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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (1) Programm 1. Wann beginnt die Geschichte des politischen Denkens? 1.1. Die traditionelle Auffassung: Die Erfindung des Politischen durch die Griechen 1.2. Die Idee einer Achsenzeit und die Einwände der neueren Forschung 1.3. Die Entstehung von Staaten und die Erfindung der Schrift 2. Staat, Recht und Gerechtigkeit in frühen Hochkulturen 2.1. Mesopotamien 2.2. Ägypten 2.3. Bedeutung der ma’at in Ägypten 2.4. Israel: Monotheismus und die Erzählung des Exodus 2.5. Mesopotamische Schöpfungsmythen 3. Die Entstehung der Polis und des politischen Denkens in Griechenland 3.1. Die Auseinandersetzung mit Macht und Gerechtigkeit im Mythos 3.2. Voraussetzungen der Polis: Stabilität und Gerechtigkeit 4. Vorsokratik und Sophistik 4.1. Isonomie, Demokratie und rationales Denken 4.2. Die athenische Demokratie 4.3. Elemente einer politischen Theorie in der Sophistik 5. Platon 5.1. Die sokratischen Dialoge: was ist politische Kompetenz? 5.2. Politeia: Macht, Gerechtigkeit und der ideale Staat 5.3. Das Spätwerk: Gesetzesherrschaft und die Bedeutung des Mythos 6. Aristoteles 6.1. Die Grundlagen der politischen Theorie 6.2. Politik und Ökonomie 6.3. Staat und Verfassung 7. Epikur 8. Die Stoa

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Vorlesung: Geschichte des politischenDenkens I (1)

Programm

1. Wann beginnt die Geschichte des politischen Denkens?

1.1. Die traditionelle Auffassung: Die Erfindung des Politischen durch die Griechen

1.2. Die Idee einer Achsenzeit und die Einwände der neueren Forschung

1.3. Die Entstehung von Staaten und die Erfindung der Schrift

2. Staat, Recht und Gerechtigkeit in frühen Hochkulturen

2.1. Mesopotamien

2.2. Ägypten

2.3. Bedeutung der ma’at in Ägypten

2.4. Israel: Monotheismus und die Erzählung des Exodus

2.5. Mesopotamische Schöpfungsmythen

3. Die Entstehung der Polis und des politischen Denkens in Griechenland

3.1. Die Auseinandersetzung mit Macht und Gerechtigkeit im Mythos

3.2. Voraussetzungen der Polis: Stabilität und Gerechtigkeit

4. Vorsokratik und Sophistik

4.1. Isonomie, Demokratie und rationales Denken

4.2. Die athenische Demokratie

4.3. Elemente einer politischen Theorie in der Sophistik

5. Platon

5.1. Die sokratischen Dialoge: was ist politische Kompetenz?

5.2. Politeia: Macht, Gerechtigkeit und der ideale Staat

5.3. Das Spätwerk: Gesetzesherrschaft und die Bedeutung des Mythos

6. Aristoteles

6.1. Die Grundlagen der politischen Theorie

6.2. Politik und Ökonomie

6.3. Staat und Verfassung

7. Epikur

8. Die Stoa

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9. Cicero

10. Augustinus

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Literaturhinweise

Allgemein

Hauke Brunkhorst: Einführung in die Geschichte politischer Ideen. München

2000

Janet Coleman: A History of Political Thought. From Ancient Greece to Early

Christianity. Oxford 2000

Iring Fetscher, Herfried Münkler (Hg): Pipers Handbuch der politischen Ideen.

Bd 1: Frühe Hochkulturen und europäische Antike. München, Zürich 1988

Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart.

2. Auflage. München 2001

Ägypten und Israel

Jan Assmann. Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten.

München (1990) 2001.

Jan Assmann: Herrschaft und Heil. München, Wien 2000

Michael Walzer: Exodus und Revolution. Frankfurt a.M. 1995

Das archaische Griechenland und die Entstehung der Demokratie

Michel Austin, Pierre Vidal-Naquet: Economies et sociétés en Grèce

ancienne. Paris 1972

Marcel Detienne: Les maîtres de vérité dans la grèce archaïque. Paris 1967

Moses Finley: Die Welt des Odysseus. (1954) München 1979

Moses I. Finley: Das politische Leben in der antiken Welt. (1983) München

1991

Pierre Lévêque, Pierre Vidal-Naquet: Clisthène l’Athénien. Paris 1964

Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt

a.M. 1980

Jean-Pierre Vernant: Les origines de la pensée grecque. Paris 1962

Jean-Pierre Vernant: Mythe et pensée chez les Grecs. Paris 1965

Jean-Pierre Vernant: Mythe et société en grèce ancienne. Paris 1974

Vorsokratik und Sophistik

Jaap Mansfeld (Hg.). Die Vorsokratiker I. Stuttgart 1983

George B. Kerferd: The Sophistic Movement. Cambridge 1981

George B. Kerferd, Hellmut Flashar: Die Sophistik. In H. Flashar (Hg.):

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Ueberweg: Antike 2/1. Basel 1998:

1-137

Bernhard H.F.Taureck: Die Sophisten zur Einführung. Hamburg 1995

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (1)

1. Wann beginnt die Geschichte des politischen Denkens?

Ausgangsfragen:

- Kann von politischem Denken bereits dann die Rede sein, wenn Vorstellungen

politischer Ordnung dokumentiert sind, oder erst dann, wenn eine kritische

Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen stattfindet?

- Wie kann die Wissenschaft entscheiden, ob in frühen Kulturen eine kritische

Auseinandersetzung mit politischen Ordnungsvorstellungen stattgefunden hat?

- Welche Quellen können Aufschluss über politisches Denken geben?

1.1. Die traditionelle Auffassung: Die Erfindung des Politischen durch dieGriechen

«Das Politische der Griechen [...] ist die spezifische Ausprägung, die dieses

Handlungsfeld im klassischen Jahrhundert und vor allem in der athenischen

Demokratie erfahren hat. Indem breitere und endlich breiteste Bürgerschichten sich

regelmässige mächtige Teilhabe an der Politik erkämpften, verwandelte sich das

Feld, es erweiterte sich um den Gegenpol dessen, was in den früheren Kulturen

allein <politisch> [...] gewesen war.

Innerhalb der Weltgeschichte des Politischen bedeutete das einen grossen Schritt

der Politisierung: Erstmals wurde der Kern der politischen Ordnung zum Gegenstand

von Politik, die Frage, wer herrscht - Monarch, Adel oder Volk -; ob also die

Regierten (und damit nicht mehr: Beherrschten) entscheidend in politicis mitreden

sollten oder nicht.» (Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den

Griechen. 1983: 40)

1.2. Die Idee einer Achsenzeit und die Einwände der neueren Forschung

Kritisch-rationales Denken ist laut Jaspers in der «Achsenzeit» entstanden.

«Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in

dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozess. Dort liegt der tiefste

Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. [...]

Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen

Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne

dass sie gegenseitig voneinander wussten.» (Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel

der Geschichte. München (1949) 1983: 19f)

Die Achsenzeit ist als Zeitalter der Transzendenz bezeichnet worden. Es wird

einigen Menschen möglich, die Wirklichkeit zu transzendieren. Sie können sich

vorstellen, dass die politische Ordnung so oder auch anders sein könnte. Neuere

Forschungen lassen darauf schliessen, dass die politische Ordnung in frühen

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (2)

staatlichen Kulturen kritisch beurteilt worden ist und ein Bewusstsein davon, dass es

in der Welt Ungerechtigkeit gibt, existiert hat.

1.3. Die Entstehung von Staaten und die Erfindung der Schrift

Was verstehen wir unter Politik (Arbeitsdefinition): Die Gesamtheit der Praktiken,

Normen und Institutionen, womit eine Gesellschaft ihre Konflikte zu lösen sucht. Die

kollektive Organisation der Ausübung von Macht.

Komplexe Formen sozialer Organisation, d.h. staatliche Formen, brauchen die

Schrift als ein notwendiges Hilfsmittel von Herrschaft und Verwaltung. Schriftliche

Dokumente verraten aber nicht nur etwas über die Ausübung von Herrschaft,

sondern auch über den Aufbau der sozialen Ordnung und die Rechtfertigung von

Herrschaft.

2. Staat, Recht und Gerechtigkeit in frühen Hochkulturen

2.1. Mesopotamien

Der Herrschaftstypus in frühen mesopotamischen Monarchien lässt sich als

patriarchaler Absolutismus bezeichnen. Mit der Zentralisierung der Macht und der

wachsenden Gefahr des Machtmissbrauchs geht ein verstärktes (patriarchales)

Verantwortungs- und Gerechtigkeitsbewusstsein einher.

Der Herrscher gebietet nicht nur, er gibt das Gesetz, er definiert als Gesetzgeber

seinen Auftrag und rechtfertigt derart seinen Herrschaftsanspruch. Seinen Auftrag

erkennt er darin, die alte, gottgegebene Ordnung wieder herzustellen, d.h.

Gerechtigkeit herzustellen, den Reichen und Mächtigen ihre Privilegien zu nehmen

und die Machtlosen zu beschützen.

Codex Urnammu, Prolog (Urnammu von Lagasch 2100):

«... Das Waisenkind habe ich nicht dem Reichen ausgeliefert, den Mann mit einem

Schekel habe ich nicht dem Mann mit einer Mine ausgeliefert, den Mann mit einem

Lamm habe ich nicht dem Mann mit einem Ochsen ausgeliefert ... Hass und

Gewalttätigkeit und Rufe nach Gerechtigkeit brachte ich zum Verschwinden. Ich

habe Gerechtigkeit durchgesetzt im Land Sumer.» (zit. in Uwe Wesel: Geschichte

des Rechts. 2001: 74)

Codex Hammurabi (Regierungszeit von Hammurabi 1792-1750):

Prolog

«Als Anu [...] und Enlil [...] dem Gott Marduk [...] die Herrschaft über die gesamte

Menschheit übertrugen [...], Babylon [...] übermächtig werden liessen innerhalb des

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (3)

Weltkreises, ihm (Marduk) in ihm ewiges Königtum, dessen Grundfesten dauerhaft

sind wie die von Himmel und Erde, gründeten - damals haben (mich), Hammurapi,

den gehorsamen Fürsten, ergeben den Göttern, damit ich das Recht im Lande

erstrahlen lassen, die Bösen und Ruchlosen vernichte, den Schwachen vom Starken

nicht entrechten lasse [...] (damals haben) Anu und Enlil zum Wohlergehen der

Menschen meinen Namen ausgesprochen»

«Als Marduk mich beauftragte, das Volk gerecht zu regieren, dem Land eine Leitung

zu geben, habe ich in die Äusserungen des Landes Rechtsordnung und

Gerechtigkeit eingeführt, habe ich den Bewohnern Wohlfahrt geschaffen.»

Epilog

«Damit der Starke den Schwachen nicht entrechte, damit Waisen und Witwen zu

ihrem Recht kommen, [...] (damit) dem Unterdrückten Recht werde, habe ich meine

kostbaren Worte auf meine Stele geschrieben.»

«Der zu Unrecht Behandelte, der in eine Rechtssache verwickelt wird, möge vor

mein Bild <König der Gerechtigkeit> treten, damit er sich die auf meiner Stele

niedergeschriebenen Worte vorlesen lasse und meine kostbaren Worte höre. Möge

meine Stele ihm die Sachlage erläutern, damit er seine Rechtslage erkenne, (und)

sein Herz aufatmen lasse, (und er sage): <Hammurapi ist wahrlich ein Herr, der zu

den Menschen wie ein leiblicher Vater steht>.»

(Quelle in: Richard Haase: Die keilschriftlichen Rechtssammlungen in deutscher

Fassung. 1979: 30, 32, 58)

2.2. Ägypten

Die absolute Monarchie bezieht ihre Legitimität aus mythischen Quellen. Die Könige

sind legitime Nachfolger der Götter, ihre Herrschaft ermöglicht die politische wie

auch die kosmische Ordnung. Allerdings gibt es ein Ordnungsprinzip, das über

Göttern und Königen steht: Ma’at.

Grabinschrift, 15. Jh.:

«Er teilt die maat aus ohne Parteilichkeit und sorgt dafür, dass die streitenden

Parteien zufrieden sind, indem er in gleicher Weise urteilt über Arme und Reiche, so

dass niemand weinen muss, der sich an ihn gewandt hat» (zit. in Uwe Wesel:

Geschichte des Rechts. 2001: 100)

Ma’at heisst

- Unparteilichkeit, Gleichbehandlung, Barmherzigkeit,

- soziale Hierarchie als notwendiger Bestandteil der Ordnung,

- Ausdehnung der Grenzen des Reichs als Abwehr des Chaos.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (4)

2.3. Bedeutung der ma’at in Ägypten

Grundlage: Jan Assmann. Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten.

München (1990) 2001

In hierarchisch aufgebauten Gesellschaften gibt es Gemeinschaftsvorstellungen, die

oben und unten verbindet: in diesem Sinne bedeutet Ma’at vertikale Solidarität.

Nach dem Zerfall des alten Reichs (ca 2800-2200) wird das Prinzip der Ma’at zum

Gegenstand öffentlicher Diskussionen.

Die «Klagen des Bauern» (wahrscheinlich 19./18. Jh.):

«Es gibt kein Gestern für den Trägen,

es gibt keinen Freund für den, der für die Ma’at taub ist,

es gibt kein Fest für den Habgierigen.» (zit. in Assmann 60)

- Vergesslichkeit: Vergessen der sozialen Verpflichtungen.

- Verstocktheit: wer die Gebote der Ma’at nicht befolgt, ist nicht fähig zu sozialen

Beziehungen. Wer klagt, soll angehört werden.

- Habgier: zerstört soziale Bindungen und schafft Chaos.

Definition von Ma’at (um 1700):

«Der Lohn eines Handelnden liegt darin, dass für ihn gehandelt wird.

Das hält Gott für Ma’at.» (zit. in Assmann 65)

Ma’at heisst:

- Solidarität, Gegenseitigkeit, Vergeltung,

- ausgleichende Gerechtigkeit, die nicht darauf zielt, die Hierarchie von Macht und

Ohnmacht, Reichtum und Armut umzuwälzen, sondern darauf, Ohnmächtigen und

die Mächtigen an ihre Pflichten zu erinnern.

Ma’at herrscht nicht von Natur aus, sondern erst dank staatlicher Herrschaft. Wo

diese fehlt oder versagt, droht das Chaos (Isfet), die menschliche Natur, die

habgierig, machtgierig ist und Ungleichheit schafft.

Vorlesung U. Marti: Geschichte des politischen Denkens I (6)

2.4. Israel: Monotheismus und die Erzählung des Exodus

Grundlage: Jan Assmann: Herrschaft und Heil. 2000. Michael Walzer: Exodus und

Revolution. (1985) 1995.

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Säkularisierungsthese: Politische Handlungsmöglichkeiten werden erst im Zuge der

Emanzipation von der Autorität der Religion entdeckt.

Theologisierungsthese: Politische Handlungsmöglichkeiten waren stets schon

bewusst, erst nachträglich wird das Politische ins Theologische übersetzt.

Der Zweck der Theologisierung kann sein:

- Fragen der Herrschaft dem öffentlichen, politischen Streit zu entziehen, um

Herrschaft zu stärken.

- Den Grundsatz, wonach die politische Autorität keine absolute Macht

beanspruchen darf, dem politischen Streit zu entziehen.

«In Israel steht alle <Herrschaft von Menschen über Menschen> unter einem

grundsätzlichen Vorbehalt, der sich in bestimmten Texten zu Kritik, Ablehnung, ja

Hohn und Spott steigern kann». (Assmann 47)

Theokratisches Modell: Der Herrscher begründet seinen Anspruch mit seinem

göttliche Auftrag und verlangt aufgrund dieses Anspruchs totale Unterwerfung.

«Anarchisches» Modell: Gott schliesst mit dem Volk einen Bund, ohne den König als

Vermittler einzusetzen. Der König darf dem Bund nicht zuwiderhandeln.

Der Gründungsmythos der politischen Gemeinschaft ist der Exodus.

- Der Auszug aus Ägypten symbolisiert die Erlösung, die Befreiung eines

unterdrückten Volkes,

- die Befreiung kann aber nur gelingen, wenn die Unterdrückten den beschwerlichen

Gang durch die Wüste auf sich nehmen. Wenn sie das Ziel erreichen, werden sie

andere Menschen sein,

- durch den Bund mit Gott erhält nicht nur das Volk, sondern jedes Individuum seine

Freiheit, denn vor Gott sind sie alle gleich,

- es ist möglich, die Welt zu verändern. Es gibt eine Zukunft, in der die Menschen

nicht mehr fürchten müssen, in die schlechte Vergangenheit zurückzufallen.

2.5. Mesopotamische Schöpfungsmythen

Grundlage: Die Schöpfungsmythen. (Paris 1959) Darmstadt 1993

Sumerische Schöpfungsmythen (älteste Quellen: Mitte 3. Jt.)

Zur Zeit, als die Götter die Erde bewohnten, hatten sie alles, und dennoch wurden

sie nicht satt. Daher schufen sie die Menschen.

«Gaben dem Arbeiter den Pflug und das Joch»

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (6)

Babylonisches Schöpfungslied «Enuma Elisch» (ursprüngliche Fassung

wahrscheinlich 19.-17. Jh.)

Der Gott Marduk beschliesst, ein neues Wesen entstehen zu lassen.

«Erschaffen will ich ein Wesen, den Menschen. Ihm auferlegt sei der Dienst der

Götter zu ihrer Erleichterung.»

Ein anderer babylonischer Schöpfungsmythos

Nachdem die grossen Götter Himmel und Erde geschaffen haben, beschliessen sie,

«Lamga-Götter» (göttliche Handwerker) zu schlachten,

«Aus ihrem Blute wollen wir die Menschheit schaffen. Der Dienst der Götter sei ihr

Teil. Um von nun an Die Grenzen festzusetzen, In ihre Hände Hacke und Tragkorb

zu legen; Um aus der grossen Wohnung der Götter (zu machen) Ein würdiges

Heiligtum, [...] Um die Felder der Anunnaki [der grossen Götter] fruchtbringend zu

machen, Den Überfluss im Lande zu mehren, Die Feste der Götter zu feiern»

Hurritischer Schöpfungsmythos (wahrscheinlich 13. Jh.)

Anlässlich eines Streits unter den Göttern fällt der Vorschlag, die Menschheit zu

vernichten. Der Gott der Weisheit rät ab.

«Weswegen solltet ihr [die Menschheit] vernichten? Bringen die Menschen den

Göttern nicht Opfer dar? ... [Wenn] ihr die Menschheit vernichtet, wird niemand mehr

die Götter [versorgen], Brot- und Trankopfer wird niemand mehr spenden. Es wird so

weit kommen, dass der Wettergott [...] selber den Pflug in die Hand nehmen muss,

dass Ischtar und Hepat das Korn mahlen müssen.»

Die politische Bedeutung von Schöpfungsmythen: Sie erlauben es, Probleme, die

die Menschen bewegen, zur Sprache zu bringen:

- Kosmogonien berichten von Machtkämpfen zwischen Göttern, sie berichten aber

auch davon, wie Götter eine legitime Herrschaft begründen, die auf menschliche

Herrscher übergehen kann.

- Herrschaft ist deshalb legitim, weil nur sie garantiert, dass sich die Ordnung gegen

das Chaos durchsetzen kann.

- Legitim ist auch die ungleiche Verteilung der Macht zwischen Menschen. Es muss

Herrschende und Dienende geben. Die Knechte haben keinen Grund, gegen diese

Ordnung aufzubegehren, da sie den Herren ihre Existenz verdanken.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (7)

3. Die Entstehung der Polis und des politischen Denkensin Griechenland

3.1. Die Auseinandersetzung mit Macht und Gerechtigkeit im Mythos

Hesiod (um 700): Theogonie, Werke und Tage

Der Mythos als Erzählung über Voraussetzungen, Entstehung und Zerfall der

Ordnung.

Theogonie: Der Mythos erzählt, wie Macht klug genutzt und konsolidiert wird. Die

Herrschaft des Zeus ist Vorbild einer Monarchie, die die Konkurrenten des

Herrschers nicht vernichtet, sondern einbindet und dafür sorgt, dass alle in einer

gerechten Ordnung leben können.

Werke und Tage: Der Mythos erzählt vom harten Los der Menschheit. Dieses Los

spricht nicht gegen die Klugheit und Gerechtigkeit der Herrschaft von Zeus, sondern

ist von den Menschen selbst verschuldet.

Ein Grundmotiv des Mythos: Hybris (Hochmut, Stolz, Zügellosigkeit) und Nemesis

(Vergeltung, Strafe, Rache)

Der Mythos von Prometheus

prometheia: Klugheit, Vorsicht, auch Fürsorge

prometheomai: vorbedenken, sich überlegen, was in Zukunft eintreten wird

Prometheus symbolisiert

- den Willen, die Unterordnung der Menschen unter die Götter in Frage zu stellen,

- die Herstellung einer zweiten Natur, nämlich der menschlichen Zivilisation oder der

zivilisierten Menschheit.

Wieso ist die Menschheit zu einem Leben in Arbeit und Mühsal verurteilt?

- Die Trennung von den Göttern ist eine Güterteilung. Prometheus gibt den

Menschen den besseren Teil.

- Zeus rächt sich, indem er den Menschen das Feuer nimmt.

- Prometheus stiehlt das Feuer und bringt es den Menschen.

- Zeus rächt sich, indem er den Menschen die Frau bringt.

Aischylos: Der gefesselte Prometheus (ca 460)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (8)

Prometheus verkörpert die irdische Rechtsordnung, die mehr Vertrauen verdient als

die himmlische Satzung.

Im Gegensatz zu den olympischen Göttern weiss er, dass Gewalt keine dauerhafte

Ordnung begründen kann und auch Götter nicht allmächtig sind.

Was die «Schuld» des Prometheus?

Zeus beschliesst, das Geschlecht der Menschen zu vernichten; Prometheus

widersetzt sich dem Plan und befreit die Menschen vom Los, das ihnen die Götter

zugedacht haben. Er schenkt ihnen die Hoffnung, das Feuer als Grundlage aller

technischen Fertigkeiten sowie die Wissenschaft von den Naturgesetzen.

3.2. Voraussetzungen der Polis: Stabilität und Gerechtigkeit

Ausgangsfrage:

Welches sind die sozialen Grundlagen der politischen Philosophie?

Die Polis ist der Ort von Konflikten zwischen sozialen Schichten

(Grossgrundbesitzer, Handel und Gewerbe, Kleinbauern)

Der Gesetzgebung kommt die Aufgabe zu, den Konflikt zu beenden.

Solon (Anfang 6. Jahrhundert)

«Rechte verlieh ich dem Volke genau in dem richtigen Masse, nahm ihm an

Ansehen nichts, reichte zuviel ihm nicht dar. Auch den Grossen des Landes, die

Macht und Reichtum besassen, schrieb ich ein neues Gesetz: keinen Besitz ohne

Recht. Mit dem festesten Schild beschützte ich beide Parteien. Keinem liess ich im

Kampf die Oberhand gegen das Recht.» (zit. in Uwe Wesel: Geschichte des Rechts.

2001: 120)

594 Gesetz von Solon

- Befreiung der Bauern, dh Aufhebung der Grundschulden und der Leibeigenschaft

- Beschränkung der Adelsmacht, Volk wird in vier Klassen eingeteilt, auch untere

Klassen haben begrenzte politische Mitspracherechte

- Alle sollen das Recht haben, Anklage gegen Verbrechen zu erheben

Politische Krisen entstehen, wenn die richtige Verteilungsordnung von den

Menschen nicht mehr anerkannt wird; Gerechtigkeit ist die Macht, die die

ursprüngliche Verteilungsordnung wiederherzustellen vermag.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (9)

Politisches Denken ist Ausdruck einer Krise. Die Krise manifestiert sich in der

Auflösung der gemeinschaftlichen Harmonie, diese resultiert aus einem verschärften

Verteilungskampf. Will die Politik den Streit schlichten, muss sie sich an die Idee der

Gerechtigkeit halten, sie muss die richtige, angemessene Zuteilung der Güter

vornehmen.

Politische Philosophie verdankt ihre Entstehung der Einsicht, dass die Stabilität einer

Ordnung von ihrer gerechten Gestaltung abhängt.

4. Vorsokratik und Sophistik

4.1. Isonomie, Demokratie und rationales Denken

Ausgangsfrage:

Wie entwickelt sich das rationale Denken aus dem mythischen Denken?

Politik wird als Akt der Wiederherstellung der Gerechtigkeit mittels Gesetzgebung

verstanden. Die Naturphilosophie basiert auf einer vergleichbaren

Grundüberzeugung.

Anaximander von Milet (erste Hälfte des 6. Jahrhunderts):

«Woraus die Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet auch ihr Vergehen statt, wie

es sich gehört, denn sie leisten einander Recht und Strafe für die Ungerechtigkeit,

gemäss der zeitlichen Ordnung.»

Die frühen Naturphilosophen begreifen die Natur als Rechtsordnung, als

Gleichgewicht der Kräfte. Jedes Ungleichgewicht stellt eine Ungerechtigkeit dar und

provoziert eine Krise. Es beginnt ein Prozess von Bestrafung und Kompensation, der

schliesslich das Gleichgewicht wieder herstellt.

Die Herausbildung eines rationalen, philosophischen, nicht-mythischen Denkens

verdankt sich nicht naturwissenschaftlicher Erkenntnis.

Rationales Denken hat seinen Ursprung in einer politischen Umwälzung. Sobald

Politik nicht mehr die Sache eines einzelnen ist, sondern in einer Versammlung von

Gleichberechtigten ermittelt werden muss, braucht es gewisse Regeln des

Sprechens, der Kommunikation. Es braucht allgemein anerkannte Kriterien von

Wahrheit und Vernunft

Die Entstehung rationalen Denkens steht in Beziehung zur Demokratisierung

politischer Ordnung.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (10)

- Wenn die politische Ordnung nicht mehr als Abbild des Kosmos, der Schöpfung

verstanden wird, sondern als von Menschen geschaffene und veränderbare

Institution, wird sie zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung.

- In diesem Streit ist politische Kompetenz gefragt. Philosophie ist jene

Wissenschaft, die beansprucht, zu wissen, wie politische Konflikte gelöst werden

können.

- Politische Kompetenz setzt die Fähigkeit der Abstraktion voraus, sie orientiert sich

nicht an realen gesellschaftlichen Hierarchien, sondern am abstrakten Prinzip der

isonomia, der Gleichheit vor dem Gesetz.

Parmenides von Elea: «Über die Natur» (um 500).

Begründung der

- Ontologie, Lehre vom Sein, das nicht identisch ist mit der sinnlich wahrnehmbaren

Realität,

- möglich wird dadurch eine formale Logik als Lehre vom folgerichtigen Denken.

Wenn der Mensch die Gesetze der Logik befolgt, sich an die Axiome (Satz von der

Identität, Satz vom verbotenen Widerspruch, Satz vom ausgeschlossenen Dritten)

hält, findet er den Weg in die höhere Welt des reinen Seins.

Literatur: Jean-Pierre Vernant: La formation de la pensée positive dans la Grèce

archaïque. In: Annales E.S.C. 1957: 183-206.

4.2. Die athenische Demokratie

Verfassung des Kleisthenes (Ende des 6. Jahrhunderts)

- Neue Einteilung der Bevölkerung.

- Grössere Teile der Bevölkerung erhalten die Möglichkeit, sich vom Adel zu

emanzipieren und politisch zu partizipieren.

- Immer noch sind es vor allem Angehörige des Adels und der wohlhabenden

Klassen, die die wichtigen Ämter einnehmen.

Verfassung des Perikles (462)

- Entmachtung der traditionell aristokratischen Gremien.

- Stärkung der Volksversammlung und des von ihr gewählten Rates der 500.

- Auch in der perikleischen Demokratie ist die athenische Bürgerschaft in vier

Zensusklassen eingeteilt. Die Einteilung erfolgt aufgrund des Reichtums und

bestimmt für die Angehörigen der einzelnen Klassen die Zugangsmöglichkeiten zu

politischen Ämtern.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (11)

Was ist demokratisch an der politischen Ordnung Athens:

- Die Bürger gelten als gleich, haben den gleichen Anspruch, ihre Meinung zu

äussern

- Die Bürger haben in der Regel hinreichend politische Erfahrung, der Zugang zu

den zahlreichen Ämter wird durch Losentscheid bestimmt.

- Es gibt geschriebene Gesetze. Die Polis steht unter der Herrschaft der Gesetze.

- Die Gemeinschaft der Bürger ist «souverän», hat ein Letztentscheidungsrecht.

Was ist undemokratisch an der politischen Ordnung Athens:

- Bedingungen des Bürgerstatus: männlich, mindestens 18-jährig, frei geboren

Konklusion:

Es gibt in Griechenland eine kurze Periode der Politisierung menschlicher Existenz.

Für einen grossen Teil der Bevölkerung wird die fortwährende Beteiligung am

politischen Leben, die Identifizierung mit der eignen Polis zu einem wesentlichen

Lebensinhalt. Diese Politisierung ist die Folge einer Demokratisierung der

Verfassung. Immer grössere Teile der Bevölkerung können mehr oder weniger direkt

Macht ausüben. Ihre Stimme wird gehört.

Es handelt sich nicht um eine Demokratie im modernen Sinn.

- Es können nur freie Männer partizipieren, nicht Frauen, Sklaven, nicht-athenische

griechische Einwohner.

- Die Bürger sind in Klassen aufgeteilt.

- Faktisch werden die Entscheidungen von einer kleinen Minderheit getroffen.

Zeitgenössische Kritik:

- Die athenische Demokratie ist eine kriegerische, imperialistische Macht. Die Politik

Athens ist eine skupellose Machtpolitik.

- Das Volk entscheidet nicht aufgrund von Gemeinwohlüberlegungen, sondern

aufgrund materieller Erwägungen. Es ist wankelmütig und lässt sich von Demagogen

verführen.

4.3. Elemente einer politischen Theorie in der Sophistik

Vertreter der Sophistik:

Protagoras, Gorgias, Antiphon, Prodikos, Thrasymachos, Hippias, Lykophron,

Alkidamas

(Kritias, Kallikles)

Grundprobleme der Sozialphilosophie

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (12)

I. Der Mensch als Mass aller Dinge

Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten wird zum Massstab, der

über Wert und Unwert der Dinge entscheidet.

Der Mensch ist das Mass aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der

nichtseienden, dass sie nicht sind. (Protagoras - Homo-mensura Satz)

II. Religionskritik

Ein Wissen über die Götter ist nicht möglich. (Protagoras)

Die Götter sind eine menschliche Erfindung. Die Religion ist ein Instrument der

moralischen Disziplinierung. (Kritias)

Die Menschen haben die nützlichen Dinge des Alltags, Wohltäter und Erfinder, die

vier Elemente und die Himmelskörper zu Göttern gemacht (Prodikos)

III. Theorien der Kulturentstehung

Das mythisch-theozentrische wird durch ein anthropozentrisches Weltbild ersetzt.

Die menschliche Geschichte ist keine Verfallsgeschichte, sondern zeugt von der

Möglichkeit des technischen Fortschritts und der moralisch-rechtlichen Zivilisierung.

IV. Nomos und Physis

IV/I. Der Nomos dient der Vollendung der menschlichen Natur

Von Natur aus kennen die Menschen kein Gesetz und besitzen keine politische

Kompetenz. Sie können diese Kompetenz mittels Erziehung erwerben.

Der Nomos stellt die notwendige Korrektur der Physis dar.

IV/II. Skeptische Haltung: Gerechtigkeit ist eine Illusion

Die Götter haben die menschlichen Angelegenheiten nicht im Auge, sonst hätten sie

das grösste unter den menschlichen Gütern, nämlich die Gerechtigkeit, nicht ausser

Acht gelassen. (Thrasymachos)

Gerechtigkeit dient der Herrschaftsstabilisierung und dem Nutzen der Herrschenden.

(Thrasymachos bei Platon)

IV/III. Kritik des Nomos im Namen der Physis, aristokratische Perspektive

In der Natur herrscht das Recht des Stärkeren. Das Gesetz ist eine widernatürliche

Erfindung, das die Stärkeren daran hindern soll, ihre Macht auszuüben. (Kallikles,

Kritias, vgl. auch Thukydides)

Der Nomos ist Überbau, Illusion, Ausdruck des Willens zur Macht, der Interessen der

Mächtigen, aber auch der Ohnmächtigen. Er kann die notwendig ungerechte Physis

nicht wirklich korrigieren.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (13)

IV/IV. Kritik des Nomos im Namen der Physis, egalitäre Perspektive

Die Natur ist der Tyrannei der Gesetze vorzuziehen, von Natur aus sind alle

Menschen verwandt. (Hippias)

Geburtsadel ist belanglos, in Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen adlig

und nicht-adlig Geborenen. (Lykophron)

Die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht. (Alkidamas)

Wir sind von Natur aus alle in gleicher Weise dazu geschaffen, in unserem Verhalten

sowohl Barbaren als auch Hellenen zu sein. (Antiphon)

Der Nomos einer Polis ist Ausdruck spezifischer Erfahrungen eines Volkes, nicht der

universellen menschlichen Natur. Die Physis muss die Ungerechtigkeit des Nomos

korrigieren.

IV/V. Generelle Kritik des Nomos im Namen der Physis

Die Gesetze des Staats sind wie die meisten menschlichen Satzungen willkürlich

gesetzt und stehen nicht im Einklang mit der Natur. Wer sie heimlich übertritt, hat

weder Strafe noch Schaden zu befürchten. Wer aber die Gesetze der Natur übertritt,

trägt auf jeden Fall Schaden davon. Die Gesetze der Natur sind daher notwendig

und dem Menschen zuträglich.

Der Gegensatz von Physis und Nomos entspricht dem Gegensatz von Wahrheit und

Meinung. (Antiphon)

V. Staatstheorien

Rationalistische Theorie der Entstehung des Staats.

Der Staat ist Ausdruck menschlicher Bedürfnisse und Interessen.

Der Staat lässt sich auf einen Sozialvertrag zurückführen.

Das Gesetz ist kein Mittel der moralischen Erziehung, sondern eine wechselseitige

Rechtsgarantie. (Lykophron)

5. Platon

Einführung, Sokrates und die Sokratik

Sokrates (469-399)

Xenophon: Apomnemoneumata Sokratus, Erinnerungen an Sokrates 370/360

I/1/10: «Doch wahrlich, Sokrates hielt sich immer in der Öffentlichkeit auf: Am

Morgen ging er in die Wandelhallen und zu den Turnplätzen , und wenn der Markt

voller Leute war, konnte man ihn dort sehen, auch während der übrigen Tageszeiten

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war er dort, wo er hoffte, mit der grössten Gesellschaft zusammen sein zu können.

Er sprach dann auch meistens, und wer wollte, der hatte die Möglichkeit, ihn

anzuhören.»

Platon: Apologia Sokratus, Verteidigungsrede des Sokrates

29b ff: «Und wollte ich behaupten, dass ich um irgend etwas weiser wäre: so wäre

es um dieses, dass, da ich nichts ordentlich weiss von den Dingen in der Unterwelt,

ich es auch nicht glaube zu wissen; gesetzwidrig handeln aber und dem Besseren,

Gott oder Mensch, ungehorsam sein, davon weiss ich, dass es übel und schändlich

ist. »

Wenn ihr mich jetzt freisprechen würdet, würde ich zu euch sprechen:

«Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich

dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich

nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zu beweisen,

wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann [...]

schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste

erlangest, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und deine Seele,

dass sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken.»

«Denn so, wisst nur, befiehlt es der Gott. Und ich meines Teils glaube, dass noch

nie grösseres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott

leiste.»

Wichtige Vertreter der Sokratik

Antisthenes - kynische Bewegung - Vorbereitung der stoischen Schule

Der Weise lässt sich in seinem politischen Handeln nicht von den bestehenden

Gesetzen seines Staats leiten, sondern von seiner Arete (Vorbereitung des

stoischen Denkens, wahrscheinlich aber auch beeinflusst von der Sophistik)

Aristippos von Kyrene - kyrenaische Schule

Platon (428/7-347)

Im Zentrum von Platons politischer Philosophie steht die Frage nach der politischen

Kompetenz.

- Diese ist unter den Menschen ungleich verteilt. Herrschen soll, wer über die

umfassendste politische Kompetenz verfügt.

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- Politische Kompetenz ist gleichbedeutung mit philosophischer Einsicht. Der

Philosoph ist der ideale Herrscher.

- Politik ist keine öffentliche Angelegenheit, in der alle Bürger ein Mitspracherecht

haben.

Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Herausgegeben von

Gunther Eigler. Darmstadt. 1970ff

Chronologische Einteilung:

- Frühe Periode: Dialoge, oft zwischen Sokrates und Vertretern der Sophistik, wobei

häufig der Ausgang offen bleibt (Protagoras, Gorgias, Politeia I)

- Mittlere Periode: Darlegung der philosophischen Theorie wird wichtiger (Politeia)

- Späte Periode: Dialog wird als Stilmittel noch eingesetzt, es geht aber um die

Darlegung (Politikos, Nomoi)

Zitierweise: Stephanus-Numerierung

Politische Philosophie: wichtigste Schriften

Apologie, Protagoras, Gorgias

Politeia

Politikos, Kritias, Nomoi

VII. Brief, 324bff: Als die demokratischen Machthaber gegen Sokrates Anklage

erhoben, wandte ich mich von der Politik ab. Ich sah überall nur noch Verfall der

Gesetzgebung und der Sitten.

326ab: «Ich habe dann zwar nicht aufgehört, darüber nachzudenken, wie es einmal

besser werden könnte mit diesen Verhältnissen und der Verfassung der Stadt

insgesamt; für das Handeln habe ich jedoch immer auf Gelegenheit gewartet.

Schliesslich musste ich an allen heutigen Städten erkennen, dass sie insgesamt eine

schlechte Verfassung haben - denn was ihre Gesetze betrifft, ist nahezu unheilbar,

wenn nicht eine wunderbare Planung auf glückliche Umstände trifft -, und ich musste

zum Lobe der wahren Philosophie sagen, dass allein sie es ist, die einsehen lässt,

was alles im städtischen Bereich gerecht ist und im Privaten. Daher werden die

Generationen der Menschen nicht vom Elend erlöst, bevor entweder die Klasse der

auf rechte und wahrhafte Art Philosophierenden an die städtischen Ämter gelangt

oder die der Machthaber in den Städten durch göttliche Fügung wahrhaft zu

philosophieren beginnt.»

Vorlesung U. Marti: Geschichte des politischen Denkens I (16)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (16)

5.1. Die sokratischen Dialoge: was ist politische Kompetenz?

I Verpflichtung gegenüber den Gesetzen

Sokrates nimmt nicht die Perspektive des Beherrschten ein, der nach seinen

Rechten fragt. Der Einzelne hat gegenüber dem politischen Gemeinwesen

Verpflichtungen.

Derjenige, dem Unrecht angetan worden ist, darf nicht Unrecht tun. Er würde zur

weiteren Zerrüttung der Gesetzesordnung beitragen. Den Gesetzen aber verdankt er

seine Existenz (Kriton).

Bedingungslosen Respekt verdienen nicht nur die Gesetze, sondern auch die Eltern.

In beiden Fällen handelt es sich um eine Autorität, der der Mensch seine Existenz

verdankt (Euthyphron).

Asymmetrische Beziehung zwischen Gesetz/Staat und Bürger. Der Bürger ist

gleichsam Kind oder Knecht, der Staat Vater und Herr. Das Vaterland steht noch

höher als Vater oder Herr und verlangt bedingungslose Unterwerfung. Die

Rechtmässigkeit der Gesetze steht nicht zur Debatte.

II Kritik der sophistischen Rhetorik

Apologie 20dff «Ich habe nämlich, ihr Athener, durch nichts anderes als durch eine

gewisse Weisheit diesen Namen erlangt. Durch was für eine Weisheit aber? Die

eben vielleicht die menschliche Weisheit ist. Denn ich mag in der Tat wohl in dieser

weise sein; jene aber, deren ich eben erwähnt [die Sophisten], sind vielleicht weise

in einer Weisheit, die nicht dem Menschen angemessen ist»

Definition der Rhetorik durch Gorgias: Gegenstand der Rhetorik sind die höchsten

und besten unter den menschlichen Dingen. Das grösste Gut ist die Fähigkeit, durch

Worte zu überreden, und zwar vor Gericht oder in der politischen Versammlung.

Dank dieser Fähigkeit sind die Menschen selbst frei und können innerhalb der Polis

ihre Mitmenschen beherrschen. Rhetorik zielt auf eine Überredung, die sich auf

Gerechtes und Ungerechtes bezieht. Sie ist jedoch eine neutrale Technik und zeigt

nicht, was gerecht und ungerecht ist. (Gorgias 451d-457c)

Einwand des Sokrates: Eine Technik, die missbraucht werden kann, ist eben

dadurch schon eine schlechte Technik. Rhetorik ist eine Technik, die bei der

Mehrheit Zustimmung finden will; Dialektik ist eine Technik, die an die Vernunft des

Einzelnen appelliert. Sie kann nicht missbraucht werden und bewirkt in jedem Fall

das Gute (Gorgias 471dff).

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II Kritik der sophistischen Rhetorik. Fortsetzung

Gute und schlechte Techniken zur Verbesserung des Körpers:

Gymnastik - Kosmetik

Medizin - Kochkunst

Gute und schlechte Techniken zur Verbesserung der Seele:

Gesetzgebung - Sophistik (gibt der Seele kein Gesetz)

Gerechtigkeit- Rhetorik (... keinen Sinn für gerechtes Handeln)

Die politische Technik ist eine Technik, die auf die Verbesserung der Seele zielt.

Was ist Macht?

Sophistisches Verständnis: Das Vermögen, etwas zu bewirken.

Sokrates: Das Vermögen, das Gute zu bewirken. Macht haben heisst, etwas zum

eigenen Vorteil tun. Aber dabei handelt es sich nicht um materiellen, kurzfristigen

Vorteil, sondern um das für die Seele Nützliche, und dies ist das moralisch Gute.

Macht setzt Wissen voraus, dieses ist notwendig Wissen über das Gute.

(Gorgias 462b-481b)

Sokrates unterscheidet zwei Lebensformen, damit auch zwei Typen von Volk:

- Der grosse Haufen, der Pöbel (ochlos), ein Volk aus Kindern und Weibern und

Männern, aus Knechten und Freien. Ein Volk, das nur Vergnügung sucht, sich

schmeicheln und verführen lässt.

- Das Volk freier Männer (demos), dieses beansprucht, nur das zu hören, was zu

seiner Verbesserung beiträgt (Gorgias 502dff)

Anforderungen, die an eine wahre Rhetorik zu stellen sind:

Sie schmeichelt der Seele nicht, sondern ist um ihr Bestes besorgt. Das Beste für

die Seele ist Ordnung und Anstand oder Recht und Gesetz (Gorgias 504bff).

Die Aufgabe des wahren Politikers ist eine therapeutische Aufgabe: es geht darum,

die Stadt und die Bürger besser zu machen (Gorgias 513e).

Alle bisherigen Politiker sind hierin gescheitert.

Sokrates ist der einzige wahre Politiker

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«Ich glaube, dass ich, mit einigen anderen wenigen Athenern, damit ich nicht sage

ganz allein, mich der wahren Staatskunst befleissige und die Staatssachen betreibe

ganz allein heutzutage.» (Gorgias 521d)

III Politische Kompetenz

Protagoras’ Selbstverständnis als sophistischer Lehrer: Er will die Menschen

«ökonomisch» und politisch erziehen. Die Kenntnis, die er vermitteln will, ist «die

Klugheit in seinen eignen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten

verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats, wie er am

geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden

(Protagoras 318e/319a).

Sokrates Gegenthese: Die Staatskunst ist gar nicht lehrbar. Im Gegensatz zu den

speziellen Fachkenntnissen wissen alle Bescheid über Politik.

Protagoras’ Mythos der Staatsentstehung.

Die Menschen bauen Städte, wissen aber nicht, wie man eine Stadt verwaltet und

friedlich zusammenlebt. Angesichts dieser Tendenz zur Selbstzerstörung schickt

Zeus den Menschen Schamgefühl und Rechtsempfinden.

«Hermes fragt nun den Zeus [...] soll ich [...] Sittlichkeit und Rechtsgefühl [...] unter

alle verteilen? Unter alle, sagte Zeus, und alle sollen teil daran haben; denn es

könnten keine Staaten bestehen, wenn [...] hieran nur wenige Anteil hätten [...]. Und

gib auch ein Gesetz von mir, dass man den, der Sittlichkeit und Rechtsgefühl sich

anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates.» (Protagoras

322d)

Protagoras’ Interpretation des Mythos:

«Wenn sie aber zur Beratung über die politische Tugend gehen, wohin alles auf

Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil

es jedem gebührt, an dieser Tugend doch Anteil zu haben, oder es könnte keine

Staaten geben.» (Protagoras 323a)

Politische Kompetenz kommt den Menschen nicht von Natur aus zu. Sie ist ein

Resultat von Anstrengung, Übung und Unterricht, das oberste Ziel aller Erziehung.

Sokrates’ Gegenargument: Die Einzeltugenden sind in Wahrheit nur Teile einer

Grundtugend. Man kann nicht eine Tugend besitzen, ohne zugleich alle zu besitzen.

Die Fähigkeit, etwas Unrechtes zu tun, ist nicht Klugheit, dann damit schadet man

sich selbst. Jemand tut nur Unrechtes, weil er nicht weiss, was für ihn gut ist. Die

Grundtugend ist die Fähigkeit, gut zu handeln.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (19)

Sokratisches Prinzip: niemand tut freiwillig Böses, sondern nur aus Unwissen

(Protagoras 345e). Das heisst aber: Tugend ist lehrbar, Sokrates widerspricht sich

selbst.

Worin besteht dann aber der Unterschied zum sophistischen Standpunkt?

Unausgesprochene Konklusion: Es gibt nur eine Tugend, die auf der Erkenntnis des

wahrhaft Guten beruht. Man kann folglich nicht politische Kompetenz besitzen, ohne

ein in jeder Hinsicht tugendhafter Mensch zu sein.

5.2. Politeia: Macht, Gerechtigkeit und der ideale Staat

I. Buch

Streitgespräch zwischen Sokrates und Thrasymachos. Ausgangsfrage: Was ist

Gerechtigkeit?

Thrasymachos: Das Gerechte ist das dem Stärkeren Zuträgliche. (338c)

Sokrates: «Also keine Wissenschaft besorgt oder befiehlt das dem Herrschenden

Zuträgliche, sondern das dem Schwächeren und von ihr selbst Beherrschten. [...]

Also [...] bedenkt auch wohl kein anderer in einem Amt, sofern er ein Regierender

ist, das ihm selbst Zuträgliche noch befiehlt es, sondern das dem Regierten und von

ihm selbst Gemeisterten.» (341c-342e)

Thrasymachos: Das Bild vom guten Hirten ist doppeldeutig. Dieser ist nur deshalb

um seine Schafe besorgt, weil er sich davon einen Vorteil erhofft. Genauso verhält

es sich in der Politik: Handeln die Beherrschten gerecht, indem sie den Gesetzen

gehorchen, so gereicht es zwar den Herrschenden zum Nutzen, ihnen aber zum

Schaden.

- Gerechtigkeit ist, was den Mächtigen nützt, sie erfordert die Unterwerfung der

Ohnmächtigen.

- Ungerechtigkeit wäre ein Zustand, worin alle, auch die Ohnmächtigen, auf ihren

Vorteil bedacht sind.

- Ungerecht ist, wer mächtig ist oder sich von der Macht korrumpieren lässt.

- Gerecht ist, wer ohnmächtig ist und sich von der Macht nicht korrumpieren lässt.

Konklusion: Wer von Gerechtigkeit spricht, will die Menschen täuschen.

Platons Verständnis von Politik:

Politik ist eine technische Tätigkeit. Bewertet wird sie aufgrund der Qualität des von

ihr hergestellten Produkts. Das Produkt ist der Mensch, die menschliche Seele,

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (20)

zugleich der Staat. Politik hat einen erzieherischen Zweck; ihre Aufgabe ist es,

Gerechtigkeit zu schaffen, wobei sich die Gerechtigkeit der menschlichen Seele und

jene der Staatsverfassung gegenseitig bedingen.

Definition: Gerechtigkeit ist die Tugend der Seele (353e).

II.-IV . Buch

Gerechtigkeit ist im Grossen leichter zu erkennen als im Kleinen. Es ist zunächst im

Rahmen der Analyse des Staats zu untersuchen, was Gerechtigkeit ist, dann lässt

sich auch die individuelle Tugend bestimmen.

Der Mensch ist ein kleiner Staat, der Staat grosses Lebewesen.

Platonische Staatsentstehungslehre (369b-376c)

Der Staat entsteht, weil die Menschen aufgrund ihrer vitalen Bedürfnisse auf

Kooperation angewiesen sind.

Diese Kooperation setzt Arbeitsteilung voraus,

- im Hinblick auf die verschiedenen Aspekte der Bedürfnisbefriedigung,

- im Hinblick auf die sozialen Funktionen.

Wachsen die Bedürfnisse, so muss sich der Staat vergrössern, was nicht ohne

Konflikte mit den Nachbarn denkbar ist.

Nötig ist daher eine neue Technik, die Kriegskunst, und eine neue gesellschaftliche

Klasse, nämlich den Stand der Wächter. Innerhalb dieses höheren, für den Schutz

der Gemeinschaft zuständigen Standes ist eine weitere Abstufung nötig zwischen

den eigentlichen Wächtern und ihren Helfern.

Der ideale Staat setzt sich aus drei Ständen zusammen.

- Der unterste Stand ist für das Ökonomische zuständig,

- der mittlere für das Militärisch-Polizeiliche,

- der oberste für die Herrschaft, für die Politik.

Die Dreiteilung des Staatswesens folgt der Dreiteilung der menschlichen Seele.

Hierarchie der Seele und des idealen Staates:

Seele Vernunft Mut Begierde

Staat Wächter/Herrscher Wächter/Helfer Arbeitender Stand

Den drei Seelenteilen: Denkvermögen, Mut und Begehren entsprechen drei

Tugenden: Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (21)

Der gute Staat zeichnet sich aus durch Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und

Gerechtigkeit. Die zwei ersten Tugenden sind jeweils in einem Stand verkörpert.

Weise ist der Staat in dem Masse, wie seine Lenker weise sind; tapfer ist er, wenn

jene tapfer sind, die für seine Sicherheit besorgt sind.

Besonnen ist, wer sein Begehren zu mässigen wissen. Dies können die

Herrschenden am besten. Besonnenheit meint auch, dass sich die von Natur

Geringeren und die von Natur Besseren darüber einigen, dass die Besseren

herrschen sollen.

Gerecht ist der Staat dann, wenn jeder Mensch das Seinige, jede Klasse das Ihrige

verrichtet. Gerecht ist Politik dann, wenn die Regierenden allen das Ihrige zuteilen.

Ungerecht wird ein Staatswesen in dem Masse, wie sich Angehörige einer Klasse in

die Geschäfte der anderen Klassen einmischen.

V.-VII. Buch

Lässt sich der gerechte Staat überhaupt verwirklichen?

Sokrates: Es gibt eine Möglichkeit, die schlechte politische Realität zu verbessern:

«Es soll also gesagt werden, und sollte es mich auch mit Schmach und Gelächter

ordentlich wie eine aufsprudelnde Welle überschütten. [...].

Wenn nicht [...] entweder die Pilosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt

so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und

also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, [...] eher

gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, [...] und ich denke auch nicht

für das menschliche Geschlecht, noch kann jemals zuvor diese Staatsverfassung

nach Möglichkeit gedeihen und das Licht der Sonne sehen, die wir jetzt beschrieben

haben. Aber dies ist es eben, was mir schon lange Bedenken macht zu reden, weil

ich sehe, wie es gegen aller Menschen Meinung angeht. Denn es geht schwer

einzusehen, dass in einem anderen keine Glückseligkeit sein kann, weder für den

einzelnen, noch für das Ganze.» 473cff

VIII.-IX. Buch

Jede ungerechte Staatsverfassung entspricht einer ungerechten Verfassung der

Seele.

Die Aristokratie ist die gute und gerechte Verfassung.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (22)

Der Timokratie (Herrschaft der Ehrgeizigen, Berühmten, Reichen) entspricht die

Seele des Ehrgeizigen, der korrupt ist im Hinblick auf Macht und Reichtum.

Der Oligarchie (Herrschaft der Wenigen, das heisst der Reichen) entspricht die

Seele des Habgierigen, der das Geld allen höheren Zwecken vorzieht.

Der Demokratie (Herrschaft der Armen, Verarmten) entspricht die Seele des

Unsteten und Wankelmütigen.

Der Tyrannis entspricht die Seele des Zügellosen, Masslosen, Unbeherrschten,

Unersättlichen. (Inbegriff der Ungerechtigkeit)

Politik ist in Platons Politeia ausschliesslich eine Frage der Herrschaft. Gut ist die

Herrschaft dann, wenn der Herrscher über die erforderliche philosophische

Kompetenz verfügt. Die Ausgangsfrage lautet somit nicht: Kann Herrschaft gerecht

sein? Sondern: wer soll herrschen?

Grundanliegen der politischen Philosophie Platons ist nicht die gerechte Gestaltung

der Institutionen, sondern um die Erziehung des Herrschers.

5.3. Das Spätwerk: Gesetzesherrschaft und die Bedeutung des Mythos

Politikos

Politikos (Staatsmann) wird gleichgesetzt mit Basileus, Basilikos (König, Herrscher)

Politik wird bestimmt als Sorgfalt für die Herde der Menschen. Sie ist die

Wissenschaft von der Aufzucht der Menschenherde. Der König ist der Hüter und

Züchter der menschlichen Herde. Zu unterscheiden ist aber zwischen tyrannischer

und freiwilliger Herdenwartung Nur wer im Hinblick auf die Herrschaft über freie

Menschen kundig ist, ist ein echter Staatsmann und König.

In welcher Staatsform findet sich die notwendige Erkenntnis über die Beherrschung

der Menschen?

«Notwendig ist also auch unter den Staatsverfassungen, wie es scheint, diejenige

die richtige vor allen andern und einzige Statsverfassung, in welcher man bei den

Regierenden wahrhafte und nicht nur eingebildete Erkenntnis findet, mögen sie nun

nach Gesetzen oder ohne Gesetze regieren und über Gutwillige [ekon: freiwillig]

oder Gezwungene und arm sein oder reich: denn hiervon ist gar nichts niemals

irgendwie für die Richtigkeit mit in Anschlag zu bringen. [...] Und wenn sie auch

einige töten oder verjagen und so zu seinem Besten den Staat reinigen oder auch

Kolonien wie die Schwärme der Bienen anderwärts hinsenden und ihn kleiner

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (23)

machen oder andere von aussen her unter die Bürger aufnehmen und ihn grösser

machen: solange sie nur Erkenntnis und Recht anwendend ihn erhalten und aus

einem schlechten möglichst besser machen, werden wir immer nach diesen

Bestimmungen diese Staatsverfassung für die einzig richtige erklären müssen.»

(293d)

Die gute Herrschaft muss keine Gesetzesherrschaft sein, sie darf sogar eine

Zwangsherrschaft sein. Das beste ist, wenn nicht die Gesetze Macht haben, sondern

der mit Einsicht königliche Mann.

Der nicht-ideale Staat muss hingegen notwendig eine Gesetzesherrschaft sein.

Deren oberstes Prinzip muss lauten: «Dass keiner im Staate sich untersteht, irgend

etwas gegen die Gesetze zu tun, und der es sich untersteht, mit dem Tode und auf

das allerhärteste bestraft wird.» (297d/e)

Der Staat ist ein Erziehungsinstitut, er muss stets zwischen guten und schlechten

Menschen unterscheiden, und die schlechten zum Tod verurteilen, verbannen oder

in die Sklaverei überführen.

Nomoi

Einleitender Teil (Buch I-III)

Die nützliche Lüge im Dienst des Staats:

« (...) daher braucht er nichts anderes zu erforschen und herauszufinden als dies:

was er den Staat glauben machen muss, um ihm die grösste Wohltat zu erweisen.

Zu diesem Zweck muss er alle erdenklichen Mittel und Wege ausfindig machen, wie

eine solche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit hierüber möglichst immer ein und

dieselbe Ansicht die ganze Lebenszeit hindurch äussern könnte in Liedern, Sagen

und Reden.» (664a)

Die beste Verfassung:

«Nun ist es notwendig und unerlässlich, an diesen beiden [Monarchie und

Demokratie UM] teilzuhaben, wenn wirklich Freiheit und Freundschaft im Bunde mit

Einsicht herrschen soll.» (693d)

Hauptteil (Buch IV-XII)

Entwurf einer Verfassung für eine neu zu gründende Stadt

- Überlegungen zum idealen Ort einer Staatserrichtung:

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (24)

Die Stadt sollte möglichst weit entfernt vom Meer sein, nicht zu viele Rohstoffe

besitzen und autark sein.

- Grundsätzliche Überlegungen zur Regierung

Die beste Herrschaft ist ein Abbild der göttlichen Herrschaft. Als solche ist sie eine

Gesetzesherrschaft, der gute Herrscher muss ein Diener der Gesetze sein.

- Gegenstand der Gesetzgebung (Beispiele)

Zur guten Gesetzgebung gehört, dass man die Güter, die man besitzt, ehrt, dies sind

die Seele, der Körper und die äusseren Besitztümer. Ein Gut ehren heisst: massvoll

damit umgehen.

Organisation des täglichen Lebens:

Es muss «für alle freien Menschen eine Regelung getroffen werden, wie sie ihre

ganze Zeit zuzubringen haben, angefangen etwa von der Morgendämmerung bis

zum jeweils folgenden Morgen und Sonnenaufgang.» (807e)

Unvereinbarkeit von Bürgerstatus und handwerklichem Beruf:

«Denn ein Staatsbürger besitzt bereits einen Beruf, der ihn genug in Anspruch

nimmt und viel Übung und viele Kenntnisse erfordert; er muss nämlich die

allgemeine Ordnung des Staates erhalten und verwirklichen, was nicht als

Nebenbeschäftigung betrieben werden darf.» (846d)

- Gegenstand der Gesetzgebung (Fortsetzung)

Handels- und Gewerberecht

Ein Verkäufer darf am selben Tag den Preis seiner Ware nicht herauf- oder

herabsetzen. Er darf seine Ware nicht anpreisen. Verstösst er gegen diese Gesetze,

dann darf jeder beliebige Bürger, der vorbeikommt und mindestens 30jährig ist, ihn

ungestraft «durch eine Tracht Prügel züchtigen». (917c)

Freie Bürger, d. h. Grundbesitzer, sollen sich nicht mit Handel beschäftigen. Tun sie

es doch, können sie mit Haft bestraft werden. Nur Metöken und Fremde sollen sich

mit Handel befassen (919dff).

- Was ist unter Gesetzgebung zu verstehen?

Gesetzgebung heisst Reinigung, Aussondern des Unreinen. Wer ein schweres

Vergehen verübt hat, muss beseitigt werden, durch Todesstrafe oder Verbannung.

Es ist weder möglich noch wünschbar, jedes private Verhalten strafbar zu machen.

Allerdings wird das Gesetz gerade durch das alltägliche Verhalten untergraben. Es

ist daher nötig, die Menschen fortwährend zu belehren und zu ermahnen. «Daher ist

es bedenklich, darüber Gesetze aufzustellen, davon zu schweigen aber unmöglich.»

(788aff)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (25)

Wer schlecht ist, ist es in jeder Hinsicht unfreiwillig (860d).

Das Gesetz ist ein Mittel der Heilung. Es dient nicht nur der Wiedergutmachung des

Schadens. Es soll den Täter belehren und zwingen, künftig nichts Unrechtes mehr

zu tun. Die Strafe muss bewirken, dass der Betroffene künftig die Ungerechtigkeit

hasst und die Gerechtigkeit liebt.

«Wenn aber der Gesetzgeber merkt, dass einer in dieser Beziehung unheilbar ist,

welche Strafe und welches Gesetz soll er für diese Menschen aufstellen? Da er

einsieht, dass es einerseits für alle solche Menschen selber nicht besser ist, am

Leben zu bleiben, und dass sie sich andererseits den übrigen doppelt nützlich

erweisen, wenn sie aus dem Leben scheiden, indem sie erstens den andern ein

warnendes Beispiel geben, kein Unrecht zu tun, und sodann den Staat von

schlechten Menschen befreien, so muss also der Gesetzgeber über solche Leute zur

Bestrafung ihrer Vergehen den Tod verhängen, sonst aber auf keinen Fall.» (862dff)

Ungerecht ist die Tyrannis, die über die Seele ausgeübt wird. Eine solche Seele ist

prinzipiell ungerecht, gleichgültig, ob sie einen Schaden anrichtet oder nicht. Wenn

dagegen die Vorstellung vom Besten in der Seele herrscht, dann werden diese

Menschen stets gerecht handeln, auch wenn sie einmal einen Irrtum begehen.

(863dff)

- Aufwertung der Gesetzesherrschaft

«Wer die Gesetze unter die Herrschaft von Menschen bringt und sie dadurch

knechtet und den Staat einem Parteiklüngel hörig macht und wer das alles mit

Gewalt durchsetzt und einen Aufruhr erregt und so gegen die Gesetze frevelt, den

muss man gewiss für den allerärgsten Feind des ganzen Staates ansehen.» (856b)

(Gesetze sind nur dann gerecht, wenn sie nicht unter der Herrschaft von Menschen

stehen)

- Theologisch-philosophisches Fundament des Staats

«Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Mass aller Dinge sein, und dies weit

mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch.» (716c)

«Niemand, der gemäss den Gesetzen an das Dasein der Götter glaubt, hat jemals

freiwillig eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäussert,

sondern das geschieht nur, wenn sich jemand in einem der drei folgenden Zustände

befindet: wenn er entweder [...] nicht an das Dasein der Götter glaubt oder zweitens

glaubt, es gebe zwar Götter, aber sie kümmerten sich nicht um die Menschen, oder

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (26)

drittens, sie seien leicht durch Opfer und Gebete umzustimmen und zu

beeinflussen.» (885b)

Kritik der Sophisten

Es gibt Leute, die behaupten, das Gerechte beruhe nicht auf der Natur, «sondern die

Menschen würden darüber fortwährend streiten und es ständig neu festsetzen; was

sie aber festsetzten und sobald sie es einmal festgesetzt hätten, das sei dann jeweil

gültig, obwohl es auf der Kunst und auf den Gesetzen beruhe, aber gewiss nicht auf

irgendeiner Ordnung der Natur».

Durch solche Lehren werden die jungen Leute verführt, sie verlieren ihren Glauben

an die Götter, und dadurch entstehen Aufstände (889eff).

Platons Argument gegen die Sophisten

Weil die Seele erste Ursache ist und nicht der Körper, regiert ein göttliches Prinzip

das Weltall.

Den Gottlosen muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln widersprochen

werden. Die Schlechten sollen «nicht etwa glauben, wenn sie mit ihren Argumenten

die Oberhand gewännen, hätten sie die Freiheit, auch noch zu tun, was sie wollen,

nachdem sie ja schon in ihrem Denken über die Götter diesen so schwerwiegenden

und so beschaffenen Ansichten anhängen.» (907c).

- Theologisch-philosophisches Fundament des Staats (Fortsetzung)

Gesetz gegen die Atheisten

«Wenn jemand in Wort oder Tat gegen die Götter frevelt, so soll jeder, der darüber

hinzukommt, dem wehren, indem er es einer Behörde anzeigt; und die ersten

Beamten, die davon Kenntnis erhalten, sollen jenen den Gesetzen gemäss vor das

Gericht bringen, das zur Aburteilung dieser Fälle eingesetzt ist. Wenn aber eine

Behörde, die davon hört, das nicht tut, so soll sie selbst von jedem wegen Frevels

wider die Götter belangt werden können, der für die Gesetze eintreten will.» (907dff)

- Stabilität des Staats:

Man muss den Gesetzen die Kraft der Unwandelbarkeit einpflanzen (960d)

Es braucht ein besonderes Gremium, das mit dieser Aufgabe betraut ist. Dies ist die

nächtliche Versammlung, sie soll in der Morgendämmerung stattfinden.

Jeder Staat, jede Gesetzgebung muss ein oberstes Ziel haben: die Tugend (963a).

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Um diese zu erkennen und zu bestimmen, braucht es eine intellektuelle und

moralische Elite, die in Dialektik und Theologie ausgebildet ist. Entscheidend ist das

Wissen darum, dass die Seele unsterblich ist (967d).

Konklusion: die Gründung eines Staats, der von Dauer ist, setzt die Erziehung einer

Elite voraus. Staatsgründer und Gesetzgeber sind folglich auf philosophische

Berater angewiesen.

5.4. FEHLT!!!!!!!!!!!

6. Aristoteles

Historischer und biographischer Hintergrund

4. Jh.: Zeitalter des Übergangs zwischen klassischer und hellenistischer Epoche,

Niedergang und Ende der griechischen Poleis

Gründe:

- Kriege gegen persisches Grossreich

- Innergriechische Kriege zwischen den Machtzentren Theben, Sparta und Athen

- Innerstaatliche Konflikte zwischen demokratischen und oligarchischen Parteien,

Verschärfung sozialer Konflikte zwischen armen und reichen Bevölkerungsteilen,

Bürgerkriege

- Aufstieg des makedonischen Grossreichs

338 (Schlacht bei Chaironeia) endgültiger Sieg Makedoniens über griechische Poleis

336-323 Herrschaft Alexanders des Grossen

384 Aristoteles wird in Stageira (Nordgriechenland) geboren

367 Er kommt nach Athen und tritt in Platons Akademie ein, wo er später auch als

Lehrer wirkt

347 Nach Platons Tod verlässt er Athen

343-340 Erzieher des makedonischen Königssohns (der spätere Alexander der

Grosse)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (28)

335 Nach dem endgültigen Sieg Makedoniens kehrt er nach Athen zurück und

gründet eine eigene Schule, das Lykeion, (später unter dem Namen Peripatos

bekannt geworden)

323 Nach Alexanders Tod verlässt er Athen

322 Aristoteles stirbt in Chalkis

6.1. Die Grundlagen der politischen Theorie

Einteilung der Wissenschaften

«Es gibt, um es nur im Umriss zu sagen, drei Klassen von Sätzen und Problemen:

die einen sind ethische, die andern physikalische und die dritten logische

(erkenntnistheoretische) Sätze. Ethische sind Sätze, wie, ob man im Falle einer

Kollision der Pflichten mehr den Eltern gehorchen soll als den Gesetzen, logische

z.B., ob die Wissenschaft der Gegensätze dieselbe ist, oder nicht, physikalische, ob

die Welt ewig ist, oder nicht.» Topik 105b

Praktische, poietische, theoretische Wissenschaft (Handeln, Bewirken, Betrachten)

Metaphysik 1025b

Politik ist die Wissenschaft des menschlichen Lebens, der menschlichen

Angelegenheiten EN 1181b

Das Wesen der sittlichen Einsicht ist Handeln. In dieser Hinsicht gibt es eine

übergeordnete Wissenschaft: die Staatskunst.

«Es ist aber Einsicht in Dingen der Staatsführung und die sittliche Einsicht ein und

dieselbe Grundhaltung, die begriffliche Fassung der beiden ist jedoch nicht

identisch.»

Staatskunst umfasst: Führung des Hauswesens (Ökonomik), Gesetzgebung und

Staatsführung. EN 1141b22ff

Vorschlag von Günther Bien (Aristoteles: Politik. Hamburg, Meiner, 1981. Einleitung:

XLIII):

Politik I als praktische Philosophie umfasst:

- Ethik

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (29)

- Politik II als Verfassungslehre, diese umfasst:

-- Ökonomie

-- Politik III als Lehre vom öffentlichen Handeln

Aristoteles: Nikomachische Ethik. Herausgegeben von Günther Bien. Hamburg,

Meiner 1985, Buch I

«Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst wegen wollen,

und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles wegen eines anderen

uns zum Zwecke setzen - denn dann ginge die Sache ins Unendliche fort, und das

menschliche Begehren wäre leer und eitel -, so muss ein solches Ziel offenbar das

Gute und das Beste sein. Sollte seine Erkenntnis nicht auch für das Leben eine

grosse Bedeutung haben und uns helfen, gleich den Schützen, die ein festes Ziel

haben, das Rechte besser zu treffen? So gilt es denn, es wenigstens im Umriss

darzustellen und zu ermitteln, was es ist und zu welcher Wissenschaft oder zu

welchem Vermögen es gehört.

Allem Anschein nach gehört es der massgebendsten und im höchsten Sinne

leitenden Wissenschaft an, und das ist offenbar die Staatskunst. Sie bestimmt,

welche Wissenschaften oder Künste und Gewerbe in den Staaten vorhanden sein,

und welche und wie weit sie von den Einzelnen erlernt werden sollen. Auch sehen

wir, dass die geschätztesten Vermögen: die Strategik, die Ökonomik, die Rhetorik,

ihr untergeordnet sind. Da sie also die übrigen praktischen Wissenschaften in den

Dienst ihrer Zwecke nimmt, auch autoritativ vorschreibt, was man zu tun und was

man zu lassen hat, so dürfte ihr Ziel die Ziele der anderen als das höchste

umfassen, und dieses ihr Ziel wäre demnach das höchste menschliche Gut. Denn

wenn dasselbe auch für den Einzelnen und für das Gemeinwesen das gleiche ist, so

muss es doch grösser und vollkommener sein, das Wohl des Gemeinwesens zu

begründen und zu erhalten. Man darf freilich schon sehr zufrieden sein, wenn man

auch nur einem Menschen zum wahren Wohle verhilft, aber schöner und göttlicher

ist es doch, wenn dies bei einem Volke oder einem Staate geschieht. Darauf also

zielt die gegenwärtige Disziplin ab, die ein Teil der Staatslehre ist.» (1094a/b)

Kritik der platonischen Auffassung

«Wenn auch wirklich das gemeinsam ausgesagte Gute etwas Einzelnes und

getrennt für sich Bestehendes sein sollte, so leuchtet doch ein, dass der Mensch es

weder in seinem Handeln verwirklichen, noch es erwerben könnte. Um ein solches

Gut aber handelt es sich gerade.» (1096b32f)

Bestimmung des höchsten Zwecks

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (30)

«Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber

dem eines anderen wegen Erstrebten und das, was niemals wegen eines anderen

gewollt wird, gegenüber dem, was ebensowohl deswegen wie wegen seiner selbst

gewollt wird, mithin als Endziel schlechthin und als schlechthin vollendet, was

allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt wird. Eine solche

Beschaffenheit scheint aber vor allem die Gleückseligket zu besitzen. [...] Die

Glückseligkeit [...] will keiner wegen jener Güter [wie Ehre. Lust, Verstand UM] und

überhaupt um keines anderen willen.» (1097a30ff)

Das dem Menschen Eigentümliche ist ein Tätigsein der Seele, das von der Vernunft

geleitet ist.

«[...] wenn [...] wir als die eigentümliche Verrichtung des Menschen ein gewisses

Leben ansehen, nämlich mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und

entsprechendes Handeln, als die Verrichtung des guten Menschen aber eben dieses

nur mit dem Zusatz: gut und recht - wenn endlich als gut gilt, was der eigentümlichen

Tugend oder Tüchtigkeit des Tätigen gemäss ausgeführt wird, so bekommen wir

nach alledem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend gemässe Tätigkeit

der Seele [...]. » (1098a 12ff)

Notwendige Voraussetzungen des Glücks

«Indessen bedarf dieselbe [die Glückseligkeit UM], wie gesagt, auch wohl der

äusseren Güter, da es unmöglich oder schwer ist, das Gute und Schöne ohne

Hilfsmittel zur Ausführung zu bringen. Vieles wird wie durch Werkzeuge mit Hilfe der

Freunde, des Reichtums und des Einflusses im Staate zustande gebracht;

andererseits trübt der Mangel an gewissen Dingen, wie ehrbarer Herkunft, braver

Kinder, körperlicher Schönheit die Glückseligkeit. Der kann nicht als sonderlich

glücklich gelten, der von ganz hässlichem Äussern oder ganz gemeiner Abkunft oder

einsam und kinderlos ist, und noch weniger vielleicht einer, der ganz lasterhafte

Kinder oder Freunde hat oder die guten Freunde und Kinder, die er hatte, durch den

Tod verlor.» (1099a31ff)

Nikomachische Ethik, Buch V: Gerechtigkeit

«Ungerecht scheint zu sein: einmal der Gesetzesübertreter, sodann zweitens der

Habsüchtige, der andere übervorteilt, endlich drittens der Feind der Gleichheit.

Hieraus erhellt denn auch, dass gerecht der sein wird, wer die Gesetze beobachtet

und Freund der Gleichheit ist. Mithin ist das Recht das Gesetzliche und das der

Gleichheit Entsprechende, das Unrecht das Ungesetzliche und das der Gleichheit

Zuwiderlaufende.» (1129a32ff)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (31)

1. Achtung vor dem Gesetz

Alles Gesetzliche, alles, was von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben wird,

ist in einem bestimmten Sinn etwas Gerechtes.

«Und so nennen wir in einem Sinne gerecht was in der staatlichen Gemeinschaft die

Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält.» (1129b17)

«Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, nicht die vollkommene Tugend

überhaupt, sondern soweit sie auf andere Bezug hat - deshalb gilt sie oft für die

vorzüglichste unter den Tugenden, für eine Tugend so wunderbar schön, dass nicht

der Abend- und nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt.» (1129b25ff)

Gerechtigkeit im Sinne der Gesetzestreue ist die allgemeine Gerechtigkeit.

Ethische Vollendung und gesetzeskonforme Praxis sind gleichbedeutend.

«Der grösste Teil der Gesetzesvorschriften nämlich betrifft Handlungen der ganzen

Tugend. Denn das Gesetz gebietet, im Leben jede Tugend zu üben und verbietet,

irgendwelchem Laster Raum zu geben. Das Mittel aber, diese ganze Tugend zu

verwirklichen, sind jene gesetzlichen Bestimmungen, die die Erziehung für das

Gemeinwesen regeln.» (1130b22ff)

2. Respektierung der Gleichheit

Besondere Gerechtigkeit ist ein Teil der Tugend, besondere Ungerechtigkeit hat zu

tun mit Habsucht, mit der «unordentlichen Freude am Gewinn.»

Besondere Gerechtigkeit wird nochmals unterteilt:

- Die erste Form der Gerechtigkeit ist wirksam bei der Verteilung von öffentlicher

Anerkennung, von Geld und von sonstigen Werten, die den Bürgern eines

geordneten Gemeinwesens zustehen (distributive Gerechtigkeit).

- Die zweite Form bezieht sich auf die Rechtmässigkeit von vertraglichen

Beziehungen zwischen einzelnen Menschen (kommutative oder korrektive

Gerechtigkeit).

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (32)

Austeilende Gerechtigkeit

Die gerechte, gleiche Verteilung muss einem bestimmten Wert angemessen sein,

das Mass des zu Verteilenden muss dem Wert des Empfängers entsprechen.

Welcher Wert Bemessungsgrundlage sein und wer in den Genuss des gleichmässig

zu verteilenden Gutes kommen soll, ist abhängig von der jeweiligen politischen

Ordnung.

«[...] wie die Sachen, so müssen auch die Personen sich verhalten. Sind sie nämlich

einander nicht gleich, so dürfen sie nicht Gleiches erhalten. Vielmehr kommen Zank

und Streit eben daher, dass entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche

Gleiches bekommen und geniessen. Das ergibt sich aus dem Moment der

Würdigkeit. Denn darin, dass eine gewisse Würdigkeit das Richtmass der

distributiven Gerechtigkeit sein müsse, stimmt man allgemein überein, nur versteht

nicht jedermann unter Würdigkeit dasselbe, sondern die Demokraten erblicken sie in

der Freiheit, die oligarchisch Gesinnten in Besitz oder Geburtsadel, die Aristokraten

in der Tüchtigkeit.» (1131a22ff)

Ausgleichende Gerechtigkeit

In der vertraglichen Beziehung gelten die Partner vor dem Gesetz als gleich. Wird

der Vertrag verletzt, so entsteht auf der einen Seite ein ungerechter Gewinn, auf der

anderen Seite ein entsprechender Verlust. Gerechtigkeit stellt ein Verhältnis der

Gleichheit wieder her.

Voraussetzungen der Tauschgerechtigkeit

Was ausgetauscht wird, muss vergleichbar sein; was die Menschen herstellen, muss

quantitativ und qualitativ bewertet werden können, nur dann ist ein gerechter Tausch

möglich.

Die Einheit, dank derer unterschiedliche Leistungen oder Güter bewertet werden

können, ist das Geld. Das Geld ist Voraussetzung nicht bloss des Austauschs,

sondern damit auch der Gemeinschaft.

Tausch ist nur möglich, wenn sich alle Werte auf etwas Gleiches beziehen. Dieses

Gleiche ist das menschliche Bedürfnis.

«Denn wenn die Menschen nichts bedürften oder nicht die gleichen Bedürfnisse

hätten, so würde entweder kein Austausch sein oder kein gegenseitiger. Nun ist aber

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (33)

kraft Übereinkunft das Geld gleichsam Stellvertreter des Bedürfnisses geworden,

und darum trägt es den Namen nomisma (Geld), weil es seinen Wert nicht von Natur

hat, sondern durch den Nomos, das Gesetz, und weil es bei uns steht, es zu

verändern und ausser Umlauf zu setzen.» (1133a27ff)

Das Geld ist eine Art austauschbarer Stellvertreter des Bedarfs.

«Das Geld macht also wie ein Mass alle Dinge kommensurabel und stellt dadurch

eine Gleichheit unter ihnen her. Denn ohne Austausch wäre keine Gemeinschaft und

ohne Gleichheit kein Austausch und ohne Kommensurabilität keine Gleichheit.»

(1133b17)

Gerechtigkeit: Jedem das Seine

«Die Gerechtigkeit aber ist eine Tugend, durch die jeder das Seine erhält, und so,

wie es das Gesetz vorsieht. Ungerechtigkeit aber ist das, wodurch man sich

Fremdes aneignet, und zwar nicht, wie es das Gesetz vorsieht.» (Rhetorik 1366b)

Aristoteles: Politik. Herausgegeben von Günther Bien. Hamburg, Meiner 1988

I. Buch

Der Staat ist jene Gemeinschaft, die nach dem höchsten Gut strebt.

«Endlich ist die aus mehreren Dorfgemeinden gebildete vollkommene Gesellschaft

der Staat, eine Gemeinschaft, die gleichsam das Ziel vollendeter

Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die um des Lebens willen entstanden ist und um

des vollkommenen Lebens willen besteht. Darum ist alles staatliche Gemeinwesen

von Natur, wenn anders das gleiche von den ersten und ursprünglichen

menschlichen Vereinen gilt. Denn der Staat verhält sich zu ihnen wie das Ziel, nach

dem sie streben; das ist aber eben die Natur. Denn die Beschaffenheit, die ein jedes

Ding beim Abschluss seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden

Dinges [...]. Auch ist der Zweck und das Ziel das Beste; nun ist aber das

Selbstgenügen Ziel und Bestes.

Hieraus erhellt also, dass der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört

und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist, und dass jemand, der von

Natur und nicht bloss zufällig ausserhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder

besser als ein Mensch.» (1252b27ff)

Grundthesen der politischen Philosophie von Aristoteles:

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (34)

Der Staat ist die höchste Form menschlicher Gemeinschaft, sein Zweck die

Realisierung des höchsten Gutes.

Der Staat ist etwas von Natur Bestehendes, er ist das Ziel, zu dem alle Arten von

Gemeinschaft streben, weil nur im Staat der Mensch seine höchsten Anlagen

entwickeln kann.

Der Mensch ist von Natur ein staatliches (politisches) Wesen. Der nicht-politische

Mensch ist ein Wesen, das seine höchsten Möglichkeiten nicht realisiert.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das mit Sprache begabt ist. Zweck der

Sprache ist es, das Nützliche und das Schädliche, das Gerechte und das

Ungerechte anzuzeigen.

Der Mensch ist als politisches Wesen also zugleich ein ethisches Wesen, das

einzige Lebewesen, das Sinn hat für Gut und Böse, gerecht und ungerecht.

6.2. Politik und Ökonomie

Ökonomik (Politik I/3-13)

Ökonomik: Theorie des Hauses, der Hausverwaltung, der Leitung der Familie.

Das Haus stellt ein Herrschaftsverhältnis dar.

Rechtfertigung der Sklaverei

Der Sklave ist ein beseeltes Werkzeug, er ist Befehlsempfänger und Eigentum eines

anderen Menschen.

«Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein

Sklave von Natur.» (1254a14)

Herrschen und Dienen ist notwendig, nützlich und überall in der Natur zu finden.

«Ganz ebenso muss es nun mit dem gegenseitigen Verhältnis der Menschen

überhaupt bestellt sein. Die so weit voneinander abstehen, wie die Seele vom Leibe

und der Mensch vom Tiere - und das ist bei allen denen der Fall, deren Aufgabe im

Gebrauch ihrer Leibeskräfte besteht und bei denen das die höchste Leistung ist -,

die also sind Sklaven von Natur, und es ist ihnen besser, sich in dieser Art von

Dienstbarkeit zu befinden [...]. Denn der ist von Natur ein Sklave, der eines anderen

sein kann - weshalb er auch eines anderen ist - und der an der Vernunft nur insoweit

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (35)

teil hat, dass er sie in anderen vernimmt, sie aber nicht selbst hat. Die anderen

Sinnenwesen vernehmen nämlich ihre Stimme nicht, sondern lassen sich

ausschliesslich durch Gefühlseindrücke und sinnliche Empfindungen regieren und

leiten. Aber auch die Dienste, die man von beiden erfährt, sind nur wenig

verschieden: beide, Sklaven und Haustiere, verhelfen uns zur Befriedigung der

leiblichen Bedürfnisse. [...]

So erhellt denn, dass einige Menschen von Natur Freie oder Sklaven sind, für

welche letzteren es auch nützlich und gerecht ist, Sklaven zu sein.» (1254b15ff)

Unterscheidung zwischen Ökonomik und Chrematistik

Ökonomik: massvolles, selbstgenügsames Leben, Beschaffung und Bewahrung

lebensnotwendiger Güter, natürliche Erwerbsweise

Chrematistik: Kunst des Gelderwerbs, der Bereicherung, naturwidrige Erwerbsweise,

Masslosigkeit.

«So sollte man denn [...] meinen, dass aller Reichtum Schranken haben müsste.

Nach Ausweis der Erfahrung geht es indessen tatsächlich umgekehrt, indem alle, die

sich mit Erwerb befassen, ihr Geld schrankenlos zu vermehren trachten.»

(1257b32ff)

6.3. Staat und Verfassung

Politik III

Definition des Bürgers:

«[...] wem es nämlich zusteht, an der beratenden oder richtserlichen Versammlung

teilzunehmen, den nennen wir daraufhin einen Bürger seines Staats, und Staat

nennen wir, um es einfach zu sagen, die Gesamtheit der Genannten, die hinreicht,

um sich selbst zum Leben zu genügen.» (1275b18ff)

Die Tugend des Bürgers besteht darin, die Herrschaft über Freie sowohl ausüben als

auch ertragen zu können.

Im idealen Staat ist nur derjenige Bürger, der vom Erwerb des notwendigen

Lebensunterhalts befreit ist (1277b10).

Definition der Verfassung:

«Verfassung ist die Ordnung des Staates in bezug auf die Gewalten überhaupt und

besonders in bezug auf die oberste von allen.» (1278b8f)

«Die Verfassung ist jene Ordnung für die Staaten, die sich auf die Magistraturen

bezieht, die Art ihrer Verteilung regelt und bestimmt, welches der herrschende

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (36)

Faktor im Staat und welches das Ziel der jeweiligen politischen Gemeinschaft ist.»

(1289a15ff)

Die drei Bestandteile der Verfassung (1297b35ff, IV/14-16):

- die über die gemeinsamen Angelegenheiten beratende Gewalt

- die Regierungsgewalt

- die Rechtspflege

Politik III/9

Gerechtigkeit

«So hält man z.B. das Recht für Gleichheit, und das ist es auch, aber als Gleichheit

für gleiche, nicht für alle. Und so hält man auch die Ungleichheit für Recht, und sie

ist es ja auch, aber nicht für alle, sondern für ungleiche.» (1280a11ff)

Zweck des Staats

«Wie aber, wenn man zusammentrat, nicht bloss um zu leben, sondern vielmehr um

gut und glücklich zu leben? Sonst könnte es ja auch einen Staat von Sklaven und

den anderen Lebewesen geben; nun aber ist das unmöglich, weil sie an der

Glückseligkeit und einem Leben nach Selbstbestimmung keinen Anteil haben. Auch

geschah die Vereinigung zu staatlicher Gemeinschaft nicht, um ein Waffenbündnis

zu schliessen zur Abwehr jeder feindlichen Beeinträchtigung; auch nicht wegen des

Handels und des gegenseitigen Nutzens.»

«Nun bekümmern sich doch alle, denen eine gute Gesetzgebung am Herzen liegt,

um die Tugend und Schlechtigkeit der Bürger. Hieraus erhellt auch, dass ein Staat,

der in Wahrheit diesen Namen trägt und nicht bloss so genannt wird, sich die Pflege

der Tugend anliegen lassen muss. Denn sonst würde die staatliche Gemeinschaft zu

einer blossen Bundesgenossenschaft werden [...], und das Gesetz würde ein blosser

Vertrag und, wie der Sophist Lykophron sagte, nur ein Bürge der gegenseitigen

Gerechtsame, wäre aber unvermögend, die Bürger gut und gerecht zu machen.»

Man muss «behaupten, dass die staatliche Gemeinschaft der tugendhaften

Handlungen wegen besteht, und nicht des Zusammenlebens wegen. Darum haben

die, die am meisten zu einer solchen Gemeinschaft beitragen, mehr Teil am Staate

als die, die zwar an freier Geburt und an Geschlecht ihnen gleich oder überlegen

sind, an bürgerlicher Tugend aber ungleich, oder als die, die sie zwar an Reichtum

übertreffen, aber in der Tugend von ihnen übertroffen werden.» (1281a2ff)

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (37)

Rangordnung der Verfassungen:

Königtum (als Herrschaft des Tugendhaftesten)

Aristokratie (als Herrschaft einer ethischen Elite)

Politie (Herrschaft der Vielen, die Tugend achten)

Demokratie (Entartung der Politie, Machtteilung unter vielen)

Oligarchie (Entartung der Aristokratie, Machtteilung unter wenigen)

Tyrannis (Entartung des Königtums, keine Machtteilung)

(1289a26ff)

Politik VII

Der «Gesetzgeber muss den Seelen der Menschen nur die Gesinnungen

einpflanzen, die dem einzelnen wie der Gesamtheit gleichmässig zum Besten

dienen.» (1333b37)

Staats- und Erziehungsideal:

«Da aber der ganze Staat nur einen Zweck hat, so muss zweifellos auch die

Erziehung eine und dieselbe für alle und die Sorge für sie eine gemeinsame sein,

keine private, wie es gegenwärtig gehalten wird, wo jeder für sich die Erziehung

seiner Kinder besorgt und ihnen nach eigener Auswahl der Fächer privaten

Unterricht geben lässt. Gemeinsame Aufgaben erheischen eine gemeinsame

Vorbereitung. Man darf auch nicht meinen, dass irgendein Bürger sich selber

angehöre, sondern man sei überzeugt, dass sie alle dem Staat angehören, da jeder

ein Teil von ihm ist und die Sorge für den Teil immer die Sorge für das Ganze zu

berücksichtigen hat.» (1337a22ff)

Gibt es eine politische Philosophie im hellenistischen Denken?

Die klassische politische Philosophie geht von den Handlungsmöglichkeiten aus, die

die Polis bietet. Die Krise der Poleis bedeutet auch eine Krise des politischen

Denkens.

Politische Relevanz der hellenistischen Philosophie:

- Rückzug aus dem staatsbürgerlichen Leben, Entstehung einer unpolitischen Ethik

- Zivilisationskritik in der Tradition der Sophistik: Von Natur sind die Menschen gleich

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (38)

- Dieser «Egalitarismus» ist nicht politischer, sondern ethischer Art.

- Individualismus: der einzelne muss die ethische Vollendung selbst finden

- Kosmopolitismus: die ganze Welt wird von einheitlichen Gesetzen geregelt. Der

Weise ist Kosmopolit, allerdings ebenfalls eher im ethischen denn im politischen

Sinn.

7. Epikur

Ausgabe: Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch-Deutsch, Hg von

H.W. Krautz. Stuttgart 1980

Kritik der politischen Tätigkeit:

«Befreien muss man sich aus dem Gefängnis der Alltagsgeschäfte und der Politik»

(p. 93))

Aufklärung - Kritik der Religion

«Als das Leben der Menschen darnieder schmählich auf Erden lag,

zusammengeduckt unter lastender Angst vor den Göttern, welche das Haupt aus

des Himmels Gevierten prahlerisch streckte, droben mit schauriger Fratze herab den

Sterblichen dräuend, erst hat ein Grieche gewagt, die sterblichen Augen aufzuheben

und aufzutreten als erster dagegen.» Lucretius, de rerum natura I, 62ff, (55vC)

Gottlos ist nicht der, welcher mit den Göttern der Menge aufräumt, sondern der,

welcher die Vorstellungen der Menge den Göttern andichtet. (Brief an Menoikeus)

Freiheit als oberster Wert

- In der Naturphilosophie:

Ziel der Naturwissenschaft ist es, zu erkennen, dass die Natur nicht das Werk von

Göttern ist und daher für die Menschen nichts Bedrohliches hat.

Die Menschen sollen jedoch nicht nur von der Gottheit befreit werden, sondern auch

von der unausweichlichen Notwendigkeit (heimarmene) der Naturwissenschaft.

(Brief an Menoikeus)

Die natürliche Welt wird nicht von Gesetzen gestaltet, sondern vom Zufall

- In der Kritik der Religion:

Das menschliche Selbstbewusstsein muss zur obersten Gottheit werden. Es gibt

keine Gottheit, die die Freiheit der Menschen in Frage stellt.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (39)

- In der Ethik:

Das höchste Gut ist die Lust, definiert als Freiheit von Schmerz. Inbegriff des

vollkommenen Lebens: Ataraxia, Unerschütterlichkeit.

- In der politischen Philosophie:

Vertragstheorie: Zweck des Vertrags ist die individuelle Freiheit und Sicherheit

Kyriai doxai XXXI-XXXIII (p 75ff)

«Das der Natur (menschlichen Anlage) entsprechende Recht ist ein Abkommen mit

Rücksicht auf den Nutzen, einander nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu

lassen.

Für all jene Lebewesen, die keine Verträge darüber abzuschliessen vermochten,

einander nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen, gab es kein Recht

oder Unrecht. Genauso verhält es sich auch mit jenen Völkern, die es nicht

vermochten oder nicht bereit waren, Verträge darüber abzuschliessen, einander

nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen.

Gerechtigkeit (dikaiosyne) ist nicht etwas an und für sich Seiendes, sondern ein im

Umgang miteinander an jeweils beliebigen Orten abgeschlossener Vertrag

(syntheke), einander nicht zu schädigen und nicht schädigen zu lassen.»

Das Recht ist für alle Menschen dasselbe: etwas Nutzbringendes in der

wechselseitigen Gemeinschaft.

Wird ein Gesetz erlassen, das diesem Zweck nicht dient, verliert es seine

Rechtsgeltung. (XXXVI-XXXVIII)

8. Die Stoa

Kosmopolitismus

Zenon nach Plutarch (zit bei Martha Nussbaum: Kant und stoisches Weltbürgertum.

In M. Lutz-Bachmann, J. Bohman (Hg): Frieden durch Recht. Frankfurt a.M. 1996:

45-75, hier 51:)

«Die so bewunderte Republik Zenons ist auf das eine Hauptziel ausgerichtet, dass

alle Bewohner der Welt ihr tägliches Leben nicht um die Stadt oder das Volk

organisieren sollen, das abgetrennt ist von anderen durch lokale Schemata des

Rechts, sondern wir sollen alle menschlichen Individuen so betrachten, als gehörten

sie einem Volk an und als seien sie unsere Mitbürger. Es sollte nur eine Lebensart

geben und nur eine Ordnung, gerade so wie eine Herde, die sich gemeinsam ernährt

und sich eine gemeinsame Natur und ein gemeisames Recht teilt.»

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (40)

Der philosophische Hintergrund dieses Kosmopolitismus ist die Idee eines ewigen,

universell gültigen, von Staaten und Kulturen unabhängigen Weltgesetzes.

Aus der Idee dieses allgemein gültigen Sittengesetzes, an dem alle Menschen

teilhaben, lässt sich das Prinzip der Gleichheit aller Menschen herleiten.

Kosmopolitismus ist in der Stoa eher ein ethisches denn ein politisches Prinzip:

- Menschliche Gemeinschaft gründet auf dem Wert der Vernunft, Vernunft ist allen

Menschen eigen.

- Die Idee des Rechts basiert auf dieser Vernunft im Menschen, daher muss es ein

für alle Menschen geltendes Recht geben.

- Menschen gehören zwar stets einer partikularen Gemeinschaft an, sollen aber in

ihren politischen Entscheidungen stets das Wohl der gesamten Menschheit als

Kriterium anwenden.

Marc Aurel:

«Wenn das Geistige uns gemein ist, so ist auch die Vernunft, kraft deren wir

vernünftig sind, gemeinsam; gilt dies, so ist auch die Vernunft, die, was zu tun ist

und nicht zu tun ist, vorschreibt, gemeinsam; gilt dies, so ist auch das Gesetz

gemeinsam; gilt dies, so sind wir Staatsbürger; gilt dies, so haben wir Anteil an

einem Staatswesen; gilt dies, so ist die Welt gleichsam ein Stadtstaat.» (zit. bei

Nussbaum 53)

Angestrebt wird von den Stoikern kein Weltstaat, sondern ein neues,

kosmopolitisches Denken.

Die Menschheit ist eine moralische Gemeinschaft. Trotz aller politischer

Zugehörigkeiten und Feindschaften ist jeder Mensch als Mitglied dieser

Gemeinschaft zu respektieren.

9. Cicero[Wird überarbeitet]

10. Augustinus:

De civitate dei (413-427), Vom Gottestaat

Die civitas Dei, der Staat Gottes, ist die Gemeinschaft der von Gott Auserwählten.

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Vorlesung: Geschichte des politischen Denkens I (41)

Wer Mitglied der himmlischen Gemeinschaft ist, ist auf Erden, also in jedem

existierenden Staat, letztlich nur ein Gast, ein Fremder, ein Pilger, der irgendwann

zurückkehrt, der sich also mit einem irdischen Staat nie identifizieren kann.

Ethische Grundhaltungen:

- im irdischen Staat: die Selbstliebe, die in letzter Konsequenz zur Gottesverachtung

führen muss

- im Gottesstaat: die Gottesliebe, die in letzter Konsequenz zur Selbstverachtung

führen muss.

«In Gleichnisrede sprechen wir hier von zwei Staaten, das ist zwei menschlichen

Genossenschaften, deren eine vorherbestimmt ist, ewig mit Gott zu herrschen, die

andere, mit dem Teufel ein ewiges Strafgericht zu erleiden.»

Gottesstaat: Die Welt vor der Sünde und nach der Erlösung

Weltlicher Staat: Diabolisches Prinzip

«Von den beiden Eltern des Menschengeschlechts ward also zuerst Kain geboren,

der dem Menschenstaate angehört, darauf Abel, der Angehörige des Staates

Gottes.»

«Von Kain nun steht geschrieben, dass er einen Staat gründete, Abel aber als

Fremdling tat dies nicht. Denn droben ist der Staat der Heiligen, wenn er auch

hienieden Bürger erzeugt, in denen er dahinpilgert, bis die Zeit seines Reiches

herbeikommt. Dann sammelt er alle leiblich Auferstandenen, und das verheissene

Reich wird ihnen gegeben, wo sie mit ihrem Fürsten, dem Könige der Welten, ohne

zeitliches Ende herrschen werden.» (Vom Gottestaat XV, 1)

«Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als grosse

Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anders als kleine Reiche.

Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich

durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschliesst und nach fester

Übereinkunft die Beute teilt. Wenn dies üble Gebilde durch Zuzug verkommener

Menschen so ins grosse wächst, dass Ortschaften besetzt, Niederlassungen

gegründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den

Namen Reich an, [...].» (IV, 4)