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Der gerechte Lohn Wie viel sind Sie wert? Von Topverdienern und armen Schluckern. 4/2018 Der gerechte Lohn NZZ Folio Nr. 321 April 2018 CHF 9.80 9771420 562003 00321

VonTopverdienernundarmenSchluckern. · 2018-03-23 · 6|Folio4|2018 DasInternetistdieDroge derJugend Cheers! Sie führen eine von nur zwei Bars in São Tomé. Wie kam es dazu? EinFranzosehattedieBar2010

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DergerechteLohn

Wieviel sindSiewert?VonTopverdienern und armenSchluckern.

4/20

18Der

gerechte

Lohn

NZZ

Folio

Nr.32

1April20

18

CHF9.80

9771420

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4 | Folio 4 | 2018

Thema:DergerechteLohn22Editorial

24BittersüssesGeheimnisWarum ist des Schweizers intimster Körper­teil sein Portemonnaie? Peter Haffner

26AndieSpitzeDieManagerinnen Simona Scarpaleggia(Ikea) und Nicole Burth (Adecco) sprechenüber Löhne,Wettbewerb und dieMachtvon Vorbildern. Barbara Klingbacher

36SchmerzensgeldoderHauptgewinn?Sechs Leute erzählen, wie der Lohn ihrLeben prägte und das Leben ihren Lohn.Barbara Klingbacher und RetoU.Schneider

44Allzuparadiesisch?Bei den UN­Organisationen gilt das Gebotder Lohngerechtigkeit. Das ist in mancherHinsicht ungerecht. John Snow

47Gerecht ist eine IllusionHaben Anwälte schon immer so gut ver­dient? Und warum verdienen Frauen weni­ger als Männer? Die Historikerin BrigittaBernet im Gespräch. Gudrun Sachse

53WassichauszahltMindestlohn, Akkordarbeit, Trinkgeld, einBonus oder einfach Lob:Welches System istgerecht? Und welches motiviert wirklich?

61Darf’s einbisschenmehr sein?Hanselmannmöchte mehr Lohn. DerPersonalexperteMatthias Mölleney (Ex­Swissair) erklärt, was er im Gespräch mitdem Chef alles falsch macht. Balz Ruchti

Titelblatt: Patrick Hari, Zürich.Das Cover zeigt die Uniform des Bade­meisters von Kilchberg ZH. Sein Bruttolohnbeträgt beim Einstieg 5380 Franken. EinChefbademeister kann bis 6770 Frankenverdienen. Patrick Hari hat für das NZZ­Folio auch alle anderen Berufsleute bezie­hungsweise ihre Berufskleidung am Arbeits­platz inszeniert und fotografiert.

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Folio 4 | 2018 | 5

Rubriken6Cheers!Das Internet ist die Droge der Jugend.Florian Siebeck

8AusderWarenweltEin Bier namens Eroberung.Wolfgang Ullrich

10VorGerichtVerschwundenes Schwarzgeld.Andreas Heller

11DasExperimentDer Traumtänzer. RetoU.Schneider

12Lieben lernenBei den Pferden. Christina Viragh

14Werwohntda?Von nichts zu viel. Gudrun Sachse

18Leserbriefe

19 Impressum

66Folio FoliesGerhard Glück

VerwandtesHeft ausdemArchivDas Heft «Sparen» (3/2017) kann für13.80 Franken (inkl. Versand) nach­bestellt werden. Für Abonnenten ist dasOnlinearchiv gratis: nzzfolio.ch.

NZZ-Folio indrei SprachengratisDank der Unterstützung der Bank Clererscheint die Ausgabe «Der gerechteLohn» zusätzlich in Französisch undItalienisch. Und alle drei Sprachversio­nen können imNZZ Shop gratis als PDFheruntergeladen werden.

Nr.30

8März20

17

Sparen

SparenWarumes nichtsmehrbringt.

DANIELWINKLE

R

Wohnt hierein geselligesArchitektenpaar?Oder sind eszwei Leser?

14

Mitarbeiter SicherheitsdienstLohn: 5000bis 7500Franken(Quelle: Delta Security)

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6 | Folio 4 | 2018

Das Internet ist dieDrogederJugend

Cheers!

Sie führen eine von nur zwei Bars inSão Tomé. Wie kam es dazu?

Ein Franzose hatte die Bar 2010eröffnet. Nach drei Jahren zog erweg, weil er müde von der Inselwar. Als ich die Bar übernahm, warsie leergefegt. Ich musste sechsMonate warten, bis ich an Rumkam, auch Gin undWhisky gab esauf São Tomé nicht. Aber die Barwar beliebt bei Expats, also gab ichihnen Einkaufslisten mit, wenn siein ihre Heimat reisten.

Mittlerweile ist die Bar gut gefüllt.Was trinken die Leute am liebsten?

Gravaninha, einen Longdrink,den ich entwickelt habe: Maracujá,Rum, Zuckersirup, Limette, Eis.

In São Tomé können sich die wenigs-ten einen Barbesuch leisten.

Früher war das eine «Bar fürWeisse», das gefiel mir nicht. Umjunge Leute anzuziehen, habe ichkostenloses Internet eingeführt.Alle sagten: Mach das nicht! Aberdas Internet ist die Droge derJugend. Sie kommen nach derSchule, surfen und trinkenMilch.Ohne die Jungen hätte ich denLaden längst dichtmachen können.

Wo gehen denn die Leute hin, dieGeld haben, die Politiker etwa?

Politiker sieht man hier nicht.Nirgendwo im öffentlichen Leben.Die leben im Privaten und gebenihr Geld im Ausland aus.

Langsam kommen mehr Touristenins Land. Merken Sie das?

Nein. Früher gab es drei FlügeproWoche, da sassen fünf bis zehnTouristen drin. Heute sind esdoppelt so viele. Die Superreichenfliegen zur Nachbarinsel Príncipe,wo ein Südafrikaner Luxusresortsgebaut hat. Die anderen verschwin­den imDschungel. Die, die für Barsso wichtig sind, Deutsche undEngländer, siehst du sowieso nicht.

Vielleicht, weil kaum jemand dieseehemalige Kolonie Portugals kennt.

Zwei Drittel der Portugiesenkönnen São Tomé nicht mal auf derKarte zeigen. Und das internatio­nale Publikum hat abgenommen.Als ich 2010 ankam, war dieMischung perfekt: Es gab grosseCommunities von Franzosen,Spaniern, Italienern, alle Mittezwanzig, alle hier, um dieWelt zuretten. Heute schicken die Organi­sationen keineWeltenretter mehr,weil kein Geld mehr da ist.

Was hat Sie hierher verschlagen?Meine Familie stammt aus

Guinea­Bissau, ich bin aber inPortugal aufgewachsen. Meine por­tugiesische Freundin machte denDoktor inMeeresbiologie. Siefragte: São Tomé oderMadagas­kar? Ich sagteMadagaskar, aber siehat mich übergangen. Zu Recht:Ich wusste nicht, wie schön es hierist. Wir bekamen zwei Kinder.Nachdemwir uns getrennt hatten,habe ich in Portugal als DJ gejobbtund in England als Tellerwäscher.2010 kam ich dann zurück, um beimeinen Söhnen zu sein.

Leben Ihre Kinder noch hier?Nein, meine Jungs sind 13 und

10 Jahre alt, sie leben in Portugal.São Tomé ist zu klein für Teenager.

Besucher halten es für das Paradies.São Tomé ist nicht Afrika, es ist

eine Illusion Afrikas. Es gibt keineTropenkrankheiten und kaumKriminalität, dafür einen Regen­wald und überall freundlicheMen­schen. DasMotto hier ist «Leve,leve» – immer mit der Ruhe. Aberdiese Unverbindlichkeit hat Schat­tenseiten. Die Leute kommen undsagen: «Wow! So sollte das Lebensein!» Für eineWoche vielleicht,aber nicht länger.

Interview Florian Siebeck.

GudiDer38jährige ist InhaberderBarPicoMocambo inSaoTomé, demzweit­kleinstenLandAfrikas. 2010kamermit300Euround40Pfund inderTascheausEuropaauf der Insel an, bekamamzweitenTageinenJobalsKellner underöffnetespäter einGeschäft fürKunsthandwerk.2013übernahmer «Pierre’sBar», die bisdahinTreffpunktder französischenCommunity gewesenwar.

PicoMocamboDieRum­Bar in einemaltenKolonialhaus inderAveAmilcarCabral gibt es seit 2010–sie ist die älteste inSaoTomé,woesohnehin nur nocheine andere gibt. Sie istab9Uhrmorgensoffenund schliesst,wenndie letztenGäste gehen.Mocamboheisst «Rückzugsort» – einigeGäste imInternet schreiben, es sei die «besteBar inAfrika». Es gibt selbstdestillierteRum­variationenmitKnoblauch,Gurke,Kokos­nuss,KaramboleoderKakao.DerHaus­drinkGravaninha kostet90000Dobra(4.20Fr.), einBier30000Dobra (1.40Fr.),einWasser20000Dobra (93Rappen).

SãoToméundPríncipeEinwohner: 199910BIPproKopf: 1743FrankenDurchschnittsalter: 18,2JahreAlkoholkonsumproKopf undJahr (reinerAlkohol): 7,1 LiterAbstinenzlerquote: 61,9Prozent

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Warum verdienen Männer undFrauen nicht einfach gleich viel?

Für welche Werte stehen Sie ein? Wirbieten Lohngleichheit, familienfreundlicheArbeitsmodelle sowie faire Chancenfür alle. Zeit für eine neue Bank: cler.ch

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8 | Folio 4 | 2018

Eine deutsche Traditionsbrauerei vertreibt Bieremit martialischenNamen– aber nur imAusland.EineMarketingsünde? Wolfgang Ullrich

EinBiernamensEroberung

lichen aber auch, die wenigstenChinesen verstünden die Bedeu­tung derWorte, wichtiger als dieSemantik sei der Klang.

Vermutlich passiert Vergleich­bares ziemlich häufig, so dassumgekehrt genauso Produkte ausAsien oder der arabischenWelt,die für denWesten hergestelltwerden, mit überholtenMotivenundmerkwürdigen Namen ver­sehen sind. DemMarketing istnicht zu trauen. Aber ist es nichtzugleich eine reizvolle Vorstellung,dass Exportprodukte eine musealeDimension besitzen? Dass in ihnenSujets undWorte konserviertwerden, die sonst kaum noch einenOrt haben?

Wie im Fall vonMuseumsexpo­naten gilt auch hier, dass die altenBedeutungen nicht mehr richtig inKraft sind und zudem zu isoliertstehen, um nochmals die ursprüng­liche Geltung erlangen zu können:Sowenig durch historischeMuseenreaktionäre Bewegungen genährtwerden, sowenig erlebenWortewie Eroberung oder Tollheit durchdie Verbreitung im Ausland einRevival.

Daher braucht uns auch nicht zubeunruhigen, dass noch ein zweitesBier mit demNamen Eroberungexistiert. In Brasilien gebraut undvertrieben, ist es kein deutschesExportprodukt, spielt jedochkonsequent mit Deutschland­Asso­ziationen. DasMarketing mitNationalitätenklischees findet insolchen Fällen noch unbefangenerstatt. Fernab der Länder, auf dieBezug genommen wird, habenVorurteile undWunschvorstellun­gen freien Lauf, sind aber erst rechtfolgenlos. Sie sind nicht nurmuseal, sondern auch noch Fakes.

fiehlt es sich für dasMarketing,jene Assoziationen zu bestätigen,die Kunden ohnehin haben. Soverraten die Biere etwas über dasDeutschlandbild der Chinesen –oder zumindest darüber, wie diesesBild von einer deutschen Brauereieingeschätzt wird.

DasMarketing erhält hierKlischees aufrecht, statt sich in derVerantwortung zu sehen, für einmoderneres Image des Landes zusorgen, in dessen NamenmanProdukte vertreibt. («Germanbeer» steht eigens auf der Dose.)Vielleicht glauben die Verantwort­

AusderWarenwelt

Ruhm, Tollheit, Eroberung – dassindWorte, die am ehesten inetwas angejahrten Romanen ihrenAuftritt haben. Trotzdem gibt esheute noch Verwendung für sie,und zwar in einem Bereich, in demman sie am wenigsten vermutenwürde: als Markennamen.

Wie viel Ironie muss dafür wohlbemüht werden? Um genau zusein: gar keine! Vielmehr machendieseWorte ihre zweite Karriereals Exportartikel. So findet man inChina ein Starkbier, das Tollheitheisst, oder Dosen mit Schwarz­bier, auf denen Eroberung steht. Essind – ausschliesslich im Auslandvertriebene – Produkte des Fran­kenthaler Brauhauses, das zurPrivatbrauerei Eichbaum gehört,einemUnternehmen, dessenGeschichte bis in das 17. Jahrhun­dert zurückreicht.

Auf der Dose umgeben denProduktnamen Bildsymbole, dieihrerseits zu einer nicht mehr ganzaktuellenWelt und einem längstvergangenen Deutschland gehören:ein Zylinder bei Tollheit, ein Trach­tenhut bei Eroberung, dazu jeweilseine Feder sowie ein üppiger,gezwirbelter Schnurrbart. Zwarbeschwören auch für den heimi­schenMarkt produzierte Biere oftalte Traditionen und werben miturig­ländlicher Atmosphäre, dochgriffe man dabei kaum aufWortewie Eroberung oder Ruhm zurück.Worte, die eine ambivalente Ge­schichte haben, geprägt nichtzuletzt von martialischen, fanati­sierten Verwendungen.

Doch warum tritt man damit imAusland auf?Müsste hier nichtbesonders sensibel sein, wer dasImage des Herkunftslandes nichtbelasten will? Andererseits emp­ TO

BYNEILAN

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10 | Folio 4 | 2018

Um sein unversteuertes Geld zu verstecken,vertrauteHerrW. denDiensten eines windigenBeraters. Eine schlechte Idee. Andreas Heller

VerschwundenesSchwarzgeld

gebracht und dem Besitzer ausge­händigt. Nach seiner Rechnungschulde er HerrnW. noch 25000Euro; Geld, das er nicht wie abge­macht in eine amerikanische Firmainvestiert habe. Für HerrnW.entbehren diese Ausführungenjeglicher Grundlage. «Ich will meinGeld zurück», poltert er, «140000Euro plus 5 Prozent Zinsen!»Nebenbei erwähnt er, dass er trotzder Vertuschungsaktion ins Visierder Steuerfahnder geraten undbestraft worden sei.

In denWorten der Staatsanwäl­tin befand sich HerrW. «in einerZwangslage», was vomAngeklag­ten schamlos ausgenutzt wordensei. Von Anfang an sei es Herrn K.nur darum gegangen, sich diesesGeld anzueignen, um damit seineSchulden zu bezahlen. Durch dieUBS sei einwandfrei belegt wor­den, dass er mehrmals zumSchliessfach gegangen sei und kurzdarauf Einzahlungen auf seinFirmenkonto getätigt habe.WegenVeruntreuung fordert die Staats­anwältin eine bedingte Freiheits­strafe von 18Monaten.

Der Verteidiger hält dagegen.Der Fall sei wohl etwas speziell:«Vieles bleibt imDunkeln, weilman grossenWert auf Diskretionlegte.» Dennoch sieht er bei seinemMandanten «Kennzeichen einerwahrheitsgetreuen Aussage».Mangels Beweisen fordert er einenFreispruch.

Die Einzelrichterin entdecktdiese «Kennzeichen» offensichtlichnicht. Sie verurteilt Herrn K. zueiner bedingten Freiheitsstrafe von10Monaten. Dieser nimmt dasUrteil erleichtert zur Kenntnis. Inder Bar um die Ecke sieht man ihnspäter gut gelaunt mit einem Cüpli.

terin. Seine verschiedenen Firmenseien leider alle pleite. Der heutigePensionär bedauert, dass er inseiner Laufbahn mehrmals Leuteum ihr Geld gebracht habe. In derSache mit HerrnW. habe er sichjedoch nichts vorzuwerfen, sagtHerr K.

Einig sind sich die beiden inBezug auf den ersten Teil derOperation: Gemeinsam saldiertensie das Konto von HerrnW. bei derBank Bär. Darauf brachten sie dasGeld in drei Umschlägen zur UBS,wo Herr K. auf den Namen einerseiner Briefkastenfirmen einSchliessfach gemietet hatte. Sielegten die Umschläge in den Tre­sor, 10000 Euro steckte HerrW.ein. Herr K. behielt den Schlüsselfür das Schliessfach und versprach,bei späteren Besuchen das Geld inTranchen von 10 000 Euro (demdamaligen Freibetrag beimGrenz­übertritt) zu überbringen.

Unbestritten ist auch die Tat­sache, dass das Schliessfach nacheinem Jahr leer war. Herr K. be­hauptet, er habe das Geld wievereinbart nach Deutschland

VorGericht

Der vor dem Basler Strafgerichtverhandelte Fall ruft jene Zeit inErinnerung, als Geschichten überdubiose Geschäfte mit sogenann­ten Steuer­CD Schlagzeilen mach­ten. Im Rückblick beschleunigteder Datenklau das Ende des Bank­geheimnisses.Wie die Sache fürdie direkt Betroffenen ausging,darüber ist weniger bekannt.

Einer von ihnen ist HerrW.,wohnhaft im Taunus bei Frankfurt.Im Frühling 2012, so berichtet erder Richterin, hörte er davon, dassein Mitarbeiter der PrivatbankJulius Bär in Basel Kundendatenentwendet und der Steuerbehördedes Bundeslandes Nordrhein­Westfalen verkauft habe.

HerrnW. wurde «etwas mul­mig», wie er sagt, denn auch erhatte bei der Bank Bär ein Kontomit unversteuertem Geld, gut150000 Euro. Diese wollte er soschnell wie möglich «in Sicher­heit» bringen.

Am liebsten hätte HerrW. dasGeld persönlich über die Grenzegebracht, doch er fürchtete, dabeierwischt zu werden. Da empfahlihm eine Freundin die Diensteihres Chefs, Herrn K.s, Steuerbera­ter und Anlagespezialist mitWohn­ und Geschäftssitz in derSchweiz. Ein schlechter Rat: AmEnde war das Geld verschwunden.In den Taschen des Beraters, davonist HerrW. felsenfest überzeugt.

Herr K. ist angeklagt wegeneinfacher sowie qualifizierterVeruntreuung. Der Beschuldigteist ein älterer Herr, er trägt einenNadelstreifenanzug, das Haarrötlichbraun gefärbt. Er lebe heutebescheiden, von einer kleinenRente und von den Einkünften derEhefrau, erzählt er der Einzelrich­ U

WESTETTLE

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Folio 4 | 2018 | 11

Mit einem romantischen Tanzexperimentversuchte ein französischer Adliger vor 150 Jahren,seine Träume zu beeinflussen.RetoU.Schneider

DerTraumtänzer

Bei einem anderen Experimentkonnte er dieseMöglichkeit aus­schliessen.Während einer Reisenach Südfrankreich träufelte erimmer wieder Parfum auf einTaschentuch und roch daran. Nachder Rückkehr beauftragte er seinenDiener, in zufällig ausgewähltenNächten einige Tropfen davon aufsein Kissen zu geben, während erschlief. Und wirklich: Der Geruchbeschwor in den Träumen dieKastanienbäume und Felsland­schaften seiner Reise herauf.

Hervey de Saint­Denys’Metho­den waren bemerkenswert modern.Mit ähnlichen Vorgehen versuchenTraumforscher heute noch heraus­zufinden, wie weit derMensch inKontakt mit der Aussenwelt bleibt,wenn er schläft. Die Resultate sinddurchzogen. Manchmal gelingt es,Einfluss zu nehmen, dann wiedernicht. Das hält selbsternannteTraumspezialisten allerdings nichtdavon ab, im Internet Geruchs­traumkissen und Apps anzubieten,die versprechen, mit bestimmtenDüften und Geräuschen Träume zukontrollieren.

Lange Zeit hatten dieMenschengeglaubt, Träume erlaubten dendirekten Kontakt mit Göttern oderToten. Doch der Baron vermutete,dass das Gehirn sie aus verschiede­nen Erinnerungen zusammen­schustere. Um diese Idee zu prü­fen, unternahm er sein Experiment.

Nachdem die Ballsaison zu Endegegangen war, kaufte er in derGalerie Colbert, der edlen Laden­passage in Paris, eineMusikdose,die beideWalzer spielen konnte.Vor dem Schlafengehen stellte erdie Dose so ein, dass sie eine derMelodien in den frühenMorgen­stunden spielte. Tatsächlichträumte er je nachWalzer von dereinen oder anderen Frau, nichtallerdings vom Ball. Offenbar wardieMelodie an die Person gekop­pelt, nicht an die Situation, in derer sie getroffen hatte.

Doch das Experiment hatteeinen Schönheitsfehler:WeilHervey de Saint­Denys die jewei­ligeMelodie am Vorabend selberauswählte, könnte er allein deshalbvon der betreffenden Frau ge­träumt haben.

DasExperiment

Die beiden Frauen, mit denenBaron Léon d’Hervey de Saint­Denys bei seinen Ballbesuchen ofttanzte, ahnten nicht, dass sie Teilseines seltsamsten Experimentswaren. Falls sie die merkwürdigeAbfolge derMusik überhauptbemerkten, hielten sie sie wohl fürzufällig: Jede Frau hatte ihre eigeneMelodie.Wenn der Baron mit dereinen Frau tanzte, spielte dasOrchester immer den gleichenWalzer, bei der anderen Frau einenanderen. Es schien, als hätte Her­vey de Saint­Denys eine geheimeAbmachung mit demDirigentengetroffen. Und genau so war esauch. Der Baron hatte sich mit demOrchesterchef angefreundet undihn gebeten, je nach Tanzpartnerinein bestimmtesMusikstück zuspielen. Und das während einerganzen Pariser BallsaisonMitte des19. Jahrhunderts.

Baron Léon d’Hervey de Saint­Denys war der Spross einer franzö­sischen Adelsfamilie, der sichleidenschaftlich für die Bedeutungund die Herkunft von Träumeninteressierte. Seit er vierzehn Jahrealt war, schrieb er auf, was er imSchlaf erlebte. Er war derart beses­sen von diesem Vorhaben, dass ernach zweihundert nächtlichenBeobachtungen davon träumte,wie er seine Träume aufzeichnete.Kurze Zeit später hatte er diesenTraum zum zweitenMal, doch jetztwusste er, dass er träumte.

VierzehnMonate darauf be­herrschte er den seltenen Trick, dieHandlungen seiner nächtlichenVisionen beeinflussen zu können.Mit demKopf auf demKissenstürzte er sich nun von Kirch­türmen und kämpfte mit gezoge­nem Schwert gegen Verbrecher.

EineTraumszenedirekt ausLéond’Hervey deSaint-Denys’ Kopf.

GETTYIM

AGES

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12 | Folio 4 | 2018

CORINNASTA

FFE

Den einen wollte ich nicht, der andere warmeine Lieblingsphantasie. Bis zu jenem erstenTanz. Christina Viragh

Bei denPferdenLieben lernen

Lag es an der Zeit, ein Jahr nachAchtundsechzig, nichts Vorgespur­tes akzeptieren, oder an meineman sich schon auf Abwehr program­mierten Gemüt oder an beidemzusammen, dass ich zu bocken, ja,zu bocken, das ist das besteWort,auch in Anbetracht der Tatsache,dass die Party in einem Pferdestallstattfand, also dass ich zu bockenbegann, als mir der jungeMannbeim Tanzen zu nahe kam?

JungerMann, na ja, er warsiebzehn, ich sechzehn, es warnicht gerade unsere erste Party,aber auch nicht weit davon ent­fernt. Und auch Tanzen, na ja.Wirhüpften herum, wie unsere Gross­eltern herumgehüpft wären, vor­sichtig, steif, krampfhaft auf denRhythmus achtend, obwohl dieRolling Stones aus urtümlichenVerstärkern dröhnten und diePferde in den Boxen scheu mach­ten. Kein Vergleich mit dem locke­reren, rhythmisch sichereren Tanz,den meine Freunde und ich heutezu denselben Stones hinlegen. Aberdas nur nebenbei und zum Trostdafür gesagt, dass wir alle schönüber sechzig sind.

Also, er kammir zu nahe, nichtim physischen, sondern im emotio­nalen Sinn, in dem einer Aufforde­rung, eines Antrags, eines An­schlags auf meine sorgsam gehütetePrivatsphäre. So sorgsam gehütet,dass ich nicht einmal wusste, dassich eine hatte und sie hütete.Wiehätte ich jemanden an einemOrtzulassen können, den ich selbstnicht kannte? Nein, bleib mir vomLeib, du Idiot, sagte ich, es waren jadie Zeiten, in denen man sichgegenseitig Dinge an den Kopfwerfen durfte, ja sollte. Vielleichtsagte ich auch, du Affe, ich weiss es

nicht mehr, jedenfalls war es grobund besagte, dass ich mir keineLiebe leisten konnte, da ich mirmich selbst nicht leisten konnte,den Kontakt mit meinem eigenenInneren nicht.

Vielleicht hätte es mir gutgetan,wennmich der jungeMann hättesitzenlassen, wenn er mit einerweitergehüpft wäre, die wenigerwiderborstig war, wie wohl diemeistenMädchen an der Party. Ichwäre vielleicht aufgewacht undhätte nicht noch jahrelang bean­sprucht, trotz meinerWiderbors­tigkeit geliebt zu werden, denngeliebt werden wollte ich schon,klar, aber man sollte mich auch inRuhe lassen. Eine kleine Ohrfeigemit sechzehn, und ich wäre viel­leicht auf diesen fatalenWider­spruch aufmerksam geworden, andem ich mich erst viel später abzu­arbeiten begann.

Aber der jungeMann wolltemich und hatte schon herausbe­kommen, wie er es anfangenmusste. Mit Faxen, mit clownes­kemHerumgehüpfe, mit dem erzwar die Pferde und besonders dieihren Vater, den Pferdebesitzer,fürchtende Gastgeberin noch mehrerschreckte, mich aber einnahm.Nicht für ihn, aber fürs Spiel. Daswar ja sicheres Terrain. Jetzt warder Schlötterlig, auch das will ichso sagen, der Pferdestall stand inder Innerschweiz, der Schlötterlig,den ich ihm anhängte, nicht mehrernst gemeint, was er gleich spürte.

Er schwenkte vor einem entgeis­terten Pferd ein Halstuch wie eineMuleta, ich sagte, ich hasse denStierkampf, und ich hasse dich. EinLiebesgeständnis, genau besehen,was mir nicht bewusst war, ihnaber zu so wilden Allotria an­spornte, dass die besonneneren

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steifer, als es unsere Grosselterngetan hätten, und sagte keinWort.Nein, es war nicht attraktiv, es wareinfach abweisend, aber doch nichtso, dass über meinem Kopf das roteHerz gleich platzte, so rasch wie inden Comics geht das nicht. DerAndreas war mein Schwarm, seitich dreizehn war, und mit sechzehnhatte ich noch längst nicht denDurchblick, um sein Verhalten aufihn selbst zurückzuführen, seineBeziehungsscheu, seine Passivität,seine Selbstüberforderung.

Nein, ich dachte, ich sei nichtauf seiner Höhe, nicht in seinerTiefe, ach, Andreas, was soll ichtun, damit du gern mit mir tanzt.Ich wüsste es noch heute nicht,wahrscheinlich gibt es in einemsolchen Fall nichts zu machen,jedenfalls nicht das, was die drauf­gängerischenMädchen getanhätten, jene, mit denen der inzwi­schen verschwundene jungeMannhätte weiterhüpfen können.

Die hätten Andreas wahrschein­lich an sich gezogen, womöglichgeküsst, womöglich abgeschlepptin eine dunkle Ecke des Stalls. Aberes hätte nichts gebracht, hätte ihnnur so kopfscheu gemacht, wie esdie Pferde, überhaupt partyuntaug­liche Tiere, an diesem Punkt schonwaren.

Seltsam aber, dass Andreas nochjahrelang in einemWinkel meinesHerzens eine Sehnsucht blieb, unddas, obwohl er nach weiteren zehnsteifen Tanzschritten gesagt hatte,ihm werde allmählich schlecht, undsich von mir hatte hinausführenlassen, vor den Stall, wo in ein paarMetern Entfernung der jungeMann stand, einfach stand, undzu uns herüberblickte. Er, derjungeMann, und ich haben unsdann in den vielen darauffolgendenJahren diese Szene immer wiederaufgesagt.

Die Schriftstellerin und ÜbersetzerinChristina Viragh ist 1953 in Budapestgeboren und in Luzern aufgewachsen;sie lebt in Rom. 2018 ist ihr neusterRoman, «Eine dieser Nächte»,im Dörlemann-Verlag erschienen.

Elemente an der Party, es gibt jaimmer solche, und merkwürdiger­weise sind es nicht selten die, dieschon etwas gekippt haben, auchda, anno neunundsechzig, waren esdie, also dass Hans und Päuli nichtmehr ganz deutlich artikulierendwiederholten, er mache ja diearmen Pferde, die armen Pferdeganz verrückt, ja ganz verrückt. Esdrohte zur Rille zu werden, in derdie Nadel nicht weiterkam, bisdann weitere besonnene und derkoordinierten Bewegung nochfähige Elemente den jungenMannaus dem Stall hinausspedierten.

Da stand ich nun, denn ihmnachgehen, nein, das tat ich nicht,lieber griff ich nach einer Lieblings­phantasie, ummir über die vonseinem Abgang doch hinterlasseneleichte Leere hinwegzuhelfen. DieLieblingsphantasie hiess Andreasund sass stumm und verächtlich ineinemWinkel. Andreas denkt,sagten die anderen, was denkst du,Andreas, sagte Hans und fiel ihmum denHals, die anderen zogenHans weg, du darfst ihn nicht, ihnnicht beimDenken stören.

Ah, geheimnisvoller Andreasund dein müdes Lächeln, mit demdu die Szene quittierst, dir könnteich nicht widerstehen, wenn esetwas zu widerstehen gäbe, aber dudenkst nicht im Traum daran, dichmir zu nähern. Bis dann dochauffiel, dass ich allein auf der Tanz­fläche, das heisst auf der Stallgassestand, und der Chor der Angesäu­selten befand, dass Andreas mitmir tanzen sollte.

Ah, Andreas, wie wäre dieunwillige Art, mit der du aufstehstund auf mich zukommst, nichtattraktiv. Oder war sie doch nichtattraktiv? Ich war mir nicht mehrsicher, tanzte ja zum erstenMalmit meiner Lieblingsphantasie,und die hatte bis da so ausgesehen,dass Andreas mir, nur mir, dieGründe und Abgründe seinesWeltschmerzes und seinerWelt­verachtung zeigte, freiwillig undgern. So sah er aber nicht aus. Seinschönes, ungewöhnliches Gesichtblieb verzogen, er tanzte noch

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14 | Folio 4 | 2018

DiePsychologin: «Hierwird gelesen.»

Der Innenarchitekt: «AkribischdurchgeplanteRäume.»

Aufrechte Leser? Ein geselliges Architektenpaar?Wen eine Psychologin und ein Innenarchitektanhand der Bilder in diesen Räumen vermuten.

Vonnichts zuvielWerwohntda?

DiePsychologinFast ein wenig spartanisch wohntman hier, die wenigenMöbel sindliebevoll ausgewählt und placiert.Und doch will es, trotz wärmen­dem Feuer im Schwedenofen, nichtrichtig gemütlich werden. Unterdem «Sofa» – einer sparsam ge­polsterten Holzbank mit Täfelungim Rücken – lauern noch ein paarReservekissen, die sich die Bewoh­ner bei Bedarf unterschieben. Aberman sitzt hier lieber aufrecht, einKuschelsofa ist das nicht.

Hier wohnen vermutlich zwei,die gern eng zusammenrücken, dieharmonieren, so wie die ganzeEinrichtung stimmig und auseinemGuss ist. In der Schlafkojemuss sich einer an dieWandschmiegen – falls denn wirklichzwei hier nächtigen.

Alles ist sehr ordentlich, struk­turiert und bewusst gestaltet, derZufall hat hier nichts zu suchen.Der Bewohner oder das Bewohner­paar führen ihr Leben vermutlichaktiv und überlegt, sie haben vonnichts zu viel, aber genau das, wassie brauchen. Die Küche scheintgut ausgerüstet zu sein, man er­

nährt sich hier nicht nur von «Sar­dines – Thon» aus der Büchse.Gekocht wird gerne und richtig,man kauft lieber auf demMarkt einals im Supermarkt und freut sich,Gäste am schönen Tisch zu ver­sammeln.

Vielleicht bummeln die Bewoh­ner hin und wieder über Floh­märkte, das Inventar, besondersdie Lampen, findet man nicht imMöbelhaus.

Und hier wird gelesen: Überdem Bett stapeln sich richtigeBücher – hier wohnt eine nichtmehr ganz so junge Generation vonLesern. Lagert auch im volumi­nösen Aktenschrank neben demSofa Lektüre, oder ist er ein prakti­scher Allesschlucker? So verschlos­sen, wie er dasteht, offenbaren dieBewohner auch nichts über ihreArbeit.

Vielleicht sind sie mit Menschentätig, haben ein eigenes Geschäftoder sind imGetümmel in derWeltdraussen engagiert? Daheim wollen

sie einfach ihre Ruhe. Die beidenBewohner sindMenschen mit SinnfürsWesentliche. In der Beschrän­kung liegt der Genuss. Ingrid Feigl

Der InnenarchitektWeisse Fenster mit aufgefrischtenOriginalbeschlägen rahmen denBlick auf die Aussenwelt. Gegeninnen sind sie zu zwei Dritteln aufeiner weissen, sorgfältig aufge­brachten Gipswandmontiert undzu einemDrittel in einer ebensosorgfältig ausgeführten Knietäfe­lung.

Die grau gestrichene Holzver­kleidung, die an ihrer Oberkantemit einem umlaufenden Simsabgeschlossen wird, bildet eine ArtZaun. Dieser Abschluss ist wie eineWasserstandsanzeige: Die Bilderhängen oberhalb davon, und auchdas Tablar im Schlafzimmer nimmtBezug auf diese alles bestimmendeLinie. Sie fasst den Raum, genauso

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Folio 4 | 2018 | 15

Klein und sehr fein:WohnesszimmermitBlick in die offeneKüche.

wie sie dies schon vor mehr alshundert Jahren getan hätte. Viel­leicht ist sie alt. Vielleicht aber istsie neu, demOriginal passgenaunachempfunden.

Was immer schon da war undwas neu hinzugekommen ist, lässtsich kaummehr eruieren. DieseRäume sind akribisch durch­geplant. Dem Zufall wurde hiernichts überlassen.

Vermutlich wohnen die Planerinund der Planer selbst in diesenakkurat möblierten Zimmern. Es

sind geselligeMenschen, die Be­such empfangen, auch wenn derPlatz begrenzt ist. Wohnt hierwomöglich ein Architektenpaar?

Wie auch immer: die Bewohnerhaben sich mit dieserWohnungeinen Traum erfüllt. Ganz jung sindsie nicht mehr. Für Harmonie undKomposition interessieren sie sichschon etliche Jahre.

So musste auch jedes Objektund Baudetail eine Eintritts­prüfung in die Räume bestehen.Sich einfach so reinschmuggeln

konnte sich keines der Dinge.Objekte ohne Patina haben bei denBewohnern schlechte Chancen. Einbisschen Lebenserfahrung musssein.

Das Neue, das Kontroverse –das findet ausserhalb dieserWoh­nung statt. Jörg Boner

Auflösung auf der nächsten Seite.

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16 | Folio 4 | 2018

AndréSchweiger,Goldschmied,SusanneFlühler,Bewegungspädagogin

«Als Kind hatte man eine Vorstel­lung vom Alter. Damals erschienenuns Leute mit fünfzig uralt, dabeifühlten die sich vermutlich jungwie eh und je. Uns zumindest gehtdas so. Der Grund, warum Susanneund ich mit dieserWohnung nocheinmal von vorn begonnen haben,war bei uns nicht eine Krise in derLebensmitte.

Ein Neuanfang aber ist es.Wirwaren beide zwei Mal mit anderenPartnern zusammen und habenKinder aus unseren früheren Bezie­hungen. Ich habe vier Kinder, Susidrei. Susis Jüngster ist 18 Jahre alt,mein Jüngster 14. Alle siebenKinder würden knapp in unsere55 Quadratmeter passen. Auspro­biert haben wir das aber nie, diemeisten wohnen allein.

Um dieWohnung haben wir unsüber ein Jahr lang bemüht. Es warunserWunsch, ganz zukunfts­orientiert auf kleinem Raum zuwohnen. DieWohnung liegt ineinemwunderschönen Haus ausdem Jahr 1898 in der Zuger Alt­stadt. ZurWohnung gehört nocheineWerkstatt und ein Zugang zueinem Turm der Stadtmauer. Vorder Haustür haben wir ein hüb­sches Gärtchen, das im Sommernoch bepflanzt werden muss.

Das Haus gehört der ZugerBürgergemeinde.Wir könnten unsin Zug nichts kaufen – und wolltendas auch gar nicht.Wir wohnen zurMiete. Den Umbau haben wirzuvor in vielen Sitzungen mit derBürgergemeinde besprochen.Wirhaben unsere Pläne und Vorstel­lungen vorgetragen und bekamengenaue Auflagen. Mit dem Ergeb­nis war der Bürgerrat zufrieden.

Es war ein riesiger Aufwand.Ursprünglich war dieWohnungeineWerkstatt. 1911 wurde sie zueinerWohnung umgebaut. DieRäume waren sehr klein und dun­

kel – wir habenWände rausgenom­men.Was brauchbar war, habenwir beibehalten. Die Täfelung andenWänden, der Bodenbelag unddie Einbauschränke sind original.Den Beton für die Küchen­abdeckung haben wir imWohn­zimmer selbst gegossen. Susi undich funktionieren gut zusammen,wir wussten, dass wir das ohne vielÄrger zu Ende bringen.Wennmannicht daran glaubt, sollte man dieHände von so einemUmbau lassen.

Wir stehen um halb sechs Uhrauf, heizen den Ofen mit Holz einundmachen eine Stunde Qigong.Jeder für sich, im Pyjama.Wirziehen den Vorhang zu, damit unskeiner zuschaut. Anschliessendfrühstücken wir gebratene Äpfelmit Eiern und Speck.

Wir kennen uns schon länger.Unsere ältesten Kinder haben oftzusammen gespielt. Richtig zusam­men sind wir seit drei Jahren.Patchwork klappt mal sehr gut, malweniger. Es verlangt jedem einzel­nen viel ab.

In die Quere gekommen sindSusi und ich uns bisher nicht.Wirwerden es auch nicht, da bin ichzuversichtlich. Damit wir aber auch

Mal Luft haben, haben wir sicher­heitshalber ein zweites Schlaf­zimmer eingebaut –meist über­nachtet da mein jüngster Sohn.

Abends haben wir gern Gäste.Beim Kochen bin ich der ruhigeund exakte, Susi ist schnell undeffizient, zack ist alles fertig.

Wenn wir abends weggehen,dann ins Kino, wir haben keinenFernseher. In die Ferien fahren wirim Sommer nach Portugal oderKorsika mit unseremHippie­VW­Bus. Mit viel gutemWillen würdenwir unsere sieben Kinder da hin­einkriegen, das machen wir abernicht – bei aller Liebe.Wir genies­sen es allein.

Da ich jahrelang abends denKindern im Bett vorgelesen habe,mache ich das auch heute nochgern. Und Susi hört zu. Zurzeit leseich ‹Eine kurze Geschichte derMenschheit› von Yuval Harari. Ichfinde sie spannend, Susi bekommtjedoch nicht immer alles mit. Sieschläft rasch ein. Oft liest sie amTag ein paar Seiten, damit wirabends wieder Gleichstand haben.»

Aufgezeichnet von Gudrun Sachse.Fotos Daniel Winkler.

AndréSchweiger, 49, SusanneFlühler, 48: «EineStundeQigong imPyjama.»

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10.April2018

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12.April2018

8.Mai2018

Literarisches TerzettDie besten Bücher der Saison:Redaktoren im inspirierendenStreitgesprächNZZ-Foyer, Zürich

NZZ GenussakademieFleisch undWein:Ein harmonisches PaarSmith and de Luma, Zürich

31.Mai2018

NZZ Podium SchweizMotivation: Lebensenergieund VerhaltenstechnikNZZ-Foyer, Zürich

23.April2018

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Leserbriefe

EnormeBedeutungWasser 3/2018Dass Sie demWasser ein Heftgewidmet haben, freut mich sehr.Die enorme Bedeutung desWas­sers fürMensch und Natur und dasbegrenzteWissen darüber stehenin einemMissverhältnis. MitdiesemHeft trägt das Folio dazubei, dem etwas entgegenzuwirken.Es gäbe noch weitere spannendeFacetten desWassers. Ich denke andie Entstehung desWassers, an dasVerhältnis von Süss­ und Salzwas­ser, an die Bedeutung desWassersfür die Gesundheit und in denReligionen, die Erscheinung desWassers als Schnee und Eis undnamentlich auch in Formwunder­barer Schneekristalle.Max Galliker, Horw LU

Breit ausgeleuchtetWasser 3/2018DieMärzausgabe hat mit demThemaWasser beeindruckend undjournalistisch hervorragend einThema breit und spannend ausge­leuchtet. Dabei sind alle Fakultätenberücksichtigt worden. Sicher­heitspolitische Spannungsfelder,Wasser als Konfliktauslöser zwi­schen Staaten, Energie, Entwick­lungspolitik, Geschichte, Kulturund Naturwissenschaften sind mitwunderbaren Beiträgen besetzt.Nur die Theologie und die christ­liche Bedeutung desWassers mitBlick auf die Taufe und den reini­genden Akt der Vergebung fehlten.Sehr gut hingegen die wie immerstarke Karikatur von GerhardGlück, der denMoses auf derWanderung ins Gelobte Landdreimal mit seinem Stock an denFelsen schlagen liess. Ein ausge­zeichneter Stich in unsere ver­wöhnte Konsumgesellschaft ist dieFrage vonMoses an sein Volk überdieWasserqualität: «Stilles, Me­dium oder Classic.» Die Karikaturreflektiert unseren Umgang mit

dem so wertvollen GutWasser ineinmaliger Art undWeise und setzteinen Impuls zumNachdenkenüber unseren Umgang mitWasser.RogerE.Schärer, Feldmeilen ZH

BevölkerungsreduktionWasser 3/2018«Was tun gegen die Trinkwasser­knappheit? Und was gegen dieVerschmutzung?» Ich verstehewirklich nicht, warum die wich­tigste Antwort auf Ihre Fragen vonIhnen nicht einmal ansatzweiseerwähnt wird: die schrittweiseReduktion der Überbevölkerung.(Dass dies gehen würde, hat Chinagezeigt.) Ziel wäre eine Reduktionvon 50 Prozent, also für dieSchweiz auf etwa 4MillionenMenschen, eine Zahl, die schon vorJahrzehnten vonWissenschafterngenannt wurde. Damit wären auchdie Probleme wie Hunger, Energie,Bodenschätze und so weiter weit­gehend gelöst.Franz Christeller, Kollbrunn ZH

ZuwenigQuellwasser«Tausend Jahre unterwegs»,Wasser 3/2018Der Beitrag zum ThemaWasser istsehr spannend und leicht verständ­lich zu lesen. Bravo! Eine Fragehabe ich trotzdem noch:Werden inder SchweizWasserspeicher ge­baut, damit unsere Enkelkinderdereinst auch genügend sauberesTrinkwasser haben? Denn irgend­wann fliesst kein Gletscherwassermehr in unsere Seen. Das Quell­wasser genügt leider nicht für alle.Hansjörg Zweifel, Winterthur

GoethesWasserkreislauf«Tausend Jahre unterwegs»,Wasser 3/2018Ein schöner und gelungener Arti­kel, «derWasserkreislauf für Er­wachsene». Es geht aber auchkürzer. Hier derWasserkreislauffür Poeten:

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Impressum

RedaktionDanielWeber (Leitung),RetoU.Schneider (Stv.),AndreasHeller,GudrunSachse,BarbaraKlingbacher,DorisMortellaro (Sekretariat)

GestaltungDanielaSalm (Produktion), Aurel Peyer (ArtDirection), LeaTruffer (Bildredaktion),EleniBolovinos,MarianneBirchler (Layout),UrsRemund (Korrektorat)

ExterneRubrikenautorenFlorianSiebeck, Journalist, Frankfurt a.M.WolfgangUllrich, Kulturwissenschafter, Leipzig

AdresseRedaktionundVerlagNZZ­Folio, Falkenstrasse 11Postfach,CH­8021ZürichTel. +4144258 11 [email protected]; folio.nzz.ch

ChefredaktorinMagazineNicoleAlthaus

CreativeDirectionSimonEsterson,HollyCatford

AnzeigenverkaufNZZMediaSolutionsAG,Seehofstr. 16, 8021Zürich,Telefon+4144258 1698, Fax+4144258 1370,[email protected]; nzzmediasolutions.chWestschweiz: YvesGumy,Tel. +41213178808VerbreiteteAuflage: 96104Ex. (Wemf2017)

LeserserviceTel. +4144258 1000,Fax+4144258 [email protected]; nzz.ch/leserservice

Jahresabonnements (inkl.MWSt)NZZ­Foliowirdder Inlandauflageder «NeuenZürcherZeitung»beigelegt.DenAuslandabon­nentenderNZZwirdes separat zugestellt.NZZ­Folio (inkl. digitaleAusgabe): 104Fr.(Schweiz), 86€ (DeutschlandundÖsterreich),112Fr. (übrigesAusland)Studenten: 50ProzentRabatt aufAbopreise.NZZ­Folio erscheint seit 1991.

Einzelheftbestellung (inkl.MWStundPorto)HefteFeb.–Nov.: 13.80Fr. (Schweiz)/13.80€ (Ausland)DoppelnummerDez./Jan. 19Fr./19€Bestellen: folio.nzz.ch/heftbestellung

LithoundDruckSt.GallerTagblattAG,SwissprintersAG

NZZ-MediengruppeJörgSchnyder (CEOad interim)

©VerlagNZZFolio, 2018 (ISSN 1420­5262).AlleRechte vorbehalten. JedeVerwendungderredaktionellenTexte (besonders ihreVer­vielfältigung,Verbreitung,SpeicherungundBearbeitung) bedarf der schriftlichenZustim­mungdurchdieRedaktion. Ferner ist dieseberechtigt, veröffentlichteBeiträge in eigenengedrucktenundelektronischenProdukten zuverwendenodereineNutzungDrittenzugestatten.

DasWasserVomHimmel kommt es,ZumHimmel steigt es,Und wieder niederZur Erde muss es,Ewig wechselnd.

Aus «Gesang der Geister über denWassern» von JohannWolfgangvon Goethe. Entstanden 1779.Inspiriert vom Staubbachfall inLauterbrunnen, Schweiz.Randolf Rausch, Korntal (D)

Anschaulich vermittelt«Weisse Kohle», Wasser 3/2018Was für spannende wie konkreteEinblicke in ein äusserst facetten­reiches Thema, das leider seltenderart anschaulich vermittelt wird!Vielen Dank für diesen Beitrag, dermir ausserordentlich gefallen hat.Konstantin Bachmann, Basel

FalscheDurchflussmenge«Weisse Kohle», Wasser 3/2018Leider hat sich im interessantenArtikel ein Fehler eingeschlichen.Mit einemDruck von 15 barund einer Durchflussmenge von18 Litern pro Sekunde kann nie­mals eine elektrische Leistung von92 Kilowatt erzeugt werden,sondern bestenfalls eine Leistungvon 27 Kilowatt.Arthur Ruh, Rüti ZH

(Die Durchflussmenge beträgt80 Liter, nicht 18 Liter. Wir bedau-ern den Fehler. Die Redaktion)

AusgezeichnetDie NZZ­Folio­RedaktorinBarbara Klingbacher wurde fürihren Artikel «Der letzte Gang»(Vegi, 4/2017) in Berlin mit demBernd­Tönnies­Preis für Tier­schutz in der Nutztierhaltungausgezeichnet. Die Jury lobte dieReportage dafür, dass sie dassteigende Bewusstsein für Lebens­mittelkonsum zum Themamacht.

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Folio 4 | 2018 | 23

DergerechteLohn

Zuviel, zuwenig?

Diskutiertman in der Schweiz überGehälter, dann oft über ihreGrenzen,die untere wie die obere. Soll jedermindestens 4000 Franken verdienen?Darf das Zehn­Millionen­Salär einesManagers weiter steigen? In diesemHeft widmenwir uns der Bandbreitedazwischen.Wir vergleichen, wie sichder Lohn über das Leben hinwegentwickelt, und untersuchen, welcheGehaltssystememotivieren.Weil dieFrage nach dem gerechten Lohn so altist wie der Lohn selbst, erklärt unseineHistorikerin, warum einAnwaltso vielmehrwert ist als eine Pflegerin.Und zwei Topmanagerinnen erzählen,wie es ihnen gelungen ist, den«Gender PayGap» zu überwinden.

MalerEinstiegslohn: 4150Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

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24 | Folio 4 | 2018

Die Phönizier haben dasGeld erfunden», stellte derösterreichische Dramati­

ker Johann NepomukNestroy festund fragte: «Aber warum so we­nig?» Das mochte sich auchRichard Fuld gefragt haben, als erseinen Job verlor, für den er einenStundenlohn von 17000 Dollarkassierte. Dies für seine historischeLeistung, die 158 Jahre alte Invest­mentbank Lehman Brothers, derenBoss er war, in den Bankrott gerit­ten zu haben.

Ich war in New York in denersten Tagen der Finanzkrise. DieWall Street war ein Hexenkessel,ein Durcheinander von fassungs­losen Börsianern und furiosenBürgern, als ich im Museum ofAmerican Finance Zufluchtsuchte. Mangels Publikum gabmir der Direktor, ein holländi­scher Ex­Banker, eine Führung.Auf die Frage, weshalb es in denKreisen von Fuld&Co. so wichtigsei, ob man einen Bonus von 101statt bloss 100 Millionen gekriegthabe, schaute er mich an, alsmüsste er erklären, dass nicht derStorch die Kinder bringe. «Esgeht darum, wer den grösstenhat», sagte er dann. «Sie wissen,was ich meine.»

BittersüssesGeheimnisDes Schweizers intimster Körperteilist sein Portemonnaie. Das ist nicht inallen Ländern so.Von Peter Haffner

Im Land der unbegrenztenMöglichkeiten, wo jeder seineseigenen Glückes Schmied ist,werden Grossverdiener nichtbeneidet und nur geschmäht, wennsich ihr Gehalt auf keineWeiserechtfertigen lässt. Ebenso blicktman nicht auf die Armen herab,wird doch ammeisten bewundert,wer es «from rags to riches»bringt: raus aus den Lumpen, reinin den Frack, so wie Charlie Chap­lin in «The Gold Rush». Die Mög­lichkeit zählt, nicht dieWirklich­keit; Amerika sei im Prinzip einTraum, sagte Martin Luther King,und das gilt auch in pekuniärenAngelegenheiten, die er damitnicht meinte.

Man darf zeigen, was man sichleisten kann, und da erst treten dieUnterschiede zutage. Larry Elli­son, der Gründer des Software­konzerns Oracle, einer der reichs­tenMilliardäre, hat sich seinEstate im kalifornischenWoodsidezweihundert Millionen Dollarkosten lassen; ein Bijou von einerjapanischen Gartenanlage und einKontrast zu den goldenen Armatu­ren von Typen wie dem amtieren­den Immobilienhai imWeissenHaus. Wie Bill Gates undWarrenBuffett spendet auch Larry Ellison

95 Prozent seines Vermögenswohltätigen Zwecken; einemTrump oder Fuld käme so etwasnie in den Sinn.

In der Schweiz gilt es als unfein,sich ein Anwesen von der Grösseeines Dorfes zu bauen oder sonst­wie coram publico über die Schnurzu hauen. Auffallen ist in fast jederHinsicht keine helvetische Tugend.«Über Geld spricht man nicht, manhat es», lautet die Devise derWohlhabenden, an die sich selbstjene halten, die wenig haben.

ImUnternehmen, in dem ich einpaar Jahre arbeitete –meinereinzigen festen Anstellung –,wurde mir nach der Lohnverhand­lung mit bedeutungsvoll­verschwö­rerischem Blick beschieden, esgehöre zu den Regeln des Hauses,das Ergebnis für sich zu behalten.Freudig informierte ich meinenFreundeskreis, hielt mich aber andas Schweigegebot, was meineArbeitskollegen betraf. Ich weissnicht, ob mich das zum «Heimli­feiss» macht; einWort, das esweder imHochdeutschen noch ineiner anderen Sprache gibt.

Während wir einander bei denzahlreichen Studentenjobs, die ichhatte, immer informierten, wo mitmöglichst wenig Arbeit möglichstviel einzustreichen war, tauschteman sich bald nur noch mit engs­ten Freunden über Geldange­legenheiten aus. Das SchweizerRadio wollte kürzlich wissen, obdas Lohngeheimnis hierzulandetatsächlich gehütet werde wie dieRezepte für Käse und Steuer­hinterziehung. Das Ergebnis,Lohn sei kein Tabu, relativiert sichbei genauerem Hinsehen: Wäh­rend drei Viertel die Frage bejah­ten, ob man offen über Lohnsprechen sollte, war es lediglichein Fünftel, der das mit Arbeits­kollegen tat.

Wenn heute als Tabu gilt, wor­über die halbeWelt spricht, ist dasThema Lohn jedenfalls keines. Dasist auch in Deutschland so, wo das«Tabuthema» Sex obsessiv erörtertwird, gemäss einer Studie derConsorsbank jedoch vierzig Pro­

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Folio 4 | 2018 | 25

zent nicht wissen, was der Partnerverdient. Dass man darüber auchnicht mit Freunden und Arbeits­kollegen redet, wird mit der Gefahrbegründet, entweder Neid undMissgunst zu wecken oder Hohnund Spott zu ernten. Dies, obwohlSchweigeklauseln in Arbeitsverträ­gen gemäss einemGerichtsent­scheid rechtswidrig sind.

Was nicht rechtens ist, wirdgerechtfertigt vonWirtschafts­psychologen. Die geringe Akzep­tanz von sozialen Unterschieden,die – imGegensatz zu den USAund China – zur «Kultur» derDeutschen gehöre, meint derVerfasser einer «Psychologie derMitarbeiterführung», mache esratsam, im eigenen Interesse denvon Firmen verschriebenenMaul­korb zu tragen.

Gern wird auch der «christlichgeprägteWertekanon» zitiert alsGrund für die Zurückhaltung, das«Reizthema Lohn» anzugehen.Ungehindert kann man dies heutenur in der modernen Version desBeichtstuhls, dem Internet.Web­sites wie companize.com, gehalts­vergleich.com oder lohnspiegel.degeben einen Überblick zum bran­chenüblichen Lohn und ermög­lichen, sich anonym darüber auszu­tauschen.

In den zehn Jahren, in denenich in Amerika lebte, hat mich niejemand gefragt, wie viel ich ver­diene. Es ist nicht so, dass sofortüber Geld geredet wird, doch weretwas darüber wissen will, wirdnicht angeschaut, als hätte er dieIntimsphäre verletzt. Wie man alsPerson eingeschätzt wird, hatjedoch mehr mit den Ambitionenzu tun, die man hat, als damit, wieviel oder wenig einem die gegen­wärtige Tätigkeit gerade ein­bringt.

Das ist in China anders. DieNeugier, die Einheimische dortgegenüber Ausländern an den Taglegen, ist gewöhnungsbedürftig.Als ich von einer Schiffsreise miteinem Containerfrachter in Xia­men ankam und in einem Internet­café meine E­Mails checkte, setzte

sich ein jungerMann neben michund verfolgte interessiert, was ichda am Bildschirm tat. Fragen,woher man komme und wie vielman habe, werden einem in Asienoft gestellt, und wer nicht soschlagfertig ist wie RogerMoore,gerät leicht in Verlegenheit. Denhatte ich mit anderen Journalistenim Zürcher Hotel Baur au Lacgetroffen, wo ein Kollege sicherdreistete, ihn zu fragen, wie vieler verdiene. Der Filmstar sagtegleichmütig, wie das nur ein Britekann: «Genug, um dieMiete zuzahlen.»

Wer Kultur oder Religion insFeld führt, umOffenheit oderGeheimniskrämerei in Geldsachenzu erklären, hat im Vergleichzwischen Amerika und Chinaeinerseits und Deutschland undder Schweiz andererseits guteArgumente. Doch sobald es umden innereuropäischen Vergleichgeht, entpuppt sich der Kultur­relativismus als Ideologie.

Denn Skandinavien, christlichgeprägt wieWest­ undMittel­europa und nicht dem Selfmade­man­Mythos verschrieben wie dieUSA, geht viel weiter: In Schwedensind die Einnahmen aus Arbeit undVermögen eines jeden Bürgers –mit Ausnahme des Königspaares –öffentlich einsehbar. Mit der Folge,dass die Steuermoral besser ist unddie Kluft zwischen Viel­ undWenigverdienern eher der Recht­fertigung bedarf.

Bringt man imOsten Europasbei einemGespräch einen Begriffwie den für die Lohnverhandlungwichtigen «Marktwert» einerPerson ins Spiel, muss man, vorallem bei der älteren Generation,mit Verständnislosigkeit oderVerachtung rechnen.

Noch nicht gewohnt, dass vonder Arbeit bis zur Liebe nun alleseinMarkt ist und derWert einesMenschen inMoneten aufgewogenwird, gilt es als Zeichen geistigerArmut, von demGeld zu reden,mit demman kaum seinen Lebens­unterhalt zu bestreiten vermag.Und nicht von dem, was einen

beschäftigt, begeistert oder zuTaten anspornt.

Als Schweizer braucht mannicht viel mehr, als den Fuss überdie Grenze zu setzen, um wohl­habend zu werden, selbst wennman im eigenen Land nicht zu denBetuchten zählt. Die Frage, wieviel jemand verdient, kann des­halb etwa im Osten Europas soverletzend sein wie die als arro­gant empfundene Grosszügigkeit,mit der man Geschenke machtoder jede Kneipenrechnung be­gleicht.

Der britische Historiker Timo­thy Garton Ash, der Chronist dermittel­ und osteuropäischen Revo­lution von 1989, hat einmal dasbeidseitige Unwohlsein beschrie­ben, das ihn und einen seinerGesprächspartner während einesSpaziergangs beschlich: zweiUniversitätsprofessoren, die sotaten, als seien sie gleichgestellt –intellektuell auf demselben Niveau,aberWelten voneinander entfernt,was dieMöglichkeiten betrifft, zureisen und am globalen Diskursteilzunehmen.

In meiner polnischen Verwandt­schaft macht die Geschichte einesAngehörigen bis heute die Runde.Er lebt inMelbourne und warfrüher Linienpilot. Nach dem Falldes Eisernen Vorhangs hatte Hen­ryk seine alte Heimat Litauenbesucht und grosszügig, wie er ist,ein paar Einheimische zu einemEssen in ein gutes Restauranteingeladen. Als die Rechnung kam,begann ein alter Mann am Tisch zuweinen: «Du hast meinen Anzuggegessen.» Dringend hätte er einengebraucht; den Betrag, den derreiche Onkel aus Australien hin­blätterte, ohne mit derWimper zuzucken, würde er sich noch Jahrezusammensparen müssen.

Wie sagte doch der SchweizerPhilosoph PeachWeber? «Geldallein macht nicht glücklich, esmuss einem auch noch gehören.»

Peter Haffner ist freier Journalist;er lebt in Zürich und Berlin.

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AndieSpitzeSimona Scarpaleggia undNicole Burth gehören alsChefinnen bei Ikea undAdecco zu den bestbezahltenFrauen der Schweiz. EinGespräch über Löhne, denSpass amWettbewerb unddieMacht vonVorbildern.Von Barbara Klingbacher

Die Frage, die auf der Hand liegt, kommt erstzum Schluss: «Verdienen Sie eigentlich gleichviel wie Ihre Kollegen?» Simona Scarpaleggia

und Nicole Burth zögern. Das sei schwierig zu beurtei­len, sagt Scarpaleggia, ihre Position – sie ist seit 2010Chefin von Ikea Schweiz – gebe es in jedem Land nureinmal. «Aber doch, ich nehme einfach mal an, ichverdiene mehr oder weniger das gleiche.» Burth, CEOder Adecco Group Schweiz, erklärt, ihr Arbeitgeberhabe kürzlich alle Jobs bewerten und Quervergleichedurchführen lassen, «deshalb sage ich Ja, der Lohn aufmeiner Stufe ist gleich». Dann einigen sich die beidenauf einen Satz: Als Frau wird vieles leichter, je höherman auf der Karriereleiter steigt.

Es ist ein Tag im Februar, und der weibliche Teil derBevölkerung arbeitet noch immer für den Lohn vomletzten Jahr. Symbolisch jedenfalls. Der «Equal PayDay» fällt 2018 auf den 24.Februar. Er markiert, wannFrauen das Einkommen für 2017 erreichen, dasMän­ner schon bis Ende Jahr verdient haben. Je nach Be­rechnungsmethode macht der Unterschied zwischen12,5 und 18,1 Prozent aus.Wer unter 4500 Franken fürein volles Pensum verdient, ist in 6 von 10 Fällen eineFrau.Wer über 16000 Franken bekommt, ist in 9 von10 Fällen einMann.

Simona Scarpaleggia und Nicole Burth sind dieAusnahme. Sie gehören zu den bestbezahlten Frauender Schweiz – und zu den Topmanagern. Die weib­liche Form lohnt hier kaum: Unter den CEO der118 grössten Firmen der Schweiz gibt es laut Schilling­Report fünf Frauen, in den Geschäftsleitungen haltensie 7 Prozent. Deshalb hat die 58jährige Scarpaleggia2013 das Netzwerk Advance gegründet, dem sich über70 Firmen angeschlossen haben; sie visieren 20 Pro­zent Frauenanteil bis 2020 an. Eine davon ist dieAdecco Group Schweiz, die Nicole Burth, 46, seit 2015führt.Wir haben die beiden eingeladen, um zu sehen,ob im Aufstieg Gemeinsamkeiten zu entdecken sind.

StaatsanwältinEinstiegslohn: 10450Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

SimonaScarpaleggia, Ikea. NicoleBurth, Adecco.

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Simona Scarpaleggia:Wenn ich den Fraueneinen Rat vor Lohngesprächen geben dürfte, danndiesen: Überlegt, was ihr wollt, und sprecht es auchwirklich aus.Wir wissen doch, wenn Kollegen mehrverdienen, wir leben nicht in denWolken. Aber sobaldwir in der Gehaltsverhandlung sitzen, schweigen wir.Nicole Burth: Ich sehe das bei Adecco, die Perso­

nalrekrutierung ist ja unser Geschäft: Frauen verhan­deln seltener über den Lohn. Und oft verlangen sieweniger als einMannmit dem gleichen Lebenslauf.S:Wenn sie überhaupt etwas «verlangen».B: In der Regel fragt man die Kandidatinnen und

Kandidaten während der Vorauswahl nach ihrenGehaltsvorstellungen – der «Shoe number», wie wirdas nennen. Kürzlich erzählte mir eine Headhunterin,wenn sie eine richtig gute Kandidatin für eine Füh­rungsposition habe, nehme sie die «Shoe number»manchmal aus den Unterlagen heraus – um ihre Chan­cen nicht zu schmälern.Weil der Kunde automatischannimmt, die Kandidatin bringe nicht genügend Er­fahrung mit, wenn sie so günstig zu haben sei.S: Er stellt sie nicht ein, weil sie zu wenig verlangt?

Was für ein Paradox!B:Wir sehen weibliche Verhandlungsscheu in allen

Jobs und Stufen. Und falls eine Frau doch etwas härterverhandelt, heisst es: Ah, die ist schwierig!

DieUnfairness desBauchgefühlsDer Eindruck, dass Frauen weniger fordern undseltener verhandeln, wird durch viele Studienbelegt. Lange glaubte man, das liege an einer Kom­bination aus Genen und Erziehung:Männer seienvonNatur aus aggressiver, und Frauen würdenzusätzlich dazu erzogen, bescheiden und gefällig zusein. Der «Gender Pay Gap»müsste also kleinerwerden, wennman Frauen beibringt, verhandlungs­freudiger zu sein. Aber so einfach ist es nicht. For­scherinnen der Universitäten Harvard und Carne­gieMellon haben festgestellt, dass Frauen gutenGrund haben, nicht zu verhandeln: Sie schaden sichdamit nämlich selbst. Fordert eine Bewerberinmehr Lohn, sinkt die Bereitschaft, sie einzustellen,und das vor allem bei männlichen Entscheidern.Verlangt hingegen ein Bewerber mehr Lohn, scha­det ihm das bei diesen Entscheidern kaum. DieVerhaltensökonomin Iris Bohnet erklärt diesenEffekt und seine Auswirkungen im Buch «Whatworks»: Stereotype darüber, was männlich oderweiblich sei, sind so tief verankert, dass sie den

Verstand oft übersteuern. Selbst wenn wir andererMeinung sind, beeinflussen sie unsere Entschei­dung über die Gefühle. Eine Bewerberin, die for­dernd ist, verletzt die Geschlechternorm, undsolche Verletzungenmanipulieren unser Bauch­gefühl. Natürlich denken wir nicht, dass der for­dernden Frau weniger Lohn zustehe als dem for­derndenMann.Wir mögen die Frau einfach nicht.

Burth:Das Thema Lohngleichheit hat aber nocheine Komponente, über die selten gesprochen wird:Vertrauen. Manche Firmen verstehen nicht, dass sieihreMitarbeitenden korrekt bezahlen müssen, egalwie gut oder schlecht die im Verhandeln sind. Nichtnur imHinblick auf Mann und Frau, sondern generell.Scarpaleggia:Unbedingt.Wie soll man einer

Firma trauen, die ihreMitarbeiter unfair behandelt?B: Ich habe das selbst erlebt. An einem Punkt mei­

ner Karriere fand ich heraus, dass meine Kollegenzwanzig Prozent mehr verdienten. Der Vertrauens­bruch war nicht zu kitten. Ich habe den Job gewechselt.Man kann nicht stets darauf bestehen, gleich behandeltzu werden, und nach einer solchen Entdeckung einfachweitermachen. Firmenmüssen sich im klaren sein, wasso etwas auslöst – und was es sie kostet.S: Bei Chancengleichheit geht es aber auch darum,

wer in einer Firma befördert wird. Frauen müssen sichsichtbarer machen. Ich muss zugeben: Auch ich habenicht von Anfang an über Erfolge gesprochen. Sondernerst, als ich begriffen habe, was meine Kollegen andersmachten:Wenn sie etwas starteten, gingen sie rausund erzählten allen von ihrem phantastischen Projekt,das der Firma dies und jenes bringen werde. Jederklatschte, doch kaum einer verfolgte, wie es danachweiterging. Manchmal war das Projekt erfolgreich,manchmal nicht – aber für den, der es gestartet hatte,war es in jedem Fall ein Erfolg.B:Weil er auf sich aufmerksam gemacht hat.S: Ich kritisiere das nicht.Wir müssen das lernen.

Meist reden Frauen nicht über Projekte, bevor sie einResultat zeigen können. Aber schlimmer ist: Sie redenauch danach nicht darüber.Weil sie denken, irgend­jemand wird kommen undmerken, wie toll es ist.B: Ich nenne es «Want to be proposed»­Syndrom.

Frauen warten, bis derMann fragt:Willst du michheiraten? Sie warten zehn Jahre, statt selber zu fragen.S: Ich habe gefragt!Wobei: MeinMann hat mir

doch noch einen Antrag gemacht – zum 30.Hochzeits­tag. Frauen sollten sagen, was sie wollen, und darüberreden, was sie erreichen. Ich bin kein Fan von «oversel­ling». Aber «underselling» ist auch der falscheWeg.

OberarztEinstiegslohn: 8550Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

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Folio 4 | 2018 | 31

Heidi ist nichtHowardEs ist gut belegt, dass Frauen in Sitzungen seltenerdasWort ergreifen und weniger lange sprechen.Victoria Brescoll, die an der Yale University denEinfluss von Stereotypen aufMachtverhältnisseuntersucht, hat festgestellt, dass Frauen einen«Backlash» befürchten, wenn sie mehr redenwürden. Und dieser Backlash findet tatsächlichstatt. EinManager, der in einer Sitzung überdurch­schnittlich viel spricht, wird als kompetenterbeurteilt als sein schweigsamer Kollege. EineManagerin, die überdurchschnittlich viel spricht,wird als inkompetenter beurteilt als ihre schweig­same Kollegin. Generell gilt: Frauen können männ­liche Aufstiegsstrategien nicht kopieren, weil sieihnen schaden. Selbst messbare Leistung wirdanders interpretiert. Erringt einMitarbeiter einenErfolg, schreibt der Vorgesetzte das eher demKönnen zu, während er bei einer Frau an Glückdenkt oder an Fleiss. Berühmt geworden ist dasExperiment von KathleenMcGinn an der HarvardBusiness School: Sie legte der Hälfte ihrer Studen­tinnen und Studenten eine Fallstudie vor, in dergeschildert wurde, wie Howard Roizen vomGrün­der zumUnternehmer im Silicon Valley aufstieg.Als die Studenten gebeten wurden, Howard fach­lich undmenschlich zu bewerten, schätzten sie ihnals sehr kompetent und effizient ein – und alsjemanden, mit dem sie gerne arbeiten würden.Nur: Es gab keinen Howard Roizen. Die Fallstudiebasierte auf der realen Karriere der UnternehmerinHeidi Roizen. Die andere Hälfte der Studenten, dieden korrekten Text zu lesen bekamen, schätztenHeidi ebenfalls als sehr kompetent und effizientein. Aber sie hielten sie für egoistisch und wolltensie nicht als Kollegin. Für Frauen ist es fast unmög­lich, sympathisch und kompetent zugleich zuwirken, fasst Iris Bohnet in «What works» zusam­men:Wenn Leistung eindeutig messbar ist, hältman erfolgreiche Frauen für weniger sympathisch.Wenn Leistung nicht eindeutig messbar ist, hältman Frauen für weniger kompetent.

Burth: SchonmeineMutter widersetzte sichKonventionen. Sie wollte als Kellnerin arbeiten, um aneiner Hotelfachschule zugelassen zu werden. Aberdamals gab es in Norddeutschland, wo sie aufgewach­sen war, nur Kellner. Sie lernte Schneiderin und arbei­tete dann in einemHotel. Eines Tages kaufte sie Fischfür die Hotelküche ein, und in der Zeitung, in die er

eingewickelt war, entdeckte sie das Stelleninserat einesSchweizer Restaurants. So kam sie ins Toggenburg,absolvierte das Praktikum als Kellnerin und heirateteschliesslich den Sohn desWirts –meinen Vater.Scarpaleggia:Mein Vater arbeitete in Rom bei

der Handelskammer, meineMutter war Kosmetikerin.Für mich war es normal, dass sie dazu beitrug, dass wirgenug zu essen hatten. Besonders inspiriert hat michaber meine Grossmutter, eine Bäuerin. Als ich fünf­zehn wurde, sagte sie: Simona, wenn du führen willst,musst du lernen, und lernen kannman alles.B: Sie hat schon vom Führen gesprochen?S: Im Italienischen heisst es: «Chi sa fare, sa com­

mandare.»Wer etwas kann, kann befehlen. Das hatmeineMentalität geprägt: dass man alles lernen kann,aber auch alles lernen muss.Wennman nur so tut, alsbeherrsche man etwas, macht man sich lächerlich.B:MeineMutter arbeitete im Restaurant mit, auch

wir drei Kinder packten an. Deshalb konnte ich mir nievorstellen, nicht zu arbeiten, das war einfach keineOption. Und ein Restaurant steht ja in Konkurrenz,muss Kunden anziehen. Vielleicht hatte ich deshalb nieProblememitWettbewerb. Ich wetteiferte gern, wollteals Kind die Beste und Schnellste sein.S: Zwei Faktoren beeinflussen die Neigung zum

Wettbewerb: die Persönlichkeit und die Gesellschaft.In Italien wurdenMädchen nicht ermutigt zu wett­eifern, sie sollten unterstützend und hilfsbereit sein.Meine Schwester etwa ist nicht kompetitiv. Ich da­gegen wollte immer gut sein, in der Schule und an derUniversität. Ich habe dann einenWeg gefunden, mitdemDilemma umzugehen, der auch gut funktioniert,um Teams zu motivieren: Exzellenz anzustreben statteinen Sieg.Wennman sagt, man wolle in einemGebietbrillieren, bedeutet das natürlich ebenfalls, dass mandie vordersten Plätze im Visier hat. Aber es bedeuteteben nicht, dass man die anderen dafür schlagen muss.B: Stattdessen schlägt man sich selbst, indemman

bessere Leistungen bringt als letztesMal. Aber ehrlich:Es fühlt sich auch als CEO gut an, wennman schnellerist oder die besseren Zahlen bringt als die anderen.

Sind Frauen feige?Eine Studie mit 259 Berner Gymnasiasten hatkürzlich untersucht, warumMädchen seltenermathematikorientierte Fächer wie Informatik oderMaschinenbau wählen – die später gute Löhneversprechen. Ein Faktor ist die Neigung zumWett­bewerb.Wer gern wetteifert, entscheidet sich eher

PilotinLohn: 5850bis 16150Franken(Quelle: Swiss)

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für exakteWissenschaften, wo sich Leistung dank«richtig» oder «falsch» genau messen lässt. Frauenmeiden aber auch eher das Risiko, was sich anhandder Daten vonMultiple­Choice­Tests ablesen lässt.Gibt es dort für falsch angekreuzte Fragen Punkt­abzug, überspringen Frauen die Frage eher, wäh­rendMänner raten. Raten stellt sich oft als sinn­vollere Taktik heraus: Kannman Antworten zueiner Frage ausschliessen, sorgt dieWahrschein­lichkeit dafür, dass die Rater durchschnittlichbesser abschneiden als die Überspringerinnen. DieKombination von geringererWettbewerbsneigungund weniger Risikofreude könnte auch erklären,warum Frauen sich weniger bereitwillig auf dasGerangel um Führungspositionen einlassen. SarahFulton, eine Politologin an der A&MUniversity inTexas, wollte wissen, ab welcher GewinnchancePolitikerinnen und Politiker bereit sind, für einenKongresssitz zu kandidieren. Das Ergebnis: Frauenlassen sich erst auf das Rennen ein, wenn ihreChance bei mindestens 20 Prozent liegt. Männerlegen los, sobald die Zahl über null liegt.

Burth: Ich mochteMathematik schon immer.Ursprünglich wollte ich Jura studieren, aber als einKollege bemerkte, dass ich dort keineMathe mehrhätte, schrieb ich mich spontan fürWirtschaft ein.Scarpaleggia:Mir gefiel alles, was mit Menschen

zu tun hatte. Ich wählte Internationale Beziehungenund wollte eigentlich Journalistin werden.B:Das Auswahlverfahren für eine Stelle bei der

Bank nach der Uni war dann ein unglaublicher Pro­zess: zehn Gespräche und ein Assessment. Mir schienes unmöglich, so den Berufseinstieg zu schaffen. Ichwar die einzige Frau im Assessment, danach eine derganz wenigen Frauen in einem Team von 250 Tradern,Verkäufern und Analysten.Wir reden hier über Invest­ment Banking, und das vor zwanzig Jahren. Aber wirwaren bereits imWirtschaftsstudium eine kleineMinderheit. Man gewöhnt sich daran.S: Trotzdem fühlt es sich besser an, keineMinder­

heit zu sein. In meinem ersten Job war ich immer dieeinzige Frau, und ich war noch sehr jung. Ich hatteeinen visionären Chef, der mich vor mehr als dreissigJahren einstellte, ummit den Gewerkschaften zuverhandeln. Das war damals eine kompletteMänner­welt. Wenn ich anfangs in einer Sitzung dasWortergriff, sah ich in vielen Gesichter Skepsis. Und inanderen, dass sie gar nicht zuhörten.B:Manche Kollegen diskutierten sogar über meine

Frisur! Dieses Gefühl, eine Exotin zu sein, ist sicherein Grund, warum sich Frauen denMännern anglei­chen. Man konnte sich in diesemUmfeld nicht aufweibliche Stärken berufen, denn diese zählten nicht.S: Es waren Schichten um Schichten an Vorurtei­

len, die man zuerst abbauen musste. In Italien spürteich immer zwei Erwartungen: Entweder du gibst alle

weiblichen Eigenschaften auf, um tougher als jederMann zu sein. Oder du bist supernett, superunterstüt­zend und nicht das kleinste bisschen bedrohlich – aberso macht man eben keine Karriere. Ich weigerte mich,das eine oder andere zu tun. Anfangs war es einKampf: feminin zu sein und trotzdem bestimmt. Aberje weiter ich vorankam, desto leichter wurde es.B:Vielleicht spürt man hier den Altersunterschied.

Ich will es nicht schlimmer darstellen, als es war. DieAufmerksamkeit kann auch ein Vorteil sein.Wennman den Job gut macht, wird das bemerkt.S:Vielleicht muss man zwei­ oder dreimal zeigen,

dass man ihn gut macht, bis es alle glauben.B: Irgendwann werden wir diese Diskussion nicht

mehr führen müssen. Aber leider ist es noch nicht soweit. Wennman in einemUnternehmen einen bereitsbeachtlichen Frauenanteil steigern will, ist die Heraus­forderung übrigens eine andere: Die Dynamik und dieKollegialität unter den Frauen verändern sich, sobaldsie zahlreicher werden.S:Absolut.B:Ab 30 Prozent beginnt man sich zu helfen. Bei

5 oder 10 Prozent ist das nicht unbedingt der Fall.S: In manchen Fällen unterstützen Frauen einander

nicht. Meist, wenn es in einem Bereich erst sehrwenige gibt.Weil diese Frauen unbewusst annehmen,es gebe nur Platz für eine oder zwei. Kommt eine drittehinzu, bedeutet das: sie oder ich. Also unterstützt mandie dritte nicht, das ist wie ein Reflex. Sobald derFrauenanteil steigt, verschwindet dieser Effekt.B: Sagte nichtMadeleine Albright, es gebe in der

Hölle einen speziellen Platz für Frauen, die einandernicht unterstützten?

DasBienenköniginnen-SyndromDas Bienenköniginnen­Syndrom habenWissen­schafter der Universität Michigan schon in den1970ern beschrieben. Frauen, die sich in einerMännerdomäne durchgesetzt hatten, halfen ande­ren Frauen nicht – sie neigten sogar dazu, Kollegin­nen kritischer zu beurteilen als Kollegen. SpätereStudien, die die Geschlechterverteilung in Topposi­tionen untersuchten, stellten anderes fest:Wennder CEOweiblich ist, steigt dieWahrscheinlichkeit,dass Frauen befördert werden und es bis in dieGeschäftsleitung schaffen. Ist der CEOmännlichund sitzt bereits eine Frau in der Geschäftsleitung,scheint der «Platzmangel», den die Frauen be­fürchten, eine Realität zu sein. DieWahrscheinlich­keit, dass eine zweite Frau in die obersten Positio­nen befördert wird, sinkt nämlich um 50 Prozent.

Scarpaleggia:Das erste, was ich als Chefin verän­dert habe, waren die Sitzungszeiten. In Italien dauer­ten Sitzungen oft bis halb acht, weil um acht gegessen

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Wieso spricht man imreichsten Land der Weltnicht offen über Geld?

Geld ist ein Tabuthema. Das wollen wirändern. Denn offen über die eigenen Finanzenzu reden, schafft Klarheit. Das ist die Voraus­setzung, um Lösungen zu finden und dierichtigen Entscheidungen zu fällen. cler.ch

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wird. DerMann ging dann heim, das Essen stand aufdem Tisch, und dieMutter ermahnte die Kinder, denmüden Vater nicht zu ärgern. Die arbeitendenMütterhingegen mussten organisieren, dass jemand die Kin­der betreut, nach Hause eilen, kochen. Das war einAlbtraum!Meetings, die nicht frühmorgens oderspätabends angesetzt sind, verbessern das Privatleben,und zwar das von Frauen und vonMännern.Burth: Ich lege auchWert auf strukturierte, gut

geplanteMeetings. Es wird unterschätzt, wie viel Zeitverloren geht, wennman nicht beim Thema bleibt.S: Später habe ich Flexibilität eingeführt, bei den

Arbeitszeiten und Teilzeitmodellen. Das hilft auchbeiden Geschlechtern. Förderprogramme allein brin­gen wenig. Das Problem sind nicht die Frauen, son­dern die Hürden. Manche Frauen trainiert man fast zuTode, sie absolvieren Dutzende Schulungen.Wennman eine Frau in solche Programme schickt und siefünf Jahre später immer noch in keiner Führungsposi­tion ist, hat man einen riesigen Fehler gemacht. Oderman hält die Frau und vielleicht auch die AktionärezumNarren. Eine Firmamuss überzeugt sein, dass esrichtig ist, Menschen gleich zu behandeln, Talentenicht zu verschwenden. Undmanmuss Zweifel zu­lassen. Als sich die zweihundert obersten Chefs vonIkea trafen, um das Programm «Diversity & Inclusion»zu starten, sprach einMann aus, was viele befürchte­ten: Frauenförderung bedeute, dass er nie mehr wei­terkomme! Der Konzernchef entgegnete: Du wirstmehr Konkurrenz haben, das stimmt. Aber auchMän­ner werden aufsteigen, wenn sie gute Resultate liefern.B:Wenn eine Firma innert dreier Jahre den Frauen­

anteil in der Führung von 15 auf 50 Prozent steigernwill, muss sie wohl oder übel eine ZeitlangMänner beiBeförderungen benachteiligen. Manche Dinge erfor­dern eine Revolution, andere eher eine Evolution.S: Bei Ikea war es tatsächlich eine Revolution. Sie

begann mit einem Schock. Als wir die Firma vor zehnJahren auf Diskriminierung hin durchleuchteten,glaubten wir, wir seien wegen unsererWerte sehr weit.Aber die Zahlen zeigten, dass das nicht stimmte.B:Was sagten die Zahlen?S:Damals fand man in den 200 obersten Positionen

weltweit 4 Prozent Frauen. Heute sind es 48 Prozent.B:Adecco ist noch nicht an dem Punkt. Seit ich

CEO bin, hat sich der Frauenanteil in meinem Füh­rungsteam von 25 auf 36 Prozent erhöht. In einemkleineren Team ist das einfacher als etwa immittlerenManagement. Dort stieg der Anteil von 30 auf 33Prozent. Firmenmit mehr Diversität sind erfolg­reicher, innovativer und besser für Veränderungengerüstet, das ist bewiesen. Doch daran müssen zuersteinmal alle glauben.Wir haben ein Talentmanagementeingeführt und Talentpools gebildet, wir bestehendarauf, dass mindestens eine Frau auf jeder Shortlistfür einen Führungsjob steht. Und wir überprüfenunsere Stellenausschreibungen auf Stereotype wie

«durchsetzungsstark» oder «offensiv», die Frauendavon abhalten könnten, sich zu bewerben.

DasParadox der StereotypeDerMensch kann seine Vorurteile nicht einfachunterdrücken. Das ist das Problem von vielengutgemeinten Förderprogrammen. Und wennmanihn dazu bringen will, kann sogar das Gegenteilpassieren. Das zeigte sich bei einer Studie zu sol­chen «ironischen Prozessen» während der Perso­nalrekrutierung: Nachdemman Versuchsteilneh­mern ein Video gezeigt hatte, in dem sie ermahntwurden, das Alter von Bewerbern ausser Acht zulassen, bewerteten sie die älteren Bewerber nichtetwa besser, sondern schlechter. Möglich ist, dassunbewusste Stereotype umso stärker aktiviertwerden, wennman zuvor den Fokus auf sie lenkt.

Burth: Es gibt zwei grosse Hindernisse: das Schul­system und die Vorstellung, wer 80 oder 100 Prozentarbeite, könne keine guteMutter sein. Dadurch verlie­ren wir viele Frauen, die zuvor im Talentpool waren.Scarpaleggia:Wirmüssen Karriere stärker in

Zyklen denken und nicht alsWeg, den man 45 Jahrelang beschreitet. Es gibt Phasen, in denen man wenigerZeit in den Job investieren kann oder will. Weil manKinder bekommt, die Eltern pflegt, weil der Partnerkrank wird oder man nochmals studieren möchte.Darauf müssen sich die Firmen einstellen.B:Anders kann man Talente nicht mehr anziehen.

Sogar ich als CEO habe ein 90­Prozent­Pensum,theoretisch zumindest. Ich bin einen Nachmittag zuHause. Ich bin eine grosse Anhängerin davon, dassauch die Väter auf 80 Prozent reduzieren.Wenn beideEltern 80 Prozent arbeiten, ist eine Karriere für beidemachbarer im Schweizer System.S: Bei Ikea kannman sogar in Führungspositionen

hinunter bis auf 60 Prozent. Und weil alle wissen, dasswir Teilzeit fördern, hat niemand die Befürchtung, eskönnten ihm daraus Nachteile erwachsen. Inzwischenarbeiten viele Väter undMütter je 80 Prozent, teilendie Elternschaft und die finanzielle Verantwortung.B:Wenn nur eine Person reduziert, ist immer klar,

wer zu Hause bleibt, wenn das Kind krank ist. Arbei­ten beide gleich viel, muss man stets von neuem eineLösung finden. Ich sage nicht, das sei einfach. DieseDiskussionen, wer morgens zur Arbeit kann! Aber –und Frauen hören das nicht so gern – wenn eineMut­ter 50 Prozent arbeitet und alle Krankheitstage derKinder abdeckt, leistet sie eben oft wirklich weniger,und man nimmt sie als weniger ambitioniert wahr.S:Obwohl ich Teilzeit unterstütze, habe ich immer

100 Prozent gearbeitet. In Italien gab es Teilzeit nur ineinfachen Jobs. Als meine drei Kinder kleiner waren,hatte ich kaumHobbies, wenig Zeit für mich – und

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eine Haushälterin. Das funktioniert aber nur, wennman gut verdient. Darumwäre es ja so wichtig, dassdie Stundenpläne sich ändern undman nicht davonausgeht, dass Mütter mittags zu Hause sind.

WieVorbilder prägenKathleenMcGinn von der Harvard BusinessSchool wollte herausfinden, wie sich die Berufs­tätigkeit derMutter später auf die Karriere derKinder auswirke. Die Erkenntnis aus den Datenvon 100000Menschen aus 29 Ländern: Töchtervon berufstätigenMüttern sind als Erwachsenehäufiger berufstätig, gelangen öfter in Führungs­positionen und verdienen mehr Geld. Am ausge­prägtesten war der Effekt in wertkonservativenNationen, am geringsten in nordischen Ländern.Der Grund: Sind berufstätigeMütter selten, wirktdas Vorbild der eigenenMutter stark. Sind berufs­tätigeMütter die Regel, wirken sie als Vorbild auchfür jeneMädchen, deren eigeneMutter zu Hausebleibt. Denn was wir häufig sehen, halten wir fürdie Norm. Und je öfter wir Frauen als fordernd,kompetent, redselig, wetteifernd oder risikofreudigerleben, desto stärker nutzen sich Stereotype ab.

Bei Söhnen hatte die Berufstätigkeit derMutterübrigens keinen Einfluss auf die Karriere. Aber aufdas Leben: Sie wendeten mehr Zeit für die eigenenKinder auf. Kinder haben aber auch einen Einflussauf ihre Eltern. Als dänischeWissenschafter unter­suchten, wie sich die Gehälter in einer Firma ver­ändern, wenn der CEOVater wird, stellten sie fest:Wenn das Erstgeborene eine Tochter ist, steigendie Löhne der Frauen imUnternehmen an.

Nach zwei Stunden neigt sich das Gespräch dem Endezu. Die beidenManagerinnen haben einige Gemein­samkeiten in ihrer Biographie gefunden: Die berufs­tätigenMütter. DenWert, den man Arbeit in derFamilie beigemessen hat. Die Neigung zumWettbe­werb. Die Lust, voranzuschreiten und dieWeigerung,sich dabei zu verbiegen. Es gibt aber noch einen Punkt,der die Frauen verbindet: Ihre frühen Vorbilder warenMänner. Sie habe Anwältin werden wollen, weil sieDoktor Renz in «Ein Fall für zwei» bewundert habe,sagt Nicole Burth: «Er schien so schlau, hatte immeralles unter Kontrolle.» Simona Scarpaleggia entschul­digt sich, es klinge wie erfunden, sei aber wirklichwahr: «Mit sieben Jahren wollte ich Papst werden.»

Barbara Klingbacher ist NZZ-Folio-Redaktorin.

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36 | Folio 4 | 2018

2000

1995

1985

1990

1970

1980

1965

1975

1950

1955

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19401935

1945

hochgerechnetauf 100%-Pensum

tatsächlicher Lohn

MännermitUniabschlussverdienen28%mehr als

Männermit Lehrabschluss.

ImMittel steigt derLohneinesMannespro

Dienstjahr um0,2%.

SchmerzensgeldoderHauptgewinn?Sechs Leute erzählen, wieder Lohn ihr Leben prägteund das Leben ihren Lohn.Texte Barbara Klingbacherund RetoU.SchneiderGrafik Vollkorn Kollektiv

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Folio 4 | 2018 | 37

2015

2010

2005

Tia, 43 (S.42)Projektmanagerin

Ernst, 87 (S.40)Mechaniker

Jürg, 69 (S.43)Yogalehrer

Anna, 62 (S.38)Verkäuferin

Eva, 59 (S.41)Kommunikations-verantwortliche

David, 51 (S.39)Marketing-und Verkaufschef

100000

200000

300000

400000

500000

600000

700000

800000

Jahreslohnin CHF

Verkäuferinnen verdienen6,4%weniger alsSekretärinnen.

In einer grossenFirma(mehr als250Angestellte)verdient eineFrau 10%mehr als in einemKlein­betrieb (weniger als 20Beschäftigte).

InZürich verdient eineFrau18%mehr als imTessin.

Im oberen Kader verdientein Mann 35%mehr

als ohne Kaderfunktion.VerheirateteFrauenverdienen imSchnitt1,8%weniger als ledigeFrauen.

AlleNamenundmancheDetails derLebensumständesind verändert.

Quelle: LohnstrukturanalysevonBASS für dasBFS (2014)

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38 | Folio 4 | 2018

«Ein guter Lohn? Der liegt nachmeinemGefühl bei 6000 Franken.Ja, das ist ein richtig guter Lohn,von demman sich was leisten kann.Selber habe ich diese Zahl nieerreicht. Aber einige Jahre ver­diente ich so viel, dass ich mir keineGedanken machte: Ich wohnte ineiner hübschenWohnung, kaufteschöneMöbel, hatte sogar einkleines Auto. 5500 Franken warmein höchster Lohn. So viel bekamich 2003, danach nie wieder.

Eigentlich wollte ich etwasKreatives machen, Grafikerin oderModezeichnerin, stattdessen lernteich Verkäuferin in einer Boutique.Das waren die Optionen fürMäd­chen: Verkäuferin, Coiffeuse, dasKV.Meine Eltern sagten: Duheiratest ja sowieso. Und: ‹Dure­biisse› – das war ihnen wichtig.

Nach der Lehre eröffnete ichmitKolleginnen eine Boutique fürKinderkleider.Wir waren naiv,konnten uns nie Lohn zahlen; icharbeitete daneben im Restaurant.Wir gingen pleite, und ich jobbteweiter. Als ich dann eine Stelle ineiner Exportfirma fand, war ich

zufrieden. Im Büro, ohne Ausbil­dung! Ich stieg als Aushilfe ein undwar irgendwann für die Buchhal­tung verantwortlich. Ich brachtemir alles bei; den Computerkurs,den ich in der Freizeit besuchte,zahlte ich selber. Ich stellte nieAnsprüche, wie viele Frauenmei­ner Generation, und dachte: Dafür,dass du kein KV hast, verdienst duwirklich gut. Rückblickendmussich sagen: Es war vor allem dasGeld, das mich gehalten hat.

Dass ich 2003 kündigte, geschahim Affekt. Ich wurde von einerKollegin gemobbt. Ich war 47. Allesagten, ich spinne, ich fände nichtsmehr. Leicht war es nicht. Ent­gegen der Prophezeiung meinerEltern habe ich ja nie geheiratet,ich musste mit meinem Verdienstdurchkommen. Einmal, als ichmich in einer Boutique vorstellte,bot mir die Inhaberin einen Stun­denlohn von 14 Franken! Sie hatteeinen reichenMann, das Geschäftwar ihr Hobby. Damals zog ichwieder bei meinerMutter ein – ausfinanziellen Gründen, aber auch,weil es ihr nicht gutging.

Seit 13 Jahren arbeite ich nun ineinem Schuhgeschäft. Der Lohn istrecht tief, dabei verkaufe ich nichtnur, sondern betreue auch denSocial­Media­Auftritt: Ich fotogra­fiere, schreibe, poste. Oft sonntags,natürlich unbezahlt. VonmehrLohn wollte mein Chef nie etwaswissen.Wobei – ich habe nie direktgefragt. Er könnte ja von selberdraufkommen!Wahrscheinlich binich zu loyal. Dieses ‹Durebiisse›,das bleibt.Was mich ärgert, istnicht einmal der Lohn an sich,sondern die Ungerechtigkeit:Wenn eine jungeMitarbeiterinhöher einsteigt. Wenn niemanddanke sagt für einen Extraeinsatz.

Ende 2019 werde ich pensio­niert. Ich weiss nicht, wie hochmeine Rente sein wird. Der Vorteil,wennman ein Leben lang mitwenig auskommenmuss: Es machtmir keine Angst. Ich bin glücklich,wenn ich Zeit habe, um kreativ zusein. MeineWohnung, mein Foto­apparat, mein Computer – dasreicht, um zufrieden zu sein. Viel­leicht leiste ich mir noch ein Gene­ralabonnement.»

201520102005200019951990198519801975

70

60

30

50

40

20

10

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

tatsächlicher Lohnhochgerechnetauf 100%-Pensum

LehrabschlussGründung der Boutique

Einstieg Büro

Kündigung

Verkäuferin

Anna, 62Verkäuferin

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Folio 4 | 2018 | 39

«Löhne werden ja oft über dieVerantwortung definiert. Ich mussberuflich viel fliegen. Manchmaldenke ich an den Flugzeugmecha­niker, der dafür sorgt, dass dasFlugzeug in der Luft bleibt. Ichglaube nicht, dass er wenigerVerantwortung trägt als ich. Trotz­dem verdient er viel weniger.

Was meinen Job von seinemunterscheidet, ist die Komplexitätund dass meine Arbeit nicht umfünf erledigt ist: Ich arbeite 60 bis70 Stunden in derWoche. In Ge­danken bin ich 330 Tage im Jahrbeschäftigt. Ich arbeite mit Leiden­schaft. Trotzdem lässt sich eineSumme irgendwann nicht mehrbegründen, undmein Lohn liegtwohl in diesem Bereich. Ich ver­diene inklusive Boni und Aktien880000 Franken im Jahr.

Ich komme aus einfachen Ver­hältnissen, habe während derSchulzeit Zeitungen vertragen undimDenner Gestelle aufgefüllt, umGeld zu verdienen. Mit meinemersten Lohn lud ich meine Schwes­ter ins Kino ein: ‹Bernard undBianca – dieMäusepolizei›.

Ich war in der Sek B, da standmir kein grosses Spektrum anBerufen offen. Schliesslich machteich eine Handwerkerlehre mit demZiel, an eine Fachhochschule zugehen. Dann erfuhr ich, dass mandieMatur nachholen könne. Ichbesuchte eineMaturitätsschule fürErwachsene und studierte danachGeisteswissenschaften. Es war wieimmer in meinem Leben ein reinerLustentscheid. Mein Interesse anMarketing,Wirtschaft und Philo­sophie kristallisierte sich währenddes Studiums heraus.

Einer meiner Professoren sagteuns in einer Vorlesung: ‹Ihr allewerdet einmal mehr als 10000Franken imMonat verdienen.› Ichkonnte mir das nicht vorstellen,dachte nur, was ist das für eindummer Schnurri.

Um dieMatur und das Studiumzu finanzieren, habe ich nebenhergearbeitet, zudem erhielt ich einzinsloses Darlehen. Mein zweitesBerufsleben habe ich mit 65000Franken Schulden begonnen.

Ich arbeitete bei verschiedenenFirmen imMarketing und Verkauf.

In Lohnverhandlungen war ich niegut, wollte einfach das tun, wasmich interessierte. Mein zweiterChef hat mir freiwillig mehr ge­geben, als ich verlangt hatte:110000 Franken im Jahr. Ich fandes verrückt, so viel Geld zu verdie­nen. Danach habe ich nie mehrLohnverhandlungen geführt. Ichhabe genommen, was manmir bot.Aber wennmeine Kollegen für diegleiche Arbeit einen viel höherenLohn erhielten, würde auch ichmehr verlangen. Der Lohn drücktja auchWertschätzung aus.

Heute sitze ich in der Geschäfts­leitung eines internationalenUnternehmens. Einer meinerfrüheren Chefs sagte mir: ‹Haltedir deine Freiheit hoch.› Daranhabe ich mich gehalten. Ich lebemit Frau und Sohn in einemmittel­ständischen Haus und fahre einenaltenWagen. Ich kenne viele, diehaben zwei Ferienhäuser, dreiAutos und ein Boot. Dann kommtdie Scheidung, oder sie verlierenihre Position, und sie wissen wederein noch aus. Das möchte ich nichterleben.»

2015201020052000199519901985

800

600

400

200

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

tatsächlicher Lohnhochgerechnetauf 100%-Pensum

Lehrabschluss

MaturUniabschluss

Heirat

letzter Stellenwechsel

KindHaus

Geschäftsleitung

David, 51Marketing- und Verkaufschef

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40 | Folio 4 | 2018

«Ich habe schon während derSchulzeit viel gebastelt. Mit mei­nem selbstgebauten Radio hörtesich mein Vater die Nachrichtenan. Es war noch Krieg. Eigentlichhatte ich eine Lehrstelle als Radio­elektriker in Aussicht. Doch wäh­rend meinesWelschlandjahrsschrieb mir meineMutter, ich solleim Eisenwerk die Aufnahme­prüfung für Elektromechanikermachen. Ich war folgsam.

Nach der Probezeit bot manmiraber eine Lehre als Mechaniker an.Das war zwar nicht meinWunsch,doch ich machte weiter. MeineLehre begann ich am 24.April 1948.Arbeitsbeginn war um 6Uhr 12,der Stundenlohn betrug 14 Rappen.

Weil ich nicht rauchte, konnteich mir ein Zelt leisten und spätereine Fotokamera. Die Lehre schlossich als Bester ab. Auf das versil­berte Essbesteck, das es dafür gab,bin ich heute noch stolz.

Stellen gab es viele, es herrschteFachkräftemangel. Damals verglichman den Stundenlohn. Anmeinerersten Stelle bekam ich 2 Franken10 pro Stunde. DieWochenarbeits­

zeit betrug 48 Stunden. Ich wech­selte mehrmals die Stelle. Mit derSchichtzulage verdiente ich bald3 Franken 50, was damals ein guterLohn war.

Eine Firma bot mir dann einePosition als Instruktor an fürungelernte Italiener, die damals indie Schweiz kamen. Die Arbeitklang verlockend, doch der Stun­denlohn war einen Franken tiefer.Ich überlegte lange, bevor ich dieEinbusse akzeptierte. Ich sollte esnicht bereuen. Bald war ich Abtei­lungsmeister. 1958 besuchte ich dieWerkmeisterschule.

Damals lernte ich auch meineheutige Frau kennen. Für eineFamilie reichte mein Lohn jedochnicht. Ich fand eine besser bezahlteStelle als Betriebsleiter, doch dasArbeitsklima war schlecht. Ichbekam es mit den Nerven zu tunund kündigte abermals. Auf meinInserat in der Lokalzeitung, ‹Jun­gerWerkmeister sucht neue Stel­le›, meldete sich eineMaschinen­baufirma. Dort nahm ich am16. Januar 1961 die Arbeit auf undwurde 31 Jahre später pensioniert.

Mein Lohn stieg stetig von 1020auf 7131 Franken. In dieser Zeitwurde die Arbeitszeit von 48 auf 40Wochenstunden reduziert.

Ich war in der ZwischenzeitVater von zwei Söhnen geworden.Wir lebten zu viert in einer Block­wohnung. Eigentlich hätte meineFrau auch arbeiten wollen, aber ichmochte diesen Gedanken nicht. Sodachte man damals. Später sah ichdas anders.

Nach einiger Zeit im Betriebwurde mir die Koordination derLehrlingsausbildung übertragen,und ich bekammein eigenes Büro.Auch der Traum vom eigenen Hauserfüllte sich, allerdings erst 1985,als unsere Söhne ihr Unistudiumabgeschlossen hatten.

In den 1980er Jahren hielt derComputer Einzug in dieWerkstatt.Ich bildete die Lehrlinge an rech­nergesteuerten CNC­Maschinenaus, was mir grossen Spass machte.Ich hätte noch viele Pläne gehabt,doch dann wurde die Lehrlings­abteilung verkleinert und ich mit61 Jahren in die vorzeitige Pensiongeschickt.»

20152010200520001995199019851980197519701965196019551950

80

60

40

20

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

Lehrabschluss

WerkmeisterschuleHeiratKindletzterStellenwechsel

Kind

HausvorzeitigePensionierung

leitenderAngestellter

Ernst, 87Mechaniker

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Folio 4 | 2018 | 41

«Als die Beraterin im Arbeitsamtmeinen letzten Lohn sah, sagte sie,diese Zahl könne ich vergessen. Ichantwortete: Ich bin kompromiss­bereit – aber vergessen will ich sienicht. Als Geschäftsleitungsmit­glied in der Kommunikation ver­diente ich rund 13500 Franken.Die Zahl war einige Jahre ‹einge­froren›, weil mein Vorgesetzter denLohn im Vergleich zu hoch fand.Das war aber nicht der Grund fürmeine Kündigung. StrukturelleVeränderungen, unterschiedlicheVorstellungen über die Ausrich­tung, ja, das spielte mit. Vor allemblieb dieWertschätzung für meineArbeit zunehmend auf der Strecke.

Rückblickendmuss ich sagen:Ich habe einiges kompensiert.Teilweise war mein Lohn eine ArtSchmerzensgeld für das, was ungutlief. Manchmal kaufte ich überMittag teure Schuhe, einfach so.Ich freute mich eine Viertelstundelang, dann war’s vorbei. ManchePaare habe ich nur einmal getragen.

Ich hatte in meinem Berufslebenviel Glück, bekam interessanteJobs, konnte Verantwortung über­

nehmen, undmein Lohn stiegstetig an. Nach einer Erhöhunggefragt habe ich nur einmal, alsJunior­Projektleiterin; mein Part­ner arbeitete am gleichen Ort.Mein Chef antwortete: ‹Wozu? Duhast ja einenMann, der gut ver­dient.› Da war ich so perplex, dassich aus dem Büro gelaufen bin. Aufeine solche Antwort war ichschlicht nicht vorbereitet gewesen.

In meiner Karriere habe ich zweiMal einen gutbezahlten Job aufge­geben, ohne etwas Neues zu haben.Beides waren Bauchentscheide,aber keine Kurzschlusshandlungen.Sie folgten auf viele Gespräche,haben mich schlaflose Nächtegekostet. Nach der ersten Kündi­gung 2000 – ich war Abteilungs­leiterin – fühlte es sich an, alskönnte ich wieder atmen. Natürlichhatte ich Respekt. Aber ich kamgut über die Runden, und es wareine schöne Zeit.

Bei der zweiten Kündigung2013 –mit über fünfzig – war dasGefühl auch befreiend, aber mitviel mehr Existenzangst verbun­den. Trotz meinemGehalt hatte ich

kein grosses Polster. Um es mitLafontaine zu sagen: Ich bin eherdie Grille, die denMoment ge­niesst, als die Ameise, die für denWinter vorsorgt. Manchmal lag ichnachts wach und stellte mir vor,wie ich ausgesteuert in einer Ein­zimmerwohnung sitze. Aber dieseÄngste zählten nicht. Mein Vaterstarb mit sechzig, das ermahntemich: Du hast nicht endlos Zeit.

ZumGlück war ich gar nichtlange arbeitslos. Ich konnte auszwei Stellen wählen. Eine Versiche­rung und eine Nonprofitorganisa­tion – beides Gebiete, in denen ichmich nicht auskannte.

BeimNonprofit lag der Lohndeutlich unter meiner Schmerz­grenze, die Versicherung bot20000 Franken mehr. Ich stelltemir vor, wie ich mich in die The­men einarbeite, und merkte: FürVersicherungen kann ich michnicht begeistern, für das Fachgebietdes Nonprofit schon. Also habe ichdort zugesagt. Jetzt verdiene ichviel weniger, dafür mache ich eineArbeit, die mir sinnvoll scheint.Das ist es mir wert.»

2015201020052000199519901985

150

100

50

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

tatsächlicher Lohnhochgerechnetauf 100%-Pensum

erste Feststelle

Führungs-funktion

Kündigung

Kündigung

Führungs-funktion

Uni abgebrochen

Eva, 59Kommunikationsverantwortliche

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42 | Folio 4 | 2018

«Als ich den Lohn für meine neuePosition erfuhr, war ich etwasenttäuscht: rund 5000 Franken fürein 50­Prozent­Pensum, inklusiveBonus. Ich wechsle intern unddachte, mein Gehalt würde stärkersteigen. Doch als ich den Lohnanhand des internen Lohnsystemsselber berechnete – Ausbildung,Funktionsstufe, Berufserfahrung –merkte ich: Er ist angemessen.

Ohne den Lehrgang ‹Womenback to business› hätte ich keinegutbezahlte Stelle mehr gefunden.Ich war, was man ‹trailing spouse›nennt: eine Frau, die der Karrieredes Ehemannes folgt.Wir lerntenuns kennen, als ich als Au­pair inden USA war, führten anfangs eineFernbeziehung. Ich studierte in derSchweiz und finanzierte die Flügemit Jobs. Im Jahr 2000 heiratetenwir in New York.

MeinMann wurde Banker undverdiente schnell gut. Trotzdemversuchte ich, meine eigene Kar­riere zu starten. Ich jobbte in NewYork als Réceptionistin, stieg inLondon in eine PR­Agentur ein,arbeitete mich in Brüssel in der

Recyclingbranche zumAssistantManager hoch. Der Lohn war mirdabei nie so wichtig. Doch jedes­mal, wenn ich ein gutes Angebotbekam oder befördert wurde,wechselten wir denWohnort.

Als ich in Amerika meinen Sohnbekam, hörte ich auf zu suchen. Ichblieb sechs Jahre zu Hause und wardamit zufrieden. Doch nach derGeburt des zweiten Kindes merkteich: Jetzt muss ich raus. Damalslebten wir in der Romandie. Ichverschickte Bewerbungen, wurdezu Interviews eingeladen – als wirüberraschend nach Zürich zogen,war ich deshalb guter Dinge. Ichbewarb mich auf anspruchsvolle,aber auch auf einfachere Jobs: alsGemeindeassistentin etwa. Ichbekam nicht einmal Absagen. ZumerstenMal hatte ich Angst:War eszu spät für mich?

Als ich den Lehrgang für gut­qualifizierteWiedereinsteigerin­nen entdeckte, wusste ich: das istmeine Chance. Nicht nur wegenderModule in ProzessmanagementoderMarketing. Sondern wegender Kontakte und des Praktikums.

Eine Konsumgüterfirma bot mirvon sich aus eins an. Ein Erfolgs­erlebnis!Wer lange aus dem Berufraus ist, zweifelt ja an sich. DerLehrgang war recht teuer, und wirmussten eine Nanny anstellen.Aber er war eine Investition, auchin mein Selbstvertrauen.

Nach dem Praktikum bin ich inder Firma geblieben. Anfangs fürVertretungen, jetzt habe ich einefeste Stelle. Meinen Lohn habe ichnur bei der ersten Vertretungverhandelt. Damals wurde ich übereinen Personaldienstleister ange­stellt – und bekam gleich viel wieim Praktikum: 32 Franken proStunde. Ich sprach meine Vorge­setzte darauf an, sagte, dass ich nurfünf Franken mehr verdiene alsmeine Nanny. Sie war überrascht,aber mehr Lohn gab es noch nicht.

Dass Geld nie mein stärksterAntrieb war, liegt sicher daran,dass wir als Familie genug hatten.Entwicklungsmöglichkeiten sindmir wichtiger. Inzwischen aberverstehe ich die Höhe meinesGehalts alsWertschätzung undAnerkennung.»

2015201020052000

120

100

60

80

40

20

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

tatsächlicher Lohnhochgerechnetauf 100%-Pensum

Heirat

UniabschlussWeiterbildung

Praktikum

Kind Kind

Festanstellung

Tia, 43Projektmanagerin

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Folio 4 | 2018 | 43

«Es gab eine Zeit in meinem Le­ben, da arbeitete ich rund um dieUhr, trug edle Jacketts und trankden teuerstenWhisky. Doch imGrunde hat mir Geld nie viel be­deutet. Es war einfach da. MeineErsparnisse steckte ich in dasHaus, in dem ich heute nochwohne. Dann wurde mir klar, dassich meinem Leben eine neue Rich­tung geben will und muss.

Ich bin eher der musische Typ,habe in der Jugend viel gelesen undgeschrieben. Dass ich Betriebswirt­schaft anstatt Germanistik stu­dierte, hatte vor allemmit Kollegenzu tun, die in diese Richtung gin­gen. Nach dem Studium habe ichfür ein Beratungsinstitut gearbei­tet. Es war ein toller Job, aber wirmachten alle viele unbezahlteÜberstunden. Als ich den Stunden­ansatz, den wir den Kunden ver­rechneten, mit meinem Lohnverglich, begriff ich, dass wir vorallem unsere Vorgesetzten finan­zierten. Ich kündigte, versuchteerfolglos zu doktorieren und grün­dete dannmit drei Kollegen eineConsultingfirma. Da war ich 34.

Wir hatten sofort grossen Er­folg, wir haben aber auch Tag undNacht geschuftet. Ich fand meinenhohen Lohn gerechtfertigt. Eswaren zwischen 15000 und 20000Franken imMonat. Aber ich habegleichzeitig viel ausgegeben. Geldhat ja auch einen Kompensations­effekt:Wenn ich schon viel leiste,dann darf ich mir auch etwasgönnen. Mit 38 kaufte ich mir eingrosses Haus.

Nach zehn Jahren in der Firmawar ich erschöpft. Sowohl dieThemen als auch dieMenschenschienen mir nicht mehr interes­sant. Ich verlor die Freude an derArbeit. Heute würde man sagen,ich war einem Burnout nahe. Daentdeckte ich Yoga. Bald war meineYogalektion die heilige Stunde derWoche, die ich unter keinen Um­ständen verpasste.

Schliesslich nahm ich mir eineAuszeit und machte eineWeltreise.Nach der Rückkehr verkaufte ichmeinen Anteil an der Firma undarbeitete noch kurze Zeit als selb­ständiger Berater. Dann stieg ichum und liess mich zum Yogalehrer

ausbilden. In dieser Zeit lernte ichmeine heutige Frau kennen.

Es war ein bewusster Entscheidfür ein Leben mit weniger Geld.Mit 44 kam ich zum Schluss, dass5000 Franken proMonat reichensollen, das Haus war ja abbezahlt.Manchmal packten mich trotzdemExistenzängste. Die waren völligirrational. Ich habe mich dannberuhigt, indem ich mir immerwieder vorgerechnet habe, dass ichnicht mehr brauche. Mit der Zeithaben die Ängste nachgelassen.

Neben meiner Tätigkeit alsYogalehrer war ich für mehreregemeinnützige Organisationen undVerbände tätig. Mandate, die ichfür inhaltlich sinnvoll und gesell­schaftlich wichtig hielt.

Meine Frau hat eine Halbzeit­stelle, und da wir keine Kinderhaben, können wir von unseremEinkommen gut leben. Seit ich imAHV­Alter bin, arbeite ich an vierTagen proWoche, mache jedes JahrmehrereWochen Ferien und einelange Sommerpause. Ich werdeweiterarbeiten, solange es mirSpass macht.»

201520102005200019951990198519801975

250

200

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50

0

Jahreslohn in Tsd. CHF

tatsächlicher Lohnhochgerechnetauf 100%-Pensum

UniabschlussWeltreise

eigene Firma

Haus

WeltreiseVerkauf der Firma

Yogalehrer

Jürg, 69Yogalehrer

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44 | Folio 4 | 2018

Sechs Jahre war ich bei derWeltgesundheitsorganisation(WHO) angestellt und arbei­

tete mit derWeltbank, der Inter­nationalen Arbeitsorganisation, derUnicef und anderen UN­Organisa­tionen zusammen, um dieWelt zueinem besseren Ort zu machen.Wie Zehntausende andere Beamte,die ihrWissen und ihre Erfahrungan Regierungen und Bürger injedemWinkel des Planeten weiter­geben. Natürlich kannman dieMisserfolge des Systems kritisierenund die Beamten als gesichtsloseBürokraten bezeichnen. Aber wennPandemien ausbrechen, Friedens­truppen gebraucht werden oderStaaten Unterstützung in Notlagenbenötigen, sind es diese oft ge­schmähtenMitarbeiter der Uno,die die Hauptlast tragen.

Als ich bei derWHO anfing, warich erstaunt über meinen Lohn; erlag weit über dem, was ich in mei­nemHeimatland als jungerWis­senschafter verdienen konnte. Ichhabe das grosse Los gezogen,dachte ich.Während ich in Eng­land umgerechnet 110000 Frankenfür einen Vollzeitjob verdienthatte, erhielt ich jetzt fast 140000Franken für eine Viertagewoche –und das steuerfrei! Der Unter­schied ist für jemanden aus einemEntwicklungsland noch krasser:Ein Arzt in Uganda bekommthöchstens 25000 Franken im Jahr.

Und neben dem hohen Grund­lohn gibt es Zuschläge, die an dielokalen Lebenshaltungskostenangepasst sind. Genf und New Yorksind erwartungsgemäss teure

Allzuparadiesisch?Bei denUN­Organisationen gilt dasGebot derLohngerechtigkeit. InmancherHinsicht ist das ungerecht.Von John Snow

Städte, Delhi undManila vielbilliger. Brazzaville hingegen, dieHauptstadt der Republik Kongo,ist eine der teuersten Dienststatio­nen überhaupt.

Es gibt wenige Arbeitgeber, diesich so ehrlich um Lohngerechtig­keit bemühen wie dieWHO undandere UN­Organisationen. Undsie strengen sich auch an, Personalaus allen der fast 200Mitglied­staaten der Uno zu rekrutieren.Schliesslich herrscht das Ethos derGleichheit, jeder Bürger derWeltsoll die Chance haben, für dasUN­System zu arbeiten. Bei derRekrutierung gilt eine strikteBevorzugung unterrepräsentierterLänder. Dadurch wird eine Vielfaltan Erfahrungen und kulturellerKompetenz gewährleistet.

Die Gleichheit gebietet, dassUN­Angestellte, die aus Khartumoder Kampala kommen, genausobezahlt werden wie ihre Kollegenaus Ländern mit hohen Einkom­men. Das ermöglicht ihnen – undder erweiterten Familie – einungewohnt komfortables Leben.Warum sollte jemand ein solchesParadies je wieder verlassen?

Natürlich kannman beklagen,die Folge des Fairnessprinzips derUno sei ein korruptes System, indem sich die technokratische ElitederWelt die Taschen fülle und amEnde nicht mehr mit dem Lebender gewöhnlichenMenschen inBerührung komme. Ich bemerkteunter den 2000 Angestellten imGenfer Hauptquartier tatsächlichetliche langgedienteMitarbeiter,die wenig taten für die sehr gute

Rente, die sie erwartete. Und dieobendrein eine phantastischeKrankenversicherung hatten – zueinemDrittel der Beiträge, dieSchweizer zahlen. Alles, ohne sichum Steuern kümmern zu müssen.Die führt die Uno direkt an denschweizerischen oder französi­schen Staat ab, auf der Lohn­abrechnung tauchen sie nicht auf.

Aber es geht nicht nur um denLohn. Auch die Ausbildungskostender Kinder werden weitgehendübernommen.Wenn UN­Mit­arbeiter in einem Entwicklungs­land mit marodem Bildungswesenstationiert sind, leuchtet es ein,dass man ihren Kinder den Besuchder internationalen Schule ermög­licht.Warum sollten Kinder unterder Beschäftigung ihrer Elternleiden? Also zahlt dieWHO für alleKinder 75 Prozent der Kosten fürdie Privatschule und die Universi­tät bis zumMasterabschluss.

Aber wenn ein Beamter in derSchweiz oder in Frankreich statio­niert ist, in Ländern mit ausge­zeichneten öffentlichen Schulen,muss man sich fragen, warum erdiese zusätzliche Subvention fürprivate Bildung erhält. Bei Privat­schulkosten von über 30000Franken im Jahr ist das ein statt­licher Bonus für Leute wie meinendamaligen Chef aus Kanada, derdrei Kinder hatte. Darum ist esauch nicht verwunderlich, dassBeamte aus Entwicklungsländernoftmals einen Neffen oder eineNichte adoptieren; so kann dieganze Familie von der Grosszügig­keit des UN­Systems profitieren.

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Folio 4 | 2018 | 45

Dann ist da noch das Reisen.UN­Angestellte reisen viel. JedenMonat besuchte ich ein anderesLand, um Ideen auszutauschen,mir Probleme anzuhören, Berichtezu erstellen. Statt eine detaillierteSpesenabrechnung zu verlangen –man stelle sich den Papierberg vor,bei mehreren TausendMitarbei­tern, von denen jeder mindestensein Dutzend Dienstreisen pro Jahrmacht –, zahlt dieWHO für jedesReiseziel eine Pauschale.

Diese Pauschale basiert auf derZahl der Übernachtungen in einemgepflegten Hotel und derMahlzei­ten in einem guten Restaurant.Dazu kommt ein fixer Betrag fürjeden Reisetag. Rupert, einermeiner ehemaligen Kollegen, derviel mehr reiste als ich, erzähltemir, dass die meisten in einembilligeren Hotel übernachten, sichbescheidener verköstigen und sodank der Reisepauschale einengrosszügigen Gewinn machen.Rupert verdiente so zusätzlich1000 Franken proMonat, und das,ohne eine einzige Regel zu verlet­zen. Ich habe einmal versucht,Geld zurückzuzahlen, das vonmeiner Reisepauschale übrigge­blieben war. Man sagte mir, daswäre viel zu kompliziert.

Nicht zu vergessen der Heimat­urlaub. Die UN­Mitarbeiter stam­men aus der ganzenWelt; alle zweiJahre haben sie das Recht, ihreFamilie und ihre Freunde zu besu­chen. Sie erhalten keinen zusätz­lichen Urlaub, aber eine Pauschal­zahlung in Höhe des vollen Preiseseines unbeschränkten Economy­Tickets in ihre Heimat. DiesePauschale ist inWahrheit viel mehrwert: Die meisten kaufen sichdamit mehrere billige Tickets.

Die Situation ist aber wenigerempörend, als sie zunächst er­scheint. Als Single habe ich vondem grosszügigen Gehalt profi­tiert. Oft ist jedoch ein Partner mitdemUN­Mitarbeiter nach Genfoder Kairo oder Delhi gezogen. Er,oder gewöhnlich: sie, wird ziemlichsicher die eigene Karriere geopferthaben. Es ist also wahrscheinlich,

dass das Paar in einemHaushaltmit einem einzigen Gehalt lebt.

Mindestens die Hälfte derWHO­Mitarbeiter sind Ärzte, dieüberall gut verdienen würden. Viel­leicht nicht im öffentlichen Ge­sundheitswesen, sicher aber in derPrivatmedizin. Ob sie nun ausAddis Abeba, Bogotá oder Dhakakamen, sie haben wahrscheinlichEliteuniversitäten in Harvard,London oder Oxford besucht. Siesind hochqualifizierte Fachleute,die auch an amerikanischen Spitä­lern viel Geld verdienen könnten.Ähnliches gilt für Anwälte im Bürodes Hohen Kommissars fürMen­schenrechte und die meisten ande­renMitarbeiter des UN­Systems.

Trotzdem gibt es Reformbedarf.Einige UN­Organisationen verfol­gen eineMobilitätspolitik. Alle dreibis vier Jahre wird einMitarbeiterin eine andere Station versetzt:Drei Jahre im bequemen Genf,dann drei Jahre in Addis Abebaoder Dhaka. So wird es bei derUnicef gehandhabt. Als die frühereWHO­GeneraldirektorinMargaretChan eine ähnlicheMobilitätspoli­tik für dieWHO vorschlug, kam siedamit nicht durch. Ein indischerKollege erzählte, fast die Hälfte derAngestellten hätten gedroht, zukündigen und in Genf eine andereBeschäftigung zu suchen, falls siewegziehen müssten.

Das UN­System steht vor einerFinanzkrise. DieMitgliedländermüssen sparen und reduzieren ihreZahlungen, die internationalenOrganisationen sind zu Budget­kürzungen gezwungen. Die Vorge­setzten versuchen gerade, eineLohnkürzung um 5 bis 7 Prozentauszuhandeln. Mein indischerKollege gehörte zu denMitgliederndes Personalverbandes, die eineProtestdemonstration abhielten.Er kritisiert, dass die Kürzungennicht für Direktoren und ihreStellvertreter gälten, sondern nurfür das untere Personal.

Ich war immer derMeinung, dieArbeit bei einer internationalenOrganisation sollte eine befristeteAufgabe sein. Danach könnte der

UN­Mitarbeiter nach Hause zu­rückkehren, um seinWissen zumWohle seinerMitbürger einzuset­zen. Aber ich war wohl naiv. Meinehemaliger Kollege Rupert wiesmich darauf hin, dass eine längereTätigkeit für dieWHO dieMit­arbeiter für die meisten anderenFunktionen ungeeignet macht.Wenn sie Ärzte oder Kranken­schwestern sind, verlieren sie ihreklinischen Fähigkeiten.Wenn sieForscher sind, führen sie keineForschungsprojekte mehr durch,sondern beauftragen andere damit.

Was dieMitarbeiter gewinnen,sind sehr spezifische organisatori­sche Fähigkeiten: in der Entwick­lung von Leitlinien und Konsulta­tionssitzungen im politischenProzess. Diese technokratischenFähigkeiten sind nicht leicht aufeine neue Rolle übertragbar – essei denn, derMitarbeiter kommeauch in seinemHeimatland in derVerwaltung unter.

Daher ist es für dieMenschenschwierig, dieWHO oder eineandere UN­Organisation zu verlas­sen. Neben derMehrheit derengagierten und fachkundigenMitarbeiter, die 9 oder 10 Stundenpro Tag arbeiteten und auch amWochenende kamen, kannte ichsolche, die seit dreissig Jahren imselben Büro arbeiteten und ihreMotivation verloren hatten. Siesortierten bis zur Pensionierungdie Papiere auf ihrem Schreibtischin immer neue Haufen und gingenjeden Tag früh nach Hause. Manschuf eine neue Berufsbezeichnungfür sie – «Senior Advisor» etwa –,was signalisierte, dass sie in keinemlaufenden Projekt eine Rolle spiel­ten. So sachkundig sie sein moch­ten, sie waren nicht mehr nützlich.Nach Jahren im internationalenSystem blieb ihnen kein Auswegmehr, und los werden konnte mansie nicht.

John Snow unterrichtet und lebt inLondon. Da er von Zeit zu Zeit fürdas UN-System arbeitet, schreibt erhier unter einem Pseudonym.

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GerechtisteineIllusionGibt es einenGrund, weshalb Anwälteimmer schon gut verdienten?Warumbekamen Frauen von jeherweniger für ihre Arbeit? Seit wannsindCEO inGehaltsfragen derartskrupellos? EinGesprächmitderHistorikerin Brigitta Bernet.Von Gudrun Sachse

Chief Financial OfficerEinstiegslohn: 14000Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

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DetailhandelsverkäuferinLohn: 4000bis 7120 Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2017)

Frau Bernet, was verdienen Sie als Historikerin?Ich bin in derWissenschaft tätig, da wird man nicht

reich. In so einem Job ist nicht nur der Lohn wichtig,sondern auch der Sinn.

Seit wann gibt es Lohn eigentlich?DasWort Lohn taucht erst imMittelalter auf. Dass

es Lohn aber schon länger gibt, sehen wir in der All­tagssprache, in der Lohnkonzepte aus vergangenenZeiten bis heute ihre Spuren hinterlassen haben: DasSalär leitet sich von den Salzrationen ab, die im anti­ken Rom als Zahlungsmittel dienten. Der Sold, denSoldaten erhalten, erinnert an eine Goldmünze – soli­dus –, die Konstantin der Grosse eingeführt hat. Abernoch im 17. Jahrhundert war ein riesiger Sektor vomGeldwesen unberührt. Dazu zählte die Landbevölke­rung, die mit Naturalien wie Speck, Salz, Pökelfleisch,Wein oder Öl entlohnt wurde. Taglöhner erhieltenmeist eineMischform aus Geld, Naturalien, Kleidungund Unterkunft.

Im Mittelalter waren Lohnzahlungen für Handwerkerschon weit verbreitet. Wie wurde Lohn damals festgelegt?

In der mittelalterlichen Stadt herrschte Zunft­zwang.Wer einen Betrieb eröffnen wollte, musste ineiner Zunft organisiert sein. Die Zunft stellte Vor­schriften für Löhne und Preise auf.

Ein hartes Los hatten die Zunftgesellen. Sie arbeiteten12 bis 16 Stunden pro Tag, der Lohn war so gering, dasser kaum zum Leben reichte. Sie durften weder heiratennoch einen Hausstand gründen. Wann änderte sich das?

Die Abschaffung der Zünfte, die Gewerbefreiheitund die freie Berufswahl gehörten zu den bedeutsams­ten Errungenschaften der Französischen Revolution.

Im Verlauf des 18.Jahrhunderts stieg die Beliebtheit dersogenannten akademischen und freien Berufe: Anwalt,Arzt, Lehrer. Auch, weil man als Anwalt oder Arztbesonders gut verdiente?

Bei diesen bildungsbürgerlichen Berufen zählte inerster Linie das Prestige. Für Geldlohn interessiertesich der gebildete Citoyen nicht – zumindest nichtvordergründig.Was aber nicht heisst, dass keine hohenHonorare gezahlt wurden.

Ist das eine mögliche Erklärung, weshalb heute Anwälteoder Ärzte noch immer gut entlöhnt werden?

In Bezug auf die Höhe des Honorars schwingt dasEthos vom unbezahlbarenWert der freien Berufeimmer noch mit. Auch in der Festlegung von Honora­

ren besassen Anwälte viel Freiheit. Rechtsanwalt undArzt verkörpern den Idealtypus des unabhängigen unduneigennützigen Bürgers imDienst der Gesellschaft.Daraus leitet sich die hohe gesellschaftlicheWert­schätzung ihrer Arbeit bis heute ab.

Im Gegensatz zu ihnen wurden Taglöhner, Dienstbotenoder Fabrikarbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft nichteinmal als vollwertige Mitglieder angesehen. Warum?

Man schloss aus der Unselbständigkeit der Arbeits­form auf eine Unselbständigkeit des Denkens – alsoauf politische Unmündigkeit. So legitimierte man auchdas Zensuswahlrecht: Bis 1848 wurde das Stimmrechtin der Schweiz fast durchweg abhängig gemacht vonGrundbesitz oder von der Ausübung eines selbständi­gen Berufs. Besitzlose und abhängig Beschäftigteblieben davon ausgeschlossen.

Als der Engländer James Hargreaves 1764 die ersteindustrielle Spinnmaschine anwarf, begann die Massen-produktion, Lohnarbeit wurde zum Massenphänomen.Für den Wirtschaftsliberalen Adam Smith war Lohn-arbeit gleichbedeutend mit Wohlstand und Selbstentfal-tung. Für Karl Marx war sie Lohnsklaverei. Was stimmt?

Wenn Smith die freie Arbeit zur Quelle des allge­meinenWohlstands erklärte, dann war das 1776 vorallem ein Argument für freieMärkte.Was in denTextilfabriken konkret vor sich ging, interessierteSmith nicht, die Industrialisierung hatte erst begon­nen, und ihre Auswirkungen waren noch kaum sicht­bar. Gut hundert Jahre später sahMarx, wohin dieLohnarbeit im 19. Jahrhundert geführt hatte: Massen­armut, Kinderarbeit, Wohnungsnot, Alkoholismus. Erformulierte eine grundsätzliche Kritik der Arbeit imKapitalismus als entfremdet undmenschenunwürdig.

Lohnarbeiter wurden bald zur grössten sozialen Gruppe.Um 1850 arbeiteten in der Schweiz 32 Prozent der

erwerbstätigen Bevölkerung in der Fabrik, um 1900waren es 43 Prozent. In den Baumwollspinnereien, wiesie etwa im Zürcher Oberland standen, war Lohnarbeitvor allem körperliche Arbeit für einen geringen Lohn.Männer, Frauen und Kinder arbeiteten bis zu sech­zehn Stunden täglich, oft auch nachts. Für Fabrik­arbeiter war im 19. Jahrhundert der Akkord­ oderStücklohn verbreitet. Er hing von der produziertenWarenmenge ab. Aber auch der Zeitlohn, der dietatsächlich geleistete Arbeitszeit vergütete, war ge­bräuchlich – in der Regel als Stundenlohn. Fehlten dieAufträge, fiel der Lohn aus. Damit trug die Belegschafteinen Teil des unternehmerischen Risikos. Der heute

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gängigeMonatslohn setzte sich für Arbeiter erst in den1970er Jahren durch.

Was verdiente ein Fabrikarbeiter?Um 1880 erhieltenMänner in der Textilindustrie

ungefähr 25 Rappen, Frauen 15 Rappen und Kinder10 Rappen pro Stunde. ZumVergleich: ein Kilo Brotkostete etwa 30 Rappen.

Warum verdienten Frauen so viel weniger als Männer?Begründet wurde das mit dem Argument, dass

Frauen mit Ehemännern oder Vätern zusammenwohn­ten, die auch verdienten. Aber ganz generell ist diemoderne Arbeitskultur männlich geprägt. Im Bürger­tum dominierte das Familienmodell des Alleinernäh­rers. Die Arbeit, die Frauen imHaus und für die Fami­lie leisteten, galt nicht als Arbeit, sondern alsLiebesdienst. Auch die Sozialgesetzgebungen des20. Jahrhunderts gingen vomMann als Alleinernähreraus. Frauenerwerbsarbeit erschien demgegenüber alsatypisch und entbehrlich. Das wurde in den «Doppel­verdienerdebatten» während derWirtschaftskrisender 1930er und 1970er Jahre deutlich. UmmännlicheArbeitslose zu vermeiden, wurden Frauen mit erheb­lichemmoralischemDruck dazu aufgefordert, ihrenJob aufzugeben. Dies alles hat dazu beigetragen, dassder Arbeit von Frauen wenigerWert zugemessenwurde – und immer noch wird.

Die Idee des Liebesdienstes ist gerade in den Pflegeberufenbis heute präsent. Warum?

Sich umArme, Kranke und Alte zu kümmern fusstin der christlichen Heilsökonomie auf der Barmherzig­keit, der Caritas. Seit demHochmittelalter eröffnetenSpitalbruderschaften wie die Hospitaliter eigene Spitä­ler. In den katholischen Kantonen wurde die Pflegevon Nonnen übernommen, in den reformierten Kanto­nen von Diakonissen. Da jeweils dasMutterhaus fürUnterkunft, Verpflegung und Altersvorsorge aufkam,war der Verzicht auf ein Gehalt in diesem Beruf bisMitte des 20. Jahrhunderts typisch.

Der Lohn hat ja auch einen religiösen Nimbus.In der Bibelübersetzung von Luther steht in den

SalomonischenWeisheiten: Die Gerechten werdenewig leben, und der Herr ist ihr Lohn. Irdische Reich­tümer sind keine Garantien für den himmlischenLohn, im Gegenteil.

Wann änderte sich das?Schon Luther beschrieb die weltliche Pflichterfül­

lung als gottgefällig. Calvin stilisierte den Berufserfolgund den materiellen Reichtum zum Zeichen göttlicherAuserwähltheit und künftigen Seelenheils. Seit derAufklärung war derWeltenlauf nicht mehr durcheinen Schöpfungsplan vorherbestimmt. Die Hoffnung,imHimmel für ein armseliges Leben entschädigt zu

werden, verblasste. An ihre Stelle trat die Option,durch Leistung imDiesseits Erlösung zu finden.

Als CEO bei Novartis verdiente Joe Jimenez pro Tag umdie 35 000 Franken – was meint die Kirche heute zusolchen Löhnen?

Papst Franziskus tritt als scharfer Kritiker derglobalenMarktwirtschaft auf. Das gegenwärtigeWirt­schaftssystem bezeichnete er als «unerträglich», weil esimDienste des Geldes und nicht derMenschen stehe.

Im Dienste des arbeitenden Menschen sehen sich dieGewerkschaften. Der Schweizerische Gewerkschaftsbundwurde 1880 gegründet. Wie wichtig war seine Rolle fürdie Lohnentwicklung bei den Arbeitern?

Die Lohnfrage ist seit je ein Brennpunkt gewerk­schaftlicher Politik. Entsprechend wichtig warenGewerkschaften bei ihrer Regulierung. Durch Streiksund Proteste setzten sie in den Fabriken verbesserteArbeitsbedingungen durch. Sie erkämpften Arbeits­zeitverkürzungen und Lohnerhöhungen. Seit demArbeitsfrieden von 1937 breiteten sich Gesamtarbeits­verträge aus, die branchenübergreifend Lohn undArbeitszeit regelten. Die Gesamtarbeitsverträge wur­den nach und nach erweitert und umfassten auchAspekte wie Ferien, Feiertage, Spesen, Versicherung.

Das alles geschah immer auch in der Hoffnung auf einengerechten Lohn. Gibt es den?

Ich muss Sie enttäuschen, einen objektiv gerechtenLohn gibt es nicht. Die neoklassischeWirtschaftstheo­rie betont zwar, dass ein Lohn dann gerecht sei, wenner sich im freien Spiel aus Angebot und Nachfragebilde. Die Gesellschaft hat aber teils andereWertun­gen. Viele irritiert, dass Erfahrung, Fleiss und Loyalitätim Betrieb nicht mehr gleich lohnrelevant sind wienoch vor zwanzig Jahren. Obwohl ein breiter Konsensbesteht, dass jene mehr Lohn erhalten sollen, die mehrleisten, halten viele es für ebenso wichtig, dass auchsogenannt einfache Arbeiten mindestens so entlohntwerden, dass man anständig davon leben kann.

Jede Epoche hatte ihre Vorstellung davon, was gerechtsei. Woran orientieren wir uns heute?

Unsere heutigeWahrnehmung ist stark geprägtvomModell der Nachkriegszeit. Damals entstand inder Schweiz ein moderater Sozialstaat. Mit Sozialver­sicherungen wurde der Schutz gegen die Risiken desArbeitsmarktes, gegen Arbeitslosigkeit, Unfall, Alterund Invalidität ausgebaut. Ein progressives Steuer­system sorgte für einen gewissen Ausgleich derextremsten Einkommens­ und Vermögensunter­schiede. Heute wird dieses Umverteilungsmodell inFrage gestellt. Während immer mehrMenschen ausdem Arbeitsmarkt herausfallen, sinken die Steuern fürReiche und Unternehmen, und die Gehälter in derWirtschaft steigen. Mit wachsenden Ungleichheiten in

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der Einkommens­ und Vermögensverteilung wächstdie Spannung zwischen dem Prinzip der Demokratie,die auf Gleichheit beruht, und dem des Kapitalismus,der wenige sehr reich macht.

Und doch geht es der Mehrheit so gut wie nie zuvor in derGeschichte der Menschheit.

Sicher, in den Industrieländern erreichte derLebensstandard nach demKrieg ein nie gekanntesNiveau. Die Reallöhne stiegen, die Kaufkraft nahm zu.Es entstand eine Konsumgesellschaft mit vielen An­nehmlichkeiten. Als Konsumenten profitieren wir vomWeltmarkt und von den tiefen Löhnen in China oderBangladesh. Jedoch verlieren wir als Beschäftigte anVerhandlungsmacht. Und als Bürger schwinden unsereMöglichkeiten, auf das wirtschaftliche GeschehenEinfluss zu nehmen.

Man könnte profan feststellen: Die Zeiten und dieArbeitswelt ändern sich.

Und dieserWandel wirft Fragen auf. Mit der Digita­lisierung greift die alte Furcht vor einemmassivenVerlust von Arbeitsplätzen um sich. Dazu kommt einglobalisierterWettbewerb, der nicht nur Gewinnchan­cen, sondern auch Anpassungszwänge mit sich bringt.

Mit welchen Folgen?Der Beschäftigungsschutz wird aufgeweicht. Auch

die Arbeitsbedingungen haben sich in den letztenJahren in Bezug auf Arbeitsintensität, Arbeitszeit undArbeitsplatzsicherheit verändert. Es ist gar nichtimmer der Lohn ein Problem, sondern die stark gestie­gene Belastung am Arbeitsplatz.

Höre ich Ihnen zu, fällt auf, dass Lohn immer auch fürÄrger und Unmut sorgt. Warum?

Lohn ist eine Konfliktkategorie. Der Schattenbru­der des Lohns ist der Gewinn. Beide Formen desEinkommens sind eng miteinander verbunden undstehen sich dennoch unversöhnlich gegenüber.Wäh­rend der «Blütezeit des Kapitals» im 19. Jahrhundertwurde ein grosser Teil des durch Arbeit geschaffenenReichtums von den Unternehmern als Profit abge­schöpft. Heute zweifelt kaum jemand daran, dassdamals eine ungerechte Einkommensumverteilungvon unten nach oben stattgefunden hat. Im 20. Jahr­hundert konntenMissverhältnisse in der Verteilungvon Arbeitslöhnen und Kapitalgewinnen durch einensozialen Ausgleichsmechanismus etwas ausgeglichenwerden. Heute verändert sich das wieder.

Ein Direktor bei der UBS-Investmentbank verdient über30 000 Franken im Monat – plus Boni. Was verdienteein Bankdirektor in den 1950ern?

Verglichen mit heute wenig. Noch in den 1980ernbezogen die Generaldirektoren von grösseren Schwei­zer Unternehmen sechs­ bis elfmal so viel wie der

Durchschnitt der Beschäftigten. Die CEO­Gehältersind erst Ende der 1990er explodiert. Heute betragensie ungefähr das 66fache des Durchschnittslohns.

Die Nachkriegsjahre waren die Zeit des Wirtschaftswun-ders. Damals stieg der Wohlstand und mit ihm die Löhne.

Seit 1960 herrschten in der Schweiz Vollbeschäfti­gung und Arbeitskräftemangel. Der Arbeiterschaftbrachte die Hochkonjunktur grösstenteils ein Einkom­men, das die Träume der vorigen Jahrzehnte übertraf.

Die Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre beendete dasLohnwunder – auch in der Schweiz. Mit welchen Folgen?

Die Konkurrenz auf den internationalen Absatz­märkten nahm damals zu, viele Betriebe wurdengeschlossen oder fusioniert. Das wurde der Öffentlich­keit 1978 schockartig bewusst: Damals schloss dieReifenfabrik Firestone in Pratteln den Betrieb wegenhoher Produktionskosten und teuren Frankenkurses –und dies trotz freiwilligem Lohnverzicht der Beleg­schaft. Von einem Tag auf den anderen standen über600 Beschäftigte ohne Sozialplan arbeitslos auf derStrasse. In der öffentlichenWahrnehmung wider­sprach dies allem, was man in der Nachkriegszeit unterSozialpartnerschaft verstanden hatte. Die finanz­marktkapitalistische Dynamik, die seit den 1990ernspürbar ist, hat unser Verständnis von Arbeit, Leis­tung, Erfolg und Lohn weiter durcheinandergebracht.

In den letzten Jahren wurden diverse Initiativen lanciert,die Lohngerechtigkeit forderten. Bis auf die Abzocker-initiative kam beim Volk keine durch.

Auffällig an diesen Vorstössen ist nicht nur dasScheitern. Ebenso auffällig ist, dass solche Anliegennoch vor wenigen Jahren gar nicht salonfähig gewesenwären. Heute sieht es anders aus. Die soziale Ungleich­heit nimmt zu, das spürt auch derMittelstand. Dafürsind diese Initiativen symptomatisch.

Haben Sie – mit Blick auf die Historie – einen Vorschlag,wie mehr Lohngerechtigkeit zu erreichen wäre?

Lohngerechtigkeit kann es nur über Regelungengeben, die alle amWohlstand teilhaben lassen. Poli­tisch richtig wäre wohl die Festlegung einesMindest­einkommens für alle, das die grundlegenden Bedürf­nisse abdeckt: eine Art zivilisatorischesMinimum.Und für die Demokratie förderlich wäre wohl auch dieFestlegung eines zivilisatorischenMaximums. Denngrosse Ungleichheit unterhöhlt die Demokratie. So­lange diese einWert ist, sollte auch Gerechtigkeit inder Verteilung des Reichtums ein Ziel sein.

Gudrun Sachse ist NZZ-Folio-Redaktorin.Brigitta Bernet ist Historikerin an den UniversitätenBasel, Freiburg und Trier. Mit Jakob Tanner hat sie dasBuch «Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in derSchweiz» (2015) herausgegeben.

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Primarlehrerin 4. bis 6. KlasseLohn: 6980bis 11210 Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

WassichauszahltMindestlohn, Akkordarbeit,Trinkgeld, ein Bonus odereinfach regelmässiges Lob:Welches System ist gerecht?Undwelchesmotiviertwirklich?

Bonus

Sie investieren kein Herzblut; ohne Aussicht auf Be­lohnung kommen sie morgens kaum aus dem Bett; siedenken kurzfristig wie siebenjährige Kinder: DiesesMenschenbild steckt in manchen Grossfirmen hinterden komplizierten Systemen für die Entlöhnung vonManagern.

Firmenmit angestelltenManagern stehen heute vordem gleichen Problem wie vor hundert Jahren:Wiebringt man die Interessen derManager mit jenen derEigentümer in Übereinstimmung? Die Eigentümerkönnen die Arbeit derManager und ihren Einsatz fürdie Firmenziele nur beschränkt überwachen, weshalbman ihre Entlöhnung eng an das Schicksal der Aktio­näre binden sollte. Das war die Theorie, die ab den1980er Jahren in den USA Aufschwung erhielt unddann auf Europa überschwappte. Grosse Aktien­ undOptionspakete fürManager kamen inMode.

Die Sache hat glänzend funktioniert. Zumindest fürdie Spitzenmanager. Ihre Gesamtbezüge in grossenUnternehmen haben sich in Ländern wie den USA,Deutschland und der Schweiz in den letzten dreissigbis vierzig Jahren kaufkraftbereinigt verdrei­ bis ver­fünffacht. In der Schweiz liegt die mittlere Gesamtent­löhnung (Median) der Konzernchefs der zwanzig

grössten börsenkotierten Firmen heute bei 7 bis 8Mil­lionen Franken pro Jahr. Typischerweise macht davonder Bonus 60 bis 80 Prozent aus.

Für manche Unternehmen war die Entwicklungweniger einträglich. Dank Börsenboom und demkreativen Einsatz von Optionsplänen kassiertenMana­ger zumTeil auch bei nur durchschnittlicher Leistungkräftig ab. 2008 kam eine Analyse der UniversitätZürich von 75 Studien aus den vergangenen Jahrzehn­ten zum Schluss, dass höhere Boni für SpitzenmanagerimDurchschnitt keine bessere Firmenleistung bringen.

Laut einer ökonomischen Denkschule wäre dieBeschränkung auf Fixlöhne das Gescheiteste. Dieswürde allerdings die Frage der Einstufung und Be­urteilung nicht lösen, sondern nur auf die Festlegungder Lohnhöhe verlagern. Viele Vergütungsspezialistenglauben deshalb nach wie vor, dass Boni fürManagersinnvolle Leistungsanreize geben könnten.

Das ideale Bonussystem ist bis heute nicht gefundenworden. Optionspakete erscheinen angesichts derMissbrauchsgefahren besonders heikel. Dagegengewinnen längerfristig orientierte Systeme an Ge­wicht, mit denen dasManagersyndrom – «Nach mirdie Sintflut» – bekämpft werden soll.

Als Bonuskriterien sollten laut einer verbreitetenDenkschule nur Elemente in Frage kommen, die dieManager direkt beeinflussen können. Gängige Krite­rien wie Aktionärsrendite, Börsenkurs und Firmen­rentabilität sind stark durch Fremdfaktoren wie Kon­junktur und Börsenklima beeinflusst und solltendeshalb nur als relative Grösse – im Vergleich zuähnlichen Firmen – relevant sein. Aus dieser Optikgibt es viel Verbesserungsbedarf: Laut einer Analyseder Beratungsfirma Fehr Advice & Partners von 2017über börsenkotierte Firmen aus der Schweiz, Deutsch­land und Österreich haben die Boni der Spitzenmana­ger imMittel keinen statistisch sichtbaren Zusammen­hang mit der relativen Aktionärsrendite.

Doch auchModelle mit relativen Kriterien machenProbleme: Sie sind kompliziert, ermöglichenWillkür(wen wählt man als Vergleichsfirmen?) und könnenauch nach Verlustjahren zu hohen Boni führen, wasnicht leicht zu erklären ist. Zielkonflikte sind letztlichnicht zu vermeiden. Nach Lehrbuch sollten die Ver­gütungssysteme für Spitzenmanager an das Schicksalder Aktionäre angelehnt sein, Leistungsanreize setzen,längerfristiges Denken fördern und einfach sein. Indiesem Spannungsfeld sucht die Praxis Lösungen nachdemMotto «Versuch und Irrtum». Die Betonung lagin den letzten Jahrzehnten eher auf «Irrtum».Hansueli Schöchli, Wirtschaftsredaktor NZZ.

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Einheitslohn

Nur Kinder glauben, dass es gerecht sei, wenn jede undjeder gleich viel bekomme. Der Einheitslohn ist höchstungerecht, ich spreche aus Erfahrung. Bei derWOZ,der «Wochenzeitung», verdienten wir vor 17 Jahrenalle 4000 Franken, und ich weiss noch genau, was ichan einem Septembernachmittag im Jahr 2001 für dieWOZ tat. In New York waren Flugzeuge in Hoch­häuser geflogen, es war kurz vor Redaktionsschluss,und mich, einen Neuling, liess man wie geplant dasInterviewmit dem Sekretär des SchweizerWein­bauernverbandes abtippen. Der Routinier MichaelStötzel hingegen stellte unter Hochdruck das Blatt umund schrieb nebenbei auch noch den besten Kommen­tar zu Nine Eleven, den man in der Schweiz lesenkonnte.

Dass der ältere und erfahrenere Stötzel gleich wenigverdiente wie ich, brachte mich damals nicht um denSchlaf. Dafür konnte ich mich ärgern, dass ich nichtmehr bekam als manche Kollegen, die ich für faul oderschwach hielt. Doch auch dieser Ärger hielt sich inGrenzen, denn eines war klar: Von derWOZ bekamenwir alle wenig Geld und viel Freiheit, zu schreiben, waswir für richtig, wichtig und lustig hielten.

Über denWOZ­Lohn dachte ich nach, bevor ichmich dazu entschied, dort zu arbeiten; und dann nichtmehr. Das ist das Schöne am Einheitslohn: Nicht nurfallen die peinlichen Lohngespräche mit Vorgesetztenweg, er macht den Kopf auch frei fürWichtigeres.Doch derWOZ­Lohn hatte einen Fehler: Er war zutief. Nach vier Jahren erlag ich der Versuchung, wo­anders mehr als das Doppelte zu verdienen.

Wer mehr leistet, der verdient es auch, mehr zuverdienen, so lautete die Theorie beim verblichenenNachrichtenmagazin «Facts». In der Praxis aber be­stimmt nicht der liebe Gott, wemwie viel zusteht,sondern der Chef, und der ist nicht unfehlbar. Ichentdeckte, dass Angestellte in derWelt der ungleichenLöhne tatsächlich andere Talente entwickelten. Ichbewunderte, wie meisterhaft und schamfrei mancheKollegen den blossen Anschein einer grossen Leistungerzeugten.

Vor allem aber lernte ich eine neue Form der Kom­munikation kennen. In derWOZwaren wir ehrlichzueinander, manchmal vielleicht unnötig ehrlich.Ungleiche Löhne führen zum umgekehrten Problem.Kein Untergebener sagt seinem Chef die ganzeWahr­heit. Die meisten vertuschen Probleme und halten sichnach oben mit Kritik zurück, viele werden opportunis­

tisch, manche unterwürfig. Lohnungleichheit führt zuArschkriecherei.

Vorgesetzte halten das Recht, über die Löhne derUntergebenen zu verfügen, für ein wichtiges Füh­rungsinstrument. InWirklichkeit sichert es ihrenMachtanspruch, und die Betriebe zahlen dafür einenhohen Preis. Wenn der liebe Gott Statistiker wäre,müsste man ihn um Zahlen bitten zu den volkswirt­schaftlichen Schäden durch Heuchelei, Servilität undKarrierismus. Im Rückblick halte ich die Kombinationvon flachen Hierarchien mit Lohngleichheit für nahe­zu ideal. Bei derWOZ gab es damals keine Chefs oderChefinnen. Dennoch war klar, wer etwas zu sagenhatte: Es waren die willigen Fähigen.

Auch darum arbeite ich ab Sommer 2018 gernwieder für ein solches Unternehmen. Diesmal für dasOnlinemagazin «Republik», für einheitliche 8000Franken und als erfahrener Redaktor. Natürlich werdeich mich dort manchmal ärgern, dass ich nicht mehrverdiene als meine jungen Kollegen. Gerecht ist dasnicht. Nur ist Gerechtigkeit in Lohndingen hieniedenohnehin nicht zu haben. Man denke an die LohnscherezwischenMann und Frau, zwischenWest­ und Ost­europa oder Bankern und Bauern. Der Einheitslohndagegen ist schon fast eine Lösung wie von Gott ge­schaffen: radikal und einfach. Also schön.Urs Bruderer, Korrespondent Schweizer Radio SRF.

Mindestlohn

Lange galt es unter den meisten Ökonomen als ausge­macht, dass ein gesetzlich vorgeschriebenerMindest­lohn Arbeitsplätze vernichte. Der NobelpreisträgerJames Buchanan etwa schrieb 1996 im «Wall StreetJournal»: «So wie kein Physiker behaupten würde,Wasser fliesse den Berg hoch, so würde kein Ökonom,der etwas auf sich hält, behaupten, eine Erhöhung desMindestlohns schaffe mehr Arbeitsplätze.»

Befürworter desMindestlohns hielten dem ent­gegen, dass diese Aussage nur in der Theorie stimme:Wenn auf dem Arbeitsmarkt Angebot und Nachfrageim Gleichgewicht sind, führt eine willkürliche Er­höhung der tiefsten Löhne dazu, dass Stellen gestri­chen werden. In der Realität aber gebe es dieses per­fekte Gleichgewicht nie, sondern immer gleichzeitigArbeitslose und offene Stellen.

Inzwischen wurde der Mindestlohn in den meisteneuropäischen Ländern und auch in den USA einge­führt. Über seine Auswirkungen gibt es grosse Men­

LaderKehrichtabfuhrLohn: 3700bis 5830Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2017)

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ZugbegleiterinLohn: 4560bis 6620Franken(Quelle: RhätischeBahn)

gen an Daten und eine Vielzahl von Studien. AllanManning, Professor an der London School of Econo­mics, hat sie gesichtet und zieht das Fazit: Weder inden USA noch in Grossbritannien oder Deutschlandwurde der staatlich festgesetzte Mindestlohn zumJobkiller.

In Frankreich, das oft als abschreckendes Beispielerwähnt wird, sei die hohe Arbeitslosigkeit wahr­scheinlich eher auf die restriktiven Arbeitsgesetzezurückzuführen als auf denMindestlohn. Aber ebensowenig empirisch erhärten lässt sich die Hoffnung, derMindestlohn sei eineWunderwaffe zur Bekämpfungder Armut.

Unstrittig ist, dass ein zu hoch angesetzter Mindest­lohn negative Auswirkungen hat – wobei unklar ist, wodie Grenze zwischen angemessen und überhöht ver­läuft. In Dänemark steigt derMindestlohn ab dem18.Altersjahr um 40 Prozent. Gleichzeitig sinkt dieBeschäftigungsrate der über 18jährigen um einenDrittel. Und in Seattle, wo derMindestlohn auf13 Dollar pro Stunde angehoben wurde – fast doppeltso viel wie die national vorgeschriebenen 7,25 Dol­lar –, hat man festgestellt, dass dieMassnahme kontra­produktiv wirkte: Die Arbeitgeber kürzten dieArbeitszeiten und schoben Neuanstellungen hinaus.

Bei den Schweizerinnen und Schweizern fand derstaatliche Eingriff in die Lohnpolitik keine Gnade:2014 lehnten sie die von den Gewerkschaften lancierteVolksinitiative für einen nationalenMindestlohn mitfast 80 Prozent der Stimmen ab. 2017 haben Neuen­burg und Jura einen kantonalenMindestlohn einge­führt (20 Franken pro Stunde), das Tessin hat ihnebenfalls beschlossen, über die Höhe wird zurzeit nochdebattiert.

Trotz der verlorenen Abstimmung verbuchen dieGewerkschaften als Erfolg, dass viele UnternehmenihreMindestansätze erhöht und sich 4000 Franken als«Marke für einen fairenMindestlohn» etabliert hätten.Daniel Weber, Chefredaktor NZZ-Folio.

Trinkgeld

Wenn Sie im Restaurant das nächsteMal die Rech­nung aufrunden, müssten Sie im Grunde über sichselber den Kopf schütteln.Wer Trinkgeld gibt, tutetwas derart Absurdes, dass dieWissenschafter eineBezeichnung dafür erfunden haben: «tipping servicepuzzle» – das Trinkgeld­Leistungs­Rätsel. TrotzHunderten von Arbeiten mit Titeln wie «Wahr­

nehmungen von gruppenübergreifenden Trinkgeld­unterschieden, unterschiedlicher Dienstleistung undTrinkgeldverdienst unter dem Servicepersonal» ist dasMysterium bis heute nicht geklärt.

Als Laie mögen Sie auf den ersten Blick kein Rätselerkennen. Sie haben eine Leistung bezogen, die Sie jenach Ihrer Zufriedenheit belohnen.Was soll daranrätselhaft sein? Da wäre die Tatsache, dass Sie esfreiwillig tun. «Trinkgeld zu geben ist ein interessantesökonomisches Phänomen, weil es sich dabei um eineAusgabe handelt, die Kunden vermeiden können»,schreibt Michael Lynn von der Cornell University inNew York, mit über fünfzig Facharbeiten einer derführenden Trinkgeldforscher.

Wie kommt es, dass Sie im Restaurant Geld spen­dieren, wo Sie doch im Internet lange nach der billigs­ten Druckerpatrone suchen?Warummutieren Sie vomGeizkragen zumWohltäter? Dass Sie mit dem Trink­geld die Leistung Ihrer Bedienung beeinflussen, fälltals Grund weg. Sie bezahlen ja erst, nachdem dieseerbracht worden ist. Dient das Trinkgeld der präventi­venMotivation für Ihren nächsten Besuch? Diese Ideehaben die Ökonomen verworfen, als sie sahen, dassTrinkgelder auch beim einmaligen Besuch einer Gast­stätte bezahlt werden.

Was die Trinkgeldtradition erst recht mirakulöserscheinen lässt: die Höhe des Trinkgelds hat kaumetwas mit der Qualität der Leistung zu tun. Laut Stu­dien lassen sich unterschiedliche Trinkgelder zu höchs­tens fünf Prozent mit der Servicequalität erklären. DasTrinkgeld ist also ein unaufgefordert bezahlter Betrag,der ohne Einfluss auf eine genossene oder zukünftigeLeistung bleibt und nichts mit ihrer Qualität zu tunhat. KeinWunder schreibt Michael Lynn, Trinkgeld zugeben sei für einenWirtschaftswissenschafter ein«irrationales Verhalten».

Der Grund für den Brauch ist denn auch eher in derPsychologie als in der Ökonomie zu finden. Zu denvielen Erklärungen gehören: Aufbessern des eigenenStatus, Mitgefühl mit dem Personal, sozialer Druck.Entsprechend unvorhersehbar und bunt ist der StraussderMassnahmen, mit denen sich eine Bedienung ihrTrinkgeld aufbessern kann. In Experimenten habenfolgende Verhalten zum Ziel geführt: eine Blume imHaar tragen – plus 17 Prozent Trinkgeld; ein Smileyauf die Rechnung zeichnen – plus 18 Prozent; währendder Bestellung kauern – plus 25 Prozent; eine Sonneauf die Rechnung zeichnen – plus 37 Prozent; einenWitz erzählen – plus 40 Prozent; den Gast beiläufigberühren – plus 42 Prozent; die Bestellung wieder­holen – plus 100 Prozent; lächeln – plus 140 Prozent.

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Zudem schadet es nicht, wenn eine Kellnerin gutaussieht und freundlich ist. Auf einen der wichtigstenFaktoren hat sie hingegen keinen Einfluss: die Stim­mung des Gastes.RetoU.Schneider, stv. Chefredaktor NZZ-Folio.

Akkordlohn

Für das Ausbeinen einer Schweineschulter benötigtPeter Hugentobler knapp zwei Minuten. Keiner ist soschnell wie er. Hugentobler ist amtierender SchweizerMeister in dieser Disziplin, er arbeitet als Akkord­metzger. Hugentobler wird nach Leistung bezahlt,nach Anzahl zerteilter Kalbskeulen und Rinderhälften,nach ausgebeinten Schweineschultern oder von denKnochen gelösten Backen. Da derMetzger nicht nurflink, sondern auch ausdauernd ist, zahlt sich dieAkkordarbeit für ihn aus. Er verdient mehr als seineArbeitskollegen. Sehr viel mehr auch als jene, die imMonatslohn angestellt sind.

Anders als der Zeitlohn, bei dem die Arbeitsstundenentschädigt werden, errechnet sich der Akkordlohnnach Stückzahl und dem Lohnsatz, der pro Stückvereinbart wurde. Damit ist die Bezahlung bei derAkkordarbeit unmittelbar an die Leistung gebunden.Je höher die Leistung ist, desto höher ist die Be­zahlung.

Berufsleute, die talentiert und fleissig sind, schätzendas – und sie dürften diese Art der Entlohnung auchals gerecht empfinden. Gewerkschafter hingegensehen in der Akkordarbeit eine raffinierte Form derAusbeutung. Der stetige Leistungsdruck, argumentie­ren sie, schade auf die Dauer der Gesundheit, säeZwietracht unter den Arbeitnehmern und sei letztlichunmenschlich und ungerecht.

Ein Nachteil der Akkordlohnarbeit, den auch dieArbeitgeber sehen:Wenn allein dieMenge zählt, leidetmeist die Qualität. Reine Akkordlöhne sind heutedenn auch nur noch selten anzutreffen. Meist wird derAkkord­ mit einem Zeitlohn kombiniert. Der Akkord­zuschlag ist in diesem Fall vergleichbar mit einerPrämie oder einem Bonus.

Das Arbeiten im Akkord setzt voraus, dass dieArbeitsbedingungen stets die gleichen sind und sichdie Abläufe über lange Zeit wiederholen. So wie beimAusbeinen von Schweineschultern, beim Nähen vonKnopflöchern, beim Stanzen vonMetallteilen, beimVerlegen von Platten. Die Einzelheiten sind im Obli­gationenrecht festgehalten sowie in den Gesamt­

arbeitsverträgen – sofern es sie denn gibt. In jenemfür das Plattenlegergewerbe sind zum Beispiel auchAkkordmindestlöhne für die verschiedenen Arbeitenfestgelegt: Ein Quadratmeter Bodenplatten mitFugen bringt mindestens 21 Franken, ein Quadrat­meter abgesäuertes Glasmosaik 37 Franken. In ver­schiedenen Branchen ist der Akkordlohn aber auchausdrücklich verboten, etwa imMaler­ oder Gipser­gewerbe.

In den letzten Jahrzehnten war die Akkordarbeitganz klar auf dem Rückzug. Doch nun könnte sie mitder sogenannten Flexibilisierung der Arbeitswelt –mit Homeoffice,Work­on­demand oder Crowdwork –wieder einen Aufschwung erleben.

Akkordlöhne gibt es aber auch dort, wo man sienicht unbedingt vermuten würde: etwa bei den Chef­ärzten, die quasi im Akkord operieren und sich so mitden sogenannt variablen Lohnbestandteilen einegoldene Nase verdienen.Andreas Heller, NZZ-Folio-Redaktor.

Lohntransparenz

Mehr Transparenz ist kaummöglich: In Norwegendarf jeder nachschauen, was der andere verdient. Seit1863 wurde das Einkommen aller Steuerpflichtigen indicken Büchern veröffentlicht, und 138 Jahre lang gingdas gut. Bis die Regierung die Zahlen 2001 ins Internetstellte. Die Kränkung, der Triumph und der Neidwaren jetzt nur noch einenMausklick entfernt.

Angestellte fühlten sich ausgenutzt, Nachbarnbeneideten einander, Jugendliche verspotteten sichwegen des Gehalts der Eltern; und Einbrecher kamenleichter an die Adressen, an denen es etwas zu holengab. Anhänger des Lohngeheimnisses könnten Norwe­gen als abschreckendes Beispiel anführen. Doch dasLand fand eine überraschend einfache Lösung.

Lohntransparenz gilt alsWaffe im Kampf gegenDiskriminierung. Nur wer weiss, wie viel anderebekommen, kann sich gegen Ungerechtigkeit wehren,so der Gedanke. Deutschland hat gerade das Entgelt­transparenzgesetz eingeführt. Angestellte können vomArbeitgeber verlangen, dass er ihnen den durch­schnittlichen Lohn für ihre Tätigkeit verrät – aller­dings nur, wenn im Betrieb mindestens sechs Leutedes anderen Geschlechts die gleichen Aufgaben ver­richten.

In England sind Firmen mit über 200Mitarbeiternseit letztem Jahr verpflichtet, die Gehälter auf

AutomechanikerEinstiegslohn: 4450Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

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Geschlechtsunterschiede hin zu untersuchen, dieErgebnisse zu publizieren undMassnahmen gegeneinen allfälligen «Gender Pay Gap» aufzulisten. Undin der Schweiz wurde gerade diskutiert, ob grössereBetriebe ihre Gehälter künftig alle vier Jahre analysie­ren und die Erkenntnisse ihrenMitarbeitern mitteilenmüssen.

DerWiderstand war gross. Die Gegner befürchteneine «Lohnpolizei», die Befürworter halten die Ideefür «zahnlos», weil es keine Sanktionen geben wird.Allerdings: Dahinter steckt ein Prinzip, das Staatenzunehmend anwenden, um «weiche Regeln» durchzu­setzen: «Comply or explain», heisst es, «befolge odererkläre». Es baut auf Erkenntnissen aus der Verhal­tensökonomie auf: Zum Beispiel, dass jemand eher anguten Absichten festhält, wenn er öffentlich Rechen­schaft darüber ablegen muss. Das gilt auch für Unter­nehmen. Die allermeisten wollen ihre Angestellten janicht diskriminieren; Ungleichheit entsteht fast immerunbewusst.

Es gibt Studien, die befürchten lassen, mehr Trans­parenz säe Unzufriedenheit, ohne Zufriedenheit zuernten:Würde man das durchschnittliche Gehaltbekanntgeben, würde dieMotivation jener sinken, diedarunterliegen, während die, die mehr verdienen,dadurch nicht unbedingt mehr leisten würden. DieUniversität Luzern hat kürzlich Anzeichen gefunden,dass Unternehmenmit «prozeduraler Transparenz»überdurchschnittlich erfolgreich sind: Sie geben nichteinzelne Gehälter bekannt, sondern legen offen, wiesie die Löhne anhand von Kriterien wie Funktion,Ausbildung oder Erfahrung festlegen. Daraus ergibtsich eine Lohnspanne, die manche Firmen bereits insStelleninserat schreiben.

Und wie ging es in Norwegen weiter? Zwei Ökono­minnen haben den «einzigartigen Informations­schock» im Jahr 2001 untersucht: Vor allemGering­verdiener suchten rasch einen lukrativeren Job; ihrDurchschnittsgehalt stieg um fast fünf Prozent. DieNeugierde hat Norwegen einfach in den Griff bekom­men. Zwar sind noch immer alle Einkommen imNetzzu finden, aber mit der Anonymität ist es seit 2014vorbei. Jeder Steuerpflichtige kann nun sehen, wer sichfür sein Einkommen interessiert hat. Die Zahl derSuchanfragen ist dadurch auf einen Zehntel ge­schrumpft.Barbara Klingbacher, NZZ-Folio-Redaktorin.

Lob

Auf demWeg zur Arbeit treffe ich im Zug oft einGrüppchen Frauen. Die meisten von ihnen arbeiten inexklusiven Geschäften in der Gegend der ZürcherBahnhofstrasse. Zwei Dinge sind gewiss: Sie sindperfekt gekleidet und werden übellaunig, sobald sie

auf ihren Job zu sprechen kommen. Es erwarte siewieder eine meckernde Chefin, sagt die eine. Obwohlsie den Laden schmeisse, sei ihrem Chef nie etwasrecht, sagt die andere. Sie würde sofort den Job wech­seln, wenn es denn so einfach wäre, sagt eine dritte.Allein der Ton ihrer Vorgesetzten lasse sie nachts nochaufschrecken.

Das Ergebnis dieser nicht repräsentativen Feld­studie deckt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnis­sen: Bleiben Lob und Anerkennung aus und wirdunangemessen schnell kritisiert, sei es nicht verwun­derlich, wenn die Mitarbeiter die Lust an der Arbeitverlören.

Nick Zubanov, Professor fürWirtschaftsorganisa­tion an der Universität Konstanz, würde selbst gernöfter loben, nur fehle es ihm an Studenten, «die dasauch verdient haben», sagt er. Schliesslich müsse Lobehrlich gemeint sein. Zubanov hat ausführlich zumThema geforscht. Er weiss: Im Vergleich zu einerGehaltserhöhung ist Lob für ein Unternehmen zwarbillig, aber nicht umsonst.

Zu loben erfordert, und da ist es beim Erwachsenennicht anders als beim Kind, Zeit und Zuwendung.Diese Zeit muss der Chef sich nehmen, denn Lob nütztnur, wenn es eine Autoritätsperson ausspricht.Wich­tig sei zudem die Dosis. Fallen lobendeWorte zu oft,sind sie «wertlos wie Simbabwe­Dollar», sagt Zuba­nov. Zu selten bringen sie aber auch nichts: «Lob hateine kurze Halbwertszeit.»

Als wäre das nicht Herausforderung genug, gilt esdie richtige Dosis auch noch auf Charakter, Jahrgangund Funktion desMitarbeiters abzustimmen. Je älterder Kollege, desto weniger fällt er auf dieMotivations­spritze Lob herein. Schliesslich wüssten ältereMit­arbeiter selbst, was ihre Arbeit wert sei. Im Kadersollte Lob zudem gezielt und an eine Leistung gebun­den ausgesprochen werden; der durchschnittlicheArbeiter indes freue sich auch, wenn der Chef ihmspontan auf die Schulter klopfe.

Zubanov stellte zudem fest, dass Anerkennungnicht nur die Leistungsbereitschaft des Gelobtensteigert. Noch stärker wirkt sie auf jene, die das Lobmitanhören mussten. «Wenn man ein Verhalten mitWorten würdigt, ist das Loben eine Form der Kom­munikation darüber, was der Norm entspricht», sagtZubanov. Damit wird die Höhe der Latte festgelegt,über die man springen muss, um Teil der Gruppe zusein.

Der Komplexität des korrekten Lobens bewusst, rätder Professor einen einfacherenWeg zu wählen: denMammon voranzuschicken. Lob sei wichtig, aber eineGehaltserhöhung die bessere Lösung, um Angestelltelangfristig zu motivieren. Vorausgesetzt, das Gehaltsteige überaus deutlich an. Mit einer Prämie von einpaar Hundert Franken zuWeihnachten können sichungeschmeidige Chefs nicht freikaufen.Gudrun Sachse, NZZ-Folio-Redaktorin.

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Der Zeiger kippt auf 10 Uhr 06. Hanselmannfährt mit seinen Händen auf den Oberschen­keln auf und ab. Er ist froh, dass er seinem

Vorgesetzten Kehl nicht die Hand schütteln muss.Seine Handflächen haben auf dem kühlen Glastischfeuchte Schatten hinterlassen. Seit vier Minuten sitztHanselmann im Einzelbüro seines Chefs. 10 Uhr 02war kein Zufall: Hanselmann wollte pünktlich, abernicht übereifrig wirken. Es hat ihn viel Überwindunggekostet, diesen Termin zu vereinbaren. Er mag solcheGespräche nicht. Und er mag Kehl nicht.

«Bitte entschuldige – die GL», sagt Kehl, als erzügig ins Büro marschiert.

Kehl bittet nie um etwas – er fragt, verlangt, be­stimmt, konstatiert. Kehl. Doktor derWirtschaft,Vater zweier Buben, athletisch und einen Kopf grösserals Hanselmann. Er wirkt den ganzen Tag, als habe ereben erst geduscht. Nein, Menschen wie Kehl bittennicht. Bitten – oder besser betteln –, das ist Hansel­manns Gebiet: ummehr Leute, mehr Zeit, mehr Bud­get oder eben mehr Lohn.

«So.» Kehl wirft ein schwarzes Notizbuch auf denTisch und gleitet in seinen Sessel.

Eigentlich wollte Hanselmann zum Einstieg etwasLockeres sagen, doch ihm kommen nur die Sätze inden Sinn, die er sich für das Gespräch eingeschärft hat.«Ich möchte über meine… Perspektiven in der Firmasprechen», beginnt er vorsichtig.

«Aha.» Kehl verschränkt seine Hände hinter demKopf und lehnt sich in den Sessel zurück.

«Ich finde, wir haben schon lange nicht mehr übermeinen Lohn gesprochen, und ich möchte eine Lohn­erhöhung.»

Folio: Ist das eine gelungene Gesprächseröffnung?Matthias Mölleney: Ich denke, am besten ist es,bereits beim Abmachen des Termins darauf hinzu­weisen, dass man über den Lohn sprechen möchte.Dann hat der Vorgesetzte keineMöglichkeit zu

Darf’s einbisschenmehrsein?

HanselmannmöchtemehrLohn.Der PersonalexperteMatthiasMölleney erklärt,was er imGesprächmit demChef alles falschmacht.

Von Balz Ruchti

sagen, der Antrag überrasche ihn. Allerdings wärees besser, von einer «Lohnanpassung» zu sprechen.Wenn ich nach einer «Lohnerhöhung» frage, sageich damit vor allem: «Ich will mehr Lohn.» «Lohn­anpassung» suggeriert, dass ich bereits eineMehr­leistung erbracht oder meine Ziele übertroffenhabe und der Lohn nun daran angepasst werdenmuss.Folio: Solche Nuancen sind wichtig?Mölleney: Sprache ist immer wichtig. Deswegensollte man auch darauf achten, die Sätze aktiv zuformulieren. Es gibt Leute, mit denen passiert alles.In einem solchen Gespräch wollen Sie aber als Han­delnder wahrgenommen werden, als Pilot, nicht alsPassagier.

Kehl atmet hörbar. Seine Stirn staucht sich in Runzeln,als hielte er Hanselmanns Begehren für eine seltsameIdee. Doch er sagt nichts undmustert ihn nur.

Hanselmann rutscht auf dem Stuhl zurecht undlehnt sich vor, die Hände zwischen die Oberschenkelgeklemmt. «Ich finde, ich habe ein gutes Jahr hintermir», sagt er schliesslich und fixiert Kehls Notizbuch.

Mölleney: Das wirkt nicht sehr souverän. Freund­licher Augenkontakt und eine gesunde Grundspan­nung sind wichtig.Wennman aufrecht sitzt, klingtauch die Stimme gleich ganz anders. Falls sich dieMöglichkeit bietet, empfehle ich, in solchen Ge­sprächen sogar zu stehen.Folio: Wieso das?Mölleney: Stehend wirkt man ganz anders – dyna­mischer und aktiver.

Kehl blickt Hanselmann forschend an. «Hast du denndas Gefühl, du verdienst zu wenig?»

Hanselmann sinkt in sich zusammen. Eigentlich ister ganz zufrieden mit seinem Lohn. Er mag seineArbeit, würde den Job auch für weniger machen. Seine

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ApplikationsentwicklerEinstiegslohn: 5980Franken(Quelle: LohnbuchSchweiz 2018)

Frau unterrichtet an einer Sekundarschule. Mit einemvollen Pensumwürde sie sogar etwas besser verdienenals er. Gemeinsam erreichen sie den mittlerenMittel­stand. Miete, Steuern, Auto: kein Problem. Es reichtauch für Ferien, den teurerenWein im Restaurant unddie spontan angeschafften Sportausrüstungen wie dasFaltboot, das er dann doch nie braucht. Geld spielt beiHanselmanns buchstäblich keine Rolle. Er schütteltden Kopf. «Darum geht es nicht.»

Mölleney: Einer der häufigsten Gründe, mit denenLeute erklären, warum sie mit ihrem Lohn zufrie­den sind:Wenn sie sich das Leben leisten können,das sie gerne führen möchten. Ein weiterer Grund:Wenn sie das Gefühl haben, dass die Leistung, diesie für das Unternehmen erbringen, angemessenentlohnt wird. Und der interne Vergleich, der istauch sehr wichtig.

Nein, zu wenig verdient Hanselmann nicht. Aber erweiss, was andere verdienen. Die Rüttimann und ihrebeiden Spezis, die Kehl vor drei Jahren nachgeholt hat,zum Beispiel. Jedesmal, wenn einer von denen in KehlsBüro stolpert, kommt er mit mehr Lohn wieder raus.Vor allem Etterli, dieses selbstverliebte Arschloch. Derprahlt sogar noch damit.

Und die Rüttimann, die war mal ein Top Shot.Entsprechend teuer hat man sie abgeworben. Aber nunschippert sie hier als Grande Damemit gestrichenenSegeln der Pensionierung entgegen.

Hanselmann knetet unter dem Tisch die Hände.Freundlich bleiben. Und sachlich. «In den fünf Jahren,in denen ich hier bin, habe ich nie nach einer Lohn­erhöhung gefragt», sagt er leise, um seinen Unmut zuverbergen. Das Ganze ist schlicht ungerecht.

Mölleney: So etwas dürfte es gar nicht geben.Folio: Was meinen Sie genau?Mölleney: Dieses Lohnfeilschen. Das führt dazu,dass immer nur jene mehr Lohn bekommen, diesich zu fragen trauen. Das geht doch nicht, das hatja nichts mit Leistung zu tun. Ausserdem ist esverfassungswidrig.Folio: Wie bitte?Mölleney: Dieses System verunmöglicht Lohn­gleichheit zwischen den Geschlechtern, weilFrauen seltener fordern, und wenn doch, tenden­ziell weniger erfolgreich verhandeln. Müsste mandie Löhne von heute auf morgen offenlegen, kämendie Frauen sicher schlechter weg, obwohl dies nichtmit Leistung erklärbar ist.

Folio: Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf Lohn-gerechtigkeit.Mölleney: Nein, aber wenn der entscheidendeFaktor das Geschlecht ist, handelt es sich umDis­kriminierung – und die ist verfassungswidrig.

Hanselmann geht es aber nicht allein darum, dass seineKollegen im unteren Kader alle mehr einsacken als er.Er hatte wirklich ein gutes Jahr – und die beiden Jahredavor konnten sich ebenfalls sehen lassen. Er hat dasProjekt geleitet, das der Firma einen der renommier­testen Preise in der Branche eingebracht hat. Und zweider fünf Features, die der Laudator explizit erwähnthatte, waren unbestritten seine Ideen. Ausserdem istHanselmann stets motiviert und flexibel. Wenn er amWochenende Pendenzen abträgt, schreibt er das garnicht auf. Die Eingabe für besagtenWettbewerbschafften sie nur, weil er während derWeihnachts­ferien zwei Arbeitstage eingeschoben hatte – gemaulthatte nur seine Frau. Er hatte auch sein Team dazugebracht, über die Festtage eine Sonderschicht einzu­legen. Das taten sie ihm zuliebe, weil sie ihn als Team­leiter mögen – Stichwort Führungskompetenz. DieRüttimann dagegen muss froh sein, wenn sie nichtirgendwann einMesser im Rücken hat.

Innerlich hat Hanselmann all das – und vielesmehr – schon oft aufgelistet. Aber diesmal hat er esniedergeschrieben. «Ich habe hier etwas zusammen­getragen», sagt er und schiebt sein Dossier über denTisch.

Mölleney: Sehr gut ist es, die Lohnanpassung mitder eigenen Leistung zu begründen. Sie brauchenmöglichst viele Fakten und Argumente, die für Siesprechen – sonst nichts.Folio: Und ist es ratsam, diese Argumente schriftlichzusammenzustellen?Mölleney: Je nach Job kann sich so ein Portfolioanbieten. Ich würde aber eher raten, eine persön­liche Bilanz zu erstellen – auf einem A4­Blatt, dasman bei Bedarf auch aushändigen kann: auf derlinken Seite die Gründe, die für mich sprechen,rechts jene dagegen. So kannman sich nicht nur aufmögliche Konter vorbereiten, sondern auch zeigen,dass man durchaus reflektiert und selbstkritisch ist.Und dazu sollte man seine Position in zwei, dreikurzen, kernigen Sätzen vortragen können.Folio: Mit vorformulierten Sätzen?Mölleney: Es sollte natürlich nicht wirken, alswürde man Auswendiggelerntes aufsagen. Aber esgibt Sicherheit, wennman weiss, wie man die

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wesentlichen Passagen genau formulieren will. Eskann sich auch lohnen, das Gespräch in einemRollenspiel zu simulieren, am besten mit einemKollegen, der eine ehrliche Rückmeldung gibt.

Kehl betrachtet das Dossier vor ihm, ohne danach zugreifen. «Hanselmann, ich würde ja gern… aber duweisst, wie das wirtschaftliche Umfeld ist.»

Das weiss Hanselmann in der Tat. Mit demwirt­schaftlichen Umfeld ist es wie mit den Terrorwarn­stufen: Nachdem sie eingeführt worden sind, wird esnie wieder eine Gefahr geben. Die Bedrohungslagewird bis in alle Ewigkeit zwischen «ernst» und «kri­tisch» pendeln.

«Letztes Jahr standen wir nicht schlecht da», sagtHanselmann und ist überrascht, wie überzeugt erklingt. Aber es stimmt ja auch. Im vergangenen Jahrwaren sie so weit über Budget, dass Kehl sich kaumtraute, konkrete Zahlen zu nennen: bloss keine Be­gehrlichkeiten wecken. «Und wir sind doch auch heuerauf Kurs?» hakt Hanselmann nach.

Kehl zuckt die Schultern: «Kann sein – aber imletzten Quartal ist noch vieles offen.Wie das am Enderauskommt, weiss niemand.» Dann startet er seinenMonolog, den er an jeder zweiten Konferenz runter­betet – in der Belegschaft bekannt als «Kehls Rede zurgeistigen Landesverteidigung». Darin reiht er belie­bige Bedrohungsszenarien an unvorhersehbare Ent­wicklungen und zu ergreifendeMassnahmen. Dasdauert manchmal zehn, manchmal zwanzigMinuten,aber meistens so lange, dass für die heiklen Traktandenkaum Zeit bleibt. «…und darummusste die GL sogarentscheiden, dass der maximale Einstiegslohn absofort bei 85000 Franken liegt», schliesst Kehl.

«Die GL, in der du selbst sitzt», denkt Hanselmann.Aber so läuft das bei Kehl: Gute Nachrichten kommenvon ihm, schlechte von der GL.

Mölleney: So etwas finde ich absurd. Nur auf demRücken der Neuangestellten zu sparen ist inakzep­tabel. In einer wirklichen Krise müssen alle runter.Das haben wir zum Beispiel damals bei der Swissairauch so gemacht.Folio: Kam das gut an?Mölleney: Mit solchenMassnahmenmacht mansich nie beliebt, aber sie sind wenigstens fair. Sonstbehalten die Alteingesessenen einfach ihre Pfründe.Das ist oft ein Problem in gewerkschaftlich gepräg­ten Branchen: Gewerkschaften kämpfen immer fürdie Besitzstandswahrung der älterenMitarbeiter,was dann zwangsläufig zu Lohnungleichheit führt –aber das hören die natürlich nicht gern.

Einstiegslohn –Hanselmann schnaubt. Innerlich.Hätte er sich damals mehr zugetraut, sässe er jetztvielleicht gar nicht hier. Vermutlich hätten ein paarTausender mehr dringelegen. 5000 Franken mehr im

Jahr wirkt ja nicht nach einem Vermögen, aber imLaufe einer Karriere macht das mehrere Hunderttau­send Franken aus. Haus oder nicht Haus, sozusagen.Ausserdemmehr AHV, mehr PK, mehr Sicherheit.Einfach mehr. Hanselmann hat mit 90000 Frankenangefangen – und die hatte er selbst vorgeschlagen, alsKehl fragte: «Und an was für einen Jahreslohn hättenSie gedacht?» Etwas Sechsstelliges zu fordern hielt erdamals für unverschämt. Aber er war schon überraschtgewesen, als Kehl sofort einverstanden war.

Mölleney: Die Frage nach den Lohnvorstellungenim Anstellungsgespräch gehört meinerMeinungnach verboten. Das ist das Schlimmste, was man alsArbeitgeber machen kann.Folio: Warum?Mölleney: Erstens, weil es nichts zu verhandelngibt. Als Arbeitgeber kenne ich das Portfolio desBewerbers, seine Ausbildung und seine Berufs­erfahrung – ich weiss also auf den Franken, ja fastauf den Rappen genau, was der Kandidat oder dieKandidatin immeinem Lohnsystem wert ist.Folio: Und zweitens?Mölleney:Weil die Frage nur Neid undMisstrauensät – so wie bei diesemHanselmann. Die Leuteschleichen dann durch den Betrieb und fragen sich,wer wohl wie viel herausgeschlagen hat. Und wenneiner nur schon grinst an der Kaffeemaschine,denkt der andere gleich: Der hat sicher viel besserverhandelt als ich.Wie gesagt, diese Lohnfeil­scherei löst nur Probleme aus.Folio: Aber läuft das nicht in den meisten Firmen so?Mölleney: Nicht, wenn ein Unternehmen gutgeführt ist. In grossen Konzernen ist ein trans­parentes und faires Lohnsystem eine Selbstver­ständlichkeit.Folio: In der Schweiz arbeiten aber mehr als dieHälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beieinem KMU.Mölleney: Und da gibt es bestimmt vielerortsHandlungsbedarf, das ist so.Folio: Was verstehen Sie genau unter «transparentund fair»?Mölleney: Dass allen in der Firma klar ist, wie undwarum Lohnanpassungen zustande kommen. Dazugehören klare Leistungsziele und Kriterien, aberauch, dass jedes Jahr imMitarbeitergespräch überden Lohn gesprochen wird. Am besten teilt derArbeitgeber dies den neuenMitarbeitern schon imAnstellungsgespräch mit – und zwar von sich aus,falls ein Bewerber nicht danach fragt.Folio: Und dann sind alle zufrieden?Mölleney: Vermutlich nicht, aber wenn das Systemtransparent gemacht wird, weiss jeder, woran er ist.Ich kenne eine Firmamit rund 60 Angestellten, daverdienen alle zwischen 23 und 29 Franken proStunde.Wissen Sie, wer 29 Franken kriegt?

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Folio: Die langjährigen Mitarbeiter?Mölleney: Die, die mehr brauchen, weil sie zumBeispiel drei Kinder haben. Dafür kriegt ein jungerErwachsener, der noch bei seinen Eltern wohnt,nur 23 Franken.Folio: Das hat aber auch nichts mehr mit der Leistungzu tun.Mölleney: Nein, aber trotzdem sind dort alle zu­frieden, denn das Lohnsystem ist transparent, undwer nicht damit einverstanden ist, der arbeiteteinfach nicht dort.

Hanselmanns Dossier liegt unangetastet auf demTisch. Die Sache läuft nicht, wie er sich das erhoffthatte. Er konnte noch nicht einmal sagen, wie viel ersich vorstellt. Und Kehl sitzt nur da und verschiesstNebelpetarden.

Hanselmann richtet sich auf, um einen letztenVersuch zu lancieren. Eigentlich wollte er diese Kartenicht spielen, aber erstens ist es dieWahrheit, undzweitens kommt ihm nichts sonst mehr in den Sinn:«Komm schon, Kehl – ich weiss, was andere hier inmeiner Position verdienen, und ich leiste bestimmtnicht weniger als die.»

Folio: Ist das ein legitimes und vor allem ein geschick-tes Argument?Mölleney: Ja, das kann man durchaus bringen.

Kehl ist genervt oder tut zumindest so. Er schüttelt mitgeschlossenen Augen den Kopf, als wäre Hanselmannein begriffsstutziges Kind. «Das spielt keine Rolle –ich kriege das in der GL nicht durch.»

Folio: Wie kontert man dieses Argument?Mölleney: Am besten, indemman den Vorgesetz­ten fragt:Was brauchst du denn, damit du esdurchkriegst?Was kann ich tun?Folio: Dann kommt doch wieder die Leier mit demwirtschaftlich anspruchsvollen Umfeld.Mölleney:Wenn bei Cash wirklich gar nichts geht,können Sie ja auch noch andere Gratifikationenvorschlagen – eineWoche Ferien oder das GA aufSpesen, zum Beispiel.Folio: Damit schwenkt man aber die weisse Fahne,was die Lohnerhöhung angeht, oder?Mölleney: Ja, solche Vorschläge würde ich wirklicherst bringen, wenn sonst gar nichts mehr klappt.Folio: Gibt es eine Möglichkeit, das Ruder herumzu-reissen, wenn sich ein endgültiges Nein abzeichnet?Mölleney: Mein Tip wäre, dann nicht mehr überdie Höhe, sondern eher über den Zeitpunkt derLohnanpassung zu reden. Also nicht auf ein Ja oderNein zielen. Sondern auf:Wie kommen wir dahin?Das öffnet dem Vorgesetzten eine dritte, für ihnattraktive Antwortmöglichkeit: Nicht jetzt. Dannkannman sagen: «Gut, dann lass uns einen ver­

bindlichen Zeitplan vereinbaren, wie und bis wanndie Lohnanpassung umgesetzt wird.»

Hanselmann hat alles verschossen, was er hatte. Daswird nichts. Er kapituliert. EineMischung aus Ärgerund Scham steigt in ihm hoch. Er ärgert sich vor allemüber sich selbst. Nicht weil er etwas gefordert hätte,was ihm nicht zusteht. Sondern weil er sich so lächer­lich einfach abwimmeln lässt. «Na, gut.» Hanselmannsteht auf. Er blickt auf sein Dossier auf dem Tisch.Seine gesammelten Heldentaten. «Ich lasse dir dasda – vielleicht kannst du es in einem günstigenMoment vorbringen.»

Kehls Miene hellt sich auf: «Klar, wenn sich dieZeiten bessern und was geht, komme ich auf dich zu.»

«Mach das.» Hanselmann lächelt und versucht, mitso viel Haltung wie möglich aus dem Büro zu gehen. Erweiss, dass sich Kehl nicht melden wird. Und Kehlweiss es auch.

Folio: Es heisst: «Der Lohn drückt die Wertschätzungder Firma aus.» Inwiefern schadet sich eine Firmamit einer solchen Lohnpolitik?Mölleney:Wenn der Lohn der einzige AusdruckvonWertschätzung ist, würde ich in dieser Firmakeinen Tag arbeiten wollen. Google hat kürzlichunter den eigenenMitarbeitern untersucht, welcheFaktoren ein Team besonders erfolgreich machen.Der entscheidende Faktor war die psychologischeSicherheit: Die Angestellten müssen sich aufge­hoben und sicher fühlen. Dann sind sie bereit, sichvor den anderen zu exponieren, äussern mutigereIdeen und stellen kritischere Fragen. Aber ja, einadäquater Lohn ist ein Teil derWertschätzung –deswegen bin ich komplett gegen diese Feilscherei.Ein transparentes Lohnsystemmit regelmässigenLohngesprächen macht das ganze Theater obsolet.Folio: Das klingt so simpel und einleuchtend – warumwird das nicht überall gemacht?Mölleney:Weil es «immer schon» anders gemachtwurde. Und weil es viele Führungskräfte als wichti­gen Teil ihrer Macht verstehen, wenn sie frei ent­scheiden können über den Lohn ihrerMitarbeiter.

Balz Ruchti ist Redaktor beim «Beobachter»;er lebt in Bern.Matthias Mölleney, 57, war zwanzig Jahre bei derSwissair, zuletzt als Personalchef und Mitglied derKonzernleitung; nach dem Grounding musste erTausende Stellen abbauen. Heute führt er mit seiner Fraueine Beratungsfirma, die sich mit der Entwicklungund Einführung von modernen Personalmanagement-konzepten beschäftigt. Er leitet zudem das Center forHuman Resources Management and Leadership an derHochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ).

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Das «NZZ Folio» geht Themenauf den Grund

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Das Monatsmagazin der NZZ greift bewegende undüber den Tag hinaus aktuelle Themen aus verschiedenenLebensbereichen auf. Neben einer fundierten Recherchebietet es neue Perspektiven und sorgt damit für eininspirierendes Lesevergnügen.

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Mitgefühl hilft nicht!WiesoEmpathie trotzdemKarrieremacht.

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Ichbin einYoutube-Star!Wie eine VideoplattformdieWeltauf den Kopf stellt.

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Kosovo –der jüngsteStaatEuropasZehnJahre unabhängig. Undenger denn jeverbundenmit derSchweiz.

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IstMarihuanamarktreif?fWieeineDrogedenAlltag erobert

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SparenWarumesnichtsmehr bringt.

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WoesaufwärtsgehtArmut,Gewalt,Demokratie:Alleswirdbesser.

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Triumphierenoder verzweifeln?Männer undFrauen redenüber ihr LebennachdemPutschversuch in Istanbul.

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Bank Cler 1

Zeit, über Geld zu reden

Wie viel Geld macht uns glücklich?

Was kostet eigentlich ein Kind?

Verdirbt Geld den Charakter?

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2 Bank Cler

«Der Besitz einer ausreichen-den Menge Geld verleiht mir

den Luxus, mich nicht um Geld kümmern zu müssen.» PROF. MATHIAS BINSWANGER, ÖKONOM, GLÜCKSFORSCHER

«Geld ist für mich Antrieb und Befriedigung gleichermassen.

Jede Expedition bedeutet eine grosse finanzielle Investition.

Dass ich die Erfahrungen nachher teilen kann,

macht meine Arbeit für mich sinngebend.»

EVELYNE BINSACK, BERUFSBERGFÜHRERIN UND

MOTIVATIONSREFERENTIN

«Geld bedeutet für mich Sicherheit, Freiheit und es

ist meine Lebensgrund lage. Aber ich bemühe mich, es dennoch nicht zu meinem

Lebensmittelpunkt werden zu lassen.»

NADJA ZIMMERMANN, FOOD-BLOGGERIN

«Geld ist wichtig, aber Freude und Erfüllung im

Leben sind mir wichtiger. Wenn ich Leistungssport-ler betreue, spüre ich, wie

wichtig ihnen ihre persönli-chen Ziele sind – unabhän-gig davon, wie viel sie damit verdienen. Sie wieder auf diesen Weg zu bringen, ist

eine wunderbare Aufgabe.» PRIV.-DOZ. DR. MED.

CLAUDIO ROSSOSPORTMEDIZINER IOC

SCHULTER- UND ELLENBOGEN-CHIRURG,

VIZE-WELTMEISTER KARATE WSKF 2007

«Geld bedeutet mir, die Freiheit zu haben,

etwas tun oder lassen zu können.»

MANUELA PFRUNDER, (BANKNOTEN-)DESIGNERIN

IMPRESSUM: Eine Publikation der Bank Cler in Zusammenarbeit mit NZZ Media Solutions. Herausgeberin: Bank Cler. Projektleitung: Mats Bachmann Ihr, Natalie Waltmann, Gregor Eicher. Realisation: NZZ Content Solutions; Norman Bandi, Elmar zur Bonsen. Art Direction: Michael Adams. Bildredaktion: Katja Sonnewend. Autoren: Cornelia Glees, Conny Menner, Marianne Siegenthaler. Druck: Multicolor Print. Diese Publikation wurde von NZZ Content Solutions im Auftrag der Bank Cler erstellt. www.nzzcontentsolutions.ch Die Bank Cler trägt die redaktionelle Verantwortung für den Inhalt. Alle Rechte vorbehalten.

«Was bedeutet Ihnen Geld?»

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Bank Cler 3

12,5%Geringerer Lohn für gleiche

Arbeit: In der Schweiz verdienen Frauen laut

BFS 12,5% weniger als Männer.

Lassen Sie uns über Geld reden

Über das Geld zu sprechen, ist weder oberflächlich noch moralisch fragwürdig. Im Gegenteil. Es schärft den Blick – auch für kritische Fragen. Ist es etwa gerecht, dass Frauen in der Schweiz laut Bundes-amt für Statistik (BFS) 12,5 Prozent we-niger verdienen als Männer? Und hätten Sie gewusst, dass Schweizerinnen und Schweizer im internationalen Vergleich zwar überdurchschnittlich viel verdienen, aber zugleich wahre Schuldenkönige sind, wie die Zahlen des BFS belegen? Die Men-schen hierzulande verhalten sich weder leichtfertiger noch verschwenderischer. Der Grund ist ein anderer: Der Anteil an Wohneigentum ist in der Schweiz zwar ge-ringer als in anderen Ländern, aber es lohnt sich aus steuerlichen Gründen nicht, eine Hypothek ganz abzuzahlen. Zu denken gibt allerdings, dass laut einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz mehr als ein Drittel aller 18- bis 24-Jährigen in der Schweiz verschuldet ist. Der Umgang mit Geld will gelernt sein, betonen die Ex-perten. Ein Grund mehr, über dieses wich-tige Thema offen zu sprechen.

Über Geld spricht man nicht, oder? Wir von der Bank Cler sehen das anders. Wir haben keine Scheu,

über Geld zu reden und darüber zu schrei-ben, so wie hier in dieser Beilage des Ma-gazins NZZ Folio. Wir möchten Sie infor-mieren und inspirieren. Denn über Geld nachzudenken ist die Voraussetzung, um Lösungen zu finden, Entscheidungen zu fällen – und Klarheit zu erhalten. Das gilt für jeden von uns, im Beruf wie im Alltag.

Wir neigen dazu, den Umgang mit Geld als Teil der persönlichen Intimsphäre zu betrachten. Ein Tabuthema. Schnell kom-men dabei Gefühle wie Scham, Neid und Angst ins Spiel. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Persönlichkeit. «Geld verdirbt den Charakter», heisst es im Volksmund. Doch stimmt das wirklich? Ist es nicht eher so, dass Geld uns glücklicher, sorgenfreier macht und unser Wohlbefinden steigert, je mehr wir davon haben? Glücksforscher und Ökonomen aus aller Welt beschäfti-gen sich sehr ernsthaft mit dieser Frage – mit erstaunlichen Ergebnissen.

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4 Bank Cler

Geizhals oder Sparsocke?

Meine Villa, mein Auto, meine Uhr

Die typischen Status-symbole der westlichen Hemisphäre ändern sich und sind keineswegs global: Westler, die alles haben, setzen sich heu-te durch umwelt- und gesundheitsbewussten «Guilt-free»-Konsum ab. Sie fahren am liebsten Tesla, tragen Fitness-Wearables und essen Biokost. Auch Understatement ist angesagt. Das Zurschau-stellen von Luxus gilt als etwas vulgär. Gefragt sind puristische, oft handgemachte Luxus- produkte ohne weithin sichtbare Labels. In Asien dagegen protzt man lieber mit Marken-artikeln. Und im armen Mauretanien wiederum ist es angeblich die Lei-besfülle der Ehefrau, die den Status unterstreicht.

Er ist einer der reichsten Män-ner der Welt, trägt Jeans und T-Shirts, fährt einen VW Golf

und isst häufig bei McDonaldʼs: Mark Zuckerberg, Facebook-Gründer mit einem Vermögen von über 70 Milli-arden Dollar, müsste eigentlich nicht sparen. Warum tut er es trotzdem? «Der Umgang mit Geld verrät einiges über unsere Persönlichkeit», sagt Dr. Josef Lang, Psychologe aus Wettingen AG. «So kann man beobachten, dass sich eine bestimmte Haltung in finan-ziellen Dingen auch in anderen Le-bensbereichen zeigt.» Konkret: Wer grosszügig mit seinem Geld umgeht, der hat oft auch ein offenes Haus und bewirtet gerne Gäste. Umgekehrt sind Sparsocken auch anderen Menschen gegenüber zuweilen recht zurückhal-tend. Und Verschwender übertreiben es vielleicht nicht nur beim Geldaus-geben, sondern arbeiten auch zu viel oder gönnen sich zu wenig Schlaf.

Unser Verhältnis zum Geld ist einer-seits durch die äusseren Umstände geprägt. Wer kaum genug Geld ver-dient, um die laufenden Ausgaben zu decken, der kommt ums sparsame Haushalten nicht herum – und das unabhängig davon, ob dies seiner We-sensart entspricht oder ob er das Geld

lieber mit beiden Händen ausgeben würde. Anderseits sind wir auch durch unser Elternhaus beeinflusst. «Ist das Geld häufig Anlass für Diskussionen zwi-schen den Eltern, entsteht der Ein-druck, dass Geld zu Konflikten führen kann», sagt Josef Lang. Und wenn jeder Rappen zweimal umgedreht werden muss, geht das nicht spurlos an einem Kind vorbei. Gut möglich, dass es dann auch als Erwachsener sehr umsichtig mit dem Geld umgeht – auch wenn dies seine finanziellen Verhältnisse gar nicht erfordern.

Doch egal ob reich oder arm: Die Ein-stellung zu Geld ist meist von starken Gefühlen geprägt. Geld steht nicht nur für Macht, Erfolg, sozialen Sta-tus, Sicherheit und Luxus. Es gibt uns auch die Freiheit und Unabhängigkeit, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und da ist immer auch die Angst vor Armut. «Mit Horten von Geld glaubt manch einer, seine Ängste kontrollieren zu können», sagt Josef Lang. Doch wie findet man zu einem gelasseneren Umgang mit seinen Finanzen? «Seien Sie sich immer bewusst: Geld ist wich-tig fürs Leben, es genügt aber nicht für ein erfülltes Erleben.»

«Geld verdirbt den Charakter», heisst es. Doch oft ist es umgekehrt: Der Umgang mit Geld spiegelt die Persönlichkeit wider.

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Bank Cler 5

Die Sharing-Generation

Kaufen? Nein danke! Besitz ist heutzutage vor allem bei jungen, internetaffinen

Menschen mehr Last als Lust. Und Luxusgüter als Statussymbole sind schon gar kein Thema. Statt auf Ei-gentum setzen sie auf gemeinsame Nutzung. Ob Auto, Wohnung oder Bohrmaschine – was nicht dauerhaft benötigt wird, kann auch geteilt oder geliehen werden. Ganz flexibel. Neu ist die Idee allerdings nicht. Bereits

in den 1970er und 80er Jahren rie-fen grün-alternative Kreise zum Tei-len auf, um Ressourcen zu schonen. Heute spricht man von «Sharing Eco-nomy», und dank digitalen Technolo-gien ist es kein Problem, mit irgend-jemandem auf der Welt irgendetwas zu teilen oder zu tauschen. Ganz auf Konsum kann und will allerdings auch die sogenannte «Sharing-Gene-ration» nicht verzichten. Aber wenn gekauft wird, dann gilt die Devise:

lieber nachhaltig und überlegt, statt viel und billig. Minimalismus nennt man den bewussten Verzicht auf viel Besitz und übermässigen Konsum. Die Gründe, weshalb sich jemand für diesen Lebensstil entscheidet, sind zum Teil ganz unterschiedlich, eben-so variiert das Ausmass des Verzichts. Was sich aber alle erhoffen, die dem Minimalismus frönen: ein erfüllteres, selbstbestimmteres und damit glück-licheres Leben.

Etwa 1 Million der insgesamt 3,5 Millionen Schweizer Privathaus-

halte (34%) sind laut BFS private Haushalte mit mindestens einem

Kind unter 25 Jahren. In einem Grossteil (80,4%) davon leben Paare mit aus-schliesslich leiblichen oder

adoptierten Kindern.

Kinder sind uns lieb – und teuerWas Eltern heute für ihren Nachwuchs ausgeben

Familienglück ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Doch das Leben mit Kindern

hat seinen Preis. Wie das Bun-desamt für Statistik ermittelt hat, kostet ein Kind hierzulande durchschnittlich 942 Franken im Monat, und dies ohne Kran-kenkassenprämien. Allein für den Haushalt müssen Eltern so jedes Jahr mit Mehrausgaben von 11 304 Franken rechnen. Bis zum 18. Lebensjahr addiert sich dies zu einer Summe von mehr als 200 000 Franken. Dabei ist das elterliche Portemonnaie am stärksten gefordert, wenn die Kinder elf Jahre und älter sind – und neben der Ausbildung noch Hobbys und womöglich ein Smartphone zu Buche schlagen. Bis zum elften Altersjahr rech-nen die Statistiker mit monatlich

691 Franken, danach mit 1005 Franken. Die gute Nachricht: Mit jedem weiteren Sprössling sinken die Kosten pro Kind. Fa-milien mit zwei Kindern müssen durchschnittlich 1508 Franken pro Monat für beide zusammen veranschlagen. Bei drei Kindern sind es monatlich 1821 Franken – pro Kind also nur noch 607 Franken. Bis zum 20. Lebens-jahr zahlen Eltern 361 920 Fran-ken für zwei Kinder. Haben sie drei Nachkommen, kostet dies fast eine halbe Million Franken. Für Familien, die ihre Budgets nicht sauber durchrechnen, kön-nen Kinder so unversehens zur Schuldenfalle werden. Denn in der Regel verzichten Eltern auf einen Teil der Erwerbstätigkeit und damit auf einen Teil ihres Einkommens.

Bei jungen Menschen ist Teilen angesagter als Besitzen

34%der Schweizer

Haushalte haben Kinder

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6 Bank Cler

Wie viel Geld macht uns glücklich?Eine neue Studie zeigt: Mit dem Einkommen wächst unsere Zufriedenheit – aber nur bis zu einer bestimmten Summe.

Schon beim Aussprechen schwingt Ver-heissung mit: «Geld» und «Glück» sind das, wonach die meisten von

uns streben. Und wenn nicht, wird man im Laufe des Lebens immer wieder damit konfrontiert. Wissenschaftler diskutieren seit Jahren über das Verhältnis von Wohl-stand und Wohlgefühl. Gibt es da über-haupt einen Zusammenhang? Und wenn ja, wie viel muss man verdienen, um dau-erhaft glücklich zu sein? Die Antworten auf diese Fragen waren bisher nicht eindeutig: Manche Forscher fanden heraus, dass Geld nicht glücklicher macht, aber zumindest weniger traurig. Andere Untersuchungen zeigten, dass ein Mensch umso glücklicher ist, je mehr Geld er verdient.

Ein Team um den Psychologen Andrew T. Jebb von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana ist der Sache jüngst mit einer neuen Studie auf den Grund gegangen. Die Forscher analysier-ten dazu Daten aus einer Befragung von 1,7 Millionen Menschen aus 164 Ländern. Was sie vor allem interessierte: Bei welcher jährlichen Einkommenshöhe gaben die Studienteilnehmer die höchste «Lebens-zufriedenheit» (dauerhaft) und das höchste «emotionale Wohlbefinden» (von Tag zu Tag) an. Das Ergebnis: Ein Jahreseinkom-men zwischen 60 000 und 75 000 Dollar ist für eine Einzelperson die beste Basis für ein tägliches Glücksgefühl. Das ideale Einkommen für dauerhafte Lebenszufrie-denheit liegt hingegen bei 95 000 Dollar. Studienleiter Andrew Jebb: «Die Werbung suggeriert uns, je mehr wir kaufen können, desto besser geht es uns. Dass die Einkom-

mensschwelle tatsächlich die entscheiden-de Rolle spielt, hat uns schon überrascht.» Die Forscher stellten fest, dass das Ein-kommen, das für maximale Lebenszufrie-denheit sorgt, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich ausfällt. Die von Jebb ge-lieferten Dollarzahlen sind Durchschnitts-werte für die ganze Welt. In westlichen Industrienationen muss man vergleichs-weise viel verdienen, um ein Maximum an Zufriedenheit zu erreichen: in Nordame-rika 105 000 Dollar und in Westeuropa 100 000 Dollar, was in etwa 95 000 Fran-ken entspricht. Zum Vergleich: Das durch-schnittliche Jahreseinkommen liegt in der Schweiz bei etwa 59 000 Franken (Quelle: BAK Basel, 2015).

Glück und Zufriedenheit sind demnach kostspielige Angelegenheiten. Wer aller-dings mit seinem Einkommen über den so-genannten Sättigungspunkt hinauskommt, muss mit Einbussen bei der langfristigen Lebenszufriedenheit rechnen. Jebb hat dafür eine logische Erklärung: Nicht das höhere Einkommen an sich führt zur Ab-nahme der Zufriedenheit, sondern die damit verbundenen Anforderungen, etwa eine höhere Arbeitsbelastung. Es bleibe dadurch weniger Zeit für soziale Kontakte und positive Erfahrungen. Vergleiche mit den NachbarnDie Frage, wie viel Geld zum Glück nötig ist, beantwortet der Schweizer Ökonom Prof. Mathias Binswanger so: «Menschen vergleichen sich und ihren Wohlstand mit Nachbarn, Freunden, Kollegen, Familien-mitgliedern. Und zwar immer nach oben.

der Schweizer Bevölkerung lebt in einem Haushalt, der mit der eigenen finanziellen Situation sehr zufrieden ist.

Wie einem 2017 veröffentlichten Bericht des

Schweizerischen Bundes-amtes für Statistik weiter zu entnehmen ist, haben

hingegen 12,7% der Befragten nach eigenen

Angaben Schwierigkeiten, finanziell über die

Runden zu kommen. 9,0% der Bevölkerung gaben an, ihr Vermögen für laufende

Ausgaben zu verbrauchen.

51,1%

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Schneiden sie deutlich schlechter ab, kann das schon als Unglücksfaktor angesehen werden. Haben sie etwa gleich viel, trägt das zum Glücksempfinden bei.» Und: Wird eine reiche Nation noch reicher, entwickelt sich das Glücksgefühl nicht im selben Masse, da der relative Abstand zwi-schen den Menschen normalerweise gleich bleibt. Wer am unteren Rand der Einkom-mensskala rangiert, bleibt da auch – und ist unzufrieden, wenn alle um ihn herum mehr im Geldbeutel haben. Zudem kommt es darauf an, was man aus dem Geld macht. Ob man in die richtigen Sachen investiert, ob man Geld spendet, ja verschenkt: Es ist immer nur Mittel zum Zweck. Und die Kunst ist, daraus tatsächlich eine persönli-che Glücksquelle zu machen.

Steigende Ansprüche Ein weiterer Beweis für die These, dass viel Geld auf Dauer nicht viel hilft: Befragun-gen unter Lottomillionären haben gezeigt, dass die Euphorie über den plötzlichen Reichtum am Anfang natürlich gross war, aber mit der Zeit deutlich abflaute. Nach einem Jahr war das Glücks- oder Unglücks-gefühl dann ungefähr wieder auf dem Level aus der Zeit vor dem Gewinn. Und viele be-klagten sich darüber, dass sie dauernd Sor-gen hätten, das Geld falsch anzulegen oder auf falsche Freunde hereinzufallen.

Sicher ist auf jeden Fall, dass man zu jeder Art von Glücklichsein ein Grundtalent braucht. «Durch mehr Wohlstand wird man kein anderer Mensch», bringt es Prof. Binswanger auf den Punkt. «Leute, die un-bedingt reisen wollen, reisen auch mit we-nig Geld. Wer sich immer Sorgen macht, ob das Geld reicht, wird das auch mit hö-herem Einkommen nicht ablegen.» Ein weiterer Aspekt ist ein gesundes Verhältnis zum Geld. Prof. Binswanger nennt da gerne das Beispiel der «Anspruchs-Tretmühle», in die man mit Geld leicht geraten kann: «Mit dem, was man hat, steigen die Ansprüche, zeitlich etwas verzögert, an.» Tatsächlich gilt materieller Besitz als nicht sehr nachhal-tig. Das neue Auto, das einem so viel Freude gemacht hat, verliert schnell an Glückspo-tenzial, wenn man es täglich fährt. Fo

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8 Bank Cler

Digitales Bezahlen – das Geld sitzt lockerer

Portemonnaie vergessen beim Ki-nobesuch? Das kann nerven. Erst recht, wenn man sich gerade in der

Warteschlange bis an die Kasse vorgear-beitet hat. Aber das Ticket lässt sich ja auch mit dem Smartphone bezahlen – per QR-Code und Bezahl-App oder berührungslos mithilfe der Nahfunktechnik NFC (Near Field Communication), einfach im Vorbei-gehen an einem Lesegerät. Allerdings muss die Technik an der Kasse kompatibel sein, und – ganz wichtig – der Kunde muss es auch wollen. Daran könnte es noch hapern.Denn Mobile Payment, also das Bezahlen mit Smartphone, Tablet oder Wearables,

spricht bisher vor allem 18- bis 34-Jährige an. Die sogenannten Millennials sind laut einer Visa-Studie von 2017 die Pionie-re des Mobile Payments in der Schweiz. Demzufolge nutzten 58 Prozent der Be-fragten unter 35 Smartphones und andere mobile Geräte, um ihr Geld zu verwalten oder online zu shoppen. Insgesamt wird in der Schweiz allerdings erst 0,2 Prozent des Transaktionsvolumens über Mobile Pay-ment abgewickelt.

Nur Bares ist Wahres?Beim Geld verlassen sich die etwas älteren Jahrgänge lieber noch auf Papier und Mün-

Das Zahlen ohne Bargeld macht das Shoppen schnell und bequem, ist aber auch mit Risiken verbunden.

Das Finanzwissen und die Fähigkeit, kluge finanzielle

Entscheidungen zu treffen, haben sich laut einer Allianz-Studie von 2017 bei

den Europäern in den letzten zehn Jahren nicht wesentlich

verbessert. Die Schweiz rangiert in der Skala zwar auf Platz 3, offenbart aber auch grosse Lücken vor allem im

Wissen um Risiken.

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zen. Denn Bares ist universal, unabhängig von Technik und Stromzufuhr, und es si-chert vor allem Anonymität zu. Zudem ist der Mensch ein Gewohnheitstier. So machte 2016 der Anteil an Bargeld bei den Umsätzen hierzulande noch 50 Prozent aus. Tendenz allerdings fallend. Schliess-lich sind ja auch Debit- und Kreditkarten mit der NFC-Funktion ausgestattet, um bis zu 40 Franken kontaktlos zu bezahlen. Allemal genug für Gipfeli oder Kaugummi, ohne Codes und ohne Unterschrift. Doch die Vorteile des digitalen Bezahlens können sich auch als Nachteile erweisen: Denn schnell geht es nur, weil man sich di-gital authentifiziert. Jeder Kauf hinterlässt digitale Fussabdrücke, der gläserne Kon-sument wird immer wahrscheinlicher. Zu-dem sitzt das «unsichtbare» Geld lockerer, die Hemmschwelle zu konsumieren sinkt.Damit steigt das Risiko, sich finanziell zu übernehmen. In den Schuldnerberatungen weiss man ein Lied davon zu singen.

Doch man muss unterscheiden: Das bar-geldlose Zahlen beschleunigt zwar die Ab-

fertigung an der Kasse, doch der Kaufpro-zess ist immer noch der gleiche. Anders beim Online-Shopping, das sich grosser Beliebtheit erfreut. Man sucht sich am PC, heute oft auch am Smartphone oder dem Tablet, den Traumpullover ohne Anprobie-ren aus und braucht nur wenige Mausklicks für die Bezahlung – schon ist die Lieferung an den Kunden unterwegs. Online-Shop-ping kann zur Schuldenfalle werden.

In der Öffentlichkeit traut man vor allem Jugendlichen den richtigen Umgang mit Geld nicht zu. Doch ist dem wirklich so? Gemäss einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz sind 38 Prozent aller 18- bis 24-jährigen Schweizer verschuldet. Bei jedem Zehnten belaufen sich die Schulden auf mehr als 2000 Franken. Oft wollen sich junge Erwachsene nicht vor ihren Freun-den als «arm» outen und machen jede Party mit, auch wenn sie sich das gar nicht leisten können. Der Schuldenberg wächst. Was läuft da falsch?

Finanzen im Griff behaltenErziehungswissenschaftler weisen darauf hin, dass sich junge Erwachsene in Unter-suchungen durchaus sehr rational im Um-gang mit Geld gezeigt hätten. Getreu dem Grundsatz: Wenn ich mir etwas leisten will, muss ich mein Budget entsprechend eintei-len. Wer seine Ausgaben zum Beispiel über Apps mit elektronischer Buchhaltung steu-ert, kann seine Finanzen im Griff behalten. Die Experten sehen denn auch den Grund für Verschuldung ganz woanders: Gerade bei Alleinerziehenden und in Familien mit geringem Einkommen spreche man nicht über Geld. Das Thema sei tabu. Und damit werde alles nur noch schlimmer.

Man muss also über Geld reden und infor-miert sein, gerade angesichts einer bargeld-losen Zukunft, die längst schon begonnen hat: Bei den Olympischen Winterspielen in Südkorea zum Beispiel haben Sportle-rinnen und Sportler mit ihrem Handschuh bezahlt, ausgestattet mit einem NFC-Wea-rable. Und in China testet man bereits das Zahlen per Gesichtserkennung: «Smile to Pay», lautet das Motto.

4,7Millionen Menschen in der

Schweiz sind Online- Shopper. Sie gaben 2015 insgesamt 11,2 Milliarden

Franken für Käufe im Internet aus, wie der Branchen-

verband NetComm Suisse berichtete. Das entspricht

durchschnittlich rund 2400 Franken pro Person.

Die App Zak der Bank Cler wurde eigens für

Smartphones entwickelt. Mit ihr lassen sich die

Finanzen ganz einfach und übersichtlich verwalten.

Man sieht jederzeit das zur Verfügung stehende Budget und kann Spartöpfe in Echt-

zeit anlegen.

79%Knapp vier von fünf

Online-Shoppern in der Schweiz bestellen im Internet

am häufigsten Bekleidung, Accessoires oder Schuhe

(79%), wie eine repräsentative Umfrage des Vergleichs-

portals comparis.ch ergeben hat. Rund 60% entfallen auf Unterhaltungsmedien oder Elektronikartikel, etwa 36%

auf Kosmetika.

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6000 v. Chr. NaturalgeldSchon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte wer-den nützliche Gegenstände, die leicht aufzubewahren und abzuzählen sind, als Zahlungs-mittel verwendet. Dazu zählen Nutztiere, Reis, Salzbarren, Speerspitzen und Muscheln. Diese Vorläuferform des Gel-des löst den direkten Tausch «Ware gegen Ware» ab.

1200 v. Chr. Kaurischnecke In weiten Teilen Afrikas, Asiens und Ozeaniens wird

das Gehäuse der Kauri-schnecke zum vorherrschen-den Zahlungsmittel – und das für lange Zeit.

600 v. Chr. Münzen Im kleinasiatischen König-reich der Lyder werden erstmals Münzen geprägt. Die neue Bezahlmethode breitet sich fortan über den gesamten Mittelmeerraum aus.

Die Geschichte des Geldes auf einen Blick:

Jeder braucht es, jeder will es: Geld ist eine wichtige Grundlage unseres täglichen Le-bens. Es steht für Freiheit, Anerkennung,

Sicherheit und Selbständigkeit. Zugleich ist es der Inbegriff von Reichtum und Macht. Geld regiert die Welt, wie der Volksmund sagt. Seit Menschengedenken nutzen wir es, um den aufwendigen Austausch von Gütern zu vereinfachen. Aber was wurde eigentlich schon alles als Zahlungsmittel verwendet? Und wer hat die ersten Banknoten in Um-lauf gebracht? Der Einsatz von Karten oder Mobile-Payment-Lösungen führt sogar dazu, dass man Geld nicht mehr anfassen kann. Dennoch vertrauen wir seinem Wert.

Gutes tun tut gut Die Schweiz, ein Land der Stifter und Mäzene

Wohltätigkeit ist eine ver-schwiegene Angelegenheit. Der Spruch «Tue Gutes und

sprich darüber» gilt zwar für US-Mäze-ne wie Mark Zuckerberg und Bill Gates, doch Schweizer Milliardäre, wie Hansjörg Wyss, die öffentlich über ihr Engagement fürs Gemeinwohl sprechen, sind Unika-te. Wohltätigkeit ist eben kein Geschäft, sondern eine Haltung. Und die ist bei den meisten Schweizerinnen und Schweizern offenbar fest verankert, wie der Blick in die jährlichen Spendenstatistiken zeigt. Ob sie oder er nun mit 5 Franken dabei ist oder mit 50 Millionen – die Steuerkonditionen sind für alle günstig. Und auch das gute Gefühl dürfte sich bei Gross- wie Klein-spendern für bevorzugte Zwecke wie Kul-tur-, Bildungs- und Sozialprojekte nicht

unterscheiden. Doch wirklich Reiche wol-len mehr: Sie möchten die Welt ein Stück verändern und über den eigenen Tod hin-aus etwas bewirken. Das erklärt die vielen Stiftungsgründungen – Tendenz steigend, so der Schweizer Stiftungsreport 2017. Mehr als 13 000 Stiftungen hierzulande unterstützten zuletzt mit geschätzt 1,5 Milliarden Franken pro Jahr gemeinnüt-zige Einrichtungen und Initiativen. Was könnte nachhaltiger sein als eine Stiftung, die per se für die Ewigkeit errichtet wird? Apropos Nachhaltigkeit: Wer auf nachhal-tige Investments setzt, verschenkt nichts, sondern legt an. Und zwar besonders vor-sichtig. Denn nachhaltige Geldanlagen be-rücksichtigen auch die Kriterien Umwelt, gesellschaftliche Verantwortung und gute Unternehmensführung.

13 172 gemeinnützige Stiftungen

engagieren sich hierzulande gemäss Schweizer Stiftungs-

report 2017. Sie verwalten laut SwissFoundations ein Vermögen von geschätzt

70 Milliarden Franken. 81,9% der Stiftungszwecke

entfallen auf die Bereiche Kul-tur & Freizeit, Bildung & For-schung, Gesundheitswesen

und soziale Dienste.

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Bank Cler 11

1000 n. Chr. Papiergeld In China kommen die ersten Papierscheine in Umlauf. In Europa ist Papiergeld erst ab Ende des 15. Jahrhunderts bekannt.

1661 BanknotenDie Bank von Stockholm bringt erstmals in Europa Banknoten in Umlauf.

1844 GoldstandardDie Bank of England führt als erste Notenbank den

Goldstandard ein und damit das erste international gültige Währungssystem mit Papier-geld auf Goldbasis.

1851 Schweizer FrankenNach der Gründung des Schweizer Bundesstaats wird der Schweizer Franken als einheitliche Landeswährung eingeführt.

1924 Kreditkarte Die erste reale Kreditkarte wird 1924 in den USA an ausgewählte Kunden der

Western Union und der Ge-neral Petroleum Corporation abgegeben. 1950 gründet der US-Unternehmer McNamara mit der «Diners Club Card» die erste Kreditkartenfirma der Welt.

1983 Online-BankingDie Bank of Scotland führt für ihre Kunden Online-Banking ein. Andere Grossbanken folgen. Mit dem Aufstieg des Internets beginnt ab 1993 das Zeitalter des elektroni-schen Zahlungsverkehrs.

1997 Mobile PaymentCoca-Cola stellt in Helsinki Verkaufsautomaten auf, die den Getränkekauf per SMS ermöglichen. Kaum zehn Jahre später kommen Smartphones mit Bezahl-funktion auf den Markt.

2008 Virtuelle Währung Mit der digitalen Geldeinheit Bitcoin wird das erste welt-weit verwendbare, dezentrale Zahlungssystem lanciert.

«Wenn Du den Wert des Geldes

kennenlernen willst, versuche,

Dir etwas zuleihen.»

Benjamin Franklin, Gründervater

der USA

Stutz, Bucks und MonetenDie Umgangssprache ist reich an Geldwörtern

Über Geld spricht man nicht? Für kaum etwas anderes gibt es so viele verschiedene Wörter: Al-

lein im Schweizer Dialekt kommt man auf Dutzende Synonyme, besonders beliebt ist «Stutz». Und in anderen Ländern? Jenseits des Atlantiks hat man am besten «Bucks» in der Tasche, verkürzt für «Buckskin», das englische Wort für Wildfelle. Denn die galten in den Anfangsjahren der USA als eine Art Ersatzwährung. Die deutsche Bezeichnung «Kröten» leitet sich keines-wegs vom Froschlurch ab, sondern vom niederländischen Wort für Groschen: «Groten». In Frankreich schwört man da-gegen auf «Blé» (Getreide). Denn das war und ist überlebenswichtig. In Österreich kann sich glücklich schätzen, wer eine «Marie» sein Eigen nennt. Einst wurden

die Silbermünzen mit dem Konterfei von Kaiserin Maria-Theresia so genannt. Be-liebt sind auch «Moneten», was auf das antike Rom zurückgeht. In unmittelbarer Nähe des Tempels zu Ehren der Staats-göttin Juno Moneta («die Mahnende») errichtete man die erste Münzstätte. So kam der Brauch auf, das dort hergestellte Geld schlicht «Moneta» zu nennen. Un-ser Begriff «Geld» übrigens stammt vom Althochdeutschen «gelt», was so viel wie Vergeltung, Lohn, Wert bedeutete. Und warum wird der Franken auch Stutz ge-nannt? Dafür gibt es zwei Erklärungen. Im 16. Jahrhundert gab es einen berühmten Schweizer Münzmeister namens Conrad Stutz. Auch könnte das Wort Stutz von «verstutzen» kommen – das bedeutete früher tauschen oder handeln.

Von der Muschel zum Bitcoin

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