-sten, weil er nicht behauptet, es gäbe keine theoretischen Entitäten, sondern„nur“ eine agnostische Haltung ihnen gegenüber empfiehlt, aber das macht ihnaus der Sicht eines Realisten auch nicht schöner.

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Überlegungen hinzufügen. Seit Humes Kritik am Kausalitätskonzept gibtes eine philosophische Diskussion um den Kausalitätsbegriff mit zahlrei-chen Explikationsvorschlägen. Insbesondere Regularitätskonzeptionenvon Kausalität, wie man sie schon bei Hume findet, und hierhin rechneich auch Vorschläge (Hempel, Stegmüller), die Kausalität über be-stimmte Ablaufgesetze definieren wollen, passen eigentlich zu der vonvan Fraassen geäußerten Vorstellung. Für bestimmte Regularitäten, dievon den Wissenschaften als zeitliche Prozesse beschrieben werden,spricht man dann von kausalen Beziehungen. Diese minimale Forderungan kausale Vorgänge kann man kaum tadeln und einem entsprechendenVerständnis von Kausalität möchte auch ich mich anschließen. Problema-tisch wird der Kausalitätsbegriff erst dort, wo zusätzlich eine Form vonNotwendigkeit in der Natur und nicht nur in unseren Beschreibungenbehauptet wird.187 Der deflationäre Kausalitätsbegriff faßt dagegen ein-fach Ablaufgesetze unter dem Stichwort der Kausalität zusammen, ohnedamit die Behauptung zu verbinden, hiermit werde eine besondere Rela-tion zwischen Ereignissen beschrieben, die sich durch gemeinsame rela-tionale Eigenschaften von anderen Beziehungen zwischen Ereignissenabgrenzen lassen. Oder anders ausgedrückt, es wird mit „Kausalität“nicht eine substantielle Eigenschaft in der Natur bezeichnet, sondern nurgewisse Ähnlichkeiten von Ablaufgesetzen, die die Wissenschaft aufstellt.

In unseren Common Sense Theorien der Welt finden wir Konzeptio-nen von Kausalität, die auch von Philosophen aufgegriffen wurden, wo-nach Ereignisse oder Gegenstände andere Ereignisse in ihrer näherenUmgebung mit Hilfe ihrer kausalen Eigenschaften notwendig hervor-bringen können. Diese Konzeption ist häufig deterministisch zu verste-hen. Kant nahm sogar an, daß wir eine Vorstellung eines deterministi-schen kausalen Zusammenhangs in der Welt annehmen müssen, um dievielfältigen Erscheinungen unserer Erfahrung überhaupt in eine ver-ständliche Ordnung bringen zu können. Die Entwicklung unseres Bildesder Welt hat unter dem Eindruck der Naturwissenschaften aber eineWeiterentwicklung in einer anderen Richtung erfahren, und ich möchtekurz resümieren, welche inhaltlichen Vorstellungen wir eigentlich mitder Kausalbeziehung noch verbinden können. Einen ersten Einblick bie-ten dazu die kausalen Rahmentheorien, die in der Physik verwendetwerden, innerhalb derer spezielle physikalische Theorien angesiedeltsind.

Da ist zunächst die klassische Physik, die stark durch mechanistischeVorstellungen geprägt ist und geradezu das wissenschaftliche Gegen-

187 Wogegen van Fraassen auch explizit in (1977) argumentiert.

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stück unserer Common Sense Theorien der Kausalität zu sein scheint.Doch die Newtonsche Mechanik entpuppt sich bei genauerem Hinsehenüberraschenderweise als nicht so intuitiv und leichtverständlich wie zu-nächst angenommen. Zunächst beinhaltet Newtons Gravitationstheoriedie ihm auch selbst suspekten unmittelbaren Fernwirkungen. Danach übtein Körper eine Wirkung auf einen sehr entfernten Körper ohne Zeitver-zögerung und ohne Vermittlung eines dazwischenliegenden Mediumsaus. Hierfür finden wir kaum ein plausibles Modell in unserem Alltags-verständnis einer kausal strukturierten Welt. Das paßt auch genauge-nommen nicht recht in eine konsequente mechanistische Vorstellung derWelt, wie sie etwa noch von Descartes intendiert war. Wenn man vonden Gravitationskräften einmal absieht, verhält sich die klassische Me-chanik jedoch überwiegend gutartig. Sie wurde lange Zeit auch für einedeterministische Theorie gehalten, was sich allerdings als falsch erwies,wie Earman (1986, 32ff; 1989,177f) anhand der sogenannten „invadersfrom infinity“ zeigen konnte. Allerdings hat sie eine deterministischeGestalt, solange man nur kausal isolierte und beschränkte Raum-Zeit-Gebiete betrachtet, was ich als lokale Determiniertheit bezeichne. Bessersteht es da schon um die Spezielle Relativitätstheorie, die weder Fernwir-kungen gestattet, noch entsprechende Verletzungen des Determinismusaufweist. Diese Gutartigkeit der speziellen Relativitätstheorie und ihreNähe zu unseren intuitiven Konzeptionen von Kausalität mag das Motivsein, das Salmon (1984) bewog, diese Theorie als Hintergrund für seineVorstellung von Kausalität und Erklärung zu wählen, wobei er aller-dings, bestimmte statistische Formen von Kausalität mit einzubeziehenversuchte. In der allgemeinen Relativitätstheorie sind zwar keine Fern-wirkungen zugelassen, aber durch sogenannte Singularitäten in derRaum-Zeit-Mannigfaltigkeit entsteht auch hier eine Indeterminiertheitdes Weltgeschehens durch die vorherigen Weltzustände. In den Singula-ritäten nimmt die Raum-Zeit-Metrik unendliche Werte an, aber eine ge-nauere Bestimmung, worum es sich dabei handelt, ist an dieser Stellenicht möglich.188 Die Existenzsätze für Singularitäten von Hawking undPenrose zeigen jedenfalls, daß man dieses Phänomen zumindest im gro-ßen Maßstab ernst zu nehmen hat, obwohl es lokale Bereiche gibt, in de-nen sich die allgemeinrelativistischen Theorien deterministisch verhal-ten.

Endgültig scheitern müssen unsere intuitiven Kausalitätsvorstellun-gen im Fall der Quantenmechanik. Sie ist die erste genuin statistische

188 Siehe Earman (1989, 185ff) und z. B. Hawking/Ellis (1973) über Singu-laritäten.

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Theorie unter den angeführten Theorien. Hier ist kaum der geeigneteOrt für eine ausführlichere Diskussion der Quantenmechanik, aber eini-ge Anmerkungen sollen dennoch folgen. Viele Interpretationsproblemeder Quantenmechanik ranken sich um ihre bekannten Paradoxien insbe-sondere das Einstein-Podolsky-Rosen Paradox. Sein Widerstand gegeneine verständliche Interpretation der Theorie hat sogar dazu geführt,daß es auch Vorschläge gibt, die Quantenmechanik wieder als eine Fern-wirkungstheorie zu denken (s. o.). Eindeutig ist jedenfalls, daß es sichbei ihr um eine nicht deterministische Theorie handelt (s. z. B. Earman1986, 226ff). Ein geradezu paradigmatisches Beispiel für einen indeter-ministischen Prozeß ist der radioaktive Zerfall. Für ein einzelnes RadiumAtom ist nicht festgelegt, wann es tatsächlich zerfällt. Man kann besten-falls Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Zeiträume angeben. Die Schrö-dingersche -Funktion beschreibt die zeitliche Entwicklung eines quan-tenmechanischen Zustands zwar in deterministischer Weise, aber jederderartige Zustand bietet selbst wiederum nur eine Wahrscheinlichkeits-verteilung für alle meßbaren Größen eines quantenmechanischen Sy-stems an. Dazu kommt noch, daß die Schrödingergleichung den Meß-prozeß selbst nicht beschreiben kann, so daß dieser der deterministi-schen Entwicklung der Wahrscheinlichkeiten noch zusätzlich einenStrich durch die Rechnung macht. Eine Tabelle soll noch einmal imÜberblick zeigen, wie heterogen die gerade betrachteten Kausalitätsvor-stellungen sind.

Einige Kausalitätsvorstellungen in der Physik

Fernwirkun-gen

determini-stischlokal/global

probabili-stischeGesetze

klassische Mechanik ja ja/nein neinSpezielleRelativitätstheorie

nein ja/ja nein

AllgemeineRelativitätstheorie

nein (ja)/nein nein

Quantenmechanik unbestimmt nein/nein ja

Das Dilemma des Kausalitätstheoretikers läßt sich damit noch einmal soformulieren: Jede Kausalitätstheorie muß sich entweder einer dieserKonzeptionen anschließen und damit viele Beispiele aus anderen Berei-chen ausschließen, oder sie ist so allgemein abzufassen, daß sie diese he-

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terogenen Bereiche gleichermaßen beinhaltet, was nur durch entspre-chende Inhaltslosigkeit des Kausalitätskonzepts zu erreichen ist. Folgtman van Fraassen, hat eine nicht-deflationäre Kausalitätstheorie sogarmit noch größeren Problemen zu kämpfen als dem, welche Kausalitäts-vorstellung sie wählen sollte. Die Quantenmechanik erlaubt, wie ich imvorigen Abschnitt erläutert habe, keine Vorstellung von Kausalität, diediesen Namen noch verdienen würde, auch keine statistische. Die Be-deutung der Quantenmechanik für die Brauchbarkeit einer Kausalitäts-konzeption dürfen wir auch nicht unterschätzen. Die Quantenmechanikist in dem heutigen physikalischen Weltbild nicht eine Theorie unter vie-len, sondern die Theorie mit dem umfangreichsten Anwendungsbereichaller bisherigen Theorien und dem kleinsten Unschärfebereich. Alleindie Quantenmechanik gibt daher schon Anlaß zu der Behauptung, daßwir keine umfassende adäquate Kausalitätstheorie entwickeln könnenund daß eine kausale Erklärungstheorie immer nur einen Teilbereich un-serer Erklärungskonzeption darstellen kann.

Der Vorschlag, die objektive Relevanzbeziehung zwischen Explanansund Explanandum als die von Ursache und Wirkung zu kennzeichnen,stößt also auf eine ganze Reihe von Problemen. Zunächst finden wireine Vielzahl von Erklärungstypen, die zumindest keine typischen Kau-salerklärungen darstellen. Hier sind es eher strukturelle Merkmale einerSituation, die dadurch erklärt werden, daß sie Instanzen eines Modellssind. Wollten wir diese Beispiele mit unter den Kausalbegriff subsumie-ren, wären wir gezwungen ihn sehr zu liberalisieren, was mit einem wei-teren Substanzverlust verbunden wäre, gleichgültig, wie wir die Kausal-beziehung zu explizieren gedenken. Außerdem erweist sich das Kausali-tätskonzept als nicht sehr inhaltsreich, wenn wir es nicht im Rahmenüberholter mechanistischer Konzeptionen kombiniert mit metaphysi-schen Annahmen wie der eines notwendigen Zusammenhangs explizie-ren wollen, sondern in Einklang mit heutigen naturwissenschaftlichenVorstellungen von Kausalität. Je allgemeiner wir Kausalität aber fassen,um damit möglichst viele Fälle von Ursache-Wirkungs Beziehungen zuerreichen, um so weniger ist sie noch geeignet, wesentliche von unwe-sentlichen Zusammenhängen zu unterscheiden. So stoßen wir auf vielestatistische Korrelationen, für die keine Kausalbeziehungen vermutenund umgekehrt auf viele Kausalbeziehungen, die sich nicht als Korrela-tionen beschreiben lassen.

Ein weiterer Punkt, der bisher nicht zur Sprache kam, weil bereitsdie Explikation von „Kausalität“ für eine Erklärungstheorie auf schierunüberwindliche Hindernisse stößt, ist das umgekehrte Phänomen, daß

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die Kausalbeziehung nicht nur üblicherweise zu eng gefaßt ist, um alleBeispiele von Erklärungen zu erfassen, sondern auch nicht hinreichendspezifisch ist, um immer Erklärungen zu liefern. Dazu ein Beispiel vonLipton (1991, 34ff), der sich selbst allerdings trotz der zahlreichenSchwächen dem kausalen Erklärungsmodell verschreibt, weil er keinebessere Alternative sieht.189 Die kausale Vorgeschichte der meisten Er-eignisse ist sehr lang und zahllose Aspekte und Teile dieser Geschichtekönnen kaum zu Erklärungszwecken herangezogen werden. Insbesonde-re gehört der „Big Bang“ zur Vorgeschichte jedes anderen Ereignisses,aber natürlich würden wir uns in den meisten Fällen kaum mit der Aus-kunft: „Das kommt alles vom Big Bang“, zufriedengeben und anneh-men, man hätte uns damit eine Erklärung für ein bestimmtes Ereignispräsentiert. Um die erklärungsrelevanten von den nicht relevanten Ursa-chen eines Ereignisses zu unterscheiden, formuliert Lipton (1991, 43ff)seine „Difference Condition“ in Anlehnung an Mill. Die stellt sicherlicheine wichtige Ergänzung jeder kausalen Erklärungskonzeption dar, bleibtaber an einigen Stellen selbst noch explikationsbedürftig.

E. Resümee

Neben den erkenntnistheoretischen Funktionen, die ich für Erklärungenin den ersten Kapiteln reserviert habe, dienen sie vor allem dazu, unserVerständnis der zu erklärenden Phänomene zu befördern. Das akzep-tierte schon Hempel, der mit seinem DN-Schema die erste ausgearbeite-te Erklärungstheorie vorgelegt hat, die für die Diskussion um wissen-schaftliche Erklärungen seitdem das Paradigma darstellte, gegen das sichandere Vorschläge zu bewähren haben. Im Laufe der Jahre stellten sichallerdings so zahlreiche Anomalien ein, daß es aussichtslos erscheint, dasDN-Schema mit kleineren Korrekturen wiederbeleben zu wollen. Die er-ste Gruppe solcher Schwierigkeiten betraf eine seiner wenigen wirklichsubstantiellen Forderungen, nämlich der nach einem Naturgesetz im Ex-planans. Trotz wiederholter Versuche gelang es nicht, eine befriedigendeAuszeichnung von Naturgesetzen vor anderen Aussagen vorzunehmenund daneben trat noch das Problem auf, daß viele Erklärungen auchohne Gesetzesprämisse auszukommen scheinen. Außerdem konnten an-dere metatheoretische Phänomene wie die der Erklärungsasymmetrie im

189 Achinstein (1992) weiß einige überzeugende Kritiken zu Lipton vorzu-tragen.

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Rahmen der DN-Konzeption nicht behandelt werden, so daß Erklä-rungstheorien in anderen Richtungen gesucht wurden.

Eine hilfreiche Ergänzung aller anderen Konzeptionen stellen diepragmatischen Ansätze dar, die zeigen, wie bestimmte pragmatische Fak-toren der Erklärungssituation darauf Einfluß nehmen können, wonachgenau gefragt wird. Doch der harte Kern einer Erklärungstheorie sollteweiterhin in objektiven Beziehungen zwischen Explanans und Explanan-dum zu suchen sein. Dazu kam die prominenteste kausale Erklärungs-theorie zu Wort, für die der gesuchte objektive Zusammenhang geradein dem von Ursache und Wirkung besteht. Doch auch sie weist zu vieleAnomalien auf, um wirklich überzeugen zu können. Jede heute noch ak-zeptable Konzeption von Kausalität sieht sich vor dem unüberwindli-chen Dilemma, daß sie auf der einen Seite so liberal gehalten sein muß,die meisten gewöhnlichen Fälle von Erklärungen miteinzubeziehen, aberauf der anderen Seite so substantielle Forderungen enthalten sollte, daßsie nicht als deflationäre Kausalitätstheorie à la van Fraassen endet.

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IX Erklärung als Vereinheitlichung

Da sich der Vorschlag, Erklärungen als Angabe von Ursachen zu betrach-ten, als nicht besonders erfolgversprechend erwiesen hat, möchte ichnoch einmal an die wesentliche Aufgabe von Erklärungen in der Kohä-renztheorie der epistemischen Rechtfertigung (KTR) erinnern, um einenanderen Ansatz zu konzipieren. Für die Kohärenztheorie haben Theo-rien vor allem die Aufgabe, mit Hilfe von Erklärungen wichtige inferen-tielle Zusammenhänge zwischen unseren Überzeugungen herzustellen.Genau diesen Aspekt betonen die Vereinheitlichungsansätze in der Erklä-rungsdebatte. Ihnen geht es in erster Linie um die systematisierende undvereinheitlichende Wirkung von Erklärungen, die für sie mit ihrer Erklä-rungskraft korreliert ist. Auch in diesem Ansatz versucht man, eine per-sonen- und kontextunabhängige Relevanzbeziehung zu etablieren, dieden harten Kern von Erklärungsbeziehungen ausmachen soll. WährendTheorien und ihre kohärenzstiftende Funktion für pragmatische undkausale Ansätze nur eine untergeordnete Rolle spielten und von den je-weiligen Vertretern kaum thematisiert wurde, stehen sie für die Verein-heitlichungskonzeptionen im Vordergrund. Doch dabei besteht keines-wegs Einmütigkeit darüber, was unter „Vereinheitlichung“ zu verstehenist. Zwei vieldiskutierte Vorschläge, die in unterschiedliche Richtungenzielen, sollen den Ausgangspunkt eines Verständnisses von Vereinheitli-chung bilden.

A. Friedmans Vereinheitlichung der Phänomene

Ein erster konkreter Ansatz zur Analyse von Vereinheitlichung ist derMichael Friedmans aus dem Jahre 1974.190 Es finden sich zwar auch beiHempel bereits vereinzelt Bemerkungen zur großen Bedeutung der Sy-stematisierungsleistung von Theorien, aber als einzigen wirklichen Vor-läufer für seine Konzeption weiß Friedman (1988, 185) nur William

190 Im folgenden werde ich mich auf die deutsche Übersetzung (1988) be-ziehen, zumal sich in Schurz (1988) bereits ein Teil der Diskussion um diesenAnsatz finden läßt.

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Kneale zu nennen.191 Wie schon erwähnt, verweist Friedman (1988,172ff) zunächst darauf, daß wir in den Wissenschaften im Normalfallnicht Einzelereignisse, sondern vornehmlich Phänomene also allgemeine-re Regularitäten oder sogar Gesetze erklären. Für Friedman besteht da-bei eine Vereinheitlichung unseres Wissens vor allem in einer Reduzie-rung einer Vielzahl von Phänomenen auf wenige Gesetze.

Sein Beispiel dafür ist die kinetische Gastheorie, die etwa erklärenkann, daß Gase approximativ dem Boyle-Charlesschen Gesetz gehor-chen. Wäre das die einzige Leistung der kinetischen Gastheorie, könnteman zu Recht fragen, warum wir sie überhaupt einführen und es nichtschlicht beim Boyle-Charlesschen Gesetz belassen. Forderungen nachtheoretischer oder ontologischer Sparsamkeit würden das jedenfalls im-plizieren. Friedmans Antwort (1988, 184) ist eindeutig: Die kinetischeGastheorie erklärt neben dem Boyle-Charlesschen Gesetz eine ganzeReihe von anderen Phänomenen wie das Grahamsche Diffusionsgesetzund eine Reihe von Phänomenen spezifischer Wärmekapazitäten. Außer-dem stiftet sie neue Verbindungen, die ohne die kinetische Gastheorienicht sichtbar waren, zwischen dem Verhalten von Gasen und vielen me-chanischen Erscheinungen, die wir schon kennen. Sie wirkt daher ein-deutig kohärenzstiftend,192 indem sie inferentielle Zusammenhänge die-ser Art herstellt. Für Friedman ist das auch der entscheidende Schritt zueinem wissenschaftlichen Verständnis:

Wieder haben wir eine Vielzahl von unerklärten und unabhängigenPhänomenen auf eines reduziert. Ich behaupte, daß dies jene ent-scheidende Eigenschaft von wissenschaftlichen Theorien ist, nachder wir suchen; dies ist das Wesen von wissenschaftlicher Erklärung– Wissenschaft erhöht unser Verständnis der Welt durch Reduktionder Gesamtzahl von unabhängigen Phänomenen, die wir als grundle-gend bzw. gegeben akzeptieren müssen. (Friedman 1988, 185)

Werfen wir nun einen Blick darauf, wie Friedman versucht, das bisherskizzenhaft vorgestellte Programm in eine konkretere Konzeption vonVereinheitlichung umzusetzen. Friedman nennt die Menge der akzeptier-ten gesetzesartigen Sätze „K“. Die soll deduktiv abgeschlossen (in bezugauf gesetzesartige Aussagen) sein. Das Problem, um das es ihm geht, ist

191 Meines Erachtens sind hier jedoch auch Mill, in jedem Fall aber Whe-well (1967) zu erwähnen, auf den ich im folgenden wieder zurückkommen wer-de, der diese Form von Vereinheitlichung unter dem Stichwort „consilience ofinductions“ behandelt.

192 Den Ausdruck „Kohärenz“ verwendet Friedman allerdings nicht.

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die Frage, wann ein Gesetz die Menge K reduziert, so daß eine gewisseZahl von unabhängigen Gesetzen durch ein neues Gesetz ersetzt werdenkann. Natürlich taucht sofort die Frage auf, wie wir Gesetze zählen kön-nen und wie wir dabei trivialen Vereinheitlichungen entgehen können.So können wir zu je zwei Gesetzen z. B. zu ihrer Konjunktion als einemneuen Gesetz übergehen, das die zwei anderen überflüssig macht. Fried-man weiß zur Analyse des Begriffs „unterschiedliche Gesetze“ keinewirklich erhellenden Antworten anzubieten und spricht zunächst infor-mell von „unabhängig akzeptierbaren“ Gesetzen. Die werde ich im fol-genden kurz als „unabhängige Gesetze“ bezeichnen. Mit „s ist unabhän-gig von q“ soll ungefähr gemeint sein, daß die Gründe, die uns genügen,s zu akzeptieren, nicht genügen, um auch q anzuerkennen. Nehmen wirdieses Konzept einfach als Grundbegriff und schauen, ob sich daraufeine angemessene Explikation von Vereinheitlichung stützen läßt.

Da Friedman nur wenige intuitive Erläuterungen gibt, wieso er ge-rade die folgenden Definitionen wählt und seine Notation auch stellen-weise unübersichtlich ist, gebe ich eine etwas vereinfachte Darstellungseiner Begrifflichkeit an, die ich anschließend mit eigenen Hilfsbegriffenerläutern möchte. Doch zunächst zu den formalen Definitionen:

s, p, und q seien Sätze aus K während M, Z(s) etc. Teilmengen von Ksind, wobei ich die weitere Bezugnahme auf K, die Friedman immermitschleppt, weglassen werde.

1) Z(s) ist eine Zerlegung von s gdw.a) Z(s) ist logisch äquivalent zu sb) Alle Elemente von Z(s) sind unabhängig von s.

(Mit Z(s) sind ab jetzt immer Zerlegungen von s gemeint und außerdemläßt sich die Definition für Zerlegungen auch auf Mengen von Sätzen inanaloger Weise ausdehnen.)

2) s ist atomar, wenn es keine Zerlegung von s gibt.193

3) Z(s) ist atomare Zerlegung von s gdw. alle Elemente von Z(s)atomar sind.

4) Kardinalität von M: Kard(M) :=inf{ Z(M); mit Z(M) ist atomare Zerlegung von M}

5) s reduziert M gdw. Kard(M {s}) < Kard(M)

193 Hier nehme ich eine geringfügige Änderung gegenüber Friedmans Defi-nition vor, der sich ohne Erklärung auf Zerlegungen in Paarmengen beschränkt.

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6) Unabhängige Konsequenzen von s:Kons(s) := { q; q folgt aus s und q ist unabhängig von s}

Damit läßt sich nun Friedmans erste Explikation von Erklärung ange-ben:

D1) s erklärt q gdw. q Kons(s) und s reduziert Kons(s)

Eine Zerlegung von s gibt eine Menge von Phänomenen oder Untergeset-zen von s an, die aus s abzuleiten sind, aber unabhängig von s sind. DieGründe, die ausreichen, ein Untergesetz q Z(s) zu akzeptieren, genü-gen also noch nicht, um s zu akzeptieren (1b). Allerdings folgt aus allenUntergesetzen der Zerlegung zusammengenommen wiederum s (1a). An-ders ausgedrückt: s geht (was seine deduktiven Konsequenzen angeht)auch nicht wirklich über die Menge seiner Untergesetze hinaus. Eineatomare Zerlegung gibt eine Menge von Phänomenen an, die echte Phä-nomene in dem Sinne sind, daß sie nicht etwa künstlich (als Konjunkti-on) zusammengesetzt sind. Man könnte sie auch als atomare Untergeset-ze von s bezeichnen. Die Anzahl der kleinsten solcher Mengen von ech-ten Untergesetzen, die sich aus s herleiten lassen, soll die Kardinalitätvon s darstellen. Von s sagt man außerdem, daß es die Menge seiner un-abhängigen Konsequenzen reduziert, wenn seine Einbringung eine neueatomare Zerlegung gestattet, die kleiner ist, als alle vorherigen atomarenZerlegungen. D.h. intuitiv gesprochen: Bestimmte Phänomene, die vor-her als wesentlich verschiedene Phänomene interpretiert wurden, lassensich nun mit Hilfe von s als Instanzen eines Phänomens verstehen. Nurdann wirkt s nach Friedman als Erklärung. Das erscheint auf den erstenBlick als eine interessante Umsetzung der intuitiven Überlegungen Fried-mans, aber eine weitere Betrachtung der Konsequenzen dieser Definiti-on – die Friedman selbst leider verabsäumt –, belegt, weshalb die Verein-heitlichung, die unsere wissenschaftlichen Theorien unzweifelhaft lei-sten, mit diesem Instrumentarium nicht einzufangen ist.

Eine erste wichtige Erläuterung dieser formalen Explikation bietetKitcher (1976, 209), der zeigen kann, daß für nicht atomare Sätze s gilt:

Kard(Kons(s) {s}) = Kard(Kons(s)),

d.h. s kann in diesem Fall Kons(s) nicht reduzieren und hat daher keineErklärungsleistung im Sinne von (D1). Demnach können überhaupt nuratomare Sätze erklären. Ein Blick auf einige Beispiele aus der Wissen-schaft zeigt, warum das kein wünschenswertes Resultat sein kann. Kit-cher (1976, 209f) gibt selbst einige solcher Beispiele an. Etwa die übli-che Ableitung des Gesetzes der adiabatischen Ausdehnung eines idealen

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Gases, für die die Konjunktion zweier unabhängiger Gesetze, nämlichdem Boyle-Charlesschen und dem ersten Gesetz der Thermodynamikbenötigt wird. Überhaupt kommt es des öfteren vor, daß wir Phänomenewie Blitz und darauffolgenden Donner anhand von Theorien aus ver-schiedenen Gebieten – hier Elektrizitätslehre, Thermodynamik und Aku-stik – erklären, die nur zusammengenommen die Erklärungsleistungvollbringen.194 Friedman gibt noch eine zweite Definition von „Erklä-rung“, da er aus anderen als den gerade genannten Gründen mit der er-sten nicht zufrieden ist, aber auch diese vermag die Einwände gegenseine Explikation von „Erklärung“ letztlich nicht zu entkräften (s. Kit-cher 1976, 211f), so daß er sich selbst in seinen späteren Arbeiten (etwa1981 & 1983) zu den Themen Vereinheitlichung und Erklärung nichtwieder auf sie stützt.

Die Problemstellung, wann wir von einem Gesetz sagen können, essei atomar, hat Salmon (1989, 94ff) anhand von weiteren Beispielen ver-folgt. Insbesondere wirft er die Frage auf, ob es überhaupt atomare Ge-setze gibt. Betrachten wir zu dieser Frage einmal einfache Gesetze der lo-gischen Form: x (FxGx). Salmon weist darauf hin, daß sie schondann nicht atomar sind, wenn sich eine Zerlegung des Anwendungsbe-reichs F in Mengen H1,,Hk finden läßt, mit der sich das Gesetz zerle-gen läßt in Gesetze der Form: x (H1xGx), , x (HkxGx), wobeialle Gesetze unabhängig voneinander zu akzeptieren sind. Das erscheintaber durchaus nicht unrealistisch, wie Salmon am Beispiel des Newtons-chen Gravitationsgesetzes belegen kann. Die Anwendungsmenge zerfälltnach Salmon etwa in die Menge der Anziehung zweier schwerer Körper,der Anziehung von leichtem und schwerem Körper, sowie der von zweileichten Körpern. Die ersten beiden erfuhren schon bald unabhängigeUnterstützung, die sie als unabhängig voneinander akzeptierbar auswies.Solange die Behauptung der Gravitation für den dritten Bereich aller-dings nur aus dem allgemeinen Gravitationsgesetz selbst folgte, blieb dasNewtonsche Gesetz atomar. Doch mit der Drehwaage von Cavendishließ sich auch der dritte Anwendungsbereich unabhängig von den ande-ren akzeptieren. Damit müßte nach Friedman das Newtonsche Gravitati-onsgesetz seine Erklärungskraft verloren haben, was ausgesprochen un-plausibel erscheint. Intuitiv sollte es durch seine direkte Anwendung indiesem weiteren Bereich viel eher gestärkt worden sein.

Dieses nun unschwer erkennbare Defizit innerhalb der Friedmans-chen Metatheorie, aber auch der Salmonschen Analyse des Falles, resul-

194 Kitcher (1976, 210) erwähnt dieses Beispiel und verweist für die Erklä-rung auf Few (1975).

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tiert im wesentlichen aus einer Nichtbeachtung von Brückenstrukturenwie Constraints (s. VII.C.2), die einen Informationstransfer unter denintendierten Anwendungen der Gravitationstheorie bewirken. Unter Un-abhängigkeit sollte man nicht nur unabhängig voneinander akzeptierbarverstehen, sondern eine weitergehende Unabhängigkeit, die sich auchauf andere wesentliche Zusammenhänge erstreckt und sich insbesonderein ihren Konsequenzen für die empirische Behauptung von Theorien be-schreiben läßt. Wenn die Einführung des allgemeinen Gravitationsgeset-zes tatsächlich nichts anderes bedeuten würde als eine Konjunktion derdrei Teilbehauptungen:

1. Alle schweren Körper erfüllen es untereinander.2. Alle gravitativen Wechselwirkungen von schweren und leichten

Körpern erfüllen das Gesetz.3. Alle leichten Körper erfüllen es untereinander.

so wäre es allerdings unklar – und insoweit teile ich Friedmans Anschau-ung –, wieso das allgemeine Gravitationsgesetz darüber hinaus noch ei-nen Erklärungswert besitzen sollte. Den erhält es erst im Rahmen einerumfangreicheren Theorie, die auch Constraints berücksichtigt. Damitwerden Verbindungen zwischen den drei Teil-„Gesetzen“ hergestellt, dieeine bloße Konjunktion noch nicht enthält, denn die einzelnen Teilgeset-ze stellten keine übergreifenden Behauptungen für alle Anwendungsklas-sen zugleich auf. Der Identitätsconstraint für die Masse besagt etwa, daßeinem schweren Körper, z. B. der Erde, dieselbe Masse zugeordnet wer-den muß, wenn er in Anwendungen des Typs (1) und wenn er in solchendes Typs (2) auftritt. Eine entsprechende Verknüpfung bewirkt der Con-straint anhand von leichten Körpern für die „Gesetze“ (2) und (3). Au-ßerdem tritt in allen drei Gesetzen die Gravitationskonstante auf, dieper gemeinsamer Existenzquantifikation einzubringen ist – zumal ihrZahlenwert im Anfang unbekannt war –, und die Teilgesetze drücken fürsich nicht aus, daß es sich in allen drei Fällen um dieselbe Größe handelnmuß. Das wird erst in einer Formulierung durch ein Gesetz oder einenentsprechenden Constraint deutlich (s. dazu IX.E.8).

Von welch entscheidender Bedeutung diese Vernetzung der verschie-denen Anwendungen einer Theorie ist, ergibt sich schon aus Salmons ei-genem Beispiel. Erst Cavendish gelang es 1798 anhand seiner Experi-mente, die Newtonsche Gravitationskonstante zu bestimmen, wobei erdie Gravitationskräfte kleiner Körper untereinander gemessen hat. Daman von einem universellen Gesetz mit universeller Gravitationskon-

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stante ausging,195 gilt diese Konstante ebenso für andere gravitierendeMassen. Genau dieser Zusammenhang ermöglichte es, die Masse der Er-de anhand ihrer Anziehungskraft auf kleine Körper zu bestimmen – Ca-vendish kam auf 6,6 1021 Tonnen und lag damit schon sehr nah an demheutigen Wert von 5,98 1021 Tonnen. Die Konstante geht ihrerseitswiederum ein in die Bestimmung der Massen anderer Planeten usf. Eineempirisch wirklich gehaltvolle und erklärende Theorie ergibt sich nurdann, wenn wir diese Verknüpfungen in Rechnung stellen. Von Fried-man waren solche Zusammenhänge sicherlich implizit mit angenommenworden, aber solange sie nicht eigens in der Konzeption von Theorienaufgeführt werden, kann man wie Salmon der Vermutung unterliegen,das Newtonsche Gravitationsgesetz sei nichts anderes, als eine Konjunk-tion der drei genannten Teilgesetze. Der Überschußgehalt, den das allge-meine Gravitationsgesetz (eingebettet in eine ganze Theorie, die natür-lich nicht allein durch ein Gesetz dargestellt werden kann) gegenüber ei-ner bloßen Konjunktion der drei Teilgesetze aufweist, ergibt sich erst ausder Vernetzung der Anwendungen.196 In (E.8) werde ich auf diesenPunkt anhand neuerer Explikationsversuche für die Einheitlichkeit einerTheorie zurückkommen. Es ist hier wiederum ein zu einfaches Bild vonTheorien dafür verantwortlich, die vereinheitlichende Funktion vonTheorien zu verkennen. Im differenzierteren metatheoretischen Rahmendes Strukturalismus läßt sich dagegen ein angemessenerer Explikations-vorschlag angeben.

Interessant ist vor allem die Frage: Woran genau ist Friedman mitseinem Typ von Explikationsversuch gescheitert? Kitcher (1976, 212),der Friedmans Vorstellung von einem engen Zusammenhang zwischenErklärung und Vereinheitlichung gutheißt, wendet sich gegen FriedmansZählweise von Phänomenen anhand von unabhängigen Gesetzen. StattGesetze zu zählen, sollten wir auf ein anderes Phänomen achten:

195 Das ist natürlich eine empirische Vermutung, die sich auch als falschherausstellen könnte, wie wir es im Falle der Cepheiden, den Gähde genauer un-tersucht hat, bereits kennengelernt haben. So wie wir dort die Annahme einerKonstante für die Perioden-Helligkeitsbeziehung aller Cepheiden für selbstver-ständlich hielten und dann später zu zwei Konstanten für zwei Typen von Ce-pheiden übergehen mußten, könnten wir auch im Falle der Gravitationskon-stante schließlich zur Annahme zweier oder dreier Typen von Massen mit ver-schiedenen Gravitationskonstanten gezwungen sein.

196 Die Vernetzung wird natürlich durch den Extensivitätsconstraint nochweiter verstärkt.

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What is much more striking than the relation between these num-bers is the fact that Newton’s laws of motion are used again andagain and that they are always supplemented by laws of the sametypes, to wit, laws specifying force distributions, mass distributions,initial velocity distributions, etc. Hence the unification achieved byNewtonian theory seems to consist not in the replacement of a largenumber of independent laws by a smaller number, but in the re-peated use of a small number of types of law which relate a largeclass of apparently diverse phenomena to a few fundamental magni-tudes and properties. Each explanation embodies a similar pattern:from the laws governing the fundamental magnitudes and propertiestogether with laws that specify those magnitudes and properties fora class of systems, we derive the laws that apply to systems of thatclass. (Kitcher 1976, 212)

Diese Analyse von Kitcher paßt in einigen Punkten schon recht gut mitden strukturalistischen Vorstellungen der inneren Struktur von Theorienzusammen. Zum einen haben wir die Grundgesetze, wie etwa die New-tonschen Axiome, die in allen Anwendungen der Mechanik zum Einsatzkommen und damit eine Vereinheitlichung bewirken; zum anderen diejeweiligen Ergänzungen durch Spezialgesetze, deren Typ sich für be-stimmte Klassen von intendierten Anwendungen durch ein gemeinsamesSchema darstellen läßt. Das entspricht ziemlich genau der strukturalisti-schen Auffassung von einem Basis-Theorie-Element und seinen Speziali-sierungen. Dagegen ist Friedmans Bild von Theorien 1974 noch zu starkvon einem Theorienverständnis im Sinne der Metamathematik geprägt,wonach es grundlegende Axiome gibt, die allein schon eine Reihe vondeduktiven Schlußfolgerungen erlauben. Sogar die von ihm selbst er-wähnten Phänomene wie, daß die Herleitung von Gesetzen oft nur ap-proximativ möglich ist (s. z. B. Friedman 1988, 184), finden in seinemExplikationsversuch keinerlei Beachtung. So überzeugend seine Aus-gangsposition uns somit auch erschien, seine Ausgestaltung war zu un-realistisch und läßt ein zu einfaches Bild wissenschaftlicher Theorien da-hinter vermuten. Angeregt durch diese Diskussion und den MißerfolgFriedmans versuchte Kitcher seine in dem obigen Zitat geäußerten Vor-stellungen von Vereinheitlichung in einer eigenen Theorie von Erklä-rung umzusetzen.

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B. Kitchers Vereinheitlichung der Argumentationsformen

Ähnlich wie schon Friedman betont auch Kitcher in seinen theoretischenArbeiten zur Vereinheitlichungstheorie der Erklärung (z. B. Kitcher1988 und 1989) den globalen Charakter der Bewertung von Erklärun-gen. Für Friedman hatte ein Gesetz nur dann Erklärungskraft, wenn essich in einer größeren Menge von Aussagen als vereinheitlichend erwies.Ebenso ist auch für Kitcher im Unterschied zu den in Kapitel (VIII) ge-nannten Erklärungstheorien die Bewertung einer potentiellen Erklärungnur in einem größeren Kontext möglich.

On both the Hempelian and the causal approaches to explanation,the explanatory worth of candidates – whether derivations, narra-tives, or whatever – can be assessed individually. By contrast, theheart of the view that I shall develop […] is that successful explana-tions earn that title because they belong to a set of explanations, theexplanatory store, and that the fundamental task of a theory of ex-planation is to specify the conditions on the explanatory store. (Kit-cher 1989, 430)

Dieser Zugriff auf globalere Zusammenhänge zur Einschätzung von Er-klärungen scheint mir aus mehreren Perspektiven sinnvoll. Da ist zuersteine intuitive Auswertung von Beispielen, die dafür spricht. Einer fürsich betrachteten Ableitung eines Ereignisses läßt sich nicht ansehen, obes sich um eine gute Erklärung oder nicht handelt. So kann sich dieStruktur einer astrologischen Erklärung mutigen Verhaltens (weil erSternzeichen Löwe ist, und Löwen sind mutig) durchaus mit der Struk-tur guter Erklärungen decken. Doch selbst wenn es zufällig so wäre, daßfast alle „Löwen“ mutig wären, würden wir hier keinen brauchbaren An-satz für eine Erklärung sehen, solange eine Theorie astrologischer Zu-sammenhänge nicht kohärent in unsere gegenwärtigen Überzeugungssy-steme paßt. Außerdem spricht für die globalere Sichtweise von Erklärun-gen unser inzwischen holistischeres Wissenschaftsverständnis, das sichauch in der Darstellung der inneren Struktur von Theorien gezeigt hat.Einzelne Gesetze wie die Newtonschen Axiome haben demnach isoliertbetrachtet keinen empirischen Gehalt, sondern nur im Zusammenspielmit Spezialgesetzen, innertheoretischen Querverbindungen und „Links“ergibt sich dieser. Erst dann gelangen wir zu Aussagen, die genügendSubstanz für eine Beurteilung bieten. Diese Vorstellungen von der Not-wendigkeit globalerer Beurteilungen für epistemische Zwecke manife-stierte sich daher an verschiedenen Stellen in der Explikation unserer

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Kohärenztheorie KTR, so daß auch in diesem Punkt der Vereinheitli-chungsansatz der Erklärung geeignet erscheint, um die verbliebene Lük-ke in KTR auszufüllen.

Dazu hat Kitcher den am weitesten ausformulierten Ansatz einer Er-klärungstheorie vorgelegt, den er noch dazu in einer Reihe von Beispie-len erprobt hat. Wie für Hempel sind für ihn Erklärungen Argumente,d.h. Folgen von Aussagen, die entsprechenden logischen Regeln gehor-chen. Entscheidend ist für ihn dabei die Vereinheitlichung, die dadurchzustande kommt, daß sich all unsere wissenschaftlichen Argumente aufmöglichst wenige Argumentschemata oder Argumentmuster zurückfüh-ren lassen. So ist für Kitcher (1988, 204f) die Vereinheitlichungskraftvon Newtons Werk gerade darin zu sehen, daß Newton versuchte eineVielzahl akzeptierter Sätze anhand eines Argumentmusters, das seine Ba-sisgesetze enthält, herzuleiten. Auch Darwin skizzierte mit der natürli-chen Auslese ein allgemeines Muster für Erklärungen, mit dem sich vielebekannte Tatsachen aus der Biologie erklären ließen.

Den Wissenshintergrund, um dessen Vereinheitlichung es gehen soll,nennt Kitcher die zu einem Zeitpunkt von der wissenschaftlichen Ge-meinschaft akzeptierten Sätze K. In bezug auf Vereinheitlichung soll da-zu der Erklärungsvorrat E(K) (explanatory store) über K untersucht wer-den, aus dem sich die Sätze von K ableiten lassen. Diese Konzeptionpaßt gut zur KTR, bis auf die Vorstellung, daß die vereinheitlichendenBeziehungen alle deduktiver Natur sind. Wesentlich zur Beurteilung vonE(K) ist nach Kitcher aber nun nicht, wieviele solche Erklärungen es ent-hält, sondern wieviele Typen von Erklärungen vorkommen. Um diese Ty-pen identifizieren zu können, wird von Kitcher die Konzeption der Ar-gumentmuster („argument pattern“) ins Spiel gebracht. Genau die Argu-mente gelten als ähnlich und zu einem Typ gehörig, die als Instanzen ei-nes Argumentmusters gelten können.

Ein Argumentmuster besteht aus drei Komponenten, nämlich einerFolge von schematischen Sätzen, einer Menge von Ausfüllungsanweisun-gen und einer Klassifikation für die Sätze der Folge. Die schematischenSätze sind Sätze, in denen einige nichtlogische Terme durch Schema-buchstaben ersetzt sind, so daß hier ein Spielraum zum Einsetzen ver-schiedener Ausdrücke gegeben ist, der es gestattet, aus einer Folge vonschematischen Sätzen unterschiedliche konkrete Argumente zu gewin-nen. Die Ausfüllungsanweisungen sagen uns, welche Terme jeweils anden verschiedenen Stellen eingesetzt werden dürfen. Schließlich gebenuns die Klassifikationen der schematischen Sätze Informationen darüber,ob es sich um Prämissen unseres Argumentmusters oder Konklusionen

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handelt. Die Idee Kitchers dürfte an einem einfachen Beispiel (s. Kitcher1988, 208ff) am ehesten deutlich werden, in dem Kitcher die Newtoni-sche Vorgehensweise für die Behandlung von Einkörpersystemen anhandvon Argumentmustern beschreibt. Zunächst finden wir für das Basismu-ster eine Folge von schematischen Sätzen:

(1) Die auf ausgeübte Kraft ist .(2) Die Beschleunigung von ist .(3) Kraft = Masse x Beschleunigung(4) Masse() · = (5) =

Dazu kommen Ausfüllungsanweisungen, die etwa besagen: „“ ist durch einen Ausdruck für den zu untersuchenden Körper zu

ersetzen. „“ ist jeweils durch denselben Ausdruck für eine Funktion von

Raum und Zeit-Koordinaten zu ersetzen. „“ ist durch einen Funktionsausdruck für die Beschleunigung zu er-

setzen (also etwa d2x/dt2). „“ bezeichnet die Funktion, die uns die Ortskoordinaten des Kör-

pers gibt. „“ ist durch eine explizite Funktion der Zeit zu ersetzen.

Die Klassifikation besagt dann, daß (1) (3) die Prämissen sind,während (4) daraus durch Substitution entsprechender Terme und(5) aus (4) durch mathematische Umformungen folgt.

Wesentlich für eine Beurteilung der Ähnlichkeit von Argumenten an-hand von Argumentmustern ist, was Kitcher die „Stringenz“ der Musternennt. Sind die Ausfüllungsbedingungen und die Klassifikationen sehr li-beral gehalten, läßt sich mit einem bißchen guten Willen unter ein ent-sprechendes Muster jedes Argument als eine Instanz subsumieren. Wiegroß die Ähnlichkeiten der Argumente eines Musters sind (wie stringentdas Muster ist), wie groß damit seine Vereinheitlichungskraft ist, bemißtsich nach Kitcher hauptsächlich an den auftretenden nichtlogischen Ter-men, den Ausfüllungsanweisungen und dem Gehalt der Klassifikationen.Kitcher gibt hier schon selbst Hinweise auf ein Problem der Vagheitwenn nicht sogar drohenden Trivialisierung der Ähnlichkeitsbehauptun-gen anhand von Argumentmustern, das ich später noch aufgreifen wer-de.

Zu unseren akzeptierten Überzeugungen K betrachten wir nun (dasist nach Kitcher eine Idealisierung) nur solche Mengen von Argumenten,

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die ebenfalls als akzeptabel bezüglich K gelten dürfen, d.h. die nur Prä-missen aus K verwenden und sich nur gültiger Schlußregeln (deduktiveroder induktiver Art) bedienen.197 Gesucht wird nun die Argumentmenge,die die beste Vereinheitlichung von K darstellt, wobei der Grad der Ver-einheitlichung anhand von Argumentmustern bestimmt werden soll.

Jede beliebige Argumentmenge, die aus bestimmten Aussagen aus Kauf andere schließt, die also eine Menge von bezüglich K akzeptablenArgumenten darstellt, heiße Systematisierung von K und wird mit D(K)(für „derivations“) bezeichnet.198 Zu D(K) sei GD(K) eine Generierungs-menge für D(K), d.h. eine Menge von Argumentmustern, so daß sich je-des Argument aus D(K) als eine Instanz eines Musters aus GD(K) darstel-len läßt. D(K) ist vollständig bezüglich GD(K), wenn alle (bezüglich K ak-zeptablen) Argumente, die durch die Muster in GD(K) generiert werden,auch zu D(K) gehören.199 Zu einer Argumentmenge D(K) sollen nun nurnoch die Generierungsmengen in Betracht gezogen werden, für die D(K)vollständig ist.

Damit möchte Kitcher ausschließen, daß man bestimmte Erklärungs-muster manchmal anwendet und in anderen Fällen Instanzen dieses Mu-sters als Erklärungen willkürlich zurückweist, denn das ist seiner Mei-nung nach eine inkohärente Verwendungsweise von Erklärungen. Unterdiesen Generierungsmengen, für die D(K) vollständig ist, suchen wir ineinem letzten Schritt die mit der größten vereinheitlichenden Kraft her-aus und nennen sie die Basis der Systematisierung D(K).

Die vereinheitlichende Kraft einer Generierungsmenge ist dabei umso größer, je weniger Muster sie benötigt und je mehr Argumente sie zugenerieren gestattet. Zusätzlich zur Anzahl der Muster sollte natürlichnoch die Stringenz der Muster Berücksichtigung finden. StringentereMuster besitzen eine größere Vereinheitlichungskraft als weniger strin-gente. Als Erklärungsvorrat E(K) über K wählen wir nun die Argument-menge D(K), die K in dem eben genannten Sinn am besten vereinheit-licht, d.h. deren Basis die größte vereinheitlichende Kraft aufweist. E(K)

197 Bis hierher stimmen die Überlegungen von Kitcher (1988) und (1989)weitgehend überein, aber nicht mehr für das Folgende. Daher beziehe ich michdabei auf den späteren und ausgearbeiteteren Vorschlag von (1989).

198 Hier und im folgenden weiche ich z.T. von der Notation und der Dar-stellung Kitchers ab, um diese durchsichtiger zu gestalten.

199 Kitcher (1989, 434) spricht davon, daß in diesem Fall GD(K) bezüglich Kvollständig ist, aber diese Bezeichnungsweise erscheint mir irreführend, weil esintuitiv um die Vollständigkeit der Menge D(K) geht, weshalb ich von ihr abwei-che.

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bestimmt dann, was eine Erklärung vor unserem Hintergrundwissen istund was nicht.

Allerdings weiß Kitcher keine allgemeinen Regeln anzugeben, wiesich die verschiedenen Dimensionen der Beurteilung von Vereinheitli-chung gegeneinander aufrechnen lassen, wenn sie in Widerstreit geraten,wenn etwa eine Basis zwar mehr Muster benötigt als eine andere, dieseaber stringenter sind. Doch zumindest einige Fälle lassen sich anhandvon Kitchers Theorie miteinander vergleichen und Kitcher denkt, daßdas insbesondere für die praktisch bedeutsamen Beispiele aus der Wis-senschaftsgeschichte gilt.

Ehe ich Kitchers Konzeption in einigen Punkten kritisiere, möchteich kurz darauf zu sprechen kommen, wie er das Irrelevanz- und dasAsymmetrieproblem innerhalb seiner Erklärungstheorie behandelnmöchte. Zunächst zum Irrelevanzproblem, für das Kitchers Konzeptionam überzeugendsten wirkt. Betrachten wir noch einmal das Beispiel desverzauberten Kochsalzes und der darauf aufbauenden Erklärung für seineAuflösung. Kitcher (1988, 216ff; 1989, 482ff) stellt hier zwei Überzeu-gungssysteme mit unterschiedlichen Systematisierungen einander gegen-über. Das erste besteht aus unserem normalen System, in dem wir dieÜberzeugung finden, daß es gerade die molekularen Eigenschaften desspeziellen Salzes sind, die erklären, warum es sich in Wasser auflöst. Daszweite enthält neben kleineren Änderungen zusätzlich die Auffassung,daß sich die Auflösung von Salz in Wasser manchmal aufgrund ihrer Ver-zauberung erklären läßt. Gegen das zweite Überzeugungssystem wendetKitcher ein, daß in ihm ein zusätzliches Argumentmuster Anwendungfindet, nämlich eines, in dem Verzauberung vorkommt, ohne daß da-durch ein Gewinn an ableitbaren Sätzen erzielt würde; schließlich wirddie Auflösung des Salzes ja schon durch die molekulare Erklärung her-leitbar. Damit ist die erste Systematisierung eindeutig zu bevorzugen,denn sie kommt mit einem Argumentmuster weniger bei gleicher Syste-matisierungsleistung aus. Auch wenn sich für dieses Beispiel noch weite-re Einwendungen finden lassen, indem man etwa verrücktere Überzeu-gungssysteme als Alternativen ins Spiel bringt, wirkt Kitchers Vorschlagzur Lösung der Irrelevanzproblematik recht ansprechend.

Das gilt nicht in demselben Maße für seine Antwort auf das Asym-metrieproblem, obwohl er hier ganz analog vorgehen möchte. Die Bei-spiele für eine solche Asymmetrie, die Kitcher betrachtet, sind das vonPendelfrequenz und Pendellänge (1988, 220ff) und das berühmte Bei-spiel vom „Tower and Shadow“ (1989, 484fff), das schon van Fraassenausführlicher besprochen hat. Davon möchte ich mich dem ersten zu-

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wenden, weil es eher unter die Rubrik „wissenschaftliche Erklärungen“fällt. Mit Hilfe der Pendellänge erklären wir normalerweise die Pendel-frequenz eines Pendels, aber nicht umgekehrt seine Pendellänge unterBerufung auf seine Pendelfrequenz, obwohl sich anhand des Pendelgeset-zes auch in dieser Richtung eine Ableitung ergibt. Wiederum vergleichtKitcher zwei alternative Überzeugungssysteme, nämlich erstens das nor-male, in dem eine Erklärung von der Pendelfrequenz zur Pendellängenicht vorkommt, wir aber über andere Erklärungen für Pendellängenverfügen, und zweitens das alternative System, in dem zusätzlich eineAbleitung der Pendellänge aus der Pendelfrequenz unter die Systemati-sierungen gezählt wird. Doch zunächst: Welche anderen Erklärungen fürdie Pendellänge können wir denn überhaupt anbieten? Wir können be-schreiben, wie es zur Herstellung des fraglichen Pendels mit seiner spe-ziellen Länge kam. In einer sehr großen Zahl von Fällen haben wir der-artige „Ursprungs- und Entwicklungsherleitungen“, auf die wir zur Erklä-rung der Pendellänge zurückgreifen können. Demgegenüber führt die al-ternative Systematisierung ein zweites und eigentlich überflüssiges Erklä-rungsschema für einen Teilbereich ein (auf alle Fälle, in denen wir übli-cherweise Ursprungs- und Entwicklungsherleitungen geben, läßt sich dieErklärung aus der Pendelfrequenz sicherlich nicht anwenden), das keinezusätzlichen Systematisierungsleistungen erbringt, aber die Vereinheitli-chung vermindert. Laut Kitchers Theorie ist daher das normale Überzeu-gungssystem zu bevorzugen. Ob in diesem Beispiel unsere kausalen Vor-stellungen von Asymmetrie aber tatsächlich außer Acht bleiben können,möchte ich hier nur zur Diskussion stellen.

Gegen diese Lösung des Asymmetrieproblems argumentiert etwaBarnes (1992), indem er Kitchers Behauptung, das alternative Überzeu-gungssystem sei weniger einheitlich, in Frage stellt – allerdings am Bei-spiel von „Tower and Shadow“.200 Auch wenn diese Diskussion nochnicht abgeschlossen ist, läßt sich dagen, daß Kitcher für die Fragen vonIrrelevanz und Asymmetrie zumindest einen sehr interessanten Lösungs-ansatz anzubietenhat. Mit dem steht er insgesamt bestimmt nichtschlechter da als seine Konkurrenten etwa aus dem Bereich der Kausal-erklärung.

Die Konzeption der Vereinheitlichung durch Argumentmuster möchteich nun nicht weiter in seinen technischen Details ausführen, sondernauf einige intuitive Schwierigkeiten und die Schachzüge, zu denen Kit-

200 Barnes bietet auch noch andere Einwände gegen Kitchers Auflösung desAsymmetrieproblems, die mich allerdings nicht vollkommen überzeugen, derenDiskussion aber den Rahmen dieser Arbeit verlassen würde.

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cher dadurch gezwungen wird, zu sprechen kommen. So naheliegenddie Argumentationsmuster auch in den von Kitcher untersuchten Bei-spielen aus der Evolutionstheorie und in seiner allgemeinen Beschrei-bung erscheinen, stoßen wir doch sofort auf Probleme, wenn wir sie aufhochentwickelte Theorien in ihrer Gänze anwenden wollen. Das von Kit-cher angegebene Muster zur Mechanik ist auf ein-Partikel-Systeme unddort auch noch auf bestimmte Spezialfälle beschränkt. Natürlich wirddie Ableitung für mehr-Teilchen-Systeme komplizierter und insbesondereläßt sich für viele Systeme keine Lösung der Differentialgleichungendurch mathematische Umformungen mehr finden, denn sie sind keineranalytischen Lösung zugänglich. Dazu gibt es eine Reihe von Spezialge-setzen, die Kitcher in Betracht ziehen müßte, wollte er der Komplexitätder Newtonschen Theorie (als einem Netz) wirklich Rechnung tragen.Erst mit Hilfe der Spezialgesetze bekommt die Newtonsche Mechanikjedoch empirischen Gehalt, und es lassen sich die Bahnen der Partikelvorhersagen. Kitcher (1988, 214f) spricht deshalb von einem Kernmu-ster, das in vielen Argumentmustern, die in der Newtonschen Theorievorkommen auftritt, und von problem-reduzierenden Mustern, die dasKernmuster ergänzen können. D.h., daß auch die Muster untereinanderwieder ähnlicher oder weniger ähnlich sein können, wobei Ähnlichkeit(gemeinsame Submuster) die vereinheitlichende Wirkung der Muster ei-ner Basis noch einmal erhöht. Damit bewegt sich Kitcher in Richtungauf eine Art Theorien-Netz mit Spezialisierungen und einer Basis odergemeinsamen Verzweigungspunkten, die die Gemeinsamkeiten von Mo-dellmengen in Spezialisierungen darstellen. Allerdings hat er für dieKonzeption der Kern- und Submuster und ihres Zusammenhangs keineModellierung anzubieten und auch keine entsprechenden Anwendungenvorgelegt, weil er keine hochentwickelten Theorien vollständig zu erfas-sen sucht.

Neben den Spezialgesetzen, die zu neuen Argumentmustern führenkönnen, ohne damit die Einheitlichkeit einer Theorie gänzlich überBord zu werfen, ist es die Flexibilität von Theorien, die Kitcher zu schaf-fen macht. Auch sie erhöht die Zahl der Argumentmuster, ist aber trotz-dem erkenntnistheoretisch wünschenswert. Die Newtonsche Theorieläßt sich für andere Ableitungen als die der Weg-Zeit-Funktionen einset-zen. Aus der Pendellänge und der Pendelfrequenz kann man z. B. auf diePendelmasse schließen, aus den Weg-Zeit-Funktionen von Doppelster-nen auf ihre Massen etc. Da sich diese Ableitungen – auch wenn sie un-terschiedliche Argumentmuster instantiieren – auf dieselben Grundgeset-ze stützen, bietet die Theorie auch hier eine Vereinheitlichung, die je-

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doch so in den unterschiedlichen Argumentmustern, die in den Ableitun-gen verwandt wurden, nicht wiederzufinden ist.

Der Friedmansche Gesichtspunkt, daß eine Theorie verschiedenePhänomene in einen Zusammenhang stellt und dadurch im Sinne einerKohärenztheorie zur Vernetzung unserer Erkenntnis beiträgt, kommt beiKitchers Vereinheitlichung über Argumentmuster zu kurz. Um Verein-heitlichung im Sinne Kitchers zu gewährleisten, könnte man sich daraufbeschränken, E(K) relativ einfach zu halten und mit wenigen Ableitun-gen zu versehen, so daß man auch mit wenigen Argumentmustern aus-kommt. Diesen trivialen Weg sollte Kitcher mit bestimmten Mindestan-forderungen an die betrachteten Systematisierungen unterbinden, wasaber auch nicht einfach sein dürfte, weil es eine globale Verrechnungvon Stringenz und Systematisierungsleistung erfordert. Solange das nichtmöglich ist, zeigt diese Alternative zu unserem Überzeugungssystem, daßKitchers Konzeption noch nicht zur Vorstellung von epistemischem Fort-schritt als höherer Kohärenz paßt, denn Kitcher kommt es nicht auf einehohe Vernetzung von K an, sondern darauf, die Verbindungslinien imNetz K von möglichst einfach zu gestalten; als Deduktionen, die einan-der strukturell sehr ähnlich sind.

Wenn wir ein neues Erklärungsschema aufnehmen müssen, um etwadie Entwicklung des Universums vom Urknall angefangen zu erklärenund dieses Schema nur für diese Anwendung einsetzen können, so gibtes nach Kitcher keinen guten Grund, darauf nicht einfach zu verzichten.Wir könnten statt dessen die Entwicklung des Universums als einzelnesFaktum ohne Erklärung zur Kenntnis zu nehmen, da für Kitcher syste-matische Kohärenz kein erklärtes erkenntnistheoretisches Ziel darstellt.Hauptsache wir vermehren nicht die Typen von Argumentationen in un-serem Überzeugungssystem. Ähnliches mag für Erklärungen in den Ge-schichtswissenschaften gelten, wenn sie bestimmte einzigartige Ereig-nisse erklären. So kann Kitcher aber das Streben der Wissenschaftennach möglichst vielen Erklärungen in derartigen Fällen kaum angemes-sen nachzeichnen oder verständlich machen. Meine kritische Frage anKitcher ist daher, ob seine Konzeption, die sich so stark daran orientiert,ob die Vernetzung von K von einer Metaebene aus betrachtet einfach ist,wirklich richtig beschreibt, was unter Vereinheitlichung in den Wissen-schaften zu verstehen ist. Mir scheint Friedmans Ansatz in diesem Punktintuitiv leichter nachvollziehbar zu sein und eine Vereinheitlichung derPhänomene durch Gesetze sollte in irgendeiner Form in allen Konzeptio-nen von Vereinheitlichung vorkommen.

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Abgesehen von der Möglichkeit einer Trivialisierung der Kitcher-schen Konzeption durch willkürliche Vereinfachung von E(K) weist derAnsatz noch eine andere Trivialisierungsgefahr auf, die Kitcher (1988,222ff) unter dem Stichwort unechte Verallgemeinerung („spurious unifi-cation“) diskutiert. Schon Hempel hatte mit dem Problem von Selbster-klärungen zu kämpfen. Aus der Konjunktion von Keplers Gesetz mitdem Boyleschen Gesetz läßt sich das Keplersche Gesetz ableiten, dochdas ist intuitiv keine Erklärung, obwohl die Ableitung dem DN-Schemaentspricht. Mit diesem Problem hatte schließlich auch Friedman seineSchwierigkeiten, wenn er anzugeben versucht, wie sich Gesetze zählenlassen. Noch deutlicher ist das bei einer Ableitung eines Gesetzes aussich selbst, das niemand mehr als Erklärung bezeichnen wird. SolcheBeispiele weisen den Weg zu ideal einfachen Argumentmustern, die alsBasis beliebiger Mengen D(K) dienen können. Im ersten Fall ergibt sichetwa:

A und BA

zusammen mit der Ausfüllungsanweisung: „A“ ist durch einen beliebigenSatz aus K zu ersetzen. Im zweiten noch einfacher:

AA

mit derselben Ausfüllungsanweisung. Zu diesen trivialen Fällen sind na-türlich auch kompliziertere Fälle von beinahe trivialer Vereinheitlichungdenkbar, die durch bloße Betrachtung der Schemata nicht so leicht zuentdecken sind. Kitchers sehr abstrakte Sichtweise von Vereinheitlichunglädt geradezu dazu ein, sich entsprechenden Mustern zuzuwenden.

Gegen solche Beispiele wehrt sich Kitcher (1988, 223ff) unter Hin-weis auf die fehlende Stringenz der Muster und erklärt jedes Muster alsunbrauchbar zu Vereinheitlichungszwecken, das im Prinzip – von der Artseiner Ausfüllungsanweisungen her – die Herleitung jedes Satzes erlaubt.

Wenn die mit Muster P assoziierten Ausfüllungsinstruktionen durchandere Ausfüllungsinstruktionen, welche die Substitution einer Klas-se von Ausdrücken derselben syntaktischen Kategorie zulassen, der-art ersetzt werden könnten, daß dies zu einem Muster P’ führenwürde, welches die Herleitung jedes Satzes erlaubt, dann ist diedurch P bewirkte Vereinheitlichung unecht. (Kitcher 1988, 224)

Mit dieser etwas umständlichen Formulierung möchte Kitcher auchnoch solche Fälle ausschließen, in denen jemand sich bemüht, die Trivia-lität der Vereinheitlichung oberflächlich zu verschleiern, indem er etwa

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davon spricht, Gott wolle, daß p, und dann doch im Prinzip in demSchema keine wirklich einschränkenden Bedingungen darüber zu findensind, was Gott denn wollen könne. Diese Schemata sind dann trivialenSchemata äquivalent und deshalb zurückzuweisen. Doch diese Nichttri-vialitätsforderung läßt sich schon dadurch erfüllen, daß man in den Aus-füllungsanweisungen einen bestimmten Satz ausschließt. Zu der span-nenden Frage der Einheitlichkeit der vereinheitlichenden Theorie wirdman auf Kitchers Weg wohl kaum eine befriedigende Antwort finden.

Später formuliert Kitcher (1989, 479ff) entsprechende komparativeBedingungen, die uns für bestimmte Fälle sagen, welches von zwei Mu-stern stringenter ist, nämlich das, dessen Ausfüllungsbedingungen unddessen Klassifikationen einschränkender sind. Auch mit diesen umständ-lichen Formulierungen gelingt es Kitcher jedoch nicht, eine auch nur ei-nigermaßen anspruchsvolle untere Grenze für Stringenz, zu formulierenund ebensowenig die Querverbindungen zu anderen Argumentmusterneinzubeziehen. Doch gerade diese beiden Forderungen hätte Kitcher zuerfüllen, wollten wir seine Vereinheitlichungskonzeption ernsthaftenTests unterziehen. Er müßte in der Lage sein, Schemata der oben ge-nannten Art, aber auch viele weitere ohne echten Gehalt, auch wenn siesich nicht auf alle Aussagen beziehen, als unechte Vereinheitlichungenzurückzuweisen. Die von ihm genannte Bedingung für unechte Verein-heitlichung spricht schon dann von echter Vereinheitlichung, wenn wireinen Typ von Aussagen als nicht ableitbar erweisen können. Hier fehlteine stärkere inhaltliche Charakterisierung von Vereinheitlichung, wie ichsie in Abschnitt E vorschlagen werde. Das kann nur anhand eines voll-ständigeren Bilds von wissenschaftlichen Theorien gelingen, in demauch die Spezialgesetze und Querverbindungen innerhalb und zwischenTheorien mit in Betracht gezogen werden, weil die Grundgesetze vonTheorien im allgemeinen viel zu schwach sind, um substantielle Verein-heitlichungen bewirken zu können.

Für Kitchers Bedingungen kann man sich außerdem des Verdachtsnicht erwehren, daß diese Bedingungen zu stark sprachabhängig sind,weil die Frage, was jeweils eingesetzt werden kann, wesentlich von denzur Verfügung stehenden Termen abhängt. Dabei bleiben unsere Intuitio-nen zur Vereinheitlichung auf der Strecke, denn Kitchers Bedingungen(besonders in ihren Präzisierungen 1989, 479f) sind kaum geeignet um-zusetzen, inwieweit bestimmte Theorien unser Wissen vereinheitlichen,denn Vereinheitlichung wird nur anhand von abstrakten und nur syntak-tisch ausgestalteten Ähnlichkeitsmaßen für Argumentationen auf einerMetaebene beurteilt. Für sie müssen wir einschätzen, welche gemeinsa-

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men Submuster sie aufweisen und wie stringent diese jeweils sind, wobeigerade der Stringenzbegriff keine Präzisierung erfährt und seine Verbin-dungen zu unseren Vorstellungen von Vereinheitlichung nicht völlig auf-geklärt werden.

Doch neben diesem intuitiven Unbehagen, das sich an einer rein syn-taktischen Beschreibung von Vereinheitlichung festmachen läßt, bleibenauch weitere handfeste Probleme, die das Unbehagen vergrößern. Kit-cher stellt sich ganz auf die Seite von Hempel, für den Erklärungen Ar-gumente sind. Dazu verteidigt er, was Alberto Coffa den „Deduktions-Chauvinismus“ genannt hat. Aber damit hatte schon Hempel seineSchwierigkeiten (s.a. VIII.B.1), auf die Kitcher (1989, 448ff) Erwiderun-gen zu formulieren sucht. Da sind zunächst die statistischen Erklärun-gen, auf die wir in verschiedenen Bereichen der Wissenschaften stoßen.Ihnen gegenüber stützt sich Kitcher auf die naheliegende und bereits ge-nannte Strategie, die Wahrscheinlichkeiten in diesen Erklärungen alsGrad von Unkenntnis der eigentlich zugrundeliegenden deduktiven Er-klärung anzusehen. Dabei gesteht er zu, daß diese Vorgehensweise zu-mindest auf den ersten Blick für die Quantenmechanik versagt, aberauch für andere Fälle ist die Hoffnung auf eine deduktive Erklärung ver-mutlich eher Wunschdenken als durch handfeste Daten zu begründen.

Doch Kitcher (1989, 450) bemüht sich trotzdem, den Deduktions-Chauvinismus sogar für den Fall der Quantenmechanik zu verteidigen.Er bespricht dazu den Fall zweier Teilchen, die auf eine Potentialschwel-le treffen, wie er von der Quantenmechanik beschrieben wird. Nehmenwir an, eines tunnelt trotz einer geringen Wahrscheinlichkeit von 0,1durch und das andere wird reflektiert. Nach Kitcher erklärt die Quan-tenmechanik nicht, wieso das eine Teilchen die Schwelle durchtunnelte,sondern bietet höchstens eine wie-möglich-Erklärung dafür an. Warumdas eine Teilchen durchtunnelte, das andere jedoch nicht, bleibt dagegengrundsätzlich unerklärlich, wenn die Quantenmechanik alles sagt, was esin diesem Fall zu sagen gibt. Die deduktive Erklärungstheorie verpaßtnach Kitcher in diesen Punkten eigentlich keine Erklärungschancen. Al-lerdings erklärt die Quantenmechanik wenigstens noch bestimmte relati-ve Häufigkeiten, die wir in diesen Experimenten beobachten können.Oder sie erklärt für bestimmte Kontrastklassen die Reflektion von Teil-chen. Dabei handelt es sich jeweils um genuin statistische Erklärungen,die wir nicht dem Deduktions-Chauvinismus opfern sollten.

Auch wenn Kitcher mit seiner Analyse quantenmechanischer Erklä-rungen richtig liegt, so bleiben doch die Fälle von historischen und evo-lutionären Erklärungen, in denen nicht unbedingt statistische Gesetze

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vorliegen, wir aber ebenfalls weit davon entfernt sind, die zu erklären-den Ereignisse deduzieren zu können. Die vielen derartigen Beispiele, indenen wir manchmal auch von „wie-möglich-Erklärungen“ sprechen,belegen zumindest, daß es sich nicht um eine unbedeutende Teilklassevon Erklärungen handelt, die wir für Untersuchungen der Struktur vonwissenschaftlichen Erklärungen nicht ernstzunehmen haben. Danebentrifft Kitchers Analyse nicht den Fall statistischer Erklärungen mit hohenWahrscheinlichkeiten. Hätte das Teilchen bei einer Wahrscheinlichkeitvon 0,99 die Potentialschwelle überwunden, wäre diese Wahrscheinlich-keit nicht mehr nur eine Erklärung für die Möglichkeit des Durchtun-nelns, sondern auch als eine Erklärung für das tatsächliche Ereignis zubetrachten; aber ebenfalls keine Deduktion.

Das Resümee der bisherigen Diskussion des Deduktions-Chauvinis-mus kann daher nur lauten, daß es zumindest höchst fraglich ist, ob siesich in allen Beispielen von wissenschaftlichen Erklärungen durchhaltenläßt, und wir sollten unsere Erklärungstheorie nicht von der recht zwei-felhaften Hoffnung abhängig machen, alle statistischen Erklärungenletztlich zu deduktiven verstärken zu können.

Neben den statistischen Erklärungen finden wir einen anderen wich-tigen metatheoretischen Phänomenbereich, den Kitcher manchmal mitunter die Probleme statistischer Theorien einzuordnen scheint, nämlichden der Approximationen und Unschärfen. Schon Popper (1972, 202)verweist darauf, daß bei fortschrittlichen Entwicklungen in der Wissen-schaft, in denen die alte Theorie nicht völlig aufgegeben wird, regelmä-ßig die neue Theorie die alte nicht einfach übernimmt, sondern auchkorrigiert. Dementsprechend sind praktisch alle interessanten Reduktio-nen quantitativer Theorien in der Wissenschaftsgeschichte approximati-ve Reduktionen. Popper nennt z. B. Newtons Theorie, die die Theorienvon Galileo und Kepler vereinheitlicht und erklärt, aber sie gleichzeitigauch an einigen Stellen korrigiert. Ebenso sieht es für die anderen gro-ßen „wissenschaftlichen Revolutionen“ aus, wie die Übergänge von derNewtonschen zu speziell und dann allgemein relativistischen Mechani-ken und den zu den quantenmechanischen Theorien. Entsprechende Ap-proximationen sind ein integraler Bestandteil von wissenschaftlichen Er-klärungen. Das hat etwa Nancy Cartwright (1983) dazu geführt, ihren„Simulacrum account“ zu entwickeln. Wir erklären demnach nicht, wiesich die Dinge in der tatsächlichen Welt verhalten, sondern wie sie sichin einer vereinfachten und idealisierten Welt verhalten.

Kitcher (1989, 453f) gibt sogar selbst einmal ein Beispiel in Form ei-ner Anekdote aus der Wissenschaftsgeschichte zu dieser Problematik an.

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So fragte ein Füsilier der Venezianischen Artillerie Galileo, warum seineKanonen die größte Reichweite hätten, wenn sie in einem Winkel von45 abgefeuert würden. Das Wesentliche von Galileos Erklärung siehtwie folgt aus: Man betrachte die Kanonenkugel als Punktpartikel, dieumgebende Atmosphäre als Vakuum und die Ebene als ideale euklidischeFläche. Wenn wir nun noch annehmen, daß auf die Kanonenkugel nurdie Schwerkraft wirkt, können wir den idealen Abschußwinkel zu 45ausrechnen. In tatsächlichen Situationen sind natürlich all die idealenBedingungen nicht erfüllt. Daß wir trotzdem von einer Erklärung Gali-leos für die größte Weite bei 45 auch für tatsächliche Kanonen spre-chen können, liegt daran, daß im Rahmen der hier verlangten Genauig-keiten die meisten auftretenden Abweichungen von den idealen Bedin-gungen das Ergebnis nur mit so kleinen Unschärfen belasten, wie sievom Füsilier – das heißt in dieser intendierten Anwendung von GalileosTheorie – ohne weiteres akzeptiert werden. Kitcher (1989, 454) beziehtsich auf die Quantenmechanik zur Erklärung bestimmter Abweichungenund spricht von geringen Wahrscheinlichkeiten, daß größere Abwei-chungen auftreten. Doch für das genannte Phänomen können wir quan-tenmechanische Einflüsse höchstens zu einem sehr kleinen Teil verant-wortlich machen – nicht z. B. für Bodenunebenheiten etc. – und wie eszu den Unschärfen kommt, mag zunächst auch offen bleiben. Wesentlichist es dagegen, bestimmte Idealisierungen zu akzeptieren, aber natürlichnicht alle beliebigen, sondern nur solche, für die wir in den betrachtetenAnwendungen tolerierbar kleine Abweichungen zwischen unseren Meß-werten und den theoretisch vorhersagbaren Werten erhalten.

Diesen Phänomenen von Unschärfen in Erklärungen und in Reduk-tionen und den damit verbundenen Fragen des Fortschritts von Theo-rien, kann Kitcher in seinem rein syntaktischen und deduktivistischenVereinheitlichungsansatz überhaupt nicht gerecht werden. Zunächst istin seiner deduktivistischen Konzeption kein Platz für Approximationenvorgesehen, und es bedarf auch einiger grundlegender Änderungen, umdieses Phänomen einzubringen. Wir haben jedenfalls keine wirkliche De-duktion mehr vor uns, wenn wir Unschärfen in Anschlag bringen. Wasan Stelle einer Deduktion in Kitchers Konzeption treten könnte, hättezunächst er selbst zu beantworten. Außerdem kommen an dieser Stelledie schon in (VII.C.8) geäußerten Bedenken gegenüber jeder syntakti-schen Behandlung von Unschärfen zum Tragen, so daß es sogar prinzipi-ell fraglich ist, ob sie sich in Kitchers Ansatz unterbringen lassen. Solltedas nicht gelingen, kann er wesentliche Aspekte des Theorienfort-

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schritts, der auch einen Übergang zu Theorien mit kleineren Unschärfe-mengen darstellt, nicht erfassen.

Darin liegt einer der Hauptnachteile von Kitchers Vereinheitli-chungskonzeption, zusammen mit ihrer Unfähigkeit die Flexibilität vonTheorien und ihre inneren Zusammenhänge nachzuzeichnen. Für Fällenicht deduktiver Erklärungen, echter statistischer Erklärungen, dem Zu-sammenhang vieler Theorie-Elemente und Spezialisierungen in einemganzen Theorien-Netz etc. kann Kitcher kaum eine Analyse anbieten.Darunter muß auch sein Versuch leiden, unechte von echter Vereinheitli-chung zu trennen. Wie die zahlreichen Muster, Kern- und Submuster,die mit einer Theorie assoziiert sind, zusammenspielen und wann sie zugehaltvollen Aussagen führen, wird nicht weiter ausgearbeitet. Ob es tat-sächlich gelingen würde, diese Phänomene auf der Metaebene allein mitHilfe von Argumentmustern auch nur approximativ nachzuzeichnen,scheint mir eher fraglich. Deshalb möchte ich einen anderen Ansatz vor-schlagen, der sowohl Friedmans wie auch Kitchers Einsichten reprodu-zieren kann, aber auf der anderen Seite von einer tiefergehenden Ana-lyse der inneren Struktur von Theorien ausgeht, um so den genanntenmetatheoretischen Phänomenen gerecht zu werden.

C. Einbettung in ein Modell

In diesem Kapitel stelle ich eine eigene Konzeption von Vereinheitli-chung vor, die gerade für den Bereich wissenschaftlicher Erklärungenwieder stärker auf das zurückgreift, was ich im Kapitel VII über die in-nere Struktur von Theorien gesagt habe. Das allgemeine Schlagwort, mitdem sich meine Erklärungskonzeption umreißen läßt, ist das der Einbet-tung in ein Modell. Demnach sind Erklärungen von Ereignissen oder Tat-sachen Einbettungen dieser Tatsachen in ein Modell oder in eine Mo-dellmenge von Modellen eines Typs und die Vereinheitlichung bestehtdarin, daß man mit wenigen möglichst gehaltvollen Modellen bzw. Mo-delltypen die zu erklärenden Phänomene zu beschreiben sucht. Im fol-genden werde ich manchmal auch kurz von der Einbettungstheorie derErklärung oder auch der Modelltheorie der Erklärung sprechen.

Zunächst möchte ich diese Konzeption eher abstrakt erläutern undim folgenden anhand von Beispielen und der Problemlösefähigkeit fürdie Einbettungstheorie argumentieren. Dabei gehe ich von einer über-wiegend informellen Darstellung schrittweise zu einer formal explizier-ten Erklärungstheorie über.

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1. Ein allgemeiner Modellbegriff

Ein wichtiger Punkt einer Explikation dieser Erklärungstheorie ist si-cherlich der Modellbegriff selbst, der in dem Schlagwort „Einbettung inein Modell“ verwendet wird. Für den allgemeinen Teil meiner Erklä-rungskonzeption möchte ich mit einem recht allgemeinen Modellbegriffarbeiten, nach dem ein Modell einfach eine Darstellung von etwas ande-rem ist, die speziell dazu entwickelt wurde, als Darstellung zu dienen.Um schon hier eine stärkere Abgrenzung zu eher künstlerischen Darstel-lungen zu gewinnen, könnte man hinzufügen, daß diese Darstellung fürerkenntnistheoretische Zwecke entworfen wurde. Dabei sollen zunächstauch mechanische Modelle oder Analogiemodelle etwa im Sinn von Ma-ry Hesse (1963) unter dem recht weitgefaßten Modellbegriff zu verste-hen sein. Ebenso sind theoretische Modelle im Sinne von Achinstein undRedhead (1980)201 hierunter zu subsumieren oder die „Simulacra“ vonCartwright (1983). Für den wissenschaftlichen Bereich möchte ich na-türlich weitgehend an den schon im vorigen Kapitel vorgestellten forma-len Modellbegriff der Logik anknüpfen, für den Modelle Relationsstruk-turen sind, deren Grundmengen auch materielle Objekte enthalten dür-fen. Die formalen Modelle in den Wissenschaften müssen nicht unbe-dingt durch Gesetze zu beschreiben sein, obwohl diese im Regelfall fürModellmengen wissenschaftlicher Theorien eine zentrale Rolle spielenwerden. Aber gerade in den weniger stark formalisierten Disziplinen sto-ßen wir ebenso auf Modelle, die z. B. als Ablaufgeschichten eher narrati-ven Charakter haben und weitgehend ohne Gesetze zu ihrer Beschrei-bung auskommen. Außerdem können wissenschaftliche Modelle wie dieWeltmodelle oder Klimamodelle, neben gesetzesartigen Charakterisie-rungen auch Einzeldaten enthalten, die über eine spezifische SituationAuskunft geben. In Klimamodellen sind das z. B. Daten über die Ober-fläche der Erde und Strömungen von Luft und Wasser auf unserem Pla-neten. Als Modelle im allgemeineren Sinn zählen sogar Miniaturmodellevon Schiffen, Flugzeugen oder Autos, die bestimmte Eigenschaften ihrerrepräsentierten Objekte im Strömungs- oder Windkanal ermitteln sollen.Offensichtlich sollte bei dieser Charakterisierung von Modellen sein,daß ein Modell keine isomorphe Abbildung von irgendwelchen Objektenund ihren Eigenschaften und Relationen sein muß. Isomorphe Zuord-nungen finden sich bestenfalls zwischen bestimmten Aspekten der Wirk-lichkeit und bestimmten Teilen der Modelle (s. dazu Bartelborth 1993a).

201 Redhead (1980, 146ff) diskutiert dort fünf Bedingungen von Achinsteinfür theoretische Modelle.

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Spätere Beispiele können die Reichhaltigkeit unseres Modellbegriffs si-cher besser illustrieren als eine abstrakte Erörterung.

Einige Vorläufer zu einer Art von Vereinheitlichungstheorie der Er-klärung wurden schon erwähnt. Speziellen Wert auf Modelle legtenauch einige Wissenschaftstheoretiker und Naturwissenschaftler – mandenke unter anderen an James Clerk Maxwell, Norman Cambell oderPiere Duhem –, für die meist anschauliche oder mechanische Modelleeine erstrangige Rolle spielten. Das paßt auch zu der wissenschaftstheo-retischen Forderung, die von Braithwaite und anderen erhoben wurde,wonach uns das Modell vertrauter sein sollte als das Dargestellte. In ei-ner moderneren Auffassung von Modellen sind solche Implikationen desArbeitens mit Modellen natürlich nicht mehr zwingend. Als Vorbild füreine strukturalistische Sicht der Einbettungstheorie sind die Arbeitenvon John Forge (1980 und 1985) zu nennen; mit seinem „instance view“der Erklärung, den er auch in einem semantischen Rahmen ansiedelt.Statt von der Einbettung in ein Modell spricht er davon, daß sich einModell als eine Instanz eines Gesetzes erweist.

Einbettungen sind dabei nicht nur eine einfache einstufige Angele-genheit, sondern können in mehreren Stufen in immer neue Obermo-delle erfolgen, was sogar für wissenschaftliche Erklärungen den Regelfalldarstellt. Diese Stufenfolgen können von ganz unterschiedlicher Artsein. Optische Phänomene lassen sich zunächst in eine Wellentheorie desLichts einbetten und diese wiederum in eine allgemeine Wellentheorie,in der allgemeine Phänomene wie Interferenz beschrieben werden. Ins-besondere geht bereits die übliche Einbettung von Daten, die man etwaaus Messungen gewinnt, in zwei Stufen vonstatten. Zunächst müssen dieendlich vielen erhobenen Daten (man könnte auch von einem Datenmo-dell sprechen) in ein partielles Modell einer Theorie eingebettet werden,das die „Instanziierung“ eines Phänomens darstellt und damit häufigschon unendlich viele Bahnwerte beinhaltet. Dieses partielle Modellmuß nun seinerseits in ein theoretisches Modell eingebettet werden Dieerste Einbettung läßt sich auch als Konzeptualisierung beschreiben, inder die Daten in der nichttheoretischen Begrifflichkeit einer Theorie for-muliert werden. Als der englische Astronom Edmond Halley ab 1678auf der Insel St. Helena Daten über Kometen sammelt und dabei großeÄhnlichkeiten zwischen den Bahnen und regelmäßige zeitliche Abständevon ca. 75 Jahren feststellte, vermutete er elliptische Bahnen, die sichanhand der Daten genauer angeben ließen. Damit hatte er die wenigenMeßwerte in ein partielles Modell der Newtonschen Mechanik eingebet-tet, das eine Instanz eines allgemeineren Phänomens von elliptischen Be-

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wegungen von Himmelskörpern darstellt. Bereits durch diese Formulie-rung wurde die Kometenbewegung in einen bis dahin unbekannten theo-retischen Zusammenhang zu den Planetenbewegungen gebracht, dereine erste Form von Vereinheitlichung bedeutet. Mit der Wiederkehr desHalleyschen Kometen im Jahr 1758 stieg daher das Interesse an Kome-ten stark an, jedoch erst im Jahre 1818 gelang es dem deutschen Astro-nomen Encke, die Bahn eines weiteren Kometen zu bestimmen und da-mit den systematischen Zusammenhang untereinander und zu den Pla-netenbahnen tatsächlich zu belegen.

Im zweiten Schritt wird dann eine theoretische Einbettung gesucht,die nun ein ganzes Phänomen theoretisch erklärt, wobei alle Instanzendes Phänomens unter Respektierung der Querverbindungen der Theoriezu geeigneten Modellen ergänzt werden. D.h. sie werden in der New-tonschen Gravitationstheorie durch die Anziehungskräfte der Sonne undder Planeten erklärt, wobei außerdem der Identitäts- und derExtensivitätsconstraint zu berücksichtigen sind. Für theoretische Erklä-rungen, die Friedman für die wesentlichen Erklärungen in den Natur-wissenschaften hält, spricht Friedman spätestens seit 1981 (s. Friedman1981 und 1983) ebenfalls von Erklärungen als Einbettungen:

A typical, and striking, feature of advanced sciences is the procedureof theoretical explanation: the derivation of the properties of a rela-tively concrete and observable phenomenon by means of an embed-ding of that phenomenon into some larger, relatively abstract andunobservable theoretical structure. (Friedman 1981, 1)

Im informellen Sinn spricht er dabei z. B. von Einbettungen der Eigen-schaften von Gasen in die „Welt“ der Molekulartheorie oder der Plane-tenbewegung in die „Welt“ der universellen Gravitation Newtons. In sei-nen formaleren Darstellungen bezieht er sich aber eindeutig auf semanti-sche Modelle wie sie auch der Strukturalismus verwendet (s. z. B. Fried-man 1981, 4, Anm. 2 oder 1983, 251ff). Dabei trifft er noch eine Unter-scheidung zwischen Einbettungen und echten Submodellen, um den Un-terschied zwischen antirealistischen und realistischen Interpretationenvon Theorien damit auszudrücken. Der Einfachheit halber spreche ichjedoch nur von „Einbettungen“, möchte damit aber keineswegs antireali-stische Interpretationen implizieren, denn natürlich soll die Darstellungvon Theorien zunächst neutral gegenüber diesen Interpretationsmöglich-keiten sein. Das gilt um so mehr, als wir sicher Teile von Theorien reali-stisch interpretieren sollten, während andere Teile eher als mathemati-

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sche Repräsentationen zu betrachten sind (s. Friedman 1981, 4ff undBartelborth 1993a).

Neben den theoretischen Erklärungen möchte ich aber wie angekün-digt auch die „Common Sense“ Erklärungen einbeziehen, die sich über-wiegend auf dem Niveau der begrifflichen Einbettung zu bewegen schei-nen. Z. B. Abelson und Lalljee (1988), die Ideen von Schank (1986) wei-terverfolgen, untersuchen in empirischen Studien „Common Sense“ Er-klärungen menschlichen Verhaltens und bedienen sich ähnlicher Sche-maerklärungen wie Kitcher.202 So geht es ihnen in Erklärungen um„connecting the thing to be explained with some available conceptualpattern, appropriately modified to fit the circumstances“ (Abelson/Lall-jee 1988, 175). Für sie ist etwa HERZANFALL ein solcher „Erklärungs-prototyp“, der eine Minitheorie beinhaltet, die die typische Geschichtedazu erzählt und überwiegend auf einer begrifflichen Ebene angesiedeltist, also einer Art von Erläuterung des Begriffs darstellt. Dazu gehört fürsie, daß es sich typischerweise um einen Mann (hier eine Anpassung andie Umstände eines Falles, zu dessen Erklärung sich die Autoren anschik-ken) über 50 handelt, der raucht und/oder übergewichtig ist und/oderhohen Blutdruck hat … und eventuell an den Folgen einer solchen Herz-attacke stirbt. Mit diesem Prototyp HERZANFALL können sie dann denTod eines bestimmten Menschen auf Common-Sense Niveau erklären,wenn er sich in eine derartige Geschichte einbetten läßt.

Auch im wissenschaftlichen Bereich lassen sich viele Einbettungenfinden, die sicher noch nicht den Status hochtheoretischer Einbettungenverdienen, sondern eher Einbettungen in Alltagsgeschichten auf einernichttheoretischen Ebene darstellen. Hierhin gehören etwa kommen-tierte Ablaufschilderungen wie die bereits genannte Erklärung der Ent-stehung des Ablasses (s. VIII.B.1.b). Dabei werden einige historische Da-ten, die uns bekannt sind, in eine umfangreichere Geschichte eingebet-tet, die wir als Modell einer Common-Sense Psychologie bezeichnenkönnen, wobei diese Einbettung durchaus einen Erklärungswert für unsbesitzen kann, auch wenn keine Naturgesetze zitiert wurden und auchkeine Deduktion dieser Praxis stattfand.

202 Sie sprechen zwar von kausalen Erklärungen, aber was sie tatsächlichverfolgen, sind nur die Prototypen oder Schemata, während inhaltliche Ausge-staltungen von Kausalität fehlen. Hier findet sich ein typisches Beispiel für eineVerwendung eines deflationären Kausalitätskonzept.

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2. Einbettungen und Erklärungen

Jede Erklärung ist eine Form von Einbettung, so lautet die These derletzten Abschnitte, doch natürlich muß nicht jede Einbettung schon eineErklärung darstellen. Zunächst sei daran erinnert, daß es eine Sache desGrades ist, ob etwas eine Erklärung ist. Unter den Erklärungen findensich Fälle von tiefergehenden und gehaltvolleren Erklärungen und sol-che, für das (noch) nicht der Fall ist. Einen Beispieltyp von Erklärungenauf einem niedrigeren Erklärungsniveau hatten wir in den eher begriffli-chen Einbettungen gefunden. Wenn etwa Kepler auf die Frage, warumein bestimmter Planet sich zu verschiedenen Zeiten an bestimmten Or-ten befunden hat, antwortet, daß sich die Planeten auf ellipsenförmigenBahnen mit der Sonne in einem Brennpunkt bewegen, wobei sie mit ei-ner berechenbaren Geschwindigkeit um die Sonne fliegen, und die inRede stehenden Orte und Zeiten nachweisbar genau auf der Elipsen-bahn dieses Planeten liegen, so bietet das schon eine erste Erklärung.Wir erhalten von Kepler wichtige Informationen, die sich sogar für Vor-aussagezwecke eignen und in diesem Sinne erklären, warum der Planetgerade durch diese Raum-Zeit-Punkte und nicht durch beliebige anderelief. Allerdings können wir hier nicht von einer Ursachenerklärung spre-chen, wie sie uns die Newtonsche Theorie zu bieten hat, die auch nochden Bahnverlauf selbst erklären kann und nicht einfach Ellipsenbahnenals unhintergehbares Faktum akzeptieren muß. Daß die Newtonsche Er-klärung besser ist, wird natürlich nicht nur in der intuitiven Redeweisevon Ursachen deutlich, sondern läßt sich in einem Vereinheitlichungsan-satz verständlich machen. Die Newtonsche Theorie vereinheitlichtschließlich eine Vielzahl von Partikelsystemen unter einem Dach, wäh-rend die Keplersche Planetenbahnentheorie nur einen sehr engen Aus-schnitt davon beschreibt.

Ähnlich ist das für Einbettungen in das Periodensystem. Sie gebenuns erste Hinweise, warum ein Gas besonders stabil ist, aber diese Erklä-rungen sind als bloße Klassifikationen natürlich recht schwach, obwohlsie Prognosen erlauben. In anderen Disziplinen und in Stereotypenerklä-rungen wie HERZANFALL (s.o.) stoßen wir sicher auf noch schwächereErklärungen und schließlich sind wir nicht mehr bereit, überhaupt nochvon Erklärung zu sprechen, weil den Einbettungen jede Stringenz, jederGehalt, abgeht. Es wird deshalb notwendig sein, einen Schwellenwertanzugeben, ab dem eine Einbettung als eine Erklärung anzusehen ist undwann sie bestenfalls als eine Vorstufe zu einer Erklärung betrachtet wer-den kann. Für einen Vorschlag, wo wir die untere Grenze ziehen sollten,möchte ich den empirischen Gehalt der einbettenden Theorie einsetzen.

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Hat eine Einbettung keinen empirischen Gehalt mehr, d.h. kann die ein-bettende Theorie keine Situation als nicht einbettbar zurückweisen, soll-ten wir von einer rein begrifflichen Einbettung ohne Erklärungswertsprechen. Besitzt die Theorie dagegen empirischen Gehalt, gibt sie unswenigstens erste Informationen, warum gerade diese Situation vorliegtund nicht eine beliebige andere.

Für die Einbettung in wissenschaftliche Theorien, also die von par-tiellen Modellen in aktuelle, ist der empirische Gehalt präzise definiertworden und kann nun für die verlangte Abgrenzung herangezogen wer-den. Für informelle Einbettungen ist das natürlich nicht in derselbenStrenge möglich, doch es läßt sich wenigstens intuitiv bestimmen, ob dieEinbettung bestimmte Situationen ausschließt oder nur eine Klassifikati-on von an sich beliebigen Situationen darstellt. Darüber hinaus erlaubtder empirische Gehalt auch eine Präzisierung für Vergleiche von Theo-rien auf ihre Erklärungskraft hin, doch dazu später mehr.

Im Rahmen der strukturalistischen Auffassung von Theorien habenübrigens sogar Common-Sense Theorien eine Chance, gehaltvolle Erklä-rungen zu produzieren, denn für den empirischen Gehalt werden aucheinige holistische Phänomene berücksichtigt. Zunächst müssen die Ein-bettungen nicht nur einzelne Phänomene einbetten, sondern gleichzeitigfür ganze Klassen von intendierten Anwendungen Gültigkeit besitzen.Dazu müssen die Einbettungen nicht nur die gesetzesartigen Bestimmun-gen der Theorie erfüllen, sondern ebenso eine Reihe von intertheoreti-schen Anforderungen, die für Common-Sense Theorien z. B. in den di-versen Bedeutungsbeziehungen in unserer Sprache (und etwa den Put-namschen Stereotypen) zu sehen sind.

Außerdem erlaubt es die Einbettungstheorie, die wichtigsten Dimen-sionen der Vereinheitlichung in einen formal präzisen Rahmen zu inte-grieren. Was Kitcher als die Stringenz der Vereinheitlichung bezeichnete,läßt sich in erster Näherung durch den theoretischen Gehalt einer Theo-rie beschreiben, denn dieser gibt Auskunft darüber, wie anspruchsvolldie Einbettung ist. Neben der Stringenz einer Theorie entscheidet ihreSystematisierungsleistung über den Erklärungswert einer Theorie. Siesoll nicht nur gehaltvolle Aussagen über einzelne intendierte Anwendun-gen machen, sondern eine möglichst große Zahl von Anwendungen ineinem systematischen Rahmen unterbringen, wodurch auch Verbindun-gen zwischen möglichst vielen Anwendungen entstehen. Diese Vernet-zung ist dabei um so hilfreicher, je verschiedenartigere Typen von inten-dierten Anwendungen verknüpft werden, denn gerade für sie ist sonstam ehesten zu erwarten, daß sie zu getrennten Subsystemen gehören

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könnten. Dadurch wird Friedmans Konzeption der Vereinheitlichungmöglichst vieler Phänomene in der semantischen Theorienkonzeptionumgesetzt, und schließlich werde ich auch seine Überlegung, erklärendeTheorien hätten möglichst atomar zu sein, in einer etwas anderen Formunter dem Stichwort der organischen Einheitlichkeit von Theorien mit-berücksichtigen.

Diese Dimensionen der Vereinheitlichung entsprechen den intuitivenVorgaben aus der Erklärungsdebatte. Zugleich decken sie sich mit unse-ren erkenntnistheoretischen Anforderungen an Erklärungen. Eine hoheSystematisierungsleistung einer erklärenden Theorie stellt sicher, daß ih-re Erklärungen viele inferentielle Verbindungen der erklärten Phäno-mene zu anderen Phänomenen etablieren. Das trägt bereits lokal wieglobal zur Kohärenz bei. Daß diese Verbindungen möglichst stark sind,wird durch die Forderung nach Stringenz der Vereinheitlichung erfaßt.Schließlich sorgt die organische Einheitlichkeit einer Theorie dafür, daßdie Verbindungen anhand von Knoten in unserem Netz nicht bloß künst-lich, etwa durch Konjunktion des Verbundenen, herbeigeführt wird, son-dern eine genuine Vernetzung darstellt.

Daß die Einbettungstheorie sich auch mit der vertretenen Auffassungvon wissenschaftlichem Verstehen verträgt oder sogar deckt, ist ebenfallsoffensichtlich. Die Einbettung in ein Modell ist ein wichtiger Spezialfallder kohärenten Einbettung in unsere Überzeugungssysteme. Sie zeigt,wie sich einzelne Instanzen bestimmter Phänomene in akzeptierte Theo-rien einbetten lassen, wodurch sie indirekt in unsere Meinungssystemeintegriert werden.

D. Ein Beispiel für Vereinheitlichung

In dieser Arbeit ist nicht der Raum für detaillierte Fallstudien, aber zuZwecken der Illustration möchte ich für eine entwickelte Theorie, näm-lich die Elektrodynamik, einige intendierte Anwendungen aus unter-schiedlichen Bereichen nennen. Das soll die Bandbreite der Vereinheitli-chung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse durch diese Theorie vorAugen zu führen. Zwangsläufig ist es dabei nicht möglich, die wissen-schaftlichen Erklärungen, die die Elektrodynamik für die angeführtenPhänomene gibt, hier zu präsentieren. Auch das ist eine Aufgabe für ei-gene ausführlichere Fallstudien. Außerdem sollte für die Phänomene im-mer klar sein, daß nicht die Maxwellsche Theorie allein in der Lage ist,die Erklärungsleistung zu erbringen, sondern meist mehrere Theorien

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dazu notwendig sind. Um die Leistungsfähigkeit der Elektrodynamik we-nigstens anzudeuten, werde ich eine Auswahl von Phänomenen undtechnischen Entwicklungen ungefähr chronologisch anführen. Das be-tont den dynamischen Aspekt der langen Geschichte von Entdeckungen,die heutzutage bereits in dieser Theorie vereinheitlicht werden oder erstanhand der Theorie entdeckt wurden.203 Darunter fallen Phänomeneaus den Bereichen Magnetismus, Elektrizität, aber auch der Optik undanderer Gebiete der elektromagnetischen Strahlung.

Zur Elektrodynamik:

Magneten sollen bereits im 6. Jh. v. Chr. entdeckt worden sein. ErsteBeschreibungen des Magnetismus mit einer animistischen Theorie,die ihn erklären sollte, finden sich schon bei Thales von Milet. DerMagnetismus bestimmter Materialien kann heute mit Hilfe vonAtomtheorien und Elektrodynamik erklärt werden.

Weitere magnetische Phänomene fand man im Erdmagnetismus. InEuropa bestimmt man seit 1180 mit seiner Hilfe die Himmelsrich-tung. Kolumbus vermerkte aber schon 1492 die Abweichungen derKompaßnadel von der Nordrichtung, die magnetische Deklination.William Gilbert deutete die Erde um 1600 als einen Magneten underklärte damit als erster das Verhalten der Kompaßnadel.

1269 entdeckte Pelerin de Maricourt gelegentlich einer längeren Be-lagerung, daß Magneten magnetische Pole besitzen.

Bereits Thales soll sich mit Bernstein beschäftigt haben, der sich beimReiben elektrostatisch auflädt. Gilbert nannte ähnliche Stoffe (Fels-kristall z. B.) elektrische Stoffe (nach „elektron“ griechisch für Bern-stein). Guericke baute um 1660 mit Hilfe einer rotierenden Schwe-felkugel das erste Gerät zur Erzeugung von Reibungselektrizität, dassogar Funken abgab. Mit einer Glaskugel konnte Hauksbee das Gerät1706 wesentlich verbessern.

Grimaldis Entdeckung der Diffraktion von Licht wurde 1665 post-hum veröffentlicht. Newton bemerkte 1666, daß sich das weißeLicht in verschiedene Farben aufspalten läßt.

Romer schätzte 1675 die Lichtgeschwindigkeit auf 225 000 km/s.Bradley, der sie 1728 anhand der von ihm verstandenen Abberation

203 Dabei stütze ich mich unter anderem auf die Chronologie in Asimov(1991), aber es soll sich nicht um eine vollständige Chronologie aller Phäno-mene und Ereignisse handeln, die in der Elektrodynamik erklärt werden können,sondern nur um eine Auswahl.

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des Lichts bei der Sternenbeobachtung schätzte, kam auf 283 000km/s.

Newton behauptete, das Licht bestehe aus Teilchen, während Huy-gens es für eine Wellenbewegung im Äther hielt.

Gray fand 1729, daß Elektrizität durch manche Stoffe, die er Leiternannte floß, und hielt sie für eine Flüssigkeit. Du Fay vermutete1733 anhand von Anziehungs- und Abstoßungsphänomenen, daß essich um zwei Flüssigkeiten handeln müsse.

Im Jahre 1945 bauten Musschenbroek und unabhängig von ihmKleist Geräte zur Speicherung von Elektrizität, die nach der Universi-tät Leiden, wo ersterer arbeitete, Leidener Flasche genannt wurde.

Cronstedt entdeckte, daß neben Eisen auch Nickel und Kobalt vonMagneten angezogen werden.

Franklin, der nur an eine einzige elektrische Flüssigkeit glaubte, ent-deckte, daß auch Blitze elektrische Entladungen darstellen und ent-wickelte den Blitzableiter.

Galvani bemerkte, daß auch die Muskeln toter Frösche bei Elektrizi-tät zucken, kam in diesem Zusammenhang aber noch auf die Vermu-tung tierischer Elektrizität.

Im Jahre 1800 baute Volta die erste elektrische Batterie, mit Kupferund Zinkplatten sowie in Salzlösung getränkten Scheiben aus Pappe.

Der Chemiker William Nicholson nutzte sie kurz darauf, um Wasserzu elektrolysieren.

Ebenfalls im Jahr 1800 entdeckte Herschel die Infrarotstrahlung, alser einen besonderen Temperaturanstieg am roten Ende des Licht-spektrums feststellte.

Ein Jahr später konnte Ritter die besonders schnelle Färbung von Sil-bernitratstreifen am anderen Ende des Spektrums beobachten, dieauf eine ebenfalls unsichtbare Strahlung – die Ultraviolettstrahlung –zurückgeht.

Im selben Jahr führte Young seine Lichtexperimente zur Interferenzund Beugung von Lichtwellen durch und ermittelte dabei u.a. auchdie Länge von Lichtwellen.

Davy (1807) isolierte mittels elektrochemischer Verfahren die Elemen-te Barium, Strontium, Calcium und Magnesium.

In den folgenden Jahren wurden eine Reihe von Phänomenen des po-larisierten Lichts von Physikern wie Malus und dem Chemiker Berze-lius untersucht, die Fresnel (1818) z.T. anhand einer mathematisier-ten Fassung einer Theorie von Transversalwellen erklären konnte.

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Das Jahr 1820 war besonders folgenreich. Ørsted bemerkte den Ein-fluß eines Stroms auf die Kompaßnadel, was Ampère zu systemati-schen Versuchen der Wirkungen zweier stromdurchflossener Drähteveranlaßte und Schweigger auf den Gedanken brachte, das ersteMeßgerät für Stromstärken zu bauen. Arago konnte die Ähnlichkeitder Anziehung durch einen Kupferdraht, der einen Strom führt, mitder eines Magneten demonstrieren.

Faraday (1821) konnte zeigen, wie sich Elektrizität in Bewegung um-setzen ließ und Seebeck, wie sich Wärme in Elektrizität verwandelnließ (Seebeck-Effekt).

Ohm (1827) ermittelte den Zusammenhang von Stromstärke undDicke sowie Länge des Leitungsdrahtes.

Faraday (1831) entwickelte den ersten elektrischen Generator, dersinnvoll durch einen Elektromotor (von Henry) ergänzt wurde.

Um 1844 baute Morse seinen Telegraphen, der die Erkenntnisse überelektrische Magneten und Batterien umsetzte.

Fluoreszenz in luftleeren Glasgefäßen, durch die man einen Stromschickt, hatte schon Faraday bemerkt, aber systematisch untersuchtesie zuerst der Physiker Plücker 1858 in einer Geißlerschen Röhre.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es Physikern wieMaxwell und Hertz eine erste einheitliche Theorie der Elektrodyna-mik zu entwerfen – die in ihren Grundgleichungen noch heute gültigist – die den genauen Zusammenhang von elektrischen und magneti-schen Feldern und oszillierenden Ladungen angab und erstmals dieAusbreitung elektromagnetischer Wellen mathematisch präzise be-schrieb.

Damit war die Entfaltung der Elektrodynamik und das Entdecken vonPhänomenen, die hauptsächlich sie beschreibt, natürlich noch langenicht zu Ende. Die elektrischen Geräte und insbesondere die Resultateder Elektrotechnik und Elektronik geben heutzutage eine beredtes Zeug-nis dafür, wie rasant die Entwicklung weiterging. Aber dieser kleine Aus-schnitt der Entwicklung mag genügen, um zu erkennen, welch ungeheu-er große Vereinheitlichungsleistung eine Theorie wie die Elektrodyna-mik erbringt. Das erklärt zugleich, warum wir sie gegenüber ihren „Kon-kurrenten“ für überlegen halten. Die vielen kleinen Theorien, die manim Laufe der Zeit entwickelte, um die einzelnen beschriebenen Phäno-mene zu erklären, können gegenüber dieser Vereinheitlichungskraftnicht bestehen. Niemand würde diese „kleinen“ Theorien wie etwa dieFlüssigkeitstheorien der Elektrizität ernsthaft als Konkurrenten derMaxwellschen Elektrodynamik ansehen, auch wenn es keine direkten

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experimentellen Resultate gegen sie gäbe. Schon durch ihre umfassendeVereinheitlichungsleistung überzeugt uns die Maxwellsche Theorie.204

Auf welche Weise die Vereinheitlichung vor sich geht und welche Rolleden Komponenten einer Theorie dabei zufällt, soll der nächste Abschnittaufklären helfen.

E. Komponenten der Vereinheitlichung

Die strukturalistische Sichtweise von Theorien gestattet eine Präzisie-rung zumindest wesentlicher Teile der erklärenden Einbettung. Das ge-schieht anhand der in (VII.C) angegebenen inneren Struktur von Theo-rien und der darauf fußenden Explikation ihres empirischen Gehalts. Je-de Einbettungsfunktion e, die ein partielles Modell x zu einem theoreti-schem Modell ergänzt und dabei die dort angeführten Anforderungenan Einbettungsfunktionen erfüllt, ist eine Erklärung des in x beschriebe-nen Ereignisses, wenn sie stringent und vereinheitlichend ist. Die Bedin-gungen, die die Komponenten einer Theorie T ihr dazu auferlegen, be-stimmen, in welchem Ausmaß die Theorie vereinheitlichend wirkt undwie stringent sie dabei ist. Ehe ich zu einer formalen Explikation derVereinheitlichungskraft von Theorien und speziellen Einbettungen über-gehen, möchte ich die Beiträge der verschiedenen Theoriekomponenteninformell beschreiben.

1. Begriffliche Vereinheitlichung in Strukturarten

Die gesuchten Beiträge zur stringenten Vereinheitlichung durch die Theo-rie sind von recht unterschiedlichem Gehalt. Da ist als erstes der begriff-liche Rahmen zu nennen, den die potentiellen Modelle bereitstellen. JedeEinbettungsfunktion hat jedes Phänomen zunächst einer einheitlichenbegrifflichen Einordnung zu unterziehen, die z. B. bestimmte Idealisie-rungen beinhaltet. Man spricht etwa in der KPM (klassischen Partikel-mechanik) von Punktpartikeln, wohlwissend, daß tatsächliche Partikelimmer eine Ausdehnung besitzen, und impliziert damit, daß diese Ideali-sierung vernachlässigbare Auswirkungen auf das Verhältnis von Theorie

204 Eine viel stärker inhaltlich auf die Elektrodynamik eingehende Fallstu-die zu ihrer Vereinheitlichungskraft bietet Morrison (1992). Eine ausführlichereDarstellung der klassischen Elektrodynamik im strukturalistischen Theorienkon-zept findet sich in Bartelborth (1988).

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und Erfahrung besitzt, die zumindest innerhalb der erlaubten Unschär-fen angesiedelt sind. Daneben wird jedes physikalische System auf diewenigen Eigenschaften reduziert, die in der KPM eine Rolle spielen, wieKräfte, Massen, Weg-Zeit-Funktionen und bestimmte mechanische Para-meter, während zahllose andere Eigenschaften wie die Gestalten undFarben der Partikel weggelassen werden. Auch wenn diese begrifflichenVereinheitlichungen nicht die Stringenz von Vereinheitlichungen durchGesetze erreichen, so stellen sie doch eine wichtige Ebene der theoreti-schen Vereinheitlichung dar, die bereits erste inhaltliche Konsequenzenhat.

Daß diese begriffliche Einordnung zu keiner Pseudovereinheitli-chung verkommt, bei der einfach nur ein Name für vollkommen Unter-schiedliches vergeben wird, dafür sorgt die Forderung an die potentiel-len Modelle einer Theorie, daß sie einer Strukturart angehören sollen,d.h. daß sie alle von demselben Strukturtyp sein sollen. Diese Forderungläßt sich anhand des Begriffs der Strukturart von Bourbaki präzisieren.Sie dient dazu, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Relationsstrukturen<D,R> = <D1,…,Dn, R1,…,Rk> mit Mengen Dj und Relationen Rl dar-auf sichtbar zu machen. Zu diesem Begriff zunächst einige Hilfsbegriffe(s.a. Ludwig 1978, 58ff oder BMS 6ff):Eine Menge L, die nur aufgrund der wiederholten Anwendung des Car-tesischen Produkts „“ und der Potenzmengenoperation „Pot“ aufD1,…,Dn (den Basismengen) entstanden ist, heiße Leitermenge L über<D1,…,Dn>. Bei entsprechendem n könnte eine solche Menge etwa fol-gendermaßen aussehen:

L = Pot(D3 Pot(D5D1))

Diese Menge hat einen bestimmten mengentheoretischen Typ , derdiese Konstruktion aus den Basismengen typisiert, den wir etwa durch:

(D) = Pot(3 Pot(51))

charakterisieren können. gibt uns also ein mengentheoretisches (Lei-ter-) Verfahren an, wie wir von den Basismengen D zu der LeitermengeL = (D) gelangen können. Für eine Strukturart mit k Relationen<R1,…,Rk> zu den Basismengen <D1,…,Dn> benötigt man Typisierun-gen des (komplexen) Typs <1,…,k> = und erhält:

Eine Strukturart vom Typ zur Basis D ist die Menge:{<D,R>; i gilt: Ri i(D)}

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D.h., eine Strukturart vom Typ zur Basis D ist die Menge aller Relati-onsstrukturen mit Basismengen <D1,…,Dn> und Relationen<R1,…,Rk>, für die die Relationen an der i-ten Stelle alle von demsel-ben Typ i sind. Strukturarten sind damit Mengen von Relations-strukturen mit denselben Grundmengen und strukturähnlich aufgebau-ten Relationen. Diese Einheitlichkeit verlangen wir nun auch noch zu-sätzlich von den potentiellen Modellen einer Theorie:205

Die Menge Mp der potentiellen Modelle einer Theorie muß eineStrukturart bilden.

Die potentiellen Modelle einer Theorie lassen sich im allgemeinen nichtallein durch Typisierungen definieren, sondern sind weiter einzuschrän-ken durch Bedingungen, wie daß eine Relation eine Funktion und außer-dem differenzierbar sein soll. Diese zusätzlichen Forderungen, die zuden rein mengentheoretischen Typisierungen hinzukommen und mathe-matische Bedingungen an die Relationen formulieren, die noch keineGesetze sind, sollen „Charakterisierungen“ heißen (s. BMS 14ff).

Eine Abweichung von der ursprünglichen Bourbaki Definition ver-dient noch Erwähnung. Für einschränkende Zusatzbedingungen – in un-serem Fall die Charakterisierungen – forderte Bourbaki, daß sie „trans-portabel“ sein sollten, d.h. daß sie beim Transport von einer Menge zueiner isomorphen Menge stabil sein sollten (s. Scheibe 1981, 314). Bour-baki ließ als Bedingungen also nur strukturelle Bedingungen zu, dienicht von den speziellen Elementen der Grundmengen abhängen dürfen.Scheibe (1981) versucht durch solche Transportabilitätsbedingung we-sentliche Invarianzeigenschaften von Theorien auszudrücken. Doch dieseForderung Bourbakis paßt besser zu mathematischen Theorien als zuempirischen, die ja auch Theorien über ganz bestimmte Objekte seinkönnen (die Sonne nimmt in Keplers Theorie z. B. eine Sonderstellungein und ist nicht gegen die Planeten austauschbar). Diesen Elementenmit Sonderstellung können wir natürlich immer eine eigenständigeGrundmenge einräumen, um die Transportabilität zu erhalten, aber da-mit umgehen wir die Bedingung nur und gestehen zu, daß sie eigentlichnicht für empirische Theorien geeignet ist. Deshalb verzichtet der Struk-turalismus auf diese Forderung. Ich verzichte weiterhin darauf – im Un-terschied zur Darstellung in BMS –, auch von den Modellen einer Theo-rie zu verlangen, daß sie eine Strukturart bilden, denn ohne Transporta-bilitätsforderung kommt dadurch nichts Neues zu der bisherigen Forde-rung an die potentiellen Modelle hinzu.

205 Damit gelten sie auch automatisch für die partiellen Modelle.

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Mit der Bedingung, daß die potentiellen Modellmengen zu einerStrukturart gehören sollen, erreichen wir eine entsprechend einheitlicheBeschreibung aller Systeme, die von einem Theorien-Netz behandeltwerden. Insbesondere sind damit die Teil-Ganzes- Beziehungen und Art-Gattungs-Beziehungen für ein ganzes Theorie-Element und sogar einganzes Theorien-Netz einheitlich festgelegt. Das scheint ein wesentlichesMerkmal der normalwissenschaftlichen Forschung zu sein. Wenn wir et-wa Kuhns Netzmetapher für begriffliche Zusammenhänge folgen, daßjede theoretische Änderung eine leichte Bedeutungsverschiebung unseresBegriffsnetzes bedeutet, so werden wir trotzdem nicht gleich jede Bedeu-tungsänderung als wissenschaftliche Revolution ansehen. Wie groß müs-sen die Änderungen aber sein, um von einer „Revolution“ sprechen zukönnen?

Dazu hat Thagard (1992, 30ff) einen Vorschlag gemacht und in ei-ner großen Zahl von Fallstudien seine Brauchbarkeit belegt. Er geht da-von aus, daß gerade Teil-Ganzes Beziehungen und Einteilungen in Artenentscheidende Auskünfte über die Ontologien unserer Theorien bieten.Schließlich sagen sie uns, aus welchen Konstituenten die Welt besteht.Für echte Revolutionen finden wir daher Verschiebungen vor allem indiesem Bereich. Die Evolutionstheorie veränderte z. B. den Artbegriffvon einer morphologischen Konzeption mit synchronischen Kriteriender Zugehörigkeit zu einer genealogischen Konzeption. Besondersschockierend war für Darwins Zeitgenossen die dabei erfolgte Neuein-teilung des Menschen von einer herausgehobenen selbständigen Katego-rie zu einer unter anderen Tieren (s. Thagard 1992, 136ff). Es findensich in den Wissenschaften zahlreiche weitere Beispiele für derartige Re-klassifizierungen, die ihre Bedeutung für revolutionäre versus normal-wissenschaftliche Entwicklungen nahelegen. Die Typisierungen und Cha-rakterisierungen, die einen Typ von potentiellen Modellen für eineTheorie festlegen, sind zwar im allgemeinen keine besonders stringentenVereinheitlichungen, aber sie sind immerhin geeignet, die ontologischenHierarchien einer Theorie festzulegen.

2. Sukzessive Vereinheitlichung durch Gesetze

Stärkere inhaltliche Anforderungen, die besonders die Stringenz der Ver-einheitlichung erhöhen, finden sich erst in der Beschränkung auf dieModellmenge. Damit werden nun, ganz im Sinne Friedmans, bestimmtePhänomene unter einige wenige Gesetze gebracht. Allerdings ist dabeizu beachten, daß hier sukzessive eine Reihe von Einbettungen in einem

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Theorien-Netz erfolgt. Zunächst werden alle intendierten Anwendungeneiner Theorie unter ihre Grundgesetze im Basis-Theorie-Element subsu-miert. Das erweist sich in den meisten Fällen jedoch kaum als stringenteEinbettung, wie Fallstudien zu verschiedenen Theorien gezeigt haben,nach denen das Basis-Theorie-Element allein gehaltsleer war. Erst mitder Subsumption unter die Spezialisierungen des Netzes und die sie cha-rakterisierenden Spezialgesetze ist eine substantielle empirische Behaup-tung verbunden. Die kann sukzessive durch weitere Spezialisierungen bisin Bereiche technischer Anwendungen der Theorie hinein verstärkt wer-den.

An dieser Stelle zeigt sich auch der Vorteil eines hierarchischen Auf-baus einer Theorie in Form eines Netzes. Eine Theorie soll nämlich aufder einen Seite eine Vereinheitlichung und Systematisierung vieler Phä-nomene bieten, dabei aber zugleich möglichst informationsreich sein.Diese beiden Forderungen stehen in einem Spannungsverhältnis, das im-mer eine Abwägung gegeneinander erfordert. Doch diese hat nicht in ei-nem Schritt ein für allemal zu erfolgen, sondern kann in mehrerenSchritten auf unterschiedlichen Ebenen vorgenommen werden. Die Kon-zeption des Theorien-Netzes erlaubt es, beide Forderungen in unter-schiedlichen Kombinationen zu verwirklichen, so daß sich insgesamteine gehaltvolle Aussage ergibt.

Man könnte sagen, ein Netz von Theorie-Elementen verwirklichedie zwei Aspekte Vereinheitlichung und Stringenz in entgegengesetztenRichtungen. Während die Vereinheitlichung nach oben (in Richtung aufdas Basis-Theorie-Element) hin wächst, weil immer mehr Phänomeneunter immer weniger Gesetze subsumiert werden, wächst die Stringenzzusammen mit der Spezifizität nach unten hin an, wo jeweils speziellereGesetze für immer weniger Typen von intendierten Anwendungen for-muliert werden. In die empirische Behauptung des ganzen Netzes flie-ßen dann beide Effekte ein und ergeben eine Art Zusammenschau allerBedingungen, die das Netz an die intendierten Anwendungen stellt.

Die empirische Behauptung ist daher auch der geeignete Ort, umeine untere Grenze, wann wir überhaupt noch von einer Erklärung spre-chen können, zu markieren. Daß nicht jede Einbettung schon eine Erklä-rung darstellt, hatte ich in (C.2) zugestanden und als Schwellenwert ge-rade die empirische Behauptung einer Theorie genannt, die nicht leersein sollte. Diese Bedingung sorgt dafür, daß die erklärende Einbettungnicht nur eine begriffliche Klassifizierung darstellt, sondern empirischeInformationen beinhaltet, die darüber hinausgehen. Die rein begriffli-chen Einbettungen, die natürlich keineswegs wissenschaftlich unbedeu-

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tend sind – man denke nur an die biologischen Klassifizierungen –,möchte ich in Anlehnung an eine Stegmüllersche Formulierung bloß als„wissenschaftliche Systematisierungen“ bezeichnen.

3. Vereinheitlichung durch Konsistenzforderungen

Neben den Gesetzen einer Theorie, die wesentlich zur Stringenz dertheoretischen Vereinheitlichung beitragen, sind in erster Linie die inner-theoretischen Querverbindungen (Constraints) als wichtige Faktoren derVereinheitlichung zu nennen. Sie wirken wie eine verbindende Klammerzwischen den lokalen Modellen eines Theorie-Elements und sollen dieKonsistenz für die Zuweisung von physikalischen Größen innerhalb ei-nes Theorie-Elements sicherstellen. Während die Bestimmungen für diepotentiellen Modelle für eine einheitliche begriffliche Struktur sorgten,bewirken die Constraints grob gesagt eine Einheitlichkeit der Funktions-werte in unterschiedlichen Bereichen der Theorie. So handelt es sichhäufig um Identitätsconstraints oder Invarianzconstraints, die deutlichmachen, daß es sich um ein und dieselbe Funktion mit denselben Wertenetwa für die Masse eines Partikels handelt, auch wenn dieser Partikel inverschiedenen physikalischen Systemen auftritt. Untersuchungen zur em-pirischen Behauptung von Theorien (etwa Gähde 1989) offenbaren,welch große Bedeutung den Constraints für die Stringenz der Vereinheit-lichung zukommt, und es ist daher auch nicht überraschend, daß sieebenfalls eine wichtige Rolle für theoriendynamische Prozesse spielen.Darüber hinaus bestimmen sie wesentlich mit über den inneren Zusam-menhalt eines Theorie-Elementes. Ihre verbindende Funktion als Brük-kenstruktur innerhalb einer Theorie sorgt dafür, daß die Theorie nichtin eine schlichte Konjunktion von Einzelbehauptungen und damit gewis-sermaßen in Subsysteme zerfällt, sondern ein organisches Ganzes bildet,was ich in (IX.E.8) ausführen werde. Die Wirkung der Constraints, etwades Identitätsconstraints für Partikelsysteme in der Mechanik, läßt sichauch wie folgt beschreiben: Die lokalen potentiellen Modelle, die einenConstraint erfüllen, lassen sich zusammen in ein globales potentiellesModell der Theorie einbetten. Dieser Gedanke wird für den Fall der All-gemeinen Relativitätstheorie in Bartelborth (1993) präziser gefaßt. Dasbringt noch einmal zum Ausdruck, wie sich auch die Vereinheitlichungdurch innertheoretische Querverbindungen in die Redeweise von Ver-einheitlichung als Einbettung in ein Obermodell einfügt.

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4. Vortheoretische Vereinheitlichung und theoretische Größen

Die partiellen Modelle zeichnen eine Substruktur der potentiellen Mo-delle als nicht-T-theoretisch aus. D.h. in erster Näherung: Wir haben dieWerte für diese Größen (also die Submodelle) anhand anderer Theorienzu ermitteln. Die partiellen Modelle geben uns daher eine wichtigeSchnittstelle zu anderen Theorien über die ein intertheoretischer Infor-mationstransfer laufen kann und Theorien zu einem Holon zusammen-gefaßt werden können.206 Für die Frage der Vereinheitlichung ist aller-dings spannender, welche Funktion die T-theoretischen Größen überneh-men und warum wir sie überhaupt benötigen. Tatsächlich gelingt erstdurch ihre Mithilfe die Vereinheitlichung so scheinbar heterogener Phä-nomene (vom elastischen Stoß bis zur Planetenbewegung) in einer Theo-rie. Die Bedeutung theoretischer Terme für eine Vereinheitlichung läßtsich kaum überschätzen, und es ist ein typischer Fehler streng empiristi-scher Wissenschaftskonzeptionen, sie als eher suspekte Bestandteile zu-gunsten von Beobachtungsbegriffen aus Theorien eliminieren zu wollen.

Wenn Newton tatsächlich auf den fallenden Apfel in seinem Obst-garten und den Mond geschaut hat, wobei ihm der Gedanke kam, daßes dieselbe Art von Kraft sein muß, die beide Bahnen regiert, so zeigtdas, wie das Konzept der Gravitationskraft wesentlich zur Vereinheitli-chung beiträgt. Um so mehr gilt das für Newtons allgemeinen Kraftbe-griff, der hilft noch viel verschiedenartigere Phänomene unter wenigeGesetze zu bringen. Diese Bestimmung scheinen theoretische Größen inhochentwickelten Theorien allgemein zu erfüllen. Um dabei Anpas-sungsprozesse und Gehaltsverstärkungen in dynamischen Forschungs-programmen mitmachen zu können, wäre es geradezu hinderlich, wenndie theoretischen Größen dabei den von Lewis (1970) angestellten Ver-mutungen über eine eindeutige Charakterisierbarkeit der theoretischenGrößen (und Definierbarkeit) auf der zweiten Stufe gehorchen würden.Damit wären sie ein für allemal festgelegt, und neu hinzukommendeSpezialgesetze könnten zu ihrer Bestimmung nichts Neues hinzufügen.Sie wären eigentlich überflüssig. Doch tatsächliche Theorien zeigen dasgegenteilige Verhalten. Ihre theoretischen Terme werden durch dieGrundgesetze nicht definiert und weisen zunächst sogar eine sehr große

206 Ein gutes Beispiel, wie diese Zusammenfassung gerade durch „Vortheo-rien“ bewirkt wird, die die partiellen Modelle einer Theorie bestimmen, findenwir in der Allgemeinen Relativitätstheorie, wo die grundlegenden Raum-ZeitModelle als partielle Modellle aller anderen relativistisch formulierten Theoriendienen (s. Bartelborth 1993).

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Flexibilität auf, die erst in weiteren Spezialisierungen für Teile ihres An-wendungsbereichs langsam eingeschränkt wird. Daß dabei immer weite-re sinnvolle Zusatzforderungen berücksichtigt werden können, bisschließlich hin zu technischen Anwendungen, demonstriert nur diesenSpielraum theoretischer Größen. So erstrebenswert sich die Forderungnach Definierbarkeit also auch in den Ohren des Logikers anhören mag,für den Wissenschaftstheoretiker, der wissenschaftsdynamische Phäno-mene beschreiben will, wäre ihre Erfüllung eine Katastrophe.

Für tatsächlich rekonstruierte Theorien ist sie auch nicht gegeben.Im Basis-Theorie-Element werden die theoretischen Größen sicherlichnicht eindeutig bestimmt, denn dessen Axiome sind meist nur Schemage-setze, die kaum die nötige Spezifizierung für eine Definition bereitstel-len. Den Fall der Newtonschen Mechanik hat z. B. Ulrich Gähde (1983)unter diesem Gesichtspunkt untersucht. Jede Spezialisierung bietet dannzwar eine weitere Charakterisierung der theoretischen Größen, aber nurum den Preis der Einschränkung auf bestimmte Anwendungstypen. Bie-tet also die strukturalistische Auffassung von Theorien ein einigermaßenrealistisches Bild der Wissenschaften – und dafür sprechen immerhinzahlreiche Fallstudien und konkrete Rekonstruktionen –, ist es geradedie inhaltliche Flexibilität theoretischer Terme, die für sie wesentlich ist.Sie gestattet es, unterschiedliche Phänomene unter eine Begrifflichkeitund in eine Modellhierarchie zu bringen. Das Ideal eindeutig definierba-rer Begriffe stammt dagegen eher aus der Mathematik und bietet ein zuschlichtes Bild empirischer Disziplinen. Die Ausgestaltung der Spiel-räume für theoretische Begriffe im Hinblick auf Vereinheitlichung undStringenz ist dann eine Aufgabe für die dynamische Entfaltung einerTheorie.

5. Vereinheitlichung der Phänomene

Letztlich hat sich alle Rede von Vereinheitlichung immer auf die inten-dierten Anwendungen und insbesondere Typen von intendierten Anwen-dungen zu beziehen. Das hat schon Whewell (1967, 65) deutlich ausge-sprochen. Zwar wird eine Theorie nach Whewell ebenfalls durch ein-zelne Tatsachen derselben Art gestützt, aber erst, wenn sie Fälle unter-schiedlicher Typen von Tatsachen zu erklären vermag, denken wir, sie seigewiß, weil sich nur so dieses außergewöhnliche Zusammentreffen er-klären läßt. Um diese Überlegung in eine Präzisierung von Erklärungeinzubringen, erweist sich die explizite Einführung des Anwendungsbe-reichs einer Theorie wiederum als ausgesprochen hilfreich. Die verein-

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heitlichende Kraft einer Theorie bemißt sich geradezu an der Anzahl derTypen von intendierten Anwendungen, die zu den erfolgreichen intendier-ten Anwendungen einer Theorie gehören. Wenn es auch sicherlich nichtimmer unproblematisch ist, I in eine Klasse von Typen intendierter An-wendungen zu zerlegen (s.u.), so sind viele Vagheiten der Zerlegung vonI für einen Theorienvergleich in bezug auf Vereinheitlichung nicht be-deutsam, da diese Vergleiche sich für wettstreitende Theorien oft aufdieselben Phänomenbereiche richten. Vergleiche ich z. B. zwei mechani-sche Theorien, von denen die eine nur einfache Pendel, die andere zu-sätzlich Doppelpendel erklären kann, spielt es keine große Rolle, ob ichPendel und Doppelpendel als einen oder zwei Typen von Anwendungenverstehe. Im ersten Fall hat die erste Theorie den Nachteil, einen Typvon Pendelbewegung nicht ganz zu erklären, im zweiten Fall den Nach-teil, einen Typ weniger als die zweite Theorie behandeln zu können.Klar ist in jedem Fall die Überlegenheit der zweiten Theorie. Kann dage-gen eine Theorie einen Phänomenbereich x und eine andere einen Phä-nomenbereich y neben einem gemeinsamen Bereich behandeln, ist eineAbwägung der Theorien gegeneinander wohl kaum anhand einer sim-plen Zählung der Phänomene möglich, sondern erfordert einen komple-xeren Vergleich, der z. B. auch zulässige Unschärfemengen und inter-theoretische Überlegungen mit einbezieht.

Doch nun zur Frage, wie sich der Anwendungsbereich einer Theorieüberhaupt in Typen aufteilen läßt. Für die intendierten Anwendungender Newtonschen Mechanik haben wir diese Aufteilung in ihrer Be-schreibung bereits immer schon berücksichtigt. Sie lassen sich etwa alseine Menge von Typen von Anwendungen begreifen, die jeweils durchein Stichwort oder paradigmatisches Exemplar in erster Näherung cha-rakterisiert werden können und sind damit als eine Klasse I der folgen-den Form darstellbar: I = {Planetensysteme, Pendel, zusammenstoßendePartikel (Billiardbälle), schiefe Würfe, …}.207 Bei einer Rekonstruktiondieser Theorien finden wir die Typen bereits in den Wissenschaften vor,aber natürlich verbinden wir auch gewisse theoretische Vorstellungenmit diesen Einteilungen. Wir sagen etwa, sie repräsentierten Phänomeneoder natürliche Arten von intendierten Anwendungen und sind keinewillkürlichen Zusammenstellungen, sondern eben natürliche Klassifika-tionen physikalischer Systeme.

207 Siehe dazu z. B. Moulines (1979, 420ff), wo der Gesichtspunkt, daß derBereich der intendierten Anwendungen durch Arten von solchen Anwendungenbeschrieben werden kann, für (diachronische) Theorie-Entwicklungen betontwird.

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So einleuchtend das in unserem Beispiel erscheint, bleibt doch dieFrage zu beantworten, wie sich natürliche Arten charakterisieren lassen,d.h. welche Kriterien über die Mitgliedschaft in ihnen entscheiden dür-fen. Zunächst gibt es sicher eine Reihe vortheoretischer Ähnlichkeitseins-tufungen, die zusammen mit bestimmten paradigmatischen Beispielendiese Klassifizierungen nahelegen (s. dazu Moulines 1979). D.h., manmuß nicht unbedingt die Newtonsche Mechanik kennen oder selbst ak-zeptieren, um den genannten Eingruppierungen zustimmen zu können.

Trotzdem sind es oftmals auch die theoretischen Beschreibungendurch die Theorien selbst, die wesentlich für unsere Taxonomie vonPhänomenen sind und die insbesondere zu entsprechenden Verfeinerun-gen oder Unterarten führen können. Friedman (1988) hatte versucht,Phänomene anhand von Gesetzen zu zählen. Diese Idee, die Wiggins(1980) ganz allgemein zur Charakterisierung von natürlichen Arten ver-tritt, hat schließlich Platts (1983) in seiner Konzeption einer Hierarchievon theoretisch ausgezeichneten natürlichen Arten weiterentwickelt, diegut zu den strukturalistischen Vorstellungen eines Theorien-Netzes paßt.Seinen intuitiven Ausgangspunkt formuliert er wie folgt:

Hence the rough initial idea is that what is involved in a class beinga natural kind class is that there be explanations, of law-based kind,which serve to account for the nature of each member of that classbut which do not so serve for any other object. (Platts 1983, 134)

Ein Beispiel mag diese Ansicht erläutern. In unserem Sonnensystem gibtes auf den ersten Blick eine Reihe unterschiedlicher Typen von Him-melskörpern. Neben der Sonne, die selbst auch eine Sonderstellung ein-nimmt, finden sich etwa Planeten, Monde dieser Planeten, Asteroidenund Kometen. Welche Klassen wir aus diesen Gruppen als natürlicheund eigenständige Arten für eine Theorie betrachten, ist wesentlich vonunserem Wissensstand abhängig. In Keplers Theorie kommt der Sonnegegenüber den Planeten eine Ausnahmestellung zu, die sie in NewtonsGravitationstheorie nicht in demselben Sinn behielt. Ähnliches gilt fürdie Kometen. Bereits die Griechen der Antike kannten Kometen und ih-re auffälligen Schweife. Da ihre Bahnen sehr unregelmäßig und willkür-lich im Unterschied zu denen der Sterne und Planeten erscheinen, mußteman sie als eigenständige Art von Himmelsobjekten betrachten. ErstHalley, einem Freund Newtons, gelang es anhand der Vermutung, daßauch sie auf elliptischen Bahnen um die Sonne laufen, sie in einen theo-retischen Rahmen mit den Planeten zu stellen. Ähnliche Beispiele findensich in allen Bereichen der Naturwissenschaften und belegen, wie abhän-

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gig die Einteilung in natürliche Arten von unseren theoretischen Kennt-nissen sein kann.

Solche natürlichen Arten, die mit Erklärungen anhand von Gesetzeneng zusammenhängen können, treten aber nicht nur auf einer Ebene auf,sondern in einer Hierarchie von Allgemeinheitsstufen, und wir könntenin Analogie zur biologischen Taxonomie auch hier von Stämmen, Klas-sen, Familien, Gattungen etc. sprechen, die jeweils auf anderen Ebenender theoretischen Erklärung zur Anwendung kommen. So finden wiroberhalb von Zitronen Zitrusfrüchte und darüber wiederum Früchteusf., die jeweils natürliche Arten bilden können, die für bestimmte Erklä-rungszwecke zu unterscheiden sind. Platts (1983, 137ff) beschreibt, wiedie Einschränkung von Erklärungen auf kleinere Anwendungsbereichejeweils mit einem Gewinn an Erklärungsstärke verbunden sein kann.Das paßt recht gut zu der strukturalistischen Konzeption von Spezialisie-rungen auf Teilbereiche der intendierten Anwendungen mit stärkerenSpezialgesetzen für diese Anwendungen. Jede Menge I läßt sich so aufunterschiedlichen Ebenen in Typen von Anwendungen aufteilen. Die„Pendel“ lassen sich wieder in einfache und Doppelpendel aufteilen, dieStoßsysteme in solche mit elastischen und solche mit unelastischen Stö-ßen usf.

So homogen uns ein Phänomenbereich auch im Rahmen einer Theo-rie erscheinen mag, aus einer anderen theoretischen Perspektive könnensich wieder andere Einteilungen ergeben. Während in den modernerenHimmelsmechaniken die Sonne ein Körper wie die Planeten, Kometen,Monde und Asteroiden ist, nur mit besonders großer Masse, kommt ihrin der Astropysik eine andere Bedeutung zu. Dort wird sie anhand desHertzsprung-Russell Diagramms als ein Stern der Hauptreihe mit vielenSternen gegen rote Riesen und weiße Zwerge abgegrenzt, die sich in ei-nem anderen Entwicklungsstadium befinden. Khalidi (1993) weiß eineReihe von Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen beizubringen, diedarlegen, daß Einteilungen in natürliche Arten nicht nur zu einer Hierar-chie gehören müssen, sondern außerdem – und das scheint ein Problemfür essentialistische Ansichten natürlicher Arten zu sein –, vollkommenquer zueinander liegen können, je nachdem, welche theoretischen Zielewir im Auge haben. Es gibt demnach auch nicht die eine basale Taxono-mie für alle Bereiche der Wissenschaften, sondern wir sind wohl zu ei-nem Pluralismus von Taxonomien gezwungen.

Dieses Phänomen findet sich sogar bereits in der Disziplin mit denausgefeiltesten Klassifikationsschemata: der Biologie. Neben biologi-schen Kategorien wie „Parasiten“, die etwa quer durch die stammesge-

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schichtlichen Zusammenhänge verlaufen (s. Khalidi 1993, 105), stoßenwir auf entsprechende Phänomene auch schon im grundlegenden Spezie-sbegriff. Mit Darwin fand z. B. eine begriffliche Revolution von dermorphologischen Klassifikation Linnés zu einer stärker phylogenetischorientierten Einteilung statt.208 Aber auch die Stammesgeschichte gibtkeine endgültige Auskunft, wann man von einer neuen Art sprechensollte und wann nur von einer Variation innerhalb derselben Art. Sokommt Dupré (1992) für biologische Spezies schließlich zu dem Schluß,daß nur ein taxonomischer Pluralismus übrigbleibt, der mit unterschied-lichen Klassifikationskriterien und dementsprechend manchmal auchmit unterschiedlichen Einteilungen zu arbeiten hat.

Eine Warnung möchte ich der Konzeption von einem Pluralismusvon Taxonomien noch hinzufügen. Damit wird keineswegs schon eineantirealistische Einstellung ihnen gegenüber impliziert, nach der die Ein-teilungen der Welt nur von uns „gemacht“ werden und eigentlich nurvöllig willkürliche Zusammenfassungen darstellen oder schlimmer noch,damit verschiedene Welten von uns erzeugt werden. Tatsächlich ist einerealistische Position nicht darauf festgelegt, es könne nur eine wahre Be-schreibung der Welt geben, wie es Putnam dem Realisten unterschiebt (s.dazu Bartelborth 1993a). Verschiedene Beschreibungen der Welt eventu-ell mit unterschiedlichen Einteilungen in natürliche Arten dürfen nurnicht unverträglich sein, was in den genannten Beispielen jedoch nichtder Fall ist. Im Gegenteil kann der Realist in diesen Fällen jeweils erklä-ren, welcher Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Beschrei-bungen besteht. Das ist meines Erachtens die wichtigste Forderung an ei-nen Realisten, der unterschiedliche Beschreibungen zulassen möchte (s.Bartelborth 1993a).

Der Realist (z. B. Devitt 1991, Kap. 13) erklärt das so, daß es auchtatsächlich unterschiedliche Zusammenhänge in der Welt gibt, die zu un-terschiedlichen Klasseneinteilungen Anlaß geben können. Dabei kann essich um diverse kausale Beziehungen handeln, aber auch um topologi-sche, kombinatorische, statistische usf., die jeweils andere Taxonomienverlangen mögen. Trotz eines Pluralismus von Taxonomien finden wirfür einen bestimmten Bereich bei gleicher Fragestellung im allgemeineneine relativ einheitliche Aufteilungen in natürliche Arten, die wie in denBeispielen aus der Mechanik in einer hierarchischen Gliederung be-stehen können. Außerdem können wir nun zumindest eine hinreichendeBedingung für die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen natürlichen Arten

208 Eine kurze Geschichte des Speziesbegriffs in der Biologie bietet Stevens(1992).

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in einem Netz N = (Ti)iJ formulieren. Zwei intendierte Anwendungen xund y des Netzes gehören zu unterschiedlichen Arten, wenn gilt:

(*) Es gibt ein Theorie-Element Ti mit: x I(Ti) und y I(Ti).

Für eine notwendige Bedingung reicht das natürlich kaum, denn die Ge-setze der Theorie sind nicht unsere einzigen Kriterien für die Zugehörig-keit zu einer Art. Neben vortheoretischen Unterscheidungen kommeneventuell weitere Unterscheidungen ins Spiel, die erst bei einer Fortfüh-rung des Netzes in technischere Bereiche anhand der Bedingung (*) un-terschieden werden könnten. Für jedes Theorie-Element Ti erhalten wirschließlich eine Zerlegung:

I(Ti) = j Pi,j

der intendierten Anwendungen dieses Theorie-Elements in eine Mengevon Phänomenen Pi,j Mpp(T). Wenn wir nun für die gesamte Anwen-dungsmenge I(T0) die gröbste Zerlegung wählen, so daß alle anderenZerlegungen Pi,j noch darin enthalten sind, erhalten wir den gesamtenPhänomenbereich des Netzes:

I(T0) = Pj (mit j aus einer Indexmenge ) und die Menge Ƥ(T), al-ler Phänomene, die zu erklären T antritt. Das Netz bewirkt genau danneine Vereinheitlichung der Phänomene PjƤ(T), wenn es gelingt, diesevollständig theoretisch einzubetten. Die Stringenz dieser Vereinheitli-chung wird allerdings für jedes Phänomen durch die unterschiedlichenSpezialisierungsebenen bestimmt, auf denen dieses Phänomen anzutref-fen ist (d.h. für die es zum intendierten Anwendungsbereich der Speziali-sierung gehört). Jedenfalls scheint eine Forderung für die vereinheitli-chende Kraft einer Theorie naheliegend, nämlich daß immer möglichstalle intendierten Anwendungen eines Phänomens zusammen erklärt wer-den und nicht einzelne „willkürlich“ ausgeschlossen bleiben.

Das zeigt erneut den holistischen Charakter der Einteilung in natür-liche Arten und einer entsprechenden Theorienbildung. Gelingt es nicht,alle Elemente einer Art gemeinsam in die Theorie einzubetten, sondernnur einen Teil, kann man natürlich jederzeit für eine Verfeinerung derAufspaltung in Arten plädieren, die gerade diesen Defekt behebt. EinBeispiel dafür hatten wir schon kennengelernt, nämlich die von Gähdeuntersuchte Geschichte der Cepheiden, die man schließlich in zwei un-terschiedliche Typen eingeteilt hatte. Auch in der KPM lassen sich derar-tige Fälle finden. In den vier in BMS (223ff) geschilderten Phasen derEntwicklung der KPM werden in der ersten Phase bestimmte Gezeiten-phänomene als erfolgreiche Anwendungen der KPM betrachtet und an-

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dere nicht. In der dritten Phase führten Probleme, die Euler mit dem Sy-stem {Erde-Mond-Sonne} hatte dazu, daß es aus der Menge der inten-dierten Anwendungen herausgenommen wurde, bis Laplace die notwen-digen mathematischen Analysen gelangen, um es wieder erfolgreich indie KPM einzubetten.

Ein berühmtes anderes Beispiel finden wir in Bohrs Atommodell.Während die Elektronen außerhalb des Atoms der klassischen Elektro-dynamik gehorchen, verhalten sie sich plötzlich innerhalb des Atoms aufandere Weise und strahlen nicht gleichmäßig Energie entsprechend denMaxwellschen Gleichungen ab. Statt wie Lakatos von einem Forschungs-programm auf inkonsistenter Grundlage zu sprechen, scheint mir die Be-schreibung angemessener, Bohr hätte die Atome aus dem Anwendungs-bereich der Elektrodynamik herausgenommen (s. dazu Bartelborth1989). Daß es sich bei ihnen um eine andere Art von Phänomenen han-delt als den klassischen elektrodynamischen wurde auch nicht nur durchBohrs Atommodell nahegelegt, sondern ebenso durch die PlanckschenResultate der Wärmestrahlung, auf die Bohr extra hinweist.209 Trotzdemwaren die Physiker der damaligen Zeit mit dieser Aufteilung des Phäno-menbereichs der Elektrodynamik nicht glücklich – vor allem, weil sichBohr weiterhin auf bestimmte Begriffe aus der klassischen Elektrodyna-mik stützen mußte –, so daß hier ein Grund für die Entwicklung derQuantenelektrodynamik zu finden ist. Wie ad hoc solche Zerlegungen inneue Phänomenbereiche sind, ist nur im Einzelfall zu untersuchen, aberes bleibt zumindest der berechtigte Anspruch erkennbar, immer ganzePhänomene und nicht nur einzelne Instanzen davon durch eine Theoriezu erklären. Wir können daher einfach formulieren: Eine Theorie leistetceteris paribus eine um so größere Vereinheitlichung, je mehr Phäno-mene sie einzubetten erlaubt.210

6. Stringenz durch kleinere erlaubte Unschärfen

Welch grundlegende Bedeutung für das Verständnis wissenschaftlicherTheorien Approximationen besitzen, hatte ich bereits in (VII.C.9) erläu-tert. Aber neben der metatheoretischen Tatsache, daß Theorien uns im-mer nur modulo Unschärfen Auskunft über die Welt geben, zeigen auch

209 Natürlich ist auch dieses Beispiel hier stark vereinfacht dargestellt, aberin Bartelborth (1989) findet man eine ausführlichere Analyse der Einzelheitendes Falls.

210 Diese Forderung läßt sich natürlich ohne allzu große Mühe weiter ver-feinern und auf einzelne partielle Modelle beziehen.

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kontinuierliche fortschrittliche Entwicklungen typischerweise das Phä-nomen, daß die alten Theorien nicht einfach Teile der neuen darstellen,sondern daß sie in bestimmter Weise durch die neuen Theorien korri-giert werden. Wenn auch die wissenschaftstheoretische Diskussion umderartige fortschrittliche Entwicklungen oft anhand der Redeweise von(strikten) Reduktionsbeziehungen – etwa in Anlehnung an Nagels (1961,Kap. 11) Forderung der Herleitbarkeit der alten Gleichungen aus denneuen – geführt wurde, so weisen doch fast alle bekannten Beispiele vonReduktionen nur approximative Zusammenhänge auf.

Das gilt für die Reduktion von Keplers Theorie auf die Newtonscheoder die der Newtonschen Theorien auf die relativistischen etc. Dieneue Theorie steckt in vielen Fällen den Bereich genauer ab, für den wirdie alte Theorie weiterhin als gültig betrachten können, und beschreibt,welche Unschärfen dabei in Kauf zu nehmen sind. So gibt uns die allge-meine Relativitätstheorie gute Gründe, die meisten Planetenbewegungenweiterhin anhand der Newtonschen Gravitationstheorie zu berechnen –denn diese bleibt dort innerhalb der akzeptablen Unschärfemengen kor-rekt –, aber sie nennt auch die Grenzen dieser Betrachtung, wie z. B. dieBestimmung der Perihelbewegung des Merkur. Damit erklärt die neueTheorie den Erfolg der alten Theorie, die wichtige Ergebnisse vorzuwei-sen hat, auf denen die neue Theorie aufbaut, aber sie gibt uns darüberhinaus Gründe an, die uns dazu bewegen sollten, die alte Theorie durchdie neue zu ersetzen.

Um präzise rekonstruieren zu können, was man mit Fortschritt inden Naturwissenschaften meint, sind wir also unter anderem auf einVerständnis und eine Darstellung von Approximationen angewiesen. Imstrukturalistischen Theorienkonzept lassen sich die Fortschritte der neu-en gegenüber der alten Theorie in bezug auf ihre Präzision, in Form klei-nerer erlaubter Unschärfemengen repräsentieren. Daß die Beschränkungauf kleinere Unschärfemengen eine epistemische Tugend einer Theorieist, ist wohl offensichtlich, da sie den empirischen Gehalt einer Theorieerhöht. Aber sie führt auch zu einer bestimmten Form größerer Einheit-lichkeit, denn sie verlangt einheitlichere, nämlich enger benachbarteWerte für die Größen einer Theorie und stellt damit einen Aspekt dereinheitlicheren Weltbeschreibung anhand erhöhter Stringenz der Verein-heitlichung durch quantitative Theorien dar. Wie sich diese Präzisierungtatsächlich auswirkt, wird am besten über die empirische Behauptungder Theorie ermittelt, denn sie gibt in exakter Weise die Auswirkungenauf die Anwendungen der Theorie an. Damit gestattet die empirischeBehauptung auch einen entsprechenden Vergleich verschiedener Theo-

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rie in bezug auf ihre jeweilige Stringenz, was ich später ausnutzen wer-de. Die semantische Sichtweise von Theorien hat insbesondere hier ihreStärken, kann sie doch die approximativen Zusammenhänge und Ver-kleinerungen von Unschärfen auf natürliche Weise nachzeichnen.

7. Intertheoretische Vereinheitlichung

Die Funktion, die Constraints innerhalb eines Theorien-Netzes überneh-men, erfüllen die Links oder intertheoretischen Querverbindungen zwi-schen verschiedenen Theorien. Sie geben uns Zusammenhänge, vor-nehmlich Identitäten, für Begriffe aus unterschiedlichen Theorien. Mitgleicher Namensgebung ist in der Regel noch nicht sichergestellt, daß essich um denselben Begriff handelt. Schließlich gibt es z. B. unterschiedli-che Massekonzepte, die alle unter dem Namen „Masse“ firmieren. Erstentsprechende Links können die Identität oder auch andere Zusammen-hänge von theoretischen Begriffen wiedergeben und damit einen weite-ren Schritt zur Vereinheitlichung unseres Wissens gehen. So drücken siez. B. aus, daß der Term „Druck“, wie er in der Hydromechanik, Ther-modynamik oder statistischen Mechanik auftritt, immer dasselbe Kon-zept bezeichnen soll, so daß auch die jeweiligen Werte dieser Funktionenfür dieselben Raum-Zeit-Bereiche übereinstimmen müssen. Außerdemliefern Links uns Zusammenhänge zwischen Größen, die unterschiedli-che Namen tragen, wie die Identifizierung von Temperatur und mittlererkinetischer Energie.

Die Links sind also die intertheoretischen Brückenstrukturen, die zueiner Vernetzung über den Rahmen einzelner Theorien hinaus führenund deren Untersuchung uns zeigt, welche eventuell hierarchischen Ver-hältnisse zwischen verschiedenen Theorien bestehen oder welche holisti-schen Blöcke sich in den Wissenschaften identifizieren lassen.211 Die Ver-einheitlichung durch Links läßt sich wiederum als eine Einbettung in„größere“ Modelle begreifen wie das schon für die Constraints der Fallwar und repräsentiert so wiederum den allgemeinen Rahmen von Ver-einheitlichung, der hier vorgestellt wird.

211 Für das besonders spannende Beispiel der Allgemeinen Relativitätstheo-rie sind diese Verhältnisse im strukturalistischen Rahmen in Bartelborth (1993)untersucht worden.

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8. Empirische Behauptung und organische Einheit von Theorien

Damit Theorien die ihnen zugedachte Aufgabe der Vereinheitlichungund Systematisierung unserer Erkenntnis tatsächlich erfüllen können,müssen sie mehr sein als eine Konjunktion der empirischen Aussagen,die sie zu erklären haben. Soviel ist wohl klar. In der syntaktischen Sicht-weise auf Theorien läßt sich das so ausdrücken: Nicht jede Menge unab-hängiger Axiome beschreibt bereits eine Theorie. Es muß noch eine ge-wisse innere Geschlossenheit und Einheitlichkeit hinzukommen, um voneiner Theorie sprechen zu können. Und obwohl es eine Reihe berühmterWissenschaftsphilosophen gibt,212 die auf dieses Problem hingewiesenhaben, finden sich nur wenige konstruktive Vorschläge, worin diese Ein-heitlichkeit und der innere Zusammenhang einer Theorie bestehenkönnte. Lakatos (1974, 169f) erklärt eine Einheitlichkeit auch für For-schungsprogramme, die sich anhand von Hilfshypothesen entfalten, fürnotwendig, wenn sie fortschrittlich sein sollen. Anderenfalls handele essich nur um eine „zusammengeflickte, willkürliche Reihe von unzusam-menhängenden Theorien“ oder um „zusammengeflickte, phantasieloseSerien von prosaischen ‘empirischen’ Adjustierungen“ und in diesemTheoretisieren sei keine „vereinheitlichende Idee, kein heuristisches Po-tential und keine Kontinuität“.213 Doch so phantasievoll Lakatos dasProblem von „Einheit und Schönheit“ der Wissenschaft schildert, bleibtes ein offenes Problem bei ihm, worin sie besteht. Auf der syntaktischenEbene hat z. B. Robert Causey (1977, 120) neben anderen Bedingungeneine genannt, die einigermaßen plausibel erscheint: In jedem Axiom ei-ner Theorie sollte zumindest ein Begriff auftreten, der auch in anderenAxiomen der Theorie wieder vorkommt. Ein Problem dieser Forderungist allerdings, daß man natürlich zu jedem potentiellen Axiom, das dieBedingung noch nicht erfüllt, z. B. leere Bestimmungen mit geeignetenTermen konjunktiv hinzufügen kann. In jedem Fall sollte der verbinden-de Begriff wesentlich in dem Axiom und den anderen vorkommen, waswiederum explikationsbedürftig ist. Wie abhängig derartige syntaktischeKriterien von der jeweiligen Formulierung von Gesetzen sind, zeigt auchein strukturalistischer Versuch (BMS 15f), mit einem ähnlichen Kriteri-

212 U.a Popper (1957), Oppenheim/Putnam (1958), Lakatos (1974).213 Lakatos deutet damit auf einen wichtigen Zusammenhang zwischen der

Forderung nach Einheitlichkeit von Theorien und ad hoc Hypothesen hin, demich allerdings in dieser Arbeit nicht weiter nachgehen kann. Jedenfalls müssenwir wohl solche Hypothesen aus der Sicht einer Theorie T eher als ad hoc be-trachten, die die Einheitlichkeit der Theorie mehr stören, als sie zu befördern.

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um mögliche Axiome für Theorien auszuzeichnen. Danach sollte einAxiom mindestens zwei Grundbegriffe der Theorie – wenn diese mehre-re besitzt – aufweisen. In Bartelborth (1988, 19ff) konnte ich aber amBeispiel verschiedener Formulierungen der Maxwellschen Gleichungendemonstrieren, daß dieser Ansatz zu sensibel auf unterschiedliche Nota-tionen für dieselben Gesetze reagiert und damit schließlich unplausibelerscheint.

Einen aufwendigeren Versuch, die Einheitlichkeit einer Theorie zubestimmen, hatten wir mit Friedmans Ansatz zur Vereinheitlichung ken-nengelernt. Friedman spricht von größerer Einheitlichkeit, wenn mehre-re unabhängige Gesetze durch eines ersetzt werden können, das selbstkeine Zerlegung mehr besitzt, aber die Systematisierungsleistung der bis-herigen Gesetze übernehmen kann. In ähnlicher Weise – wenn auch inUnkenntnis des Friedmanschen Vorschlags – entwickelte Watkins (1984,203ff) seine Bedingung der organischen Fruchtbarkeit, nach der eineTheorie T dann einheitlich ist, wenn es keine Aufteilung der Axiome inzwei neue Theorien T’ und T” gibt, so daß gilt:

CT(T) = CT(T’) CT(T”),

wobei mit „CT(T)“ der „content“ von T gemeint ist, der aus den singu-lären Voraussagen von T besteht. Man könnte sagen, daß in diesem FallT keinen „synergistischen Überschußgehalt“ gegenüber der Konjunktionaus T’ und T” besitzt und daher eigentlich aus zwei unabhängigen Teil-theorien besteht. Auch Watkins hat allerdings mit der Möglichkeit unter-schiedlicher Formulierungen einer Theorie zu kämpfen und bemüht sichdaher durch Angabe von 5 weiteren Regeln für Axiomensysteme (s. Wat-kins 1984, 208f), die natürlichen Formulierungen von unnatürlichen zuunterscheiden, um damit die Umformulierungsspielräume einzuschrän-ken. Trotzdem muß er eingestehen, daß die durch Umformulierungendrohenden Gefahren für sein Kriterium der Einheitlichkeit, damit nichtaus der Welt geschafft sind. Festhalten sollten wir jedenfalls, daß er dieVereinheitlichung durch Theorien anhand seiner Explikation der Zerleg-barkeit von Theorien erläutert. Bei gleichem Gehalt bietet natürlich dieTheorie eine bessere Vereinheitlichung, die in weniger Teile zerlegbarist. So nah Watkins Ansatz in einigen Punkten meinen Intuitionen zurVereinheitlichung kommt, bleibt sein Ansatz doch mit den Schwächender syntaktischen Auffassung von Theorien behaftet. Das zeigt sich inseiner Behandlung von Approximationen ebenso wie an den Stellen, woer unterschiedliche Teile von Theorien unterscheidet, ohne über eineausgearbeitete Konzeption komplexer Theorien zu verfügen. Außerdem

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bleibt er – und für die syntaktische Vorgehensweise ist das charakteri-stisch – ein Anhänger des Deduktions-Chauvinismus.

Doch die Grundideen der Watkinschen „organischen Fruchtbarkeit“lassen sich auch im strukturalistischen Theorienkonzept rekonstruieren.Eine Explikation von organischer Einheitlichkeit, die direkt auf der se-mantischen Darstellung von Theorien aufbaut und nicht mehr auf dieAxiome einer Theorie bezug nimmt, sollte sich dabei auf die empirischeBehauptung einer Theorie stützen. Sie gibt letztlich in einer Zusammen-schau an, wie eine Theorie auf den Bereich ihrer intendierten Anwen-dungen wirkt. Dabei kann das in einheitlicher Form geschehen oderauch nicht. Wenn wir – wie das in der strukturalistischen Auffassung üb-lich ist – die Komponenten eines Theorie-Elements T (ausgenommen I)als den Kern K von T zusammenfassen, ist die empirische Behauptungauch so zu beschreiben: Der Kern K ist auf I anwendbar. Schematischwollen wir das folgendermaßen ausdrücken:

EB(K,I) (empirische Behauptung von T = <K,I>)214

Man kann nun behaupten, daß T genau dann organisch aufgebaut ist,wenn es keine Zerlegung dieser empirischen Behauptung von T gibt, sodaß gilt:

K’ K” I’ I” mit: EB(K,I) ’’””

denn damit hätten wir T in zwei Theorien T’ = <’’> undT” = <K”,I”> zerlegt, deren Konjunktion dieselbe empirische Behaup-tung aufstellen wie T. Das sind nun rein mengentheoretische Zusam-menhänge für die Modellmengen, die sich weiter untersuchen lassen.

Wichtige Arbeit dazu hat Ulrich Gähde (1989, 130ff) geleistet, in-dem er die Zerlegbarkeit von I genauer unter die Lupe genommen hat.Er konnte unter anderem eine hinreichende Bedingung dafür angeben,wann sich eine Zerlegung des folgenden Typs finden läßt:

I’ I” mit: EB(K,I) EB(K,I’) EB(K,I”)

Er hat nachgewiesen, daß hierfür die Constraints die entscheidende Rol-le spielen. Falls es eine disjunkte Zerlegung von I = X Y in zwei nicht-leere und constraintunabhängige Mengen X und Y gibt, so läßt sich auch

214 Ich beziehe mich hier und im folgenden der Einfachheit halber auf diepräzisen empirischen Behauptungen, aber das Gesagte läßt sich natürlich auf dieentsprechenden approximativen Versionen der empirischen Behauptungen über-tragen.

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die empirische Behauptung von T entsprechend zerlegen. Dazu gilt diefolgende Definition:

X, Y Mpp(T) nichtleer und disjunkt heißen constraintunabhängiggdw: e ℰ(T) gilt: [e(X) C(T) e(Y) C(T)] e(X) e(Y) C(T).215

D.h., daß zwei Mengen constraintunabhängig sind, wenn ihnen durchden allgemeinen Constraint der Theorie keine wesentlichen Beschrän-kungen für die Einbettung ihrer Vereinigung auferlegt werden. Intuitivbesagt das, daß die Mengen X und Y durch C nicht weiter verknüpftsind, denn sonst würden nicht alle Erweiterungen von Anwendungenaus X zu allen von Anwendungen aus Y passen. Die Erweiterungsmög-lichkeiten für zwei Anwendungsmengen werden durch den Constraintnicht eingeschränkt gegenüber den Erweiterungsmöglichkeiten der ein-zelnen Mengen.Mit diesen Vorarbeiten läßt sich die angekündigte Behauptung relativleicht beweisen:

Theorem von Gähde:216

Falls es eine (disjunkte) Zerlegung von I in constraintunabhängigenichtleere Mengen X und Y gibt, so gilt:(*) EB(K,I) EB(K,X) EB(K,Y).

Beweis:i) Die eine Richtung „“ der Äquivalenz (*) ist offensichtlich.ii) In der anderen Richtung „“ läßt sich die gesuchte Einbettungs-funktion e für I aus den beiden vorhandenen Einbettungsfunktionenfür X und Y „zusammenbauen“:Wir wissen, es gibt e’, e” ℰ(T) mit: e’(X), e”(Y) TG(T). Dannläßt sich e unter anderem wie folgt definieren:

Daß die so definierte Funktion e wieder eine Einbettungsfunktionist, ist klar, weil sie nur aus Funktionen zusammengesetzt wurde, die

215 Die Notation ist durch die Einbettungsfunktionen gegenüber der vonGähde wieder etwas verändert.

216 Gähde (1989, 162ff) beweist eine entsprechende Behauptung gleich fürZerlegungen in n Mengen. Da er außerdem mit einer etwas anderen Notationarbeitet, gebe ich den Beweis des Satzes noch einmal in der neuen Notation an.

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die Faserbündelstruktur respektieren. Außerdem gilt e(I) = e’(X) e”(Y) M(T) L(T), da beide Teilmengen diese Inklusion erfüllen.Zusätzlich ist aber e(I) C(T), weil e’(X), e”(Y) C(T) sind und Xund Y constraintunabhängig sind. Also gibt uns e eine erfolgreicheEinbettung von I in den theoretischen Gehalt von T: e(I) TG(T).q.e.d.

Damit ist deutlich, daß dieser Typ von Zerlegung einer Theorie we-sentlich von der Anwendungsmenge I und der Art, wie sie durch die in-nertheoretischen Querverbindungen der Theorie zusammengehaltenwird, abhängt. Das zeigte sich auch im Beispiel von Salmon (s. IX.A),der das Gravitationsgesetz in drei Teilgesetze zerlegen wollte, was anden Identitätsconstraints für die Masse und die Gravitationskonstantescheiterte, die die Aussagen zusammenhalten. Ob es auch andere sinn-volle Formen von Zerlegungen einer Theorie etwa anhand von Zerle-gungen des Kerns gibt, bleibt der weiteren Forschung überlassen.

Die bisherigen Überlegungen zur „organischen Einheitlichkeit“ einerTheorie bezogen sich alle nur auf ein einzelnes Theorie-Element, abersie lassen sich natürlich auch auf ausgewachsene Theorien-Netze N =(Ti)iJ übertragen. Für sie stellt sich zunächst auf jeder Ebene erneut dieFrage nach der jeweiligen Zerlegbarkeit von Spezialisierungen, wobeizusätzlich eine Gewichtung von Zerlegungen vorzunehmen ist. Zerle-gungen für einzelne Theorie-Elemente an der Peripherie des Netzes sindsicher unbedeutender als Zerlegungen, die sich etwa durch ein ganzesNetz ziehen. Wenn wir mit T0 das Basis-Theorie-Element von N bezeich-nen, könnte eine solche Zerlegung des ganzen Netzes wiederum anhandeiner constraintunabhängigen Zerlegung von I0 erhalten, wobei diesmal„Constraintunabhängigkeit“ allerdings Unabhängigkeit in bezug auf alleim Netz vorkommenden Constraints bedeutet.

X, Y Mpp(T0) nichtleer und disjunkt heißen constraintunabhängigin bezug auf das Netz N = (Ti)iJ gdw: e ℰ(T) i J gilt:[e(X) C(Ti) e(Y) C(Ti)] e(X) e(Y) C(Ti).217

Auch hier gilt wieder ein entsprechender Satz über eine konjunktive Zer-legung der empirischen Behauptung des ganzen Netzes, wenn I0 eineZerlegung in zwei constraintunabhängige Mengen gestattet.

217 Die Notation ist durch die Einbettungsfunktionen gegenüber der vonGähde wieder etwas verändert.

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Zusammengenommen ergibt sich damit für die Einheitlichkeit einerTheorie die Forderung, sie solle möglichst wenige solcher konjunktivenZerlegungen zulassen. Diese Forderung läßt sich anhand einer nahelie-genden Bedingung an die Einbettungsfunktionen befördern, nämlichdie, daß sie stetig sein sollen.218

Betrachten wir dazu noch einmal den Fall, in dem I in zwei con-straintunabhängige Mengen X und Y zerlegbar ist, in der Faserbündel-darstellung. In diesem Bild sind X und Y nur dann constraint-unabhängig, wenn nicht nur die durchgehenden Querlinien Constraintsdarstellen, sondern auch alle zusammengesetzten Teile solcher Linien,die in den Faserbündeln zu X und Y liegen. Die Teile X und Y des An-wendungsbereichs sind erfolgreich theoretisch einzubetten durch die an-gedeuteten Einbettungen e’ und e”, und ganz I ist es bei Constraintunab-hängigkeit von X und Y ebenfalls, weil man dafür eine Einbettungsfunk-tion aus e’ und e” (wie im Beweis des Theorem von Gähde) zusammen-bauen darf. Diese stellt dann allerdings eine unstetige Einbettungsfunkti-on dar. Für zusammenhängende Anwendungsbereiche I scheint aber eineStetigkeitsforderung eine für die Einheitlichkeit der Theorie förderlicheBedingung zu sein.

Unstetige Einbettung

Wir erwarten auch eine stetige Einbettung von einer organischen Theo-rie, denn eng benachbarte empirische Systeme sollten nicht durch völligunterschiedliche theoretische Größen repräsentiert und damit von derTheorie völlig unterschiedlich behandelt werden. In einem solchen Fall

218 Da wir üblicherweise über eine Topologie – etwa eine Quasimetrik –auf Mp wie auf Mpp verfügen, ist die Rede von stetigen Einbettungen sinnvoll.Was sie für konkrete Theoiren bedeutet, ist anhand von Fallstudien weiter zuverfolgen.

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würden wir intuitiv von einer unterschiedlichen und nichteinheitlichenBeschreibung dieser benachbarten Systeme sprechen müssen. Für denFall diskreter Anwendungsbereiche könnte man eine entsprechende For-derung nach möglichst kleiner Variation statt der Stetigkeitsforderungverlangen, um von einer möglichst einheitlichen Theorie sprechen zukönnen.

Insgesamt ergibt dieser Abschnitt, daß eine Theorie, um vereinheitli-chend wirken zu können, selbst möglichst einheitlich sein sollte. In derSprache der strukturalistischen Theorienkonzeption läßt sich das durchdie Forderung explizieren: Die empirische Behauptung der Theoriesollte in möglichst wenige konjunktive Teilbehauptungen zerlegbar sein.Ein Schritt, um diese Forderung noch zu verstärken, besteht in der Be-schränkung auf stetige Einbettungsfunktionen, die verhindern, daß beiZerlegungen des Anwendungsbereichs die Einbettungsfunktion aus ei-gentlich „unzusammenhängenden“ Teilstücken zusammengesetzt werdenkann.

9. Formale Explikation von Vereinheitlichung

Alle wichtigen Komponenten der Vereinheitlichung durch ein Theorien-Netz sind nun angesprochen worden, so daß jetzt eine Zusammenfas-sung der Ergebnisse möglich ist. Beginnen möchte ich mit einem einzel-nen Theorie-Element T = <K,I>. Seine Erklärungskraft beruht darauf,wie stringent es wieviele intendierte Anwendungen einbetten kann.

Vereinheitlichung durch ein Theorie-Element T:Bestimmend für die Stringenz der Vereinheitlichung durch T isthauptsächlich der Kern K der Theorie, der den theoretischen GehaltTG(T) der Theorie festlegt. Der Umfang der Vereinheitlichung oderdie Systematisierungsleistung bemißt sich dagegen an der Anzahl undArt der Phänomene Pj aus I, die tatsächlich theoretisch eingebettetwerden können, d.h. die vollständig im empirischen Gehalt EG(T)liegen, und schließlich an der Einheitlichkeit der Theorie selbst, diesich darin zeigt, in wieviele konjunktive Teilbehauptungen die empi-rische Behauptung EB(T) höchstens zerfällt.

Diese Kenngrößen der Vereinheitlichung können wir natürlich auch prä-zise angeben. Zunächst ist da der theoretische Gehalt, den wir bereits de-finiert haben:

i) TG(T) := Pot(M) C Pot(L)

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Je kleiner TG(T) ist, desto informativer ist die Einbettung durch T, da Tdann um so mehr Einbettungen verbietet. Außerdem haben wir alsGradmesser der Systematisierungsleistung den Umfang der eingebettetenPhänomene UP(T), der sich als Mengensystem aller Mengen von Phäno-menen darstellen läßt, die tatsächlich theoretisch eingebettet werdenkönnen:

ii) UP(T) := {Q Ƥ(T); Q EG(T)}

D.h., UP(T) ist die Menge der Mengen von Phänomenen Q (aus der Ge-samtmenge Ƥ(T) der Phänomene, die man mit T einzubetten hofft), diesich tatsächlich gemeinsam einbetten lassen, die also im empirischen Ge-halt EG(T) liegen. Um dabei wieder eine Menge von partiellen Model-len zu erhalten und nicht bei einem Mengensystem stehenzubleiben, istes erforderlich, zunächst alle partiellen Modelle aus den Phänomenmen-gen in Q wieder in einer Menge Q zu vereinigen.

Besonders interessant ist auch noch die maximale Anzahl von Phäno-menen, die zusammen eingebettet werden können, also die Anzahl dergrößten Menge Q aus UP(T):

Anz[UP] := max {||Q||; Q UP(T)},219

wobei ich davon ausgehe, daß die Anzahl der Phänomene in I, auf dieman eine Theorie anzuwenden gedenkt, endlich ist, auch wenn die Men-ge aller Instanzen der Phänomene unendlich ist.

Schließlich geht es noch um die Einheitlichkeit versus Zerlegbarkeiteiner Theorie, die sowohl die Kerne wie auch die intendierten Anwen-dungen einer Theorie gemeinsam betrifft. Dazu betrachte ich die Mengealler konjunktiven Zerlegungen von <K,I> in Theorien Ti = <Ki, Ii>,die selbst einen nichtleeren empirischen Gehalt besitzen – falls T einenbesitzt – und nenne jede solche Menge V = {Ti; Ti ist nichtleeres Theo-rie-Element} eine konjunktive Zerlegung von T, wenn gilt: EB(K,I) V EB(Ki, Ii), d.h. wenn sich die empirische Behauptung von T als Kon-junktion der empirischen Behauptungen der Ti darstellen läßt.220 Dannsei die Menge aller Zerlegungen von T:

iii) ZL(T) := {V; V ist eine konjunktive Zerlegung von T}

219 Wobei mit ||Q|| die Anzahl der Elemente in Q gemeint ist.220 Dabei gehe ich der Einfachheit halber davon aus, daß abspaltbare Teile

der empirischen Behauptung, die überhaupt keinen Beitrag zum empirischen Ge-halt der Theorie leisten, im Sinne größerer Einheitlichkeit der Theorie schonvorher abgespalten und als überflüssig aufgegeben wurden.

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Dazu läßt sich natürlich wieder die Anzahl der größten Zerlegung be-stimmen zu:

Anz[ZL] := max {V||; V ZL(T)},

in der Hoffnung, daß unsere Theorien zumindest so gut sind, daß sienicht in unendlich viele Teiltheorien zerfallen, sondern wenigstensAnz[ZL] Anz[UP] bleibt. Was dabei unter einem nichtleeren Theorie-Element zu verstehen ist, läßt sich natürlich auch mengentheoretischausdrücken: T ist nichtleer gdw

Q Mpp(T) mit: Q EG(T) und Q ,

d.h. es gibt Mengen von partiellen Modellen, die nicht theoretisch ein-zubetten sind. Positiv gewendet: T ist nicht so inhaltsleer, daß es jede be-liebige Einbettung partieller Modelle gestattet.

Mit diesem Instrumentarium haben wir die drei Kenngrößen, für dievereinheitlichende Kraft von Theorien rekonstruiert, nämlich TG, UPund ZL, wobei T um so vereinheitlichender ist, je umfangreicher UPund je kleiner TG und auch ZL sind. Damit können zwei Theorie-Ele-mente T und T’ in bezug auf ihre Vereinheitlichung miteinander vergli-chen werden, wenn sie eine wesentliche Voraussetzungen mitbringen.Sie müssen über eine gemeinsame nichttheoretische Beschreibungsebeneverfügen, also über einen gemeinsamen Bereich von partiellen Model-len. Theorien, die ihre Systeme bereits auf der „empirischen“ Ebeneganz unterschiedlich beschreiben und demnach auf andere Aspekte die-ser Systeme ausgehen, können in diesem strikten Sinn nicht miteinanderverglichen werden. Immerhin erlaubt diese Explikation aber Vergleichez. B. zwischen relativistisch und vorrelativistisch formulierten Theorien,da sich für sie gemeinsame Mengen partieller Modelle anbieten (s. dazuBartelborth 1988, 102ff). Dann erhalten wir das Ergebnis, daß T’ einegrößere oder gleiche Vereinheitlichung bewirkt, wenn die folgenden dreiBedingungen erfüllt sind:

T’ bewirkt eine größere oder gleiche Vereinheitlichung gegenüber Tgdw:1) TG(T’) TG(T)2) UP(T) UP(T’)3) ZL(T’) ZL(T)

Für einen ersten Vergleich sind die Bedingungen (2) und (3) auch durchdie folgenden Bedingungen zu ersetzen:

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2’) Anz[UP(T)] Anz[UP(T’)]3’) Anz[ZL(T’)] Anz[ZL(T)]

Allerdings ergibt sich auch für Theorien mit denselben partiellen Model-len nur ein partieller Vergleich, denn es ist nicht auszuschließen, daß dieeine Theorie in der einen Kennzahl und die andere dafür in einer ande-ren besser abschneidet. Es scheint mir nicht leicht zu sein, für diese Fälleallgemeingültige Aussagen zu treffen, welche der Theorien dann in be-zug auf ihre Vereinheitlichung vorzuziehen ist, d.h. wie die drei Kenn-größen gegeneinander abgewogen werden sollten. Das muß im Einzelfallanhand der Berücksichtigung der jeweiligen Unterschiede in den Kenn-größen und ihrer jeweiligen Bedeutung geschehen. Zumindest sagt ei-nem die Explikation der Kennzahlen dann noch, welche Aspekte vonTheorien man in solchen Fällen zu vergleichen hat.

Bisher habe ich nur über Vereinheitlichung durch eine Theorie ge-sprochen und noch nicht über Erklärungen. Das soll nun anhand kon-kreter Einbettungsfunktionen geschehen. Als Vorzug meiner Rekon-struktion der Erklärungskraft habe ich die globale Bewertung herausge-stellt, die an dieser Stelle zu berücksichtigen ist. Auch wenn jemand eineinzelnes Ereignis erklärt, ist eine Bewertung dieser Erklärung nur imHinblick auf einen größeren Ausschnitt aus seinem Überzeugungssystemvorzunehmen. Dazu haben wir zu ermitteln, welcher Einbettungsfunkti-on er sich bedient oder welche er für zulässig hält. Beschränken wir unsder Einfachheit halber auf den Fall, in dem wir ihm eine bestimmte Ein-bettungsfunktion e zuschreiben können.221 Die ergibt sich etwa anhandder Meßverfahren, auf die er sich für die Größen stützt, und daraus, wieer seine Theorie beschreibt und auf welche Systeme er sie anzuwendengedenkt. Die Güte der tatsächlichen Erklärung wird natürlich wesentlichdadurch bestimmt, wie sie von der Theorie Gebrauch macht, d.h. wel-che Phänomene sie tatsächlich in den theoretischen Gehalt der Theorieeinzubetten weiß. Also durch:

UP(e) := {Pi Ƥ(T); e(Pi) TG(T)}

Die Kenngröße UP(e) (der Umfang, der durch e tatsächlich eingebettetenPhänomene) erlaubt damit auch einen Vergleich verschiedener Erklärun-gen, die sich auf ein und dieselbe Theorie beziehen, indem man nichtnur lokal überprüft, ob sich eine korrekte Einbettung für ein Phänomenfinden läßt, sondern einbezieht, ob diese Einbettung mit der von weite-

221 Das ist selbstverständlich nur eine Rekonstruktion dessen, was er tat-sächlich tut, zum Zwecke bestimmter metatheoretischer Bewertungen.

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ren Phänomenen verträglich ist. Es kommt also nicht nur darauf an Pi inT einzubetten, sondern auch darauf, wie man es einbettet.

An dieser Stelle scheint es darüber hinaus wiederum sinnvoll, Forde-rungen nach einer gewissen Einheitlichkeit der Einbettung zu stellen,wie die, daß e stetig sein sollte. Außerdem ist die Erklärungsleistung vone natürlich anhand der beiden anderen Kenngrößen der einbettendenTheorie zu beurteilen, also zum einen dem Informationsgehalt, den siebietet, bzw. ihrer Stringenz, sowie ihrer Einheitlichkeit.

Entsprechende Kenngrößen der Vereinheitlichung lassen sich nunauch allerdings mit etwas größerem formalen Aufwand auf der Ebeneder Theorien-Netze finden. Sei dazu N := (Ti)iJ ein Theorien-Netz mit J:= {1,…,n}. Dann wird der „theoretische Gehalt“ des Netzes nichtdurch das n-Tupel der TG(Ti) angemessen dargestellt, weil dabei dieKonsistenzforderung innerhalb des Netzes (s. VII.C.9) nicht berücksich-tigt würde. Diese Zusammenhänge können nur anhand der Einbettungs-funktionen ℰ(N) für das ganze Netz präzise integriert werden. Das ge-schieht durch die Inhaltsfunktion F, die allen möglichen Anwendungs-mengen Ii des Netzes die Menge ihrer erfolgreichen Einbettungsfunktio-nen zuordnet:

F: [Pot(Mp)]n Pot[EINB(N)]

F wird definiert für <Q1,…, Qn> [Pot(Mp)]n durch:

F(<Q1,…, Qn>) := {e ℰ(N); i J: e(Qi) TG(Ti)}222

D.h. F ordnet jedem n-Tupel von Mengensystemen partieller Modelle(oder Phänomenmengen) die Menge der Einbettungsfunktionen zu, diedie Mengen auf allen Ebenen jeweils korrekt in die entsprechenden Spe-zialisierungen des Netzes einbetten. In F finden wir daher die Kenngrö-ße des theoretischen Gehalts für ein ganzes Theorien-Netz. Das mögen ei-nige Überlegungen erläutern. Je kleiner F(<Q1,…,Qn>) ist, desto größerist der theoretische Gehalt des Netzes, denn um so kleiner ist die Anzahlder Möglichkeiten (also der Einbettungsfunktionen) die Qi in die theore-tischen Gehalte der entsprechenden Theorie-Elemente einzubetten. Derschlimmste Fall für eine Theorie ist der, daß sie den Einbettungen über-haupt keine Beschränkungen auferlegt und alle Phänomene oder ande-ren Mengensysteme einbettbar sind:

Q1,…,Qn F(<Q1,…,Qn>) = ℰ(N)

222 Dabei ist F mengentheoretisch extra auf einer Ebene angesiedelt, die eserlaubt, F auch direkt auf Phänomenmengen anzuwenden.

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Das ist schon ein Extremfall, in dem nicht nur alle Mengen einbettbarsind, sondern auch gleich noch durch alle Einbettungsfunktionen einge-bettet werden. Etwas besser ist schon der Fall:

Q1,…,Qn F(<Q1,…,Qn>)

Das Netz ist eventuell immer noch in einem gewissen Sinn inhaltsleer,weil alle Phänomene einbettbar sein könnten, aber es ist nicht mehr ge-sagt, daß uns diese Einbettungen in den Schoß fallen. Hier müssen wireventuell schon nach den richtigen Einbettungsfunktionen suchen. Fallswir auf gehaltsleere Theorien stoßen, wird vermutlich dieser zweite Typvon Gehaltlosigkeit vorliegen, denn den erkennt man nicht auf Anhieb.

Besonders interessant ist natürlich die Auswertung von F auf den in-tendierten Anwendungen der Theorie-Elemente, also F(<I1,…,In>). Dieempirische Behauptung von N läßt sich nämlich – man sehe auch dieParallele zum theoretischen Gehalt von Theorie-Elementen – darstellenals:

Empirische Behauptung von N:e F(<I1,…,In>) (oder F(<Q1,…,Qn>)

Des weiteren ist der Phänomenbereich für das ganze Netz zu bestimmen,der tatsächlich erfolgreich einzubetten ist. Auch das ist komplizierter alsim Falle eines einzelnen Theorie-Elements, geht es doch um eine Einbet-tung auf mehreren Ebenen im Netz, also wieder um die Einbettung vonn-Tupeln von Phänomenmengen:

UP(N) := {<Q1,…,Qn> [Pot(Ƥ(N))]n; F(<Q1,…,Qn>) },

UP(N) enthält gerade die n-Tupel von Phänomenmengen, für die es nocheine konsistente theoretische Einbettung in die jeweiligen theoretischenGehalte der entsprechenden Spezialisierungen des Netzes gibt. Undschließlich läßt sich wiederum die Einheitlichkeit des ganzen Netzes an-hand der Zerlegbarkeit seiner empirischen Behauptung bestimmen.Wenn wir mit EB(N) die empirische Behauptung von N bezeichnen, d.h.(zur Erinnerung):

EB(N) : e ℰ(N) j J [e(Ij) TG(Tj)],

dann sollte diese Behauptung in möglichst wenige entsprechende Teilbe-hauptungen zerlegbar sein, wenn diese wiederum empirische Behauptun-gen von eigenständigen, nicht gehaltleeren Netzen N1,… ,Nk darstellensollen.

ZL(N) := {V = {N1,…, Nk}; EB(N) EB(N1) … EB(Nk)}

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Daneben läßt sich wie im Falle des einzelnen Theorie-Elements die Ver-einheitlichung möglichst vieler Phänomene durch eine spezielle erklä-rende Einbettungsfunktion e EINB(N) angeben: wiederum als dieMenge der Phänomene, die durch e auf den verschiedenen Ebenen ein-gebettet werden können:

UP(e) := {<Q1,…,Qn> [Pot(Ƥ(N))]n; e F(<Q1,…,Qn>) },

Oder in einer vereinfachten Version, die bereits auf die intendierten An-wendungen bezug nimmt:

UPv(e) := {P Ƥ(N); i J: P Ii e(P) TG(Ti)}

Dabei werden einfach die Phänomene alle zusammengenommen, diesich erfolgreichen in die Spezialisierungen von N einbetten lassen, fürdie wir das beabsichtigen. Eine Aufspaltung in die unterschiedlichen Spe-zialisierungsebenen entfällt dabei, aber es geht natürlich dann auch einTeil der Information verloren, auf welchen Ebenen wir jeweils erfolg-reich waren. Sind wir für P überall im Netz erfolgreich, wo wir es seinwollten, gehört P zu UPv(e). Ob sich P dann noch in andere Spezialisie-rungen von N einbetten ließe, wird nicht mehr weiter untersucht. Soläßt sich eine Kenngröße womöglich ohne zu große Verluste erheblichvereinfachen.

Anhand dieser drei Kenngrößen der Vereinheitlichung lassen sich nunwiederum Vergleiche für zwei Theorien-Netze mit derselben begriffli-chen Grundstruktur auf der nichttheoretischen Ebene oder für zwei ent-sprechende Erklärungen durchführen, indem man von dem vereinheitli-chenderen Netz verlangt, daß für alle n-Tupel von partiellen Modellendie Einschränkungsfunktion F die kleineren Mengen liefert, der Umfangvon einbettbaren Phänomenen aber mindestens genauso groß ist und au-ßerdem weniger Zerlegungen der empirischen Behauptung möglichsind.

N’ hat größere vereinheitlichende Kraft als N gdw:1) Q1,..., Qn Pot(Mp) gilt: F’(<Q1,…,Qn>) F(<Q1,…,Qn>)2) UP(N) UP(N’)3) ZL(N’) ZL(N)

Zusammengenommen läßt sich ein Vergleich dann auf die empirischenBehauptungen zweier Netze N und N’ und ihre Zerlegbarkeit zurückfüh-ren. Folgt EB(N) aus EB(N’), und ist EB(N’) trotzdem nicht in mehrKomponenten zerlegbar als EB(N), so weist N’ die größere Vereinheitli-

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chungsleistung auf. Um diese Behauptung zu untersuchen, sind wir aller-dings auf die entsprechende Analyse der Komponenten angewiesen.

Ein Aspekt, den ich in diesem Abschnitt bisher noch überhaupt nichtberücksichtigt habe, sind die Unschärfen von Theorien. Sie sind fürquantitative empirische Theorien eigentlich immer vorhanden und da-her auch an dieser Stelle wiederum einzubeziehen. Das würde die jewei-ligen Mengen in gewisser Weise „erweitern“, wie das schon (VII.C.9) fürdie empirische Behauptung eines Theorien-Netzes vorgeführt wurde. Andieser Stelle möchte ich darauf verzichten, diese „Verschmierungen“ alleexplizit anzugeben, weil das Verfahren nun bekannt ist und im Prinzipauf die genannten Größen übertragen werden kann.

Die Kenngrößen der Vereinheitlichung eines ganzen Netzes lassensich also ganz analog zu denen eines einzelnen Theorie-Elements zusam-menbringen:

Vereinheitlichung durch ein Theorien-Netz NNN:Bestimmend für die Stringenz der Vereinheitlichung eines Netzes Nsind hauptsächlich die Kerne Ki der Spezialisierungen von N. Sie le-gen den theoretischen Gehalt des ganzen Netzes anhand der Inhalts-funktion F für die möglichen Einbettungsfunktionen auf den ver-schiedenen Ebenen fest. Der Umfang der Vereinheitlichung bemißtsich dagegen an der Anzahl und Art der Phänomene Pj aus Ƥ(N), dietatsächlich theoretisch eingebettet werden können, d.h. die durcheine Einbettungsfunktion jeweils vollständig in den theoretischen Ge-halt aller der Theorie-Elemente Ti des Netzes einzubetten sind, zuderem intendierten Anwendungsbereich Ii sie gehören. Schließlichmuß auch noch die Einheitlichkeit von N berücksichtigt werden, diesich darin zeigt, in wieviele konjunktive Teilbehauptungen die empi-rische Behauptung EB(N) höchstens zerfällt.

Die in diesem Kapitel präzisierte theoretische Einbettung von partiellenModellen in theoretische Modelle, stellt natürlich nur einen Schritt inder theoretischen Vereinheitlichung dar. Oft genug erhalten wir die par-tiellen Modelle selbst wieder als aktuale Modelle von Vortheorien, dieihrerseits auf ähnliche Weise entstanden sind. Umgekehrt gibt es eventu-ell „über“ dem Netz wiederum neue Netze, zu denen die Modelle desNetzes den „empirischen“ Input bilden. Die theoretische Vereinheitli-chung findet also nicht nur im Netz, sondern auch im Umfeld des Netzesauf verschiedenen Ebenen statt, die in komplizierter Weise ineinander-greifen. Eine formale Explikation der Vereinheitlichungskraft derartigergrößerer Teile der Wissenschaft – z. B. von Theorien-Holons – ist natür-

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lich im Prinzip auf denselben Wegen möglich, die hier für Theorie-Ele-mente und Netze beschritten wurden, soll aber an dieser Stelle nichtweiter verfolgt werden.

Mit der Explikation der theoretischen Vereinheitlichung haben wirdann auch den Begriff der wissenschaftlichen Erklärung expliziert:

Wissenschaftliche ErklärungEine Instanz eines Phänomens P wird erklärt durch seine Einbettunge in eine Theorie T, wobei die Erklärung um so besser ist, je größerdie theoretische Vereinheitlichung durch T ist und je größer die spe-zielle Vereinheitlichung durch e ist.

Die drei Parameter der Erklärung: Systematisierungsleistung, Informati-onsgehalt der Einbettung und organische Einheitlichkeit der einbetten-den Theorie tragen alle direkt zu einer Erhöhung der Kohärenz unseresMeinungssystems bei. Für die Systematisierungsleistung, die den Kernder Vereinheitlichungskonzeption bildet, ist das offensichtlich, denn nurdurch stark systematisierende Theorien entsteht eine globale Kohärenzmeines Überzeugungssystems. Die Systematisierungsleistung spiegelt alsoden lokalen Beitrag einer Theorie zur globalen Kohärenz wieder. Die or-ganische Einheitlichkeit von T gibt an, wie stark T seine Anwendungenzusammenbindet. Eine Zusammenfassung in einer bloße Konjunktionwäre dabei die schwächste Form der Verknüpfung, während die Einbin-dung durch eine unzerlegbare Theorie die stärkste Form darstellt. Aller-dings spielt dabei auch die Frage des empirischen Gehalts eine Rolle, derbei Zerlegungen jeweils verlorengehen würde. Je größer diese Verlustesind – also je größer der synergistische Überschußgehalt der Theorie ist,desto gehaltvoller ist die Zusammenbindung durch T. Der Informations-gehalt der jeweiligen Einbettung gibt uns schließlich die Stärke der kohä-renten Einbettung speziell von P in unser Meinungssystem an. Im Ex-tremfall, in dem nur ein partielles Modell eingebettet werden kann, ent-spräche das einer Herleitung von P aus der Theorie.

Die formal präzisierte Erklärungstheorie erlaubt natürlich nicht nurdie „Berechnung“ der Erklärungskraft für mathematisierte Theorien undentsprechend rekonstruierte Erklärungen, sondern ist ebenso bei der Be-urteilung informeller Erklärungen von Nutzen. Im Prinzip läßt sich jedeErklärung mittels einer Einschätzung nach den vorgegebenen Kriterienund unter Heranziehen von KTR bewerten. Erklärungen werden dabeiwesentlich zusammen mit den erklärenden Theorien in einem größerenKontext bewertet. Die genannten Kennzahlen von Theorien sind letzt-lich immer in einem größeren Rahmen und im Vergleich mit anderen

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Theorien zu sehen. Der kann erst darüber entscheiden, welches die besteErklärung in unserem Überzeugungssystem darstellt.

F. Analogien und Kohärenz

Die strukturalistische Auffassung wissenschaftlicher Theorien, konntedazu beitragen, eine spezielle Form der Einbettung zu erläutern, nämlichdie von Phänomenen in möglichst stringente und einheitliche Theorien.Daneben finden sich eine Reihe von anderen Einbettungen in den Wis-senschaften, die in dieser Konzeption bisher noch nicht erfaßt oder indiesem Rahmen zumindest noch nicht ausführlicher untersucht wurden.Ein Bereich zu dem zwar schon Arbeiten vorliegen, der aber sicherlichnoch weiterer Analysen bedarf, wurde bereits genannt, nämlich der desÜbergangs von Daten als einzelnen Meßwerten zu einem partiellen Mo-dell, das eine Instanz eines Phänomens vortheoretisch beschreibt. Mankann das auch als den Übergang von einem Datenmodell zu einem par-tiellen Modell bezeichnen. Da es bekanntlich meist viele Möglichkeitengibt, Meßwerte unter Berücksichtigung ihrer Unschärfen in partielleModelle einzubetten, ist hier die Frage nach den Kriterien für verein-heitlichende Einbettungen zu stellen. Auch dafür sind Kriterien der Ein-fachheit und Gleichbehandlung ähnlicher Fälle zu entwickeln, was mei-nes Wissens aber bis heute nicht in völlig zufriedenstellender Weise ge-schehen ist.223

Oberhalb der Einbettung von Phänomenen in Theorien finden sichEinbettungen von Theorien in theoretische Modelle oder Analogiemo-delle, die wiederum Theorien auf einer eventuell semiformalen Ebenevereinheitlichen helfen. Friedman (1981, 7) nennt als Beispiel die Mole-külvorstellung von Gasen aus der statistischen Mechanik. Sie gestattetes, das Verhalten von Gasen in einen Zusammenhang zu vielen anderenArten von Phänomenen wie chemischen Bindungen, elektrischen undthermischen Diffusionsprozessen, genetischer Vererbung etc. zu bringen.Auch für diese Form von „analoger Vereinheitlichung“ kann es zahlreicheStufen geben. Das beginnt vielleicht bei relativ präzisen mathematischenModellen über Potential- oder Wellenphänomene, in die sich zahlreichekonkrete Theorien über Wasserwellen, elektromagnetische Wellen,Lichtwellen etc. einbetten lassen, und geht über die Friedmanschen me-

223 Einen guten Einblick in entsprechende Problemstellungen bietet For-ster/Sober (1994).

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chanistischen Vorstellungen bis zu Analogien zwischen der Konstruktionvon Artefakten durch den Menschen und der Konstruktion der Weltdurch Gott. Viele Analogien lassen sich vermutlich durch eine Art vonpartiellem Homomorphismus zwischen den jeweiligen Modelltypen cha-rakterisieren, was ich an einem Beispiel erläutern möchte. Natürlichkann ich damit nicht den Anspruch verbinden, an dieser Stelle eine aus-führlichere Theorie von Analogien vorzulegen. Die hätte sich auf präzi-sere Untersuchungen von Einzelfällen zu berufen, denen ich nicht weiternachgehe.

Nehmen wir als Beispiel den Vorbild- und Analogiecharakter, dendie Newtonschen Theorien des Planetensystems für das Bohrsche Atom-modell darstellten. Die Abbildung zwischen den Modelltypen ist folgen-dermaßen zu beschreiben: Der Sonne und ihren Planeten entspricht derAtomkern und seine Elektronen. Den Gravitationskräften stehen dieelektrostatischen Anziehungskräfte gegenüber, die ebenfalls vom 1/r2-Typ sind. Daraus folgen entsprechende Beziehungen für die Bahnen vonPlaneten und Elektronen, allerdings mit der Einschränkung, daß dieElektronen nur bestimmte diskrete Bahnen einnehmen dürfen. Dochtrotz dieser offensichtlichen Disanalogie an einer wichtigen Stelle in denbeiden Modelltypen, beruhte die Entwicklung des Bohrschen Atommo-dells wesentlich auf dieser Analogie (s. auch Lakatos 1974, 137ff).

In der Anfangsphase dieses Forschungsprogramms ließen sich nahezualle wichtigen Korrekturen, die aufgrund aufgetretener Widersprüchezur Empirie notwendig wurden, aus dieser Analogie gewinnen. Dabei er-schienen sie gerade durch diese Anlehnung an das Planetensystem nichtals ad hoc Adjustierungen, sondern eher als ohnehin notwendige Weiter-entwicklungen der Bohrschen Theorie. Einige Stufen dieser Entwicklungmögen das veranschaulichen: Bohrs Modell gelang es in seiner einfachenFassung nicht, die Wellenlängen der sogenannten Fowler-Serie genau zuprognostizieren.224 Als Verbesserung des Modells mußte Bohr aber nurauf den Übergang zu reduzierten Massen für Zwei-Körper-Probleme ver-weisen, um die aufgetretenen Abweichungen wie selbstverständlich ein-bauen zu können. Dieser Übergang war aus der Mechanik bereits be-kannt, denn auch die Sonne steht nicht absolut still im Zentrum des Son-nensystems, sondern wird durch die Anziehungskraft der Planeten „hin-und hergezogen“, was für genaue Berechnungen den Einsatz der redu-zierten Massen erfordert. Den nächsten Verbesserungsschritt unternahm

224 Die Vorhersage und Erklärung von abgestrahlten Wellenlängen desWasserstoff- und des Heliumatoms war eine der entscheidenden empirischenLeistungen der Bohrschen Theorie.

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1915 Sommerfeld mit seinem Übergang zu elliptischen Bahnen und rela-tivistischen Korrekturtermen; ebenfalls aus der Mechanik bestens be-kannt. Wiederum kam niemand auf die Idee zu behaupten, diese Verbes-serungen seien reine ad hoc Modifizierungen, und die Analogie hättedoch bestenfalls heuristischen Wert und könnte daher den da hoc Cha-rakter solcher Zusatzannahmen nicht „heilen“.

Diese Entwicklungen der Atomtheorie wurden im Gegenteil als ge-radezu selbstverständliche Weiterentwicklungen begriffen. Es wurde einewesentliche Verbindung zwischen den analogen Theorien akzeptiert, dieallerdings auf einer eher formalen Stufe der gemeinsamen Einbettung ineine Theorie der Bewegungen in einem zentralen Potentialfeld zu sehenist. Und obwohl es sich nicht um eine wesentlich materiale Analogiehandelt, kann man sich dieser erkenntnistheoretischen Bewertung kaumentziehen. Damit findet sich eine weitere Form von Vereinheitlichungund Einbettung – nämlich in ein abstraktes Modell der Potentialbewe-gung um einen Zentralkörper, die sich auf der Ebene eines Modellver-gleich recht gut beschreiben läßt und die offensichtlich epistemische Be-deutung besitzt. Man kann zumindest in einem schwachen Sinn davonsprechen, daß die Analogie auch erklärt, wieso die Bohrsche Theorie inihrer einfachen Gestalt die Fowler-Serie nicht abzuleiten gestattete. Siehatte die zu starke Idealisierung eines feststehenden Zentralkörpers auf-zugeben. Ohne diesen Zusammenhängen weiter folgen zu können, hoffeich doch, daß nun die metatheoretische Hypothese plausibel erscheint,wonach auch Analogiebeziehungen einen gewissen Erklärungswert undepistemische Bedeutung besitzen können, selbst wenn sie als Einbettun-gen auf einer recht abstrakten Ebene angesiedelt sind.

G. Einbettung und kausale Erklärung

Die Auffassung, daß Erklärungen immer kausale Erklärungen sind undwir durch eine genauere Untersuchung der Kausalitätskonzeption auchden Begriff der wissenschaftlichen Erklärung expliziert hätten, habe ichim wesentlichen aus zwei Gründen zurückgewiesen. Erstens deckt diekausale Erklärung nur einen Teilbereich der Bandbreite tatsächlicherwissenschaftlicher Erklärungen ab; in vielen Fällen, benötigen wir schoneinen sehr liberalen und damit auch wenig informativen Kausalitätsbe-griff, um noch von einer Ursache-Wirkungsbeziehung sprechen zu kön-nen. Zweitens sind unsere Kausalitätsvorstellungen nur wenig bestimmt,wenn wir sie nicht auf bestimmte Typen von Ereignissen beschränken.

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Daher bietet die Redeweise von einem kausalen Zusammenhang keinewesentlich neuen Einsichten darüber hinaus, daß ein zeitlicher Ablaufvon Ereignissen und eine große Regelmäßigkeit für diesen Zusammen-hang gegeben sind.

Damit möchte ich keineswegs leugnen, daß wir die Vorstellung vonder Welt haben, es gäbe so etwas wie einen bestimmten Typus von be-sonders wichtigen Beziehungen, der für sehr viele Ereignisse in unsererWelt gemeinsam ist. Sie findet sich auf einer recht abstrakten Ebene un-serer Überzeugungen als eine Art von Metaüberzeugung zu unserenTheorien. Es handelt sich dabei geradezu um ein kleines Theorien-Netz„Kausalität“ mit dem eben skizzierten Basis-Theorie-Element, das wohlnur die beiden informell formulierten Gesetze (zeitlicher Ablauf und Re-gelmäßigkeit) enthält, und einer Reihe von Spezialisierungen auf be-stimmte Typen von Fällen, die besondere Aussagen für diese Vorgängeerlauben. Diese Spezialisierungen können etwa den in (VIII.C.2.e) ge-nannten Vorstellungen von Kausalität zu einigen physikalischen Rahmenentsprechen. Für Phänomene, die unter die Kausalitätsvorstellung derspeziellen Relativitätstheorie fallen – vermutlich der größte und unseremCommon-Sense Verständnis von Kausalität nächstliegende Bereich – ge-hört zu kausalen Vorgängen nur ein Energie-Impuls-Transfer, der mithöchstens Lichtgeschwindigkeit abläuft. In anderen Bereichen etwa derstatistischen Kausalität scheinen unsere Intuitionen besser durch dasCommon Cause Modell abgedeckt zu werden usf. Dieses Netz ist damitnatürlich alles andere als präzise rekonstruiert, aber Versuche wie denvon Salmon und anderen Wissenschaftstheoretikern in diesem Gebietmag man als logische Rekonstruktionen einzelner Spezialisierungen die-ses Netzes betrachten. Wie gesagt, betten wir viele Phänomene in diesesNetz ein, was sicherlich einen Beitrag zur Vereinheitlichung und damitzur Kohärenz unseres gesamten Meinungssystem leistet. In diesem Sinnläßt sich auch im hier vorgelegten Rahmen verstehen, was mit kausalerErklärung gemeint ist, nämlich die (informelle) Einbettung in dieseskleine Theorien-Netz von Ablaufmodellen. Damit hat sich eine gewisseAnnäherung der beiden Positionen aus der Sicht der Vereinheitlichungs-konzeption gezeigt, die auch verstehen hilft, wieso beide Vorstellungennebeneinander bestehen können. Wie die Analogiebeziehung, stellt auchdie Kausalkonzeption eine Einbettung in abstrakte Modelle oberhalb derEbene unserer empirischen Theorien bereit, die eine große vereinheitli-chende Kraft besitzt; jedenfalls was den Umfang betrifft, aber wohl nichtin Bezug auf ihre Stringenz.

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Dieser Idee eines Zusammenspiels beider Auffassungen, scheint auchSalmon (1989, 180ff) inzwischen nicht abgeneigt zu sein, und einige frü-here Äußerungen von ihm dokumentieren, daß er sich damit noch nichteinmal so weit von seiner ursprünglichen Position entfernen mußte:

The aim of a scientific explanation, according to the ontic concep-tion, is to fit the event-to-be-explained into a discernible pattern.This pattern is constituted by regularities in nature – regularities towhich we often refer as laws of nature. Such laws may be either uni-versal or statistical…It should be immediately evident, however, that mere subsumptionunder laws – mere fitting of events into regular patterns – has little,if any, explanatory force. (Salmon 1984, 121)

So weit stimmen die Ansätze geradezu überein,225 man übersetze hiernur „pattern“ etwa durch „Modell“, was unproblematisch erscheint, daich den Modellbegriff zunächst auch recht liberal verstanden wissenmöchte. Erst in der Frage, was denn erklärende Einbettungen von nicht-erklärenden unterscheidet, trennen sich die Wege. Von Erklärungen et-wa durch das ideale Gasgesetz sagt Salmon (z. B. 1984, 121), sie hätten„not much (if any) explanatory import“. Für ihn sind es also nur Einbet-tungen in kausale Modelle, d.h. in Modelle, die einen zeitlichen Ablaufbeschreiben, die erklärend sind. Allerdings traut er sich auf der anderenSeite nicht, den Koexistenzgesetzen überhaupt keine Erklärungskraft zu-zusprechen, sondern bringt das „if any“ nur als verschämten Zusatz.Auch ich bin der Meinung, daß die Koexistenzgesetze meist nur geringeErklärungskraft besitzen – aber immerhin nicht völlig ohne Erklärungs-wert sind. Das ist allerdings ebenso eine Eigenschaft der von Salmon sogerühmten Newtonschen Axiome, wenn sie allein auftreten. So hat Ul-rich Gähde (1983) gezeigt, daß sie empirisch leer sind, solange sie nichtdurch Spezialgesetze ergänzt werden. Auch der Hinweis darauf, daß essich dabei um Kausalgesetze handelt, scheint mir – gerade wenn man da-mit nicht eine metaphysische Behauptung über notwendige Zusammen-hänge in der Natur aufstellen möchte, was ich Salmon natürlich nichtunterstelle – kaum der entscheidende Zusatz zu sein, der ihnen Erklä-

225 Einige Anmerkungen zu Erklärungen, bei denen das Explanans dieWahrscheinlichkeit für das Explanandumereignis herabsetzt, was in Salmons Er-klärungstheorie erlaubt ist, aber sicherlich nicht unbedingt intuitiv erscheint,lasse ich aus, da ich mich mit der speziellen Problematik statistischer Erklärun-gen nicht befassen möchte.

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rungskraft verleiht; das sollte die Diskussion über die relative Inhaltslo-sigkeit von Kausalitätsbehauptungen verdeutlicht haben.

Und damit möchte ich Priorität für die Vereinheitlichungskonzeptionin Anspruch nehmen, denn erst sie gibt uns den entscheidenden Hinweisauf den Erklärungswert, der in der Frage zu suchen ist, wie groß die ver-einheitlichende Kraft des erklärenden Gesetzes oder der erklärendenTheorie ist und wie groß ihr empirischer Gehalt dabei ist. Was nützenmir Gesetze, die ich als kausal bezeichnen kann, die aber inhaltlich leersind? Salmon unterscheidet in (1984) also Einbettungen wesentlich da-nach, ob sie in kausale Modelle erfolgen oder nicht, während es mir umden Informationsgehalt der Modelle und ihre vereinheitlichende Kraftgeht. Wenn kausale Gesetze in dieser Richtung auch etwas zu bieten ha-ben, was ich von den meisten annehme, so läßt sich Salmons Theorie inmeinen Ansatz einbetten und der Streit zwischen einem kausalen und ei-nem Vereinheitlichungsansatz besteht nur noch in der Frage, ob es überdie kausalen Einbettungen hinaus noch andere Einbettungen gibt, dieebenfalls den Namen „Erklärung“ zu Recht tragen. Die genannten Bei-spiele sprechen meiner Ansicht nach ganz klar dafür, zumal man sonstgroße Teile der Wissenschaft bloß aufgrund der von Philosophen gehät-schelten Kausalität von einem zentralen Ziel der Wissenschaften, näm-lich Erklärungen zu liefern, apodiktisch ausschließen würde.

H. Zur Problemlösekraft des Einbettungsmodells

Die meiste Unterstützung zieht der Vereinheitlichungsansatz der Erklä-rung sicher daraus, wie natürlich es ihm gelingt, Beispiele von Erklärun-gen zu subsumieren und darüber hinaus ihre Erklärungskraft und dievon wissenschaftlichen Theorien korrekt zu beschreiben. Neben einigenBeispielen, die ich an verschiedenen Stellen genannt habe, lassen sich imRahmen der Vereinheitlichungstheorie von Kitcher weitere Beispiele fin-den. Trotzdem spielt für die kohärente Einbettung dieser Konzeption inunsere Metatheorie der Erkenntnis nicht nur die Beziehung zu den „Da-ten“ – also hier den Beispielfällen – eine wichtige Rolle, sondern eben-falls die Kohärenz zu anderen metatheoretischen Überzeugungen überErklärung. Dabei interessieren uns insbesondere die Anomalien frühererAnsätze, aber auch offengebliebene Fragen der erkenntnistheoretischenDebatte. Diese Zusammenhänge möchte ich im folgenden noch kurz un-tersuchen.

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1. Erklärungsanomalien

In der wissenschaftstheoretischen Debatte um theoriendynamische Phä-nomene spielen spätestens seit Kuhn die Anomalien eine besondere Rol-le. Sobald sie sich häufen, gerät ein Paradigma in die Gefahr aufgegebenzu werden. Auch in der Kohärenztheorie der Rechtfertigung habe ich ih-nen eine besondere Rolle zugebilligt, wenn es darum geht, die Kohärenzeines Meinungssystems zu bedrohen. Aber was ist unter einer Erklä-rungsanomalie genau zu verstehen? Natürlich ist nicht jedes Ereignis, fürdas wir keine Erklärung besitzen, damit schon eine Erklärungsanomalie.Für die allermeisten Phänomene um uns herum haben wir wohl keineinformativen Erklärungen. Das beunruhigt uns schon deshalb kaum,weil wir davon ausgehen, daß sie im Prinzip welche besitzen.

Außerdem wissen wir inzwischen, daß jede Theorie über einen An-wendungsbereich verfügt, der im Laufe der Entwicklung der TheorieVeränderungen unterliegt. So hat sich Newtons Hoffnung nicht erfüllt,optische, chemische und Gezeitenphänomene in seiner Partikelmechanikerklären zu können, und diese wurden dann aus dem Bereich der zu-nächst intendierten Anwendungen herausgenommen. Oftmals sind der-artige Veränderungen von I nicht ganz so spektakulär und umfassend,aber nichtsdestoweniger bestimmen sie über die Entwicklung einerTheorie. Nun kann ein unerklärtes Ereignis z. B. aus dem schlichtenGrunde keine Erklärungsanomalie sein, weil es in keinem intendiertenAnwendungsbereich einer Theorie liegt. Daß ich heute um 13.30 Uhreine Banane gegessen habe und viele andere alltägliche Geschehnisse,sind im allgemeinen keine Fakten, die von irgendeiner Wissenschaft fürWert befunden werden, anhand geeigneter Theorien erklärt zu werden.Selbst wenn man zunächst daran dachte, optische Phänomene im Rah-men einer Mechanik zu erklären, und es dann doch nicht gelingt, so daßwir sie aus dem Anwendungsbereich der Mechanik wieder entfernenmüssen, liegt damit noch nicht unbedingt eine Erklärungsanomalie vor.Dazu muß die Einheitlichkeit und Systematisierungskraft einer Theorieschon in stärkerem Umfang beeinträchtigt sein, als das in diesem Bei-spiel der Fall war. Die Newtonsche Mechanik konnte diese relativ ge-trennt erscheinenden Gebiete aufgeben, ohne daß die zurückbleibendeTheorie dadurch uneinheitlich wurde. Sie hatte damit zwar nicht ganzdie erhoffte Vereinheitlichungskraft, aber konnte immer noch genügendPhänomene erfolgreich einbetten, um als großer Fortschritt gegenübereinem entsprechenden Meinungssystem ohne sie betrachtet zu werden.

Anders sieht es da schon für die Perihelanomalie des Merkur aus.Hätte sie sich durch Erweiterung des Anwendungsbereichs der Newtons-

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chen Mechanik um den Planeten Vulkan beheben lassen, wäre damit dieVereinheitlichung nicht besonders vergrößert worden, aber auch nichterheblich gestört worden. Doch andererseits wäre es eine empfindlicheBeeinträchtigung der Einheitlichkeit gewesen, das System Merkur-Sonneaus dem Anwendungsbereich der Theorie auszuschließen, weil damiteine natürliche Art, nämlich die der Himmelskörper oder noch spezifi-scher die der Planeten, nicht mehr einheitlich zum Anwendungsbereichder Mechanik gehört hätte und damit auch nicht mehr zu UP(KPM). Dadieser Bereich der Theorie aber geradezu die zentrale Anwendung derfrühen KPM darstellte (s. BMS 223ff), bot der einfache Weg der Verklei-nerung des Anwendungsbereichs von KPM keine Möglichkeit mehr, dieVereinheitlichungskraft der Theorie auch nur einigermaßen zu bewah-ren.226 Wenn das der Fall ist, liegt eine authentische Erklärungsanomalievor. Es sind also zwei Dinge, die dafür zusammenkommen müssen, näm-lich erstens eine intendierte Anwendung einer Theorie, die sich dertheoretischen Einbettung hartnäckig widersetzt, und zweitens eine wich-tige Rolle im Rahmen der vereinheitlichenden Wirkung der Theorie, sodaß die betreffende intendierte Anwendung nicht einfach ausgeschlossenwerden kann.

2. Asymmetrien der Erklärung

Eine metatheoretische Anomalie der klassischen Erklärungskonzeptionvon Hempel bildet die sogenannte Asymmetrie der Erklärung, die viel-leicht das bedeutsamste Argument für eine kausale Betrachtungsweisevon Erklärungen darstellte. Und auch nach unserer Zurückweisung derkausalen Erklärungstheorie als wesentlich unzureichend läßt sich derZusammenhang zwischen den Asymmetrien und unseren Vorstellungenvon kausalen Zusammenhängen nicht einfach abweisen. Das ist aber fürdie Vereinheitlichungskonzeption auch kein Hindernis, denn wie wir inAbschnitt (G) gesehen haben, gibt es einen entsprechenden Zusammen-hang zwischen beiden Auffassungen. In unserem Meinungssystem findetsich eine recht allgemeine „Theorie“ von kausalen Vorgängen, die sichzumindest darauf beruft, daß es sich um zeitliche Abfolgen von Ereignis-sen handelt, die eine hohe Regelmäßigkeit aufweisen. In diese Konzepti-on betten wir sehr viele Vorgänge und Abfolgen von Ereignissen inasymmetrischer Weise ein, denn wir ordnen sie bei dieser Gelegenheit inUrsachen und Wirkungen. Zu dieser Konzeption von Kausalität gehört

226 In diesem Beispiel wird auch deutlich, wieso zu UP(T) jeweils nur diePhänomene zählen, die zur Gänze durch T erklärbar sind.

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nämlich die Vorstellung, daß nur Vorhergehendes spätere Ereignisse be-einflussen kann und nicht umgekehrt, sowie einen entsprechenden Zu-sammenhang zur Erklärungskonzeption, nach der viele Ereignisse undEigenschaften von Dingen durch Beschreibung ihrer Entstehungsge-schichte erklärt werden können.

Betrachten wir dazu noch einmal die beiden Beispiele aus (VIII.B.2)zur Asymmetrie von Erklärungen, die Rotverschiebung und die Längedes Schattens. In beiden Fällen können wir eigentlich nur davon spre-chen, daß eine Entstehungserklärung gegeben wurde und nicht eine kau-sale Erklärung in einem irgendwie anspruchsvollen Sinn des Wortes. Derfür die Rotverschiebung verantwortliche Dopplereffekt gibt keinen kau-salen Mechanismus an, der mit einer Form von Energie- oder Impuls-übertragung verbunden wäre, sondern nur einfache kinematisch-geome-trische Zusammenhänge, die sich auf die Relativgeschwindigkeiten derbeteiligten Objekte beziehen. Und entsprechendes gilt für die Länge desSchattens in unserem Fahnenmastbeispiel. Die Erklärung stützt sich ge-rade nicht auf den kausalen Prozeß der dem Phänomen zugrundeliegt –sie beschreibt nicht die kausalen Auswirkungen des Fahnenmastes aufauftreffende Photonen etc., sondern bezieht sich hauptsächlich auf denSatz des Pythagoras. Statt von kausaler Erklärung würde ich daher be-scheidener von einer „Entstehungsgeschichtenerklärung“ sprechen, dieasymmetrisch ist.

Wie kann die Vereinheitlichungstheorie damit umgehen? Die ersteAntwort war: Wir finden in unserem Überzeugungssystem die Theorieder Entstehungsgeschichten, und die Einbettung in diese Theorie erhöhtdie Vereinheitlichung, hat also auch im Rahmen der Vereinheitlichungs-theorie eindeutig erklärende Kraft. Allgemein gilt: Die Vorstellung, daßwir Erklärungen in solchen „Entstehungsgeschichtenerklärungen“ orga-nisieren sollten, ist ein sinnvolles regulatives Prinzip der Forschung. Au-ßerdem fügt sie sich auch im übrigen kohärent in unsere Überzeugungs-systeme ein, und ein Vertreter der Vereinheitlichungstheorie darf daherauf sie bauen.

Kitcher (1988, 220ff und 1989, 484ff) hat noch einen anderen Wegeingeschlagen und versucht die Asymmetrie zu verstehen, ohne daruf be-zug zu nehmen, daß eine eigenständige Theorie der Kausalität verein-heitlichender Teil unseres Überzeugungssystems ist. Für die Länge einesPendels oder die Höhe eines Fahnenmastes und viele andere Gegenstän-de verfügen wir im Prinzip über Erklärungen, die sich auf ihren Ur-sprung und ihre Entwicklung beziehen. Diese umfassen eine große An-zahl von Fällen. Erklärungen, die dazu in Konkurrenz treten würden, in-

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dem sie die Länge des Fahnenmastes anhand seines Schattens oder dieLänge des Pendels anhand seiner Frequenz herleiten wollten, müßtendemgegenüber unterliegen, weil sie jeweils nur für kleine Teilklassen un-serer Objekte gelten würden (vgl. IX.B). Allein anhand von Vergleichender Systematisierungsleistung sind daher unsere normalen Erklärungengegenüber ihren Alternativen zu bevorzugen. Auf eine Erwähnung derKausalität sind wir dabei überhaupt nicht angewiesen.

Doch dagegen weist Barnes (1992, 564ff) darauf hin, daß etwa dieNewtonsche Theorie verschiedene Formen von Ableitungen gestattet.Zum einen können wir die Bahnen bestimmter Körper eines abgeschlos-senen Newtonschen Systems anhand der Newtonschen Gesetze, ihrerGeschwindigkeiten [hier wären eigentlich die Impulse zu wählen] undOrte zu einem Zeitpunkt berechnen und daher ihre Positionen für einenspäteren Zustand vorhersagen. Zum anderen können wir sie aber auchzurückberechnen und damit Retrodiktionen für ihre Orte zu vergange-nen Zeiten vornehmen. Beides ergäbe vereinheitlichende Argumentmu-ster, aber nur die Prognosen sind nach Barnes erklärend, während dieRetrodiktionen keine Erklärungskraft besäßen. Damit wird nach seinerMeinung das Asymmetrieproblem zu einem ernstzunehmenden Testfallgegen Kitchers Vereinheitlichungskonzeption. Doch das scheint mir ausmehren Gründen nicht ganz überzeugend. Als erstes leuchtet mir dieAsymmetrie in diesem Beispiel nicht besonders ein, weil es sich in bei-den Fällen nicht gerade um typische Erklärungen handelt. Aber das istnicht der springende Punkt. Entscheidend ist, daß von einer vereinheitli-chenden Theorie wie der Newtonschen nicht einzelne Orte vorhergesagtoder erklärt werden, sondern ganze Bahnen etwa von Planeten über ei-nen gewissen Zeitraum (s. Forge 1980, 223ff). Man kann die Theorieunter gewissen Umständen dann natürlich auch dazu verwenden, einzel-nen Teile dieser Bahnen deduktiv abzuleiten, aber das ist nur eine sekun-däre Möglichkeit, die meines Erachtens nicht den Kern der Newtons-chen Erklärungskraft betrifft. Barnes scheint in seinem Argument schondie Sicht der kausalen Erklärungstheorie einzubauen, die sich gerade aufdas erklären von einzelnen Ereignissen bezieht. Für Kitcher (1988, 208f)ergibt das Argumentmuster der Newtonschen Partikelmechanik eine Er-klärung ganzer Bahnen. Und ganz so war auch die strukturalistische Re-konstruktion der KPM in (VII.C) angelegt, denn die partiellen Modelleder KPM enthalten jeweils ganze Bahnen von Partikeln als Lösungen derNewtonschen Differentialgleichungen. Trotzdem liegen hier sicher nochintuitive Probleme für Kitcher, wenn er die in unseren informellen Er-klärungen deutlich vertretene Vorstellung von Kausalität für Asymme-

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triefragen ganz aus dem Spiel lassen will. Für ihn muß das so sein, dennauch Kausalbeziehungen werden seiner Meinung nach schließlich durchVereinheitlichung konstituiert.

Dem möchte ich mich nicht anschließen und bin daher nicht aufdiese Möglichkeit zur Erklärung von Asymmetrien angewiesen. Im Ein-bettungsmodell der Erklärung tritt die Asymmetrie zunächst überhauptnicht auf, worauf Forge (für den „instance view“) schon (1980) hinge-wiesen hat. Im Bereich der theoretischen Erklärung werden nämlich nurvollständige partielle Modelle in Theorien eingebettet, so daß wir keineAbleitungen von bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten erhalten, son-dern immer nur die ganzen Weg-Zeit-Funktionen einbetten. Wir findendie Asymmetrie daher höchstens auf einer intuitiven Ebene von infor-mellen Erklärungen. Dort sind es die Einbettungen in Ablaufmodelle,die Beispiele wie die von Barnes am besten beschreiben, die dann auchBeziehungen zwischen Teilen von partiellen Modellen, wie Impulsenund Orten von Partikeln zu bestimmten Zeiten zueinander in asymmetri-sche Zusammenhänge ordnen.

3. Irrelevanz

Anders ist das für die irrelevanten Bestandteile von Erklärungen. Diekönnen – wie ich auch schon in (IX.B) erläutert habe – allein aufgrundvon Überlegungen der Vereinheitlichung als solche gebrandmarkt undzurückgewiesen werden. Betrachten wir dazu noch einmal das Beispieldes verzauberten Tafelsalzes und seine Variationen.

A) Die Erklärung für Auflösung eines bestimmten Stückes Salz (oder ei-ner Gruppe von Salzstücken) beruft sich darauf, daß dieses Salz ver-zaubert ist.

B) Die Erklärung für die Auflösung von Salz beruft sich allgemein (alsofür alles Salz) auf die Verzauberung von Salz.

Im Fall (A) müssen wir mit zwei Theorien T1 und T2 (oder ihrer Kon-junktion) arbeiten, um die Auflösung von Salz zu erklären. Zum einenmit einer physikalisch-chemischen Theorie der Molekülgitter von Salzenund der Auflösung der Gitterstruktur im Wasser und zum anderen miteiner Theorie der Verzauberung von Salzstücken, die zu ihrer Auflösungführen, wobei beide Theorien nur einen Teilbereich der Salze abdecken.Als Alternative dazu haben wir die Möglichkeit, mit einer chemisch-phy-sikalischen Theorie auszukommen, die für alle Salzstücke ihr Auflö-sungsvermögen erklärt. Es gibt nun eine Reihe von Aspekten unter de-

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nen die zweite Möglichkeit vorzuziehen ist. Als erstes haben wir für dieeine umfassende Theorie einen größeren intendierten Anwendungsbe-reich als für die zwei eingeschränkten Theorien und damit eine größereVereinheitlichungskraft. Das gilt natürlich auch gegenüber der Konjunk-tion der beiden Teiltheorien, denn die ist offensichtlich in zwei (voll-kommen) unabhängige empirische Behauptungen zu zerlegen. Aber es istnicht nur die stärkere Vereinheitlichung des Anwendungsbereichs, diefür die zweite Möglichkeit spricht, sondern ebenfalls ihre größere Strin-genz. Für sie finden wir quantitative und damit gehaltvollere Beschrei-bungen der Auflösung und außerdem eine Reihe von „Links“ zu anderenTheorien wie der Elektrodynamik, die uns etwas über die Bindungs-kräfte im Molekülverband erzählen kann. All das hat die Verzauberungs-theorie nicht anzubieten. Sie ist zunächst ziemlich gehaltsleer und erhältauch keinen Inhalt durch entsprechende Querverbindungen zu anderenTheorien, weil sie isoliert in unserem Meinungssystem dasteht.

Im Fall (B) haben wir zu wählen zwischen der Verzauberungstheorie,die für alle Proben von Salz gilt, und der chemisch-physikalischen Theo-rie, die ebenfalls alle Proben von Salz behandelt. Damit ist zunächst derintendierte Anwendungsbereich der beiden Theorien gleich, aber natür-lich nicht ihre Stringenz. Die zweite Theorie weist einen deutlich höhe-ren Gehalt auf. Die erste Theorie ist auch nicht durch eine Kombinationmit der zweiten Theorie zu retten, in der sie etwa behauptet, es sei ge-rade die Verbindung von chemisch-physikalischen Eigenschaften undVerzauberung, die zur Auflösbarkeit führe, denn diese Variante gestatteteine Abspaltung der chemisch-physikalischen Theorie, die die Einheit-lichkeit dieser Theorie zerstört und die schon dadurch minderwertig ge-genüber der rein chemisch-physikalischen Theorie ist. In ähnlicher Wei-se können wir versuchen, auf der Grundlage der EinbettungstheorieFälle von irrelevanten Bestandteilen in Erklärungen zurückzuweisen,denn diese sind in der Regel abzuspalten und damit kohärenzvermin-dernd.

4. Statistische Theorien und Erklärungen

Statistische Erklärungen hatte ich im wesentlichen ausgeklammert, vorallem, um mich nicht in den formalen Untiefen dieser Unterart von Er-klärungen zu verlieren. Doch ein guter Teil der heutigen wissenschaftli-chen Theorien und den entsprechenden Erklärungen sind statistischerNatur, so daß ich zumindest skizzieren möchte, wie sie sich im struktu-ralistischen Theorienkonzept behandeln lassen. Das ist nicht ganz unpro-

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blematisch, wie sich sogleich zeigen wird, denn gerade die lokale Auffas-sung von Modellen enthüllt gewisse Probleme in unserem Verständnisstatistischer Theorien. Für die Rekonstruktion spielt es zunächst keinewesentliche Rolle, wie wir die statistischen Aussagen oder Gesetze derbeteiligten Theorien interpretieren, ob als genuine probabilistische Ge-setze, die das Vorliegen von objektiven Wahrscheinlichkeiten in der Na-tur behaupten oder eher als das Bestehen von Unsicherheiten in unsererKenntnis der „wirklichen“ Gesetze, die wir als deterministisch vermu-ten, aber über die wir noch nicht verfügen. Die meisten Theorien wer-den wir intuitiv eher der zweiten Kategorie zuordnen, aber zumindestfür eine der grundlegensten Theorien unserer Zeit, die Quantenmecha-nik, scheint das nicht möglich zu sein.

Die bei einer logischen Rekonstruktion auftretenden Probleme un-tersuchen wir am Beispiel einer einfachen fiktiven probabilistischenTheorie. Sie besagt, daß jeder Mensch, der die Eigenschaft besitzt, rot-haarig (R) zu sein, mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% jähzornig (J)ist. Nennen wir die Theorie J-Theorie (Jähzorn-Theorie). Die J-Theoriescheint über einzelne Menschen zu sprechen und wir werden sie aucheinzeln in den Blick nehmen müssen, wenn wir die Aussage der Theorieüberprüfen wollen. Demnach ist es strukturalistische Rekonstruktions-strategie, als Grundbereich die Menge der Menschen einzuführen. Daüber jeden einzelnen Menschen eine entsprechende Aussage gilt und instrukturalistischen Rekonstruktionen die partiellen Modelle als lokaleModelle so gewählt werden sollten, würden demnach die partiellen unddie potentiellen Modelle über einzelne Menschen oder kleinere Grup-pen von solchen sprechen. (Oder im Fall von physikalischen Mikrotheo-rien wie der Quantenmechanik über atomare oder subatomare Teil-chen.) Nehmen wir zunächst der Einfachheit halber an, jedes partielleModell beschriebe genau einen Menschen und sehen vom Problem dertheoretischen Terme ab, so ergibt sich folgende Schwierigkeit für dieDarstellung der Theorie: Im Fall deterministischer Theorien gehen wirdavon aus, daß für ein bestimmtes potentielles Modell festgelegt ist undim Prinzip auch feststellbar ist, ob es ein Modell der Theorie ist odernicht. Das gilt aber für die J-Theorie gerade nicht mehr. Wenn wir einenbestimmten rothaarigen Menschen untersuchen, stellen wir immer nurfest – sehen wir einmal von operationalen Problemen der Zuschreibungvon Jähzorn ab –, daß er jähzornig ist oder nicht. Beide Feststellungenberechtigen weder zu der Annahme, daß es sich um ein Modell derTheorie handelt, noch daß das nicht der Fall ist. Der übliche strukturali-stische Weg, Theorien darzustellen, versagt anscheinend. Unser Gesetz

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in der J-Theorie teilt die potentiellen Modelle nicht einfach in zwei Klas-sen, nämlich in Modelle und nicht-Modelle, ein. Jedes einzelne Vor-kommnis von Jähzorn oder ruhigem Gemüt ist mit dem Gesetz verein-bar. Trotzdem würden wir sagen, daß bestimmte statistische Erscheinun-gen – wie etwa, daß alle Rothaarigen jähzornig sind – gegen die Theoriespricht, während andere statistischen Erscheinungen die Theorie zu stüt-zen scheinen.

Ehe wir uns anschauen, welche Optionen dem strukturalistischenRekonstrukteur statistischer Theorien offenstehen, möchte ich der Fragenachgehen, ob wir hier nicht eine grundlegende Schwäche des struktura-listischen Ansatzes aufgedeckt haben. Obwohl es im ersten Moment sozu sein scheint, möchte ich behaupten, daß das nicht der Fall ist, son-dern daß sich hier geradezu eine Stärke der strukturalistischen Sicht aufTheorien zeigt. Diese ist darin zu sehen, daß der strukturalistische Appa-rat bei der Rekonstruktion auf ein Problem stößt und aufmerksammacht, das bereits in unserem Verständnis der Theorie selbst angelegtist. Wir sprechen in unserer J-Theorie zum einen so, als ob wir allen rot-haarigen Menschen eine einfache Eigenschaft zusprechen, nämlich diemit 35%-tiger Wahrscheinlichkeit jähzornig zu sein, und auf der anderenSeite denken wir uns doch nur die Eigenschaft, jähzornig zu sein odernicht, als eine reale Eigenschaft von Menschen. Es sind unsere Proble-me, statistische Aussagen zu verstehen und ihre Verschiedenartigkeit ge-genüber deterministischen Aussagen, die uns die Probleme für eine logi-sche Klärung dieser Theorien bescheren und nicht die strukturalistischeAuffassung der Theorien. Für probabilistische Theorien verfügen wirnicht mehr über so einfache und klare Kriterien dafür, daß ein Systemein Modell der Theorie ist, sondern nur über Wahrscheinlichkeitsab-schätzungen für größere Klassen von Einzelfällen. Nach welchen Reihenvon Würfelergebnissen würden wir definitiv sagen, daß es sich um einenfairen und nach welchen, daß es sich um einen gezinkten handelt? Hierkönnen wir nur noch mit bestimmten Irrtumswahrscheinlichkeiten ar-beiten. Einzelne Würfe helfen uns jedenfalls kaum weiter, besitzen siedoch, wenigstens für Wahrscheinlichkeiten ungleich 0 und 1, keine Aus-sagekraft. Diese Probleme zeigen sich dann auch in der logischen Rekon-struktion der Theorie, die ja ebenfalls die Funktion haben soll, derartigeInterpretationsfragen einer Theorie ans Licht zu bringen und einer Ana-lyse zugänglich zu machen. Unsere Rede über statistische Theorien er-scheint uns auf den ersten Blick einfach, sie verbirgt aber Irreführungen,die bei einer Rekonstruktion aufgedeckt werden. Die Einteilung in Mo-delle geschieht hier nicht nach der uns zugänglichen Eigenschaft des Jäh-

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zorns, sondern nach der schwieriger verständlichen Eigenschaft, eine be-stimmte Wahrscheinlichkeit für Jähzorn zu besitzen.

Welche Optionen für Interpretationen statistischer Theorien und ih-rer logischen Rekonstruktion stehen uns nun offen? Ohne einen An-spruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte ich doch einige Variantenund ihre Probleme der Reihe nach behandeln.

(i) Gesamtheiten als Anwendungen des Gesetzes

Statt wie zunächst von der Formulierung des Gesetzes nahegelegt ein-zelne Menschen als die Adressaten des Gesetzes anzusehen, lassen sichprobabilistische Gesetze als Aussagen über größere Gesamtheiten inter-pretieren. So sprechen gemäß dieser Vorstellung Gesetze über den radio-aktiven Zerfall nicht über den Zerfall einzelner Atome, sondern übergrößere Gesamtheiten gleichartiger Atome. Das entspricht zunächstauch ganz gut den experimentellen Tests bzw. Anwendungen statistischerTheorien, denn dafür sind wir immer darauf angewiesen, mehrere Ob-jekte zu untersuchen. Damit ergibt sich also auch kein Widerspruch zurRekonstruktionsstrategie des Strukturalismus, denn die kleinsten tat-sächlichen Einheiten sind dann Mengen von Einzelobjekten und diesewerden als partielle Modelle ausgewählt. Für solche Gruppen läßt sichnicht mehr sagen, sie seien einbettbar oder nicht, sondern nur, daß siemit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zur Theorie passen. Die ergibtsich aus der Wahrscheinlichkeit, die die Theorie dieser Gruppe zuer-kennt. Wenn wir dafür eine konkrete Schwelle angeben, bis zu der wirnoch Gruppen als Bestätigungen der Theorie betrachten wollen (z. B.90%), so können wir dann wieder auf die Verfahren für deterministischeTheorien zurückgreifen. Anderenfalls müssen wir die Wahrscheinlichkei-ten direkt in die empirischen Behauptung der Theorie einbauen.

Allerdings handelt es sich bei dieser Auffassung von Wahrscheinlich-keitsaussagen immer um eine recht schwache Interpretation probabilisti-scher Gesetze, denn gerade in dem betrachteten Beispiel denken wirdoch, daß das Zerfallsgesetz uns ebenfalls etwas über das einzelne Atomsagt. Es gibt uns z. B. an, in welchem Ausmaß wir seinen Zerfall etwa inder nächsten halben Stunde zu erwarten haben. Diese Information istaber bei der Gesamtheitenlesart der probabilistischen Aussage verloren-gegangen. Es kann an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein, tiefer in dieschwierige allgemeinere Diskussion über das Verständnis und den Gehaltstatistischer Aussagen einzusteigen. Deshalb möchte ich mich darauf be-schränken vorzustellen, wie selbst stärkere Interpretationen statistischerTheorien in einer Rekonstruktion wiedergegeben werden könnten.

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(ii) Wahrscheinlichkeiten als Eigenschaften

Eine anspruchsvollere Interpretation, die die unter (i) verlorengehendenAussagen nicht verschenken möchte, ist eine, die die Wahrscheinlichkei-ten direkt als Eigenschaften der einzelnen Individuen ansieht. Diese Ei-genschaften können dispositionaler Art, man denke etwa an PoppersPropensitäten, oder auch anders gedacht werden. Das soll an dieser Stel-le nicht weiter unterschieden werden. Im strukturalistischen Rahmenhätten sie wahrscheinlich gute Chancen als theoretische Größen klassifi-ziert zu werden. Auf der nichttheoretischen Ebene werden die sichtba-ren Ergebnisse (ob ein Zerfall oder Jähzorn vorliegt) in partiellen Mo-dellen festgehalten, während auf der theoretischen Ebene dann etwaPropensitäten zur Erklärung eingeführt werden. Diese Vorstellung ist si-cherlich mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Sie scheint zunächst übereinzelne Modelle mit einzelnen Objekten zu sprechen, aber wir müssenwieder eine Reihe von partiellen Modellen mit Zerfall und eine Reiheohne als Modelle aussondern. Diese Modelle unterscheiden sich abernicht durch relevante Parameter auf der nichttheoretischen Ebene, son-dern nur numerisch. Das ist völlig anders als bei deterministischen Theo-rien. Ehe wir hier nicht zu intuitiveren Interpretationen gelangen,scheint das die Gesamtheiten Interpretationen besser aussehen zu lassen.

(iii) Probabilistische Aussagen als Constraints

Wenn wir an der begrifflichen Gestaltung der Modelle als lokaler Mo-delle über einzelne Objekte festhalten möchten, liegt es nahe, probabili-stische Aussagen als Aussagen nicht über einzelne Modelle, sondern alsAussagen über Modellmengen aufzufassen, die üblicherweise in Con-straints unterzubringen sind. Die Elemente dieser Constraints sind danngerade die Mengen potentieller Modelle, die laut probabilistischem Ge-setz erlaubt sind. Das scheint die Absichten der Gesamtheiteninterpreta-tion und die der lokalen Modelle zugleich zum Ausdruck zu bringen, be-inhaltet aber noch eine Schwierigkeit. Das probabilistische Gesetz ver-bietet keine Mengen im strengen Sinn. Es sagt nur über einige, daß siehöchst unwahrscheinlich sind. Um diesen Punkt in der Rekonstruktionangemessen wiedergeben zu können, bietet es sich eventuell an, die Con-straints als eine fuzzy-Menge aufzufassen. Danach wird jede Menge nurin einem gewissen Ausmaß Element des Constraints. Dieses Maß derMengenzugehörigkeit sollte sich dabei in einfacher Weise an der Un-wahrscheinlichkeit, die durch das probabilistische Gesetz vorgegeben ist,orientieren. Ein anderer Weg könnte wiederum sein, mit einer fest vor-

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gegebenen Irrtumswahrscheinlichkeit zu arbeiten und per Constraintalle die Mengen zu verbieten, deren Unwahrscheinlichkeit größer ist, alsder zugelassene Wahrscheinlichkeitsbereich es erlaubt. Diese Lösung istformal einfacher und hält sich enger an die bisherige strukturalistischeTerminologie, ist aber zunächst auf eine bestimmte Irrtumswahrschein-lichkeit festgelegt. Das ließe sich natürlich seinerseits wieder auflockern,indem man die Irrtumswahrscheinlichkeit als offenen Parameter betrach-tet oder Familien solcher Irrtumswahrscheinlichkeiten zuläßt, die natür-lich auch Familien von zwar gleichartigen aber doch unterschiedlichenConstraints nach sich ziehen. Die letzten beiden Möglichkeiten scheinenmir am besten in die strukturalistische Theorienauffassung hineinzupas-sen und deshalb favorisiere ich sie. Die dabei auftretenden Constraintswären allerdings im Unterschied zu den bisher von mir betrachtetenConstraints in hohem Maße nicht-transitiv, d.h. es würde nicht mehr fürbeliebige Teilmengen einer Constraintmenge gelten, daß sie ebenfallsConstraintmengen darstellten, sondern jede dieser Mengen müßte einehinreichend große „Stichprobe“ von potentiellen Modellen beinhalten,die bereits statistisch bedeutsame Aussagen gestattet.

5. Und wenn die Welt nicht einheitlich ist?

Ein Thema, das immer wieder im Zusammenhang mit Vereinheitli-chungsansätzen angesprochen wird, ist die Frage, wie es um diese An-sätze bestellt ist, wenn die Welt nun einmal nicht einheitlich ist? Einekurze Erörterung dieses Problems mag den Abschluß meiner Diskussiondes Vereinheitlichungsansatzes bilden. Es ist zunächst nicht leicht zu sa-gen, welches Szenario man mit dieser Vermutung im Auge haben kann.Für die hier beschriebene Theorie der Erklärung als Vereinheitlichungist natürlich die Frage spannend, was passieren würde, gäbe es keinekorrekten Beschreibungen der Welt, die die hier verlangte Einheitlich-keit und Systematisierungsleistung für unser Überzeugungssystem auf-wiesen.

Eine interessante Antwort bietet uns Kitcher (1989, 494ff und 1986)an, die sich auf Kants Überlegungen zur Systematisierungsleistung vonGesetzen stützt – jedenfalls in Kitchers Kant Interpretation.227 Danach

227 Kitcher gibt eine interessante Interpretation von Kants Wissenschafts-theorie, die sich auf Teile der Kritik der reinen Vernunft und auch auf die Meta-physischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft bezieht und für die Theorie derRechtfertigung einige Ähnlichkeiten mit der von Kitcher vertretenen Konzeptionaufweist.

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haben wissenschaftliche Erklärungen zwar oft zum Ziel, unser Verständ-nis der Welt anhand einer Zurückführung auf die basalen kausalen Me-chanismen zu befördern, aber welche Mechanismen als grundlegend gel-ten können, bemißt sich allein an ihrer Stellung in der besten vereinheit-lichenden Systematisierung unserer Meinungen:

The heart of the unification approach is that we cannot make senseof the notion of a basic mechanism apart from the idea of a systema-tization of the world in which as many consequences as possible aretraced to the action of as small a number of basic mechanisms aspossible. In short, on the unification approach, the basic mechanismsmust be those picked out in the best unifying systematization of ourbest beliefs, for if they were not so picked out then they would notbe basic.

Ohne Vereinheitlichung gäbe es also auch keine Kausalen Zusammen-hänge mehr. So weit, daß die Vereinheitlichung konstitutiv für Kausalitätist, möchte ich Kitcher nicht folgen. Aber ohne Kohärenz und einer ge-wissen Vereinheitlichung unserer Überzeugungen, haben wir keinen epi-stemischen Zugang zur Frage der Wahrheit unserer Meinungen; das ge-rade war Bestandteil der Argumentation für KTR. Gründe für eine Mei-nung sind demnach immer in inferentiellen Beziehungen dieser Meinungzu unseren anderen Meinungen zu sehen, wobei das Maß der Rechtferti-gung im Ausmaß der relationalen und systematischen Kohärenz besteht.Ob kausale Beziehungen eine eigenständige ontologische und semanti-sche Kategorie darstellen oder nur parasitär gegenüber Systematisierun-gen unserer Erkenntnis sind, möchte ich offenlassen. Wesentlich ist nur,daß auch Meinungen über kausale Zusammenhänge – oder man mußwohl eher sagen, insbesondere solche Meinungen – nur dann gerechtfer-tigt sind, wenn sie eine Vereinheitlichung unserer Überzeugungen bewir-ken. Ein Schluß von dieser Tatsache auf die Behauptung, es habe keinenSinn, von Kausalität ohne einen systematisierenden theoretischen Rah-men zu sprechen, ist dann allerdings wohl nur anhand einer Verifikati-onstheorie der Bedeutung möglich, die ich nicht vertrete.

Was also passiert in einer radikal nicht einheitlichen Welt? Es könntetrotzdem kausale Zusammenhänge geben, aber sie können uns nicht zuErklärungszwecken dienen. Finden wir nicht eine Spur von Regularitätin dieser Welt, sondern immer nur Ereignisse, deren Abfolgen für unsvollkommen willkürlich erscheinen müssen, weil niemals auf Ereignisseeines bestimmten Typs mehrfach Ereignisse eines bestimmten anderenTyps folgen – und wir können auch keine anderen eventuell komplexe-

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ren Regelmäßigkeiten feststellen –, so haben wir keine Handhabe mehr,um allgemeine Theorien über den Ablauf von Ereignissen in dieser Weltaufzustellen und zu begründen. Damit haben wir auch keine Gründemehr, eine Unterscheidung in zufällige Ereignisfolgen und kausale anzu-nehmen. Damit will ich, wie gesagt, nicht ausschließen, daß auch in die-ser Welt eine unerkennbare Kausalität am Werke sein könnte, die viel-leicht bestimmte Ereignisse mit Notwendigkeit auf andere folgen läßt,während andere nur zufällig geschehen. Wir können sie nur nicht erken-nen und haben keinen Grund, an sie zu glauben. Hätten wir in dieserWelt wenigstens eine Art sechsten Sinn für das Vorliegen von Kausalbe-ziehungen, der immer anspricht, wenn wir gerade einen kausale Ereig-nisfolge beobachten, haben wir damit auch bereits eine erste Regelmä-ßigkeit, an die wir anknüpfen könnten. Auch die würde allein sichernoch nicht hinreichen, um zu schließen, daß wir damit eine notwendigeBeziehung aufspüren und nicht irgendein anderes Merkmal der Vorgän-ge, aber zumindest wäre die Welt nicht mehr völlig regellos. Je mehrStruktur wir finden, desto eher haben wir Gründe zur Verfügung, be-stimmte allgemeinere Annahmen über die Welt zu akzeptieren.228

Ein vollständig kohärentes Bild der Welt, in das alle unsere Wahr-nehmungen optimal einzupassen sind und etliche korrekt vorhergesagtwerden können, liefert uns die besten Gründe, an seine Wahrheit zuglauben. Das ist unser einziger Weg zur Wahrheit, und wenn die Welttatsächlich völlig regellos wäre, wäre er für uns verschlossen. Wir müß-ten ohne begründete Erkenntnisse und Voraussagen auskommen. DerKohärenztheoretiker muß also keine metaphysische Einfachheitsannah-me für die Welt voraussetzen, sondern überläßt es der empirischen For-schung und der Beschaffenheit der Welt, welche Regelmäßigkeiten sichtatsächlich zeigen. Er kann allerdings auf gewisse erkenntnistheoretischeKonsequenzen hinweisen, die sich aus dem Umfang der Einheitlichkeitder Welt ergeben. Außerdem gibt er andererseits zu, daß der Weg zuwahren Meinungen zwar nur über Kohärenz führt, daß dieser Weg aberauch nicht sicher ist. Auch wenn wir über ein ausgearbeitetes und hoch-kohärentes Weltbild verfügen in das alle unsere Wahrnehmungen perfekthineinpassen und das alle möglichen Ereignisse präzise vorhersagt, kön-nen wir die theoretische Möglichkeit, daß das auf die üblen Machen-schaften eines Dämons zurückzuführen ist oder es sich dabei um einenastronomischen Irrtum handelt, nicht wirklich ausschließen. Doch wenn

228 Natürlich sind in einer komplett regellosen Welt auch Zweifel bezüg-lich unserer Beobachtungsaussagen angebracht, aber diesen Punkt möchte ichhier nicht vertiefen.

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wir uns entscheiden, unseren Ansichten über die Welt nicht grundsätz-lich zu mißtrauen, sondern sie im Gegenteil für im wesentlichen zuver-lässig halten, gewinnen wir ein spannendes Forschungsprogramm, dasuns auch interne Gründe bietet, an seine Wahrheit zu glauben.

I. Resümee

Passend zur Kohärenztheorie der Erkenntnis und einer gebräuchlichenKonzeption von wissenschaftlichem Verstehen, habe ich mich für eineErklärungstheorie entschieden, die gerade in der Systematisierungs- undVereinheitlichungsleistung von Theorien oder Hypothesen ihre Erklä-rungskraft sieht. Im Unterschied zu herkömmlichen Vorschlägen istdiese in der semantischen Auffassung von Theorien angesiedelt und läßtsich dementsprechend durch das Schlagwort der informativen Einbet-tung in ein Modell am besten beschreiben. Der Strukturalismus bietet da-zu die nötigen Einsichten in die innere Struktur von Theorien, um einesubstantielle Konzeption von Vereinheitlichung zu explizieren, die so-wohl erläutern kann, wie sich die klassischen Beispiele von Erklärungenunter diesen Rahmen subsumieren lassen, aber auch Lösungsvorschlägefür eine ganze Reihe der Anomalien des DN-Modells der Erklärung be-reitstellt. Dazu werden die drei wesentlichen Dimensionen der Verein-heitlichung benannt und präzisiert, die sich als die Systematisierungslei-stung einer Theorie, ihre Stringenz (bzw. ihren Informationsgehalt) undschließlich ihre organische Einheitlichkeit bezeichnen lassen. Zu diesemZweck wird der Beitrag aller Komponenten von Theorien zu diesenKenngrößen der Vereinheitlichung bestimmt und ihr Zusammenspiel inder empirischen Behauptung von Theorie-Elementen und Theorien-Net-zen rekonstruiert. Das erlaubt es auch, einen unteren Schwellenwertfestzulegen, ab dem Einbettungen überhaupt Erklärungskraft besitzen.Natürlich handelt es sich dabei um ein größeres Forschungsprogramm inden Bereichen der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie, dasmit dieser Arbeit noch nicht vollständig ausgestaltet oder abgeschlossenist.

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 527

Index

a priori Wahrscheinlichkeiten, 320Abduktion, 10, 152, 173Abelson, R.P., 455Abschneidefunktion, 352acceptance system, 212Achinstein, P., 404, 414, 428ad hoc Hypothesen, 244Adler, J., 274aktuale Modelle, 341akzidentelle Allausage, 381allgemeine Relativitätstheorie, 347allmächtiger Dämon, 320Alltagsüberzeugungen, 277alternative Erklärung, 175alternative Erklärungshypothesen, 12Alternativhypothesen, 278analoge Erklärungen, 224Analogiemodelle, 191, 493Analogien, 190Anti-Erklärer, 239Antirealismus, 423Anz[ZL], 486Approximation, 363, 449, 475approximative Einbettung, 365approximative empirische Behaup-

tung, 369approximative Reduktionen, 449Argument, 378Argumentation, 21, 254Argumentmuster, 439armchair psychology, 154Armstrong, D., 101, 103, 104Art-Gattungs-Beziehungen, 465Asimov, I., 36, 459Aspect, A., 421Asymmetrieproblem, 442atomare Gesetze, 434atomare Zerlegung, 432

Audi, R., 307Ayer, A.J., 39, 136, 137, 149, 150,

152, 153, 154Bacon, F., 181Balzer, W., 350Barnes, E., 443, 502Bartelborth, T., 75, 98, 150, 211,

217, 281, 338, 343, 345, 347,348, 355, 366, 367, 368, 453,455, 462, 467, 468, 473, 475,477, 479, 486

basale Meinungen, 144basale Überzeugungen, 131, 133Basis-Theorie-Element, 340Bayesianismus, 188, 260Begründungsstruktur, 268Bell, J.S., 421Bennett, J., 12Beobachtungsaussagen, 189Beobachtungsbedingungen, 194Beobachtungsterme, 349Beobachtungsüberzeugung:Entschei-

dung für, 201Beobachtungsüberzeugung:Rechtferti-

gung, 198Beobachtungsüberzeugungen, 192beurteilende Statistik, 183Beweis der Außenwelt, 316biologische Taxonomie, 472BMS, 339, 345, 355, 357, 358, 364,

368, 500BonJour, L., 14, 16, 25, 101, 114,

115, 117, 118, 123, 124, 125,144, 145, 146, 156, 157, 158,198, 200, 206, 215, 220, 297,316, 317, 318, 319, 320, 321

BonJours Metaforderung, 224Brückenstrukturen, 343

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 528

Carnap, R., 136, 137, 149, 150, 162,314

Cartesianischer Skeptiker, 291Cartesischer Dämon, 105, 159Cartwright, N., 423, 449, 452Causey, R., 478Cepheidentheorie, 344chaotische Systeme, 417Charakterisierungen, 464Chisholm, R., 116, 136, 137, 145,

147Churchland, P., 192Cogito, 279Common-Sense Überzeugungen, 124Constraints, 343, 435constraintunabhängige Mengen, 480Darwin, C., 389Datenmodell, 453Deduktions-Chauvinismus, 448der mehrere-Systeme Einwand, 288Descartes, R., 203, 279Determinismus, 425Devitt, M., 13, 316diachronische Wissenschaftstheorie,

365Diederich, W., 27Difference Condition, 428Dingaussage, 149Dowe, P., 419Doxastic Presumption, 206Doyle, C., 171dritte-Person Sicht, 127Dupré, J., 473Earman, J., 426ECHO, 188, 221Einbettung in ein Modell., 451Einbettung von Daten, 453Einbettung:begriffliche, 456Einbettung:in Theorien-Netz, 466Einbettung:Schwellenwert, 456Einbettung:sukzessive, 465Einbettung:und Erklärung, 456Einbettungsfunktion, 360, 462

Einbettungsfunktion:Stetigkeitsforde-rung, 483

Einheitlichkeit einer Theorie, 436Einwände gegen KTR, 264eliminativer Materialismus, 218empirische Behauptung von N, 489empirische Substruktur, 350empirischer Gehalt:Überschuß, 436Empiristen, 202Entscheidung unter Unsicherheit, 328Entstehungserklärung, 501enumerative Induktion, 179epistemische Arbeitsteilung, 118, 125,

296epistemische Konkurrenz, 228epistemische Metaüberzeugungen,

234epistemische Unfairness, 313epistemische Überzeugungen, 270Erinnerung, 204Erkenntnistheoretische Ziele, 322erkenntnistheoretischer Erwartungs-

wert, 327Erkenntnistheorie, 16Erklärung, 158Erklärung: und Hintergrundwissen,

231Erklärung:als epistemischer Begriff,

229Erklärung:anhand von Koexistenzge-

setzen, 413Erklärung:Antezedenzbedingungen,

379Erklärung:approximative, 415Erklärung:Asymmetrie, 391, 396, 500Erklärung:deduktiv-nomologische,

378Erklärung:DN-Schema, 218, 378Erklärung:Einbettungstheorie, 451Erklärung:elliptische, 383Erklärung:genetische, 382Erklärung:graduelle Abstufungen,

392Erklärung:historische, 382

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 529

Erklärung:in der Evolutionstheorie,388

Erklärung:in der Mathematik, 409Erklärung:in der Quantenmechanik,

416, 448Erklärung:induktiv-statistische, 384Erklärung:instrumentalistische Sicht-

weise, 404Erklärung:Interessenrelativität von,

231, 397Erklärung:Irrelevanz, 390, 503Erklärung:Irrelevanzproblem, 442Erklärung:IS-Schema, 384Erklärung:kausale, 405Erklärung:kontrastierende, 401Erklärung:Kontrastklasse, 395Erklärung:nicht-kausale, 409Erklärung:objektive Relevanzbezie-

hung, 404Erklärung:partielle, 383Erklärung:potentielle/wahre, 380Erklärung:pragmatischen Aspekte,

394Erklärung:Relevanzbeziehung, 400Erklärung:statistische, 384, 448Erklärung:statistisches Relevanzmo-

dell, 386Erklärung:theoretische, 414Erklärung:Vereinheitlichung, 430Erklärung:Zurückweisen von Fragen,

396Erklärungen:konkurrierende, 227Erklärungsanomalie, 219, 499Erklärungskohärenz, 221Erklärungskohärenz:triviale Immuni-

sierung, 233Erklärungsprototyp, 455Erklärungsrahmen, 238erklärungsrelevante Ursachen, 428Erklärungstheorie:Anforderungen an,

375Erklärungsvorrat, 439evident, 147Evolutionstheorie, 411

Extensivitätsconstraint, 345Externalismus, 99, 309externe Frage, 294Externe Fragen, 314Extrapolation, 180Fallibilismus, 302Faserbündeldarstellung, 483Fehleranalyse, 195Fernwirkung, 422, 425Feyerabend, P., 281Flexibilität von Theorien, 444Forge, J., 350, 453, 502, 503Forster, M., 493Fortschritt, 476Fragesatz, 394Fragesatz:Betonungen, 394Fragesatz:Präsuppositionen, 396Friedman, M., 350, 366, 375, 399,

412, 430, 431, 432, 433, 434,436, 437, 438, 446, 454, 455,471, 479, 493

FU 1, 132FU 2, 132FU 3, 134Fundamentalismus, 132, 135, 146Gedankenexperimente, 256Gehirn im Topf, 106Gettier Beispiel, 16, 101, 102Glaubensgrade, 260Goldman, A., 101, 103, 104, 106,

116, 136, 137Goldstick, D., 283Goodman, N., 150, 182, 281Gottesperspektive, 314grue-Paradox, 281Gründe: die wahren, 122Gähde, U., 211, 344, 351, 357, 360,

361, 363, 436, 467, 469, 474,480, 481, 482, 483, 497

Gärdenfors, P., 402Haack, S., 104, 120, 121, 131, 299Harman, 101Harman, G., 102, 119, 120, 170,

171, 174, 180, 229, 236, 241, 286

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 530

Hawking, S., 426Hempel, C.G., 375, 376, 377, 378,

379, 380, 382, 383, 384, 385,388, 393, 403, 415, 416, 424, 429

Hesse, M., 190, 452Hilfshypothesen, 224Hintergrundwissen, 10, 111, 174historische Periode, 358Hoerster, N., 256Holismus, 160, 161, 210, 267, 275,

347Holismus:von Erklärungen, 438Holton, G., 208Hume, D., 12, 170, 182, 185, 186,

187, 236, 238, 239, 312, 316, 321Humescher Skeptiker, 291Ich denke, 147idealistische Theorie, 151Identitätsconstraint, 345, 482Identitätserklärungen, 414implizite Tests, 274indexikalische Aussagen, 148Induktion: und Deduktion, 171induktive Schlüsse, 9induzierte Quasimetrik, 368infallibler Fundamentalismus, 149infiniter Regreß, 282Informationsgewinn, 322Inhaltsfunktion, 488Inkohärenz, 217, 225, 246Inkonsistenz, 217, 225instance view, 453Instanz eines Gesetzes, 453Instrumentalismus, 135, 282intendierte Anwendungen, 434, 450,

470intendierte Anwendungen:Vernet-

zung, 435Internalismus:Kritik an, 118, 124interne Fragen, 314interne Gründe, 309Introspektion, 204INUS-Bedingung, 406Invarianzconstraints, 345

irreale Konditionalsätze, 381Irrtumsfreiheit, 322Irrtumsquellen, 193Irrtumsrisiko, 143irrtumssicher, 147Irrtumsvermeidung, 330Isolationseinwand, 287James, W., 322, 330, 331Kardinalität, 432kausale Erklärungen, 495kausale Modelle, 497kausale Wechselwirkung, 409kausaler Kontakt, 326kausaler Prozeß, 406kausales Modell, 420Kausalität, 424Kausalität:als Theorien-Netz, 496Kausalität:und Vereinheitlichung, 496Kenngrößen der Vereinheitlichung,

490Khalidi, M.A., 473Kitcher, P., 406, 408, 409, 411, 419,

433, 434, 436, 437, 438, 439,440, 441, 442, 443, 444, 445,446, 447, 448, 449, 450, 451,455, 457, 498, 501, 502, 509, 510

KK, 326klassische Physik, 425klassischen Partikelmechanik, 340KO 1, 133KO 2, 133Kohypothesen, 223Kohärenz, 167, 211, 242Kohärenz:diachronische, 241Kohärenz:Erklärungsanomalie, 248Kohärenz:konkurrierende Erklärun-

gen, 248Kohärenz:relationale, 243, 249Kohärenz:Stabilitätsbedingung, 246Kohärenz:Subsysteme, 247Kohärenz:systematische, 215, 243,

245Kohärenz:Transitivitätsforderung,

223

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 531

Kohärenztheorie, 133Kohärenztheorie der Rechtfertigung,

298Kohärenztheorie:diachronische, 318Kohärenztheorie:Kritik daran, 269Komponenten der Vereinheitlichung,

462Konditionalisierungsregel, 261Konkurrenten, 212Konservatismus, 273konservative Induktion, 10Konsistenz, 167, 216Konstatierungen, 148Kontextualismus, 265Kontinuumsannahme, 366konvergentes Meinungssystem, 276Koppelberg, D., 120, 166Korrespondenztheorie der Wahrheit,

295KPM, 340Kriterium, 144KTR, 242KTR:Argument dafür, 294Kutschera, F.v., 151, 313Lakatos, I., 281, 475, 478, 494Lambert, K., 377Lehrer, K., 101, 110, 111, 112, 113,

119, 136, 212, 236, 239Leitermenge, 463Lenzen, W., 182Lewis, D., 408, 468Limes unserer Meinungen, 277lineare Rechtfertigungsbeziehungen,

269Link, 349Links, 477Lipton, P., 174, 180, 181, 246, 299,

311, 395, 428lokale Modelle, 342Lokalitätsbedingung, 420Ludwig, G., 337, 367, 463Mackie, J.L., 406Maxwell, J.C., 191McGinn, C., 103, 112

mechanische Modelle, 453mengentheoretischer Typ, 463Metamathematik, 335Metaphilosophie, 19Metarechtfertigung, 16, 291Metatheorie der Wissenschaften, 334Metawissen, 112Metaüberzeugungen, 206Methodologie wissenschaftlicher For-

schungsp, 281Meßfehler, 364MK, 273Modell, 452Modelle, 336modelltheoretischer Ansatz, 335Monod, J., 320Morrison, M., 462Moser, P., 100, 101, 113, 136, 137,

154, 155, 156, 157, 158, 159,160, 161, 163, 204, 271, 308,316, 319

Moulines, C.U., 326, 339, 357, 367,470, 471

Musgrave, A., 268, 301, 302Naturalisierung der Erkenntnistheo-

rie, 128Naturgesetz, 380natürliche Arten, 470natürliche epistemische Arten, 142Neurath, O., 166Newtonsche Partikelmechanik, 354nicht-propositionale Wahrnehmungs-

zustände, 155No False Conclusions, 101Notwendigkeit, 423Nozick, R., 101, 103, 109Observation Requirement, 220, 278Ontologie von Theorien, 465OR, 220organische Einheitlichkeit, 478overall- Erklärungen, 160Pais, A., 208paradigmatisches Basis-Theorie-Ele-

ment, 358

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 532

Parfit, D., 258partielle Modelle, 350Pascals Wette, 331Penrose, R., 259personally justified, 212Perspektive der ersten-Person, 107Philosophie des Geistes, 121physikalisch unmöglich, 259Phänomenalismus, 146Phänomene, 431Platon, 283Platts, M., 471, 472Pluralismus von Taxonomien, 473Pollock, 104Popper, K.R., 134, 166, 257, 449,

478pragmatisch, 399presupposition links, 347principle of mark transmission, 407prinzipielle Unschärfen, 417probabilistische Aussagen, 508probability-maker, 156Pseudoerklärung, 403Pseudoprozeß, 406Putnam, H., 69, 153, 169, 170, 251Pyramide von Überzeugungen, 134Quasimetrik, 367, 483Querverbindungen:innertheoretische,

343Querverbindungen:intertheoretische,

346Rationalisierung von Verhalten, 178Rationalisten, 202Rationalität, 123, 260, 284Rawls, J., 329Ray, C., 411Realismus, 473Rechtfertigung, 12Rechtfertigung und Wissensexplikati-

on, 17Rechtfertigung: ohne Erklärung, 236Rechtfertigung:diachronisch, 280Rechtfertigung:durch Erklärung, 187

Rechtfertigung:epistemische/morali-sche, 20

Rechtfertigung:extern, 100Rechtfertigung:externalistische, 114Rechtfertigung:externe, 126Rechtfertigung:fundamentalistische,

131Rechtfertigung:gerichtet, 132Rechtfertigung:ideale, 125Rechtfertigung:implizite, 125Rechtfertigung:intern, 100Rechtfertigung:kohärentistische, 131Rechtfertigung:lineare, 299Rechtfertigung:lokal/global, 207Rechtfertigung:subjektiv/objektiv,

129Rechtfertigung:und Kausalität, 120Rechtfertigung:und Rationalität, 22Rechtfertigungen:implizit, 139Rechtfertigungsketten, 268Rechtfertigungspraxis, 266Rechtfertigungssgeschichten, 284Rechtfertigungsskeptizismus, 308Rechtfertigungsstrategien, 99Rechtfertigungsstruktur, 132, 138,

297Redhead, M., 452Reduktion, 149, 365, 414Reduktion von Konflikten, 212Regreß, 114, 138, 142, 204Regreßargument, 264Regreßproblem, 299Reichenbach, H., 417Relationsstrukturen, 336, 452Reliabilisten, 102Reliabilitätsindikatortheorie, 117remote conservation, 422Repräsentationstheorien der Erkennt-

nis, 152Rescher, N., 211, 288revolutionäres Meinungssystem, 276reziproke Beziehungen, 184Rosenberg, J.F., 19Ross, L., 286

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 533

Russell, B., 301, 331Salmon, W.C., 14, 29, 190, 380, 385,

386, 391, 393, 402, 403, 404,405, 406, 407, 408, 417, 419,420, 422, 423, 425, 434, 436,482, 496, 497, 498

Schank, R.C., 455Schantz, R., 149Scheibe, E., 415, 464schematische Sätze, 439Schlick, M., 136, 148, 156, 287, 288Schluß auf die beste Erklärung, 10,

152, 158, 173, 189, 316Schlußverfahren, 9Schurz, G., 351, 387, 390, 413, 414,

430scientific community, 126, 358Selbsterklärungen, 446selbstrepräsentierend, 147Sherlock Holmes, 171Signifikanz, 163Simulacrum account, 449Sinnesdaten, 146, 149Sinnestäuschung, 193Skeptische Hypothesen, 107, 310,

327Skeptizismus, 106, 107, 108, 109,

128, 129, 130, 145, 151, 158,159, 161, 162, 267, 291

Skeptizismus:antiker, 301Skeptizismus:interner, 294Skeptizismus:Kontextabhängigkeit,

312Skeptizismus:radikaler, 303Skeptizismus:Unnatürlichkeit des,

312Sklar, L., 273, 283Sober, E., 390, 393, 407, 408, 409,

411Sparsamkeitsprinzip, 163Spezialgesetze, 351, 437Spezialisierung, 339spontan auftretende Meinungen, 157spontane Meinungen, 278

statistische Aussagen, 217statistische Theorien, 505Stegmüller, W., 38, 149, 380Stereotype, 169Stevens, P.F., 473stillschweigende Bewährung, 275Stringenz der Muster, 440Stroud, B., 306, 307, 308, 312Strukturalismus, 335Strukturalismus:Überblick, 370Strukturart, 463Subsystem, 218Subsysteme, 467Superempirist, 167, 250, 274Swain, M., 101, 112, 117, 118, 124synergistischer Überschußgehalt, 479T-nichttheoretisch, 350technisches Wissen, 356Teil-Ganzes Beziehungen, 465TG(T), 484Thagard, P., 176, 177, 188, 221, 223,

224, 225, 226, 227, 230, 236,241, 246, 247, 465

theoretisch/nichttheoretisch Unter-scheidung, 350

theoretische Einbettung, 454theoretische Terme, 350theoretische Unterbestimmtheit, 278theoretischer Gehalts, 488Theorie der Rechtfertigung, 16Theorie-Elemente, 338Theorie:empirische Behauptung, 359Theorie:empirischer Gehalt, 360Theorie:intendierte Anwendungen,

352Theorie:Kovarianzforderungen, 345Theorie:theoretischer Gehalt, 359Theorien, 27, 333Theorien-Holons, 338Theorien-Netze, 338Theorien:alternative, 334Theorien:begriffliche Struktur, 340Theorien:innere Struktur, 336Theorien:potentielle Modelle, 340

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 534

Theorien:semantische Auffassung,336

Theorien:sprachliche Darstellung,337

Theorien:strukturalistische Auffas-sung, 27, 335

Theoriendynamik, 357Thermometeranalogie, 103Tooley, M., 422Transportabilitätsforderung, 464transzendentaler Idealismus, 315Triplett, T., 135, 136truth resistant, 113Tversky, A., 55Typen von Anwendungen, 470Typen von Erklärungen, 439Umfang der eingebetteten Phäno-

mene, 485unbewußte Informationsverarbeitung,

110unechte Verallgemeinerung, 446unendliche Rechtfertigungsketten,

140unendlicher Regreß, 266unerkennbare Kausalität, 511uniforme Strukturen, 367Unschärfen, 363, 450Unterbestimmtheit, 135unvollständige Erklärungen, 185UP(e), 487UP(T), 485Uyenoyama, M.K., 411van Fraassen, B., 38, 135, 192, 289,

317, 342, 350, 392, 394, 395,396, 399, 400, 401, 403, 404,418, 420, 423, 424, 427, 429

Vereinheitlichung, 430Vereinheitlichung:Dimensionen der,

457Vereinheitlichung:durch Analogien,

493Vereinheitlichung:durch Constraints,

467

Vereinheitlichung:durch Strukturar-ten, 463

Vereinheitlichung:durch theoretischeGrößen, 468

Vereinheitlichung:durch Theorien-Netze, 466

Vereinheitlichung:formale Präzisie-rung, 484

Vereinheitlichung:in der Elektrodyna-mik, 458

Vereinheitlichung:Kernmuster, 444Vereinheitlichung:Reduktion der Phä-

nomene, 431Vereinheitlichung:Sprachabhängig-

keit, 447Vereinheitlichung:Stringenz, 446,

484Vereinheitlichung:Systematisierungs-

leistung, 484Vereinheitlichung:Trivialisierungspro-

blem, 440Vereinheitlichung:und Definierbar-

keit, 468Vereinheitlichung:und Kausalität, 510Vereinheitlichung:und Kohärenz,

458, 492Vereinheitlichungsleistung, 491Vereinheitlichungsleistung:eines Net-

zes, 491Verhaltenserklärungen, 177vernünftiges Handeln, 124Verstehen, 159, 251, 252, 375Verstehen:kohärente Einbettung, 376Verstehen:Personenrelativität, 377Verstehen:Zurückführung auf Ver-

trautes, 376Voraussagen, 381Vortheorie, 346Vorurteil, 180, 194wahrheitsdienlich, 309Wahrheitsindikator, 20, 284, 289Wahrheitsquote, 103wahrheitsresistent, 308Wahrnehmung, 115, 192

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 535

Wahrnehmung:innere, 204Wahrnehmung:irrtumssicher, 137Wahrnehmungsaussagen, 143Wahrnehmungsirrtum, 186Wahrnehmungsüberzeugung, 110Wahrscheinlichkeit:Propensitäten,

508Wahrscheinlichkeit:schwache Inter-

pretation, 507Wahrscheinlichkeiten, 260Walton, D.N., 21Warum-Fragen, 394Watkins, J., 291, 292, 331, 479Whewell, W., 181, 183, 431, 469Williams, B., 201Williams, M., 41, 108, 132, 133,

136, 142, 210, 267, 311, 312, 397Wissen, 16, 112Wissen:implizites, 118Wissen:logische Abgeschlossenheit,

108Wissenschaftlergemeinschaft, 126Wissenschaftliche Erklärung, 492wissenschaftliche Erklärungen, 15wissenschaftliche Modelle, 452wissenschaftliche Revolution, 465wissenschaftliches Verstehen, 375Wissensdefinition, 101Wissensskeptizismus, 305Wittgenstein, 142Wunder, 185Zerlegung, 432Zirkel der Explikation, 229Zirkelvorwurf, 206ZL(T), 485Zuverlässigkeit, 103überflüssige Entität, 159Übersetzungsthese, 150Überzeugungen:Genese, 41Überzeugungssystem, 170, 252Überzeugungssystem:Entstehung, 235Überzeugungssystem:innere Stabilität,

277„Argument, 89

„Ausleseprozeß“, 63„Bartelborth,, 50, 72„Bedeutungsanalyse“, 57„Beobachtungsüberzeugungen“, 62,

92„Bieri,, 61, 65„Bohrs, 50„BonJour,, 74, 84„böser, 41„Chisholm,, 51„Common-Sense, 52„Conee,, 59„Daniels,, 54„Davidson,, 70„Dawkins,, 64„Dennett,, 80„Descartes,, 57, 85„Devitt,, 34, 43, 61„Elektrodynamik“, 50„empirische, 48„empirischer, 47„Epistemische, 85„Epistemisches, 77„Erklärung:post-hoc“, 47„erste, 38, 40„ethische, 53„evolutionäre, 61„Evolution“, 60„Fallibilismus“, 43„Falsifikationismus“, 46„Fehlschluß“, 59„gamblers, 59„Genese/Rechtfertigung“, 35„Geometrie“, 56„Gerechtigkeit“, 53„Gewißheit“, 43„Glaubensgrade“, 78„Goodman,, 52„Grenzwert, 69„Harman,, 85„Hintergrundwissen“, 78„Holismus“, 42, 54„Idealismus“, 71„Induktion“, 95

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 536

„Informationsbesitz“, 79„Information“, 40, 65„intendierte, 49„Kant,, 56„Kekulé“, 36„Konservatismus“, 56„Koppelberg,, 38, 39„Kriterien, 52„Kuhn,, 46„Leeds,, 68„Lehrer,, 34, 78„logische, 39„Mackie,, 58„Mathematik“, 49„Metamathematik“, 48„Metaphilosophie“, 46„metatheoretische, 45„Metatheorie“, 51„Metaüberzeugungen“, 93, 95„Methodologie:aprioristische“, 45„methodologischer, 87„moralische, 54„Nagel,, 62„Naturalisierung, 34„Naturalismus:methodologischer“, 51„Naturalismus:radikaler“, 36„naturalistischer, 58„natürliche, 63„Newtonsche, 49„Nisbett“, 59„Normen, 39„ordinary, 57„Peano, 49„Penrose,, 98„Physik“, 96„Phänomenalismus“, 38„Platon“, 54„Plattfisch“, 64„Psychologie“, 37„Putnam,, 58, 69, 70, 75, 88„Quine,, 34, 36, 38, 39, 40, 41, 42,

44„Ramsey,, 67„Rawls,, 35, 53

„Realismus“, 74„Rechtfertigung, 52„Rechtfertigung:implizite“, 85„Rechtfertigung:indirekte“, 88„Rechtfertigungspraxis“, 76„Rechtfertigungsstruktur“, 76„reflective, 35„reflektives, 53„Rorty,, 70„Russell,, 52„Salmon,, 90„Searle,, 58„Skeptizismus“, 41, 68„Sosa,, 58„Sprachanalyse“, 59„Stegmüller,, 49„Stich,, 57„Strukturalismus“, 49„Tarski,, 67„Tarskis, 73„Themenwechsel“, 40„theoretische, 49„Unkorrigierbarkeit“, 43„Vollmer,, 61„Wahrheit:Disquotationstheorien“,

68„Wahrheit:epistemisch, 69, 72„Wahrheit:Korrespondenzauffas-

sung“, 73„Wahrheit:Korrespondenztheorie“,

67„Wahrheit:Redundanztheorien“, 67„Wahrheit:Relativismus“, 70„Wahrheit:Äquivalenzthese“, 67„Wahrheitsindikator“, 66„Wahrheit“, 66„Wahrnehmungstheorien“, 37„Wahrnehmungsurteile“, 56„Wahrnehmungszustand“, 79„warranted, 69„Watkins,, 94„Williams,, 43, 69„Wissen:Struktur, 76„wissenschaftliche, 47

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Thomas Bartelborth: Begründungsstrategien 537

„wissenschaftliches, 91„Wissenschaftsgeschichte“, 47„Wissen“, 52„Überlebensfähigkeit“, 63„Übersetzungsunbestimmtheit“, 38„Überzeugung:implizite“, 82„Überzeugungen:Allgemeinheitsstu-

fen“, 94

„Überzeugungen:basale“, 96„Überzeugungen:epistemische“, 93„Überzeugungen:Hierarchie, 92„Überzeugungen:Netz, 88„Überzeugung“, 82„Wissenschaftsgeschichte“ 40