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Dennnis Fassing Vor dem Horizont Kurzgeschichte

Vor dem Horizont

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Es gibt Dinge, denen man, einmal mit ihnen beschäftigt, nicht mehr den Rücken kehren kann.

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Page 1: Vor dem Horizont

Dennnis Fassing

Vor dem Horizont

Kurzgeschichte

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So kurz vor Weihnachten empfand er es als seine eige-

ne Schuld, diese Linie zu nehmen, auch wenn er nicht

das Ziel eines jeden anderen hatte, eine der beiden In-

nenstadthaltestellen, zum späten Einkauf vor dem Fest.

Er hatte alle seine Geschenke, doch schützte ihn das

nicht vor schweißigen Fettsäcken, die durch immer neu

zusteigende Menschen an ihn gepresst wurden. Er

musste zwei Haltestellen weiter als die Masse, zur Uni,

in der wenigstens deutlich weniger los sein würde. Er

arbeitete am liebsten in der Bibliothek, wenn dort

nichts los war. Und weniger los als kurz vor Weihnach-

ten war dort nur noch zwischen den Jahren. Er hasste

es, andere Menschen offensiv anstarren zu müssen,

doch gerade stand er so gequetscht, dass eine Drehung

zum Fenster kaum möglich war. So las er zum dritten

Mal ein Informationsplakat des städtischen Nahver-

kehrs, welches dicht über den Köpfen zweier Sitzenden

hing: „Melden sie unbeaufsichtigte Gepäckstücke um-

gehend der Stationssicherheit“, stand dort mitsamt ei-

ner dazugehörigen Notfallnummer. Er hatte in letzter

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Zeit deutlich zu viele dieser Plakate gesehen. Gestern

hatte er in der Zeitung gelesen, dass ein gesamter Zug

aufgrund eines einzigen Telefonanrufs drei Stunden

mitten im belgischen Flachland angehalten wurde, na-

türlich ohne am Ende etwas zu finden oder auch nur

den Anrufer ermitteln zu können. Er hielt diese ganze

Panikmache für Wahnsinn. Sie machte die Menschen

kopflos und half nichts. Was würde denn passieren,

sollte er hier ein Gepäckstück entdecken, direkt neben

seinem Fuß, unauffällig unter den Sitz gequetscht? Er

käme hier nicht mehr rechtzeitig raus, da versperrten

ungefähr 50 Leute den Weg zur Tür.

Um das Plakat nicht ein viertes Mal lesen zu müssen,

schaute er nun doch auf die umstehenden Personen. Er

konzentrierte sich auf die beiden Sitzenden, eine ältere

Dame mit gefälscht aussehendem Pelzmantel und ein

junger Kerl, der eine Ledertasche auf dem Schoß trug

und sich scheinbar vor Dieben fürchtete, so fest wie er

dessen Verschluss zu hielt. Er dachte daran, dass allein

dieses Bild schon verdächtig sein könnte und schloss

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die Augen. Die Welt ging immer mehr vor die Hunde,

alle waren bereits wieder einmal kurz davor, sich ge-

genseitig aufzufressen.

An der ersten Innenstadtstation musste er sich an seine

Haltestange klammern, um nicht einfach von der Men-

ge mit nach draußen getragen zu werden. Nur wenige

stiegen zu, es war zu früh am Abend, die Shopping-

schlacht der Feierabendler hatte gerade erst begonnen.

Er blieb stehen und musterte den leer gewordenen

Waggon. Die alte Frau war verschwunden, hoffentlich

ihren hässlichen Mantel umtauschen. Der junge Mann

saß weiterhin auf seinem Platz, seine Tasche immer

noch fest an sich drückend, obwohl nun keiner mehr

neben ihm saß oder stand. „Tourist“, dachte er sich, ei-

ner der typischen Fälle, die von ihrem Reiseführer

Angst vor Großstädten gemacht bekommen. Ihre Bli-

cke trafen sich kurz, der Mann verharrte auf seinen Au-

gen, dann blickte er ruckartig aus dem Fenster. Er be-

merkte, dass die Stirn des Sitzenden vor Schweiß

glänzte. „Oder natürlich ein gewöhnlicher Verrückter“,

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dachte er. Dann war seine Station gekommen und er

ließ ihn sitzen.

Drei Stunden später stand er wieder im U-Bahnschacht

unter seiner Universität. Mit den Handballen rieb er

sich lang und fest die Augen, bis ihm kleine Sterne und

Blitze davor tanzten. Er war gut vorangekommen und

wollte nur noch heim. Doch die Bahn, die nun in die

Station fuhr, war wieder vollgepackt mit Menschen.

Ungläubig sah er auf von seiner Uhr auf die Meute, die

sich hinter den Fenstern drängte und wieder zurück auf

seine Uhr. Die Tür schlug auf und keiner stieg aus, er

blieb perplex vor der Schwelle stehen, kam mit derart

vielen Leuten nicht klar.

„Wo wollen sie denn alle hin?“, fragte er jemanden, der

nah an der Tür stand.

„Late-Night Shopping in der City“, sagte der andere,

„bis zwölf Uhr heute.“

Er konnte nichts erwidern, so angeekelt war er von dem

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Gedanken. Die Türen schnappten zu und die Bahn fuhr

an, ohne ihn. Nach kurzer Reglosigkeit wandte er sich

um und ging zur anderen Kante. Zum Glück war diese

Linie ein Kreisverkehr und er entschied sich, den län-

geren Weg zu seiner Endstation zu nehmen, der ihn

nicht über die Innenstadt führen würde. Er konnte heute

keine Leute mehr ertragen.

Tatsächlich waren die Wagen fast leer, niemand schien

sich von den leuchtenden Fassaden der Großkaufhäuser

lösen zu können. Auf der Schwelle schlug ihm nur noch

der Mief der Masse ins Gesicht, die sich bis gerade

eben noch hier drin gequetscht hatte. Er schloss die Au-

gen und ließ sich in die erste Sitzbank direkt neben der

Tür fallen. Als er die Augen wieder öffnete, fand er sich

jemanden gegenüber. Ohne darauf zu achten, hatte er

sich in eine der einzigen Vierer gesetzt, die bereits be-

setzt war. Er lenkte seine Blicke sofort aus dem Fenster,

stützte sein Kinn auf seine Handfläche und musterte an-

gestrengt die Dunkelheit des Tunnels. Noch mehr als

Augenkontakt mit Fremden hasste er nur aufgezwunge-

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ne Gespräche. Oft genug war er an solche geraten, die

scheinbar dringend jemandem mitteilen mussten, wohin

sie gerade fuhren, von wo sie gerade kamen oder auch

einfach nur, wer sie waren. Er war in diesen Gesprä-

chen stets einsilbig, doch erwarteten seine Gegenüber

auch nie mehr als einen stummen Zuhörer, auf den sie

ihre Sorgen oder Erlebnisse niedergehen lassen konn-

ten.

Doch diesmal schien sein Sitznachbar ebenfalls nicht

an einer Konversation interessiert, denn zwei Stationen

lang blieb es ruhig von der anderen Seite aus. Er starrte

weiterhin aus dem Fenster, doch wurde dann sein Hals

steif. Langsam drehte er seinen Kopf in den Innenraum

des Fahrzeugs und überzeugte sich davon, dass er im-

mer noch jemandem gegenüber saß. Direkt vor ihm saß

ein junger Mann, welcher sofort einen kurzen Augen-

kontakt mit ihm herstellte, aber genau so schnell wieder

weg sah. Er brauchte einen Moment, um die Empfin-

dung, die ihn traf, als Wiedererkennung einzuordnen.

Auch erinnerte er sich nicht wirklich an das Gesicht di-

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rekt, sondern an die Tasche, die immer noch auf den

Knien des anderen stand. Er blickte auf und sah direkt

über dem Sitzenden das Plakat mit den Sicherheitswar-

nungen, das er schon vor ein paar Stunden gesehen hat-

te. Vor ihm saß der junge Mann, der auch schon vor

drei Stunden in dieser U-Bahn gesessen hatte. Er er-

kannte an seinem Gesicht vor allem die Schweißperlen,

die ihm auf der Stirn standen. Um ihn nicht zu lange

anzustarren, sah er wieder aus dem Fenster. Saß dieser

Kerl wirklich seit vorhin auf diesem Platz und war er

nun wieder durch Zufall in die gleiche Bahn gestiegen?

Wieso sollte jemand stundenlang mit der vollsten Linie

dieser Stadt fahren wollen, immer im Kreis herum? Er

konnte nicht anders, als ihn wieder ansehen, diesmal

war es am Anderen, starr aus dem Fenster heraus zu

blicken. Der Kragen des Sweatshirts hatte einen

Schweißrand, genauso seine Achseln. Eine Jacke war

nicht zu sehen und er fragte sich, wieso sein Gegenüber

im Dezember nur in einem leichten Oberteil herum lief.

Und selbst wenn er hier schon lange saß, war es in der

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Bahn kalt.

Jetzt blickte ihn der Andere wieder an. Sein Blick wirk-

te gehetzt, er verharrte nie lange auf einem Punkt, nicht

nur auf seinem Gesicht. Er besah sich die Tasche ge-

nauer. Der Reißverschluss war halb offen, dennoch

hielt eine Hand die Öffnung zu. An den Haltegriffen

waren ebenfalls dunkle Spuren zu sehen, ein Hinweis

darauf, dass er ebenfalls sehr verschwitzte Hände hatte

und seine Tasche mit diesen eine ganze Weile befingert

hatte. Er lehnte sich zurück, sah wieder auf das Plakat

über dem Kopf des Anderen. Hier hatte er es mit kei-

nem unbeaufsichtigten Gepäckstück zu tun. Und den-

noch stimmte etwas nicht. Er konnte nichts dagegen

tun, doch eine leichte Übelkeit schlich sich in seinen

Magen, ein schwaches Ziehen in seine Brust. Da saß

ihm jemand gegenüber, der hier vielleicht schon seit

Stunden saß, immer im Kreis fahrend, sichtlich nervös

und mit einer Tasche auf dem Schoß. Und er saß ihm

nun genau gegenüber.

Er fingerte in seiner Tasche herum, irgendwo zwischen

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den zerknüllten Taschentüchern hatte er eine Packung

Kaugummis, irgendwo hatte er auch Zigaretten, aber

eher in der Innentasche seines Mantels, außerdem durf-

te er hier eh nicht rauchen. Der Andere holte tief Luft,

er sah, wie sich sein Körper zu verkrampfen schien und

so verkrampfte er auch mit. Doch dann atmete er nur

aus und fiel in sich zusammen, einen kurzen Moment

schlaff in seiner Sitzbank hängend, bevor er sich auf-

richtete, um weiter nervös seine Umgebung zu mustern.

Er fragte sich, ob Attentäter so sein könnten, wenn sie

an ihrem Zielpunkt säßen, kurz davor, sich oder andere

zu töten. Eigentlich stellte er sich diese Leute viel ziel-

strebiger vor, voller kaltem Hass und ohne jede Zwei-

fel. Doch nervös könnten sie doch trotzdem sein.

Er fand seine Kaugummis und schüttete sich aus der

Packung zwei Stück in die Hand. Als er sie sich in den

Mund schob, fing er einen erneuten Blick des Anderen

auf. Diesmal hielten beide stand und so konnte er die

dunklen Augen sehen, die ihm bisher entgangen waren.

In der Form der Augen zeigte sich eine Fremdländlich-

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keit, sie waren etwas weiter auseinander stehend und

auch schmaler geschnitten als die Augen eines Westeu-

ropäers. Der Blick wirkte vollkommen wach und klar,

in Verbindung mit den in die Stirn fallenden Haaren

und den zuckenden Mundwinkeln wirkte er ängstlich,

zum Sprung bereit. Sie waren wahrscheinlich gleich alt.

„Auch eins?“, hörte er seine eigene Stimme sagen. Da-

bei hielt er die Packung auf Brusthöhe in den Raum

zwischen ihnen. Der Andere zuckte zusammen und ließ

seinen Blick nach links und rechts springen, bevor er

sich wieder auf ihn richtete. Es wirkte so, als habe er

erst jetzt die Präsenz eines andere im Raum bemerkt.

„Was?“, fragte sein Gegenüber, nach kurzem zögern.

„Ein Kaugummi. Willst du eins?“, wiederholte er, er-

staunt über sich selbst. Es musste das erste Mal sein,

dass er jemand anderen in der Bahn von sich aus ange-

sprochen hatte. Der Andere wirkte so ungläubig, als sei

er sich diesem Umstand bewusst. Er würde maximal

noch drei Sekunden warten und dann die Packung

wortlos wieder einstecken, sonst würde es lächerlich

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werden.

„Okay, ja.“, sagte sein Gegenüber, gerade noch recht-

zeitig. Als er ungeschickt mit zwei Fingern in die Pa-

ckung fuhr, war zu spüren, dass seine Hand zitterte. Er

steckte sich das Kaugummi in den Mund und kaute ei-

ne Weile, dann erst sagte er: „Danke“. Misstrauisch,

wie ein Kind, das einmal gelernt hat, keine Süßigkeiten

von Fremden anzunehmen.

„Kein Problem.“, antwortete er. Sie saßen eine Weile

schweigend und kauend voreinander. Er wusste nicht,

was er noch sagen sollte und klopfte sich imaginär auf

die Schulter, ob seiner guten Tat. Doch das ungute Ge-

fühl blieb. Der Andere kaute schnell und irgendwie

ruckartig, seine Kiefer schienen aufeinander zu mahlen,

mit dem Gummi als Schutzpolster für die Zähne. Er

sah, dass die Hände seines Gegenübers langsam zur Ta-

sche wanderten, die Finger der linken Hand fuhren jetzt

sogar in die geöffnete Stelle hinein und tasteten herum.

Die Übelkeit in der Magengegend nahm noch zu und er

sah aus dem Fenster. Die Bahn würde gleich aus dem

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Tunnel kommen und die nächsten sechs Stationen ober-

irdisch zurück legen, die letzte dieser Haltestellen war

seine. Doch warum sollte er nicht einfach vorher aus-

steigen. Weil es lächerlich wäre, entschied er.

„Wohin fährst du?“, fragte er. Er wollte das eigentlich

nicht fragen, doch er konnte seinen Blick anders nicht

von der Hand lösen, die Stück für Stück tiefer in die Ta-

sche fuhr. Der Andere sah ihn wieder an, ein Stirnrun-

zeln legte sich auf sein Gesicht.

„Nach Hause“, sagte er. Sein Akzent wirkte leicht ost-

europäisch, doch fiel er bei den wenigen Worten kaum

auf.

„Ah.“, erwiderte er und weil das nicht alles sein konnte,

sagte er noch: „Ich auch.“

Sein Gegenüber sah jetzt an ihm vorbei aus dem Fens-

ter, plötzlich wiederholte er, als habe er noch gar nichts

gesagt, aber viel leiser: „Nach Hause.“

„Ist das noch weit?“, fragte er.

„Ja.“, sagte der andere. Die Bahn hielt und in seine

Blickrichtung stand eine Frau auf. Sie ging zur Tür und

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drückte auf den Öffner, doch nichts passierte. Das

Schild mit der Türstörung erst jetzt entdeckend, warf

sie sich in den Gang und rannte an ihrer Bank vorbei,

zur Tür hinter ihnen. Als sie auf ihrem Weg seinen Sitz-

nachbarn an der Schulter streifte, zuckte dieser zusam-

men. Seine Hände gruben sich in das Leder seiner Ta-

sche und jetzt konnte er sehen, dass sich etwas Quadra-

tisches darin befinden musste, um dass sich die Außen-

hülle jetzt spannte. Nun ging er mit der Hand wieder zu

der Taschenöffnung, weniger zögerlich als zuvor.

Er bekämpfte den Drang, aufzuspringen und aus der

Tür heraus zu rennen, lange genug, bis diese schlossen

und sich die Bahn wieder in Bewegung setzte. Sein Ge-

genüber atmete schwer und hustete zweimal. Frische

Schweißperlen rannen ihm in die Augenbrauen und er

verwischte sie auf seiner Stirn. Sein blick traf ihn er-

neut und diesmal glaubte er, in den weit aufgerissenen

Augen noch mehr als Angst zu lesen. Vielleicht die Su-

che nach einer eigenen Chance, auszusteigen.

„Schlechten Tag gehabt, heute?“, fragte er, aus dem

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Bauch heraus. Die Frage klang in seinen eigenen Ohren

vollkommen falsch, doch er konnte nicht weiter

schweigend dasitzen, ohne vor Anspannung große Stü-

cke aus dem Polster zu reißen. Der Andere sah ihn wei-

terhin direkt an, sein Blick hetzte zum ersten Mal nicht

mehr umher: „Schlechter Tag, ja. Kann man sagen.“

„Gibt’s manchmal, vor allem vor Weihnachten.“, erwi-

derte er und der Andere schnaubte auf.

„Weihnachten ist doch scheisse.“, sagte er.

„Ja, ist scheisse.“, antwortete sein Gegenüber. „Aber ist

mir auch egal, ich muss es dieses Jahr nicht feiern.“

„Glück gehabt, hm?“, fragte er, doch bekam er darauf

statt einer Antwort einen Blick, von dem er glaubte,

mehr zu verstehen als von jedem Wort. Er wusste nicht,

wie er weitermachen sollte und sah, dass er nur noch

drei Stationen hatte, bis er aussteigen musste. Er glaub-

te, es eventuell schweigend aushalten zu können, doch

merkte er schon nach wenigen Sekunden, wie er unru-

hig hin und her rutschte.

„Hey Mann…“, begann er, dann stockten ihm seine

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Worte. „Ich meine, jeder kommt mal in echt miese Situ-

ationen, wirklich jeder. Alles kein Grund, den Horizont

aus den Augen zu verlieren.“

Der Andere beugte sich langsam vor, seine Hände wa-

ren jetzt das erste Mal nicht an der Tasche, sondern auf

der Sitzbank abgestützt. Sie sahen sich in die Augen

und er spürte, wie sich eine Kälte hinter seine Stirn

kroch. Er spürte auch eine Angst vor den Worten, die

folgen sollten.

„Aber was ist, wenn du immer läufst, auf den Horizont

zu. Du denkst, du wirst ihn niemals erreichen und der

Weg wird dir immer etwas Neues bringen. Und dann,

auf einmal, stehst du an einer Kante und es geht nicht

weiter. Und der Horizont steht vor dir und du kannst

ihn berühren, wenn du deine Hand ausstreckst.“ Er

schluckte in der kurzen Pause, die der Andere machte.

„Was tust du dann? Streckst du deine Hand aus? Oder

drehst du dich um und gehst?“

„Ich… ich weiß nicht, was das bedeuten soll.“, antwor-

tete er.

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„Es bedeutet, dass man irgendwann an einen Punkt

kommt, an dem es nicht mehr endlos weiter geht. An

dem man nur noch die Wahl hat zwischen dem letzten

Schritt, oder dem Weg zurück.“

Er war ganz in seinen Sitz zurück gedrückt, da der An-

dere noch näher gekommen war, nur noch auf der Kan-

te seines Sitzes saß. Er glaubte zu spüren, dass ihm nun

der Schweiß auf der Stirn stand. Er sagte: „Ich glaube,

es kommt dann ganz auf diesen letzten Schritt an. Ob er

sich lohnt, oder nicht.“

Der Andere sah ihn an, kaute sein Kaugummi und sagte

dann: „Du könntest es nicht wissen.“

„Dann würde ich umkehren.“

Es entstand eine weitere Pause, an deren Ende sein Ge-

genüber sein Kaugummi in die Hand spuckte und or-

dentlich in dem kleinen Abfalleimer entsorgte. Danach

sagte er: „Wirklich?“

Der Zug wurde langsamer und er sah seine Haltestelle

gekommen. Erst dachte er, nicht aufstehen zu können,

dann erhob er sich halb und sagte, eine Hand noch auf

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den Sitz gestützt: „Sorry, das ist meine, ich muss dann

mal.“ Er stand ganz auf und trat einen Schritt auf den

Gang hinaus, blieb dann aber stehen, obwohl der Zug

jetzt stoppte. Er spürte, dass es an dem Anderen war,

ihn zu entlassen oder nicht. Dieser sah ihn aus seinem

Sitz heraus an, die Tasche wieder in den Händen. Dann

nickte er.

Bis zur Tür waren es drei Schritte und ein Druck der

Hand auf den Knopf. Der Weg kam ihm wie eine Minu-

te vor, seine Wirbelsäule drückte unangenehm auf sei-

nen ganzen Körper, so als wolle sie gleich heraussprin-

gen. Kalte Nachtluft schlug ihm entgegen, als die Türen

aufschwangen. Als er auf den Bahnsteig trat, hörte er

hinter sich: „Junge!“

In dieses Wort hatte der Fremde seinen ganzen Dialekt

gelegt, das u war lang gedehnt, das e wie ein ä ausge-

sprochen. Es klang vertraut, wie ein Großvater, der sei-

nen Enkel zu sich ruft. Er drehte sich in der Tür, ein

Bein bereits auf dem Bahnsteig, ein Bein noch im Zug.

Der Andere sah auf diese Entfernung aus wie eine

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Großmutter mit ihrer Handtasche, so aufrecht und feier-

lich saß er in seiner Nische.

„Merk dir eins“, sagte er, „merk dir nur eins. Keiner

kehrt um, nicht mehr, wenn er gesehen hat, dass der

Weg irgendwann endet. Keiner.“

Er nickte. Alle anderen Türen hatten sich bereits wieder

geschlossen, nur er blockierte die Abfahrt des Zuges.

„Und man kann auch nicht ewig vor dem Horizont ste-

henbleiben. Er fordert einen, seine Hand auszustrecken

und irgendwann wird man es tun. Verstehst du das?“,

sagte der Andere weiter.

Wieder nickte er, dann sagte er laut: „Ja.“

„Bitte von der Tür wegtreten“, schnarrte es blechern

über ihren Köpfen, die Stimme eines müden Fahrers.

„Aber man kann noch bestimmen, wann es so weit

ist.“, sagte der Andere. „Oder nicht?“

„Doch“ antwortete er, „ich hoffe doch.“

„Steig aus, Mann“, sagte der Andere. Und er stieg aus,

trat einfach nur einen Schritt weiter auf den Bahnsteig

und ließ die Tür vor seiner Nase zuschlagen. Er blieb

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stehen und sah zu, wie U-Bahn Fahrt aufnahm. Er sah

keine anderen Personen mehr in dem Wagen. Seine

Hände waren zu Fäusten geballt und seine Fingernägel

bohrten sich in die Handflächen. Die Bahn verließ den

Bahnsteig und nahm Fahrt auf, er konnte jetzt nieman-

den mehr erkennen. Er holte tief Luft und wandte sich

zum gehen, daher traf ihn der Druck der Explosion seit-

lich statt frontal und ließ ihn eher umknicken, anstatt

ihn wirklich weg zu schleudern. Er war schon halb am

Boden, als er erst das dumpfe Schlagen und dann das

hochtonige Kreischen des Metalls hörte. Kurz bevor er

auf dem Bahnsteig aufschlug, erreichte ihn die Hitze

und fuhr ihm unter Jeans und Mantel. Heiße Splitter

und größere Gegenstände regneten aus dem Himmel

und er spürte, wie etwas Scharfes in seine Hand ein-

drang. Hinter seinen geschlossenen Lidern wurde es

kurz ganz hell, dazu stellten sich alle seine Haare auf

und er hörte in seinen Ohren das elektrische Brummen

eines riesigen Transistors. Im nächsten Moment erstarb

dieser und sandte seinen Tod mit einem enttäuschten

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hohen Schrei in die Nacht. Es wurde wieder dunkel

hinter seinen Augen. Er blieb flach liegen, seine Wange

auf den kalten Beton drückend, als Gegengewicht zu

dem heißen Pochen in seiner Hand. Er hörte metalli-

sche Dinge aufschlagen und roch viel Qualm und bren-

nenden Gummi. Er wollte liegen bleiben, bis er Sirenen

hörte. Doch er schlug stattdessen die Augen auf und sah

auf einen Zacken, der aufrecht in seiner Hand steckte.

„Dieses Metall hat die Farbe der U-Bahn“, dachte er. Er

starrte sicher eine volle Minute auf seine Hand und auf

den Widerschein des Feuers in den Fenstern der Wohn-

häuser hinter der Station. Kein Auto fuhr auf der Straße

zwischen dem Bahnsteig und den Häusern. Wo waren

die alle? Er erhob sich und war irgendwo hinter seinem

Bewusstsein froh, dass das klappte. Ohne hinzusehen,

zog er den Splitter aus der Hand, was die Wunde stär-

ker bluten ließ. Er hielt den Arm ganz schlaff, so tropfte

alles auf den Boden.

Die U-Bahn war verschwunden, zumindest ihre hinte-

ren beiden Wagen. Er konnte nicht erkennen, ob zwi-

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schen den Trümmern und dem Rauch noch irgendwo

der vordere Wagen stand, vermutete es aber fast. Etwas,

was einer der Wagons gewesen sein könnte, stand quer

auf beiden Gleisen und brannte eine rot-schwarze Wand

in die Luft, alles dahinter versperrend. Er ging darauf

zu und spürte mit jedem Schritt die Hitze wachsen. Im

Gehen knöpfte er seinen Mantel auf. Seine Füße stie-

ßen gegen Trümmerteile. Hinter sich wurde eine Stim-

me lauter, rief etwas, vielleicht in seine Richtung. Er

glaubte in der Stimme den Anderen zu hören.

„Junge…“, hörte er, immer wieder dieses „Junge!“.

Schweiß rann in dicken Strömen von seinem Gesicht,

in seine Augen.

„Junge, komm da weg!“, rief es hinter ihm. Er wusste,

wenn er vor Hitze keinen Schritt weiter mehr machen

konnte, dann hatte er die Stelle erreicht, wo er seine

Hand ausstrecken konnte und das Ende des Horizonts

spüren würde.

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„Komm da weg!“, rief es wieder, sehr nah jetzt. Er

konnte jetzt nicht umkehren. Er streckte stattdessen sei-

ne Hand aus.

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