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mmue. BERLIN, 11. August. Der Streit über die von Bundesfinanzminister Stein- brück (SPD) geplante Streichung der Woh- nungsbauprämie wird zu einer Belastung für die große Koalition. Der Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag, Vol- ker Kauder (CDU), kritisierte Steinbrücks Vorgehen scharf. „Das ist eine Art und Weise des Umgangs mit einer Koalitions- fraktion, die wir nicht akzeptieren kön- nen.“ Der Finanzminister wies die Vorwür- fe zurück. „Die schrillen Töne sind unange- messen“, sagte Steinbrück. Hr. LONDON, 11. August. Großbritan- nien ist auch am Freitag im Alarmzustand geblieben. Nach amerikanischen Erkennt- nissen soll es fünf Verdächtigen gelungen sein, unterzutauchen. Die Polizei will nicht ausschließen, daß die Gruppe einen „Plan B“ hat, dem sie sich jetzt widmen könnte. Bis Freitag mittag waren 24 junge Männer vorwiegend pakistanischer oder nordafri- kanischer Abstammung in Haft. Die Si- cherheitsbehörden glauben, daß sie einen Anschlag auf zehn Flugzeuge amerikani- scher Gesellschaften vorbereitet haben, dessen Ausführung „unmittelbar bevor- stand“. Die Bank von England hat die britischen Bankkonten von 19 Mitglie- dern der Runde gesperrt und bei der Ge- legenheit ihre Namen veröffentlicht. Im Zusammenhang mit den britischen Er- eignissen sind in Pakistan ebenfalls meh- rere Männer festgenommen worden. Der pakistanische Hintergrund soll weitere Aufschlüsse versprechen. Scotland Yard hat 28 Tage, um die Ver- hafteten zu verhören und eine Anklage zu ermöglichen. In Fällen terroristischer Kon- spiration ist das schwieriger als eine Auf- klärung durch den Geheimdienst, der kei- ne Beweise braucht, die vor Gericht Be- stand haben. Immerhin soll der Polizei ein „Märtyrer-Video“ für die Zeit nach dem Massaker in die Hände gefallen sein, also eine Selbstbezichtigung, die für eine Auf- führung durch den arabischen Sender Al Dschazira vorbereitet war. Ansonsten war auch am Tag nach den Razzien in London, Oxfordshire und Birmingham nur in gro- ben Zügen zu sehen, wie die Geschichte sich ein Jahr lang entwickelt hatte. Zum dramatischen Abschluß, die kurz- fristige Entscheidung zum Zugriff, gibt es drei Versionen. Eine sagt, die Verhaftun- gen in Pakistan hätten den britischen Ver- schwörern als Warnung gedient und sie sei- en bereit gewesen, abzutauchen. Andere glauben, die pakistanischen Häftlinge hät- ten dem pakistanischen Geheimdienst beim Verhör so viel enthüllt, daß die paki- stanischen Behörden den britischen Kolle- gen genug Material für einen Zugriff ge- ben konnten. Wieder andere meinen, die konspirative Verbindung nach Pakistan sei intakt gewesen und die Spur sei nur „heiß“ geworden, weil eine Geldüberweisung aus Pakistan am britischen Ende für Aufmerk- samkeit sorgte. Die Anweisung der Bank von England scheint das zu bestätigen. Die Beschattung hat aber offenbar auch genug unabhängige Hinweise ergeben. Die Polizei war ohnehin wegen des nahenden Jahrestags der New Yorker Anschläge vom 11. September 2001 besonders aufmerk- sam. Es heißt, die Überwachten hätten sich für eine Generalprobe vorbereitet, bei der getestet werden sollte, ob es einfach sei, be- stimmte Flüssigkeiten und getarnte Zünder an Bord eines Flugzeugs mitzunehmen. (Fortsetzung und weitere Berichte Seite 2, siehe Seite 10 sowie Rhein-Main-Zeitung.) Fünf weitere Attentäter untergetaucht? In Großbritannien Sorge über einen „Plan B“ / Polizei findet Selbstbezichtigungsvideo F.A.Z. JERUSALEM/WASHING- TON, 11. August. Israel hat am Freitag mit der Ausweitung seiner Bodenoffensive im Südlibanon begonnen. Das sagte der Spre- cher von Ministerpräsident Olmert am Abend in Jerusalem. Nach Angaben aus der Regierung war Olmert unzufrieden mit der erwarteten UN-Resolution, über die der Sicherheitsrat in New York am Frei- tag verhandelte. Das Sicherheitskabinett in Jerusalem hatte schon am Mittwoch eine Ausweitung der Bodenoffensive im Libanon beschlossen. Es sollte zunächst aber der Diplomatie noch eine Chance ge- geben werden. Bei einem israelischen Ra- ketenangriff auf einen Flüchtlingskonvoi im Libanon wurden nach Augenzeugenbe- richten bis zu 15 Menschen getötet oder verletzt. Die Hizbullah feuerte wieder zahl- reiche Raketen auf Israel ab. Die Vereinigten Staaten und Frank- reich hatten sich am Freitag nach Anga- ben von Diplomaten über die wesentli- chen Punkte einer UN-Resolution geei- nigt. Die amerikanische Außenministerin Rice war ins UN-Hauptquartier nach New York gereist, um die letzten Details zu klären. Der Sicherheitsrat nahm am Abend Beratungen über die Resolution auf. Noch im Laufe der Nacht sollte dar- über abgestimmt werden. Der Text enthielt einen Plan zur Been- digung des Krieges zwischen Israel und der radikalislamischen Hizbullah. Neu war unter anderem, daß der Sicherheitsrat seine Entschlossenheit bekunden sollte, auf einen schnellstmöglichen Abzug der is- raelischen Truppen aus dem Libanon hin- zuwirken. In dem Entwurf war die Statio- nierung einer 15 000 Mann starken UN- Friedenstruppe im Süden Libanons vorge- sehen. Sie soll die Stationierung libanesi- scher Soldaten in dem Gebiet unterstüt- zen, sobald sich Israel zurückzieht. UN- Soldaten sollen ferner einen endgültigen Waffenstillstand überwachen und den liba- nesischen Soldaten dabei helfen, die volle Kontrolle über den Süden zu gewinnen, der bisher praktisch unter Kontrolle der Hizbullah-Miliz steht. Die derzeitige Lage im Libanon wurde im Entwurf als „Bedro- hung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ bewertet, ohne daß auf Ka- pitel VII der UN-Charta Bezug genom- men wurde, das dem Sicherheitsrat ein mi- litärisches Eingreifen erlaubt. Das ge- schah auf Wunsch der libanesischen Re- gierung. Die Vetomacht Rußland legte einen ei- genen Resolutionsentwurf vor, der eine Feuerpause von 72 Stunden vorsieht, um humanitäre Hilfe im Südlibanon zu er- möglichen. Der russische UN-Botschafter Chrukin sagte, es sei Eile geboten, denn die humanitäre Lage im Libanon laufe auf eine „Katastrophe“ hinaus. Der amerika- nische UN-Botschafter Bolton bezeichne- te den russischen Vorschlag als „nicht hilf- reich“. (Siehe Seite 5.) Israel beginnt mit Ausweitung der Bodenoffensive Unzufriedenheit mit Entwurf für UN-Resolution / Internationale Friedenstruppe mit 15 000 Mann Mitteilungen des Verlags: Reiseanzeigen auf Seite 8 Automarktanzeigen auf den Seiten 50 und 51 28 Seiten Stellenanzeigen auf den Seiten V 1 bis V 25 und 81 bis 83 (Rhein-Main) Index auf Seite 56 Druckauflage: 526 500 Exemplare Cecilia Bartoli und Claudia Abba- do glänzen beim Luzerner Festival mit Mahler und anderen, das Publi- kum kann vor Schreck erst gar nicht applaudieren. Feuilleton 36 Die tun was Wie die Aufsteiger Alemannia Aachen, VfL Bochum und Energie Cottbus sich in der Fußball-Bundes- liga zu behaupten versuchen und um Anerkennung kämpfen. Sport 28 Gallisches Dorf Ein sächsisches Unternehmen bevor- zugt Nichtraucher. Wer abstinent lebt, erhält Sonderurlaub. Und bei Neueinstellungen haben Raucher gar keine Chance mehr. Wirtschaft 11 Nichtraucher bevorzugt Vom Kurort zum Schlammnest und zurück. Das Erzgebirge erholt sich zusehends vom Raubbau an seinen Naturschätzen. Die Samstagsreportage Politik 3 Nach dem Berggeschrey Die Betreuung von Pflegebedürfti- gen ist ein Wachstumsmarkt mit kaufmännischen Herausforderun- gen. Die privaten Anbieter werden stärker. Menschen und Wirtschaft 13 Teure Pflege KABUL, 11. August (Reuters). Ein Sol- dat der Internationalen Schutztruppe Isaf ist nach Angaben der Nato in Afghanistan getötet worden. Ein Selbstmordattentäter habe eine Autobombe gezündet, hieß es am Freitag. Zuvor war gemeldet worden, drei mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer sei- en bei einer Razzia im Osten des Landes getötet worden. jcw. FRANKFURT, 11. August. Kai- Uwe Ricke, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom, will das Unterneh- men künftig stärker auf die Zahlung einer stabilen Dividende ausrichten und so ver- lorenes Vertrauen der Anleger zurückge- winnen. Dazu solle ein weiteres Sparpro- gramm dienen, sagte er dieser Zeitung. (Siehe Wirtschaft, Seite 11.) Isaf-Soldat in Afghanistan getötet Ricke ändert Strategie der Telekom nf. BERLIN, 11. August. Die Spitzen- verbände der gesetzlichen Krankenkas- sen rechnen bis 2009 mit einem Defizit von 13,1 Milliarden Euro. Zur Deckung müßten die Beitragssätze von 14,5 auf 15,6 Prozent steigen, hieß es. Die von der Regierung für 2007 angekündigte Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte reiche nicht aus. (Siehe Wirtschaft, Seite 11.) Kassenbeiträge steigen stärker Koalition streitet über Wohnungsbauprämie kum. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was gemeint ist, wenn pakistanische Ermittler sich rüh- men, aus inhaftierten Verdächtigen Informationen „herausgepreßt“ zu ha- ben. Die traurige Wahrheit ist, daß sol- che Methoden offenbar dazu geführt haben, daß eine Anschlagserie von der Art des 11. September verhindert wer- den konnte. Und zwar nicht in Paki- stan, das mit seiner Glaubwürdigkeit in Sachen Terrorabwehr auf seine Weise hadern mag, sondern in Ländern, die aus gutem Grunde auch im Kampf ge- gen kaltblütige Massenmörder auf Rechtsstaatlichkeit achten. Für sie wirft das die Frage auf, ob es tatsäch- lich möglich ist, bei der Vorbeugung ge- gen einen zu allem entschlossenen Feind ihrer Zivilisation saubere Hände zu behalten. Konkret: Müssen sich die Kritiker der amerikanischen Strafver- folgung mutmaßlicher Terroristen und von deren Helfershelfern nicht Gedan- ken machen? Der britische Premierminister selbst hat darauf neulich eine Antwort gege- ben. Der Kampf gegen islamistischen Extremismus könne nicht nur mit Ge- walt und Militär gewonnen werden, sag- te Tony Blair sinngemäß, sondern müs- se auch mit „Werten“ geführt werden, um glaubwürdig und erst dadurch er- folgreich sein zu können. Das wurde weithin so verstanden, daß die Bush- Blair-Doktrin – Bekämpfung des Ter- rors mit aller Härte dort, woher er kommt, um ihn nicht dorthin zu lassen, wohin er will – an ihre Grenzen gesto- ßen sei. Denn nicht nur in Afghanistan, im Irak oder in Nahost ist der Krieg ge- gen den Terror zur Sisyphosaufgabe ge- worden. Auch an der Heimatfront hat der Wind bislang nur Sturm geerntet. Die Erfahrungen, die Großbritan- nien und andere vom Terror bedrohte Länder des Westens dieser Tage sam- meln, weisen allerdings in eine andere Richtung. Es ist Selbstmord, sich mit „Werten“ und einer vermeintlich saube- ren Weste in einen Sumpf aus Fanatis- mus und Mordlust zu begeben, wo Feindbilder nur deshalb ausgebrütet werden, weil es ebenjene westlich aufge- klärten Werte gibt. Das muß nicht in Relativismus münden, der die Regie- rung Bush in Fragen der Terrorverfol- gung isoliert hat. Es führt nur zur Ein- sicht, daß zur moralisch nicht immer er- habenen Abschreckung verdammt ist, wer eine Bedrohung dieser Art eindäm- men will. Es ist keine neue Einsicht. Tätowiert wurde er nicht. Im Herbst 1944 hatte die Waffen-SS, die bis dahin jedes ihrer Mitglieder mit einer Blut- gruppentätowierung kennzeichnete, of- fenbar keine Zeit mehr für derartige Prozeduren. Aber die Uniform trug er. Er war siebzehn. Und er, der in Fragen der historischen Schuld zum womöglich wichtigsten Auskunftgeber der Deut- schen wurde, hat darüber bis heute ge- schwiegen. Niemand wußte davon, nicht einmal seine Kinder; nur seine Frau. Alle Biographien – zuletzt die aus unzähligen Gesprächen über die Ju- gend des Schriftstellers im Dritten Reich schöpfende von Michael Jürgs – verzeichnen den Günter Grass des Jah- res 1944 als Flakhelfer. Zweiundsechzig Jah- re sind seither vergan- gen. Jetzt offenbart der fast Achtzigjährige in sei- nen Erinnerungen die Zugehörigkeit zur Waf- fen-SS. Grass war Panzerschütze der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“. Einer ihrer Kommandeure – er verließ die Di- vision im Herbst 1944 – war Karl Fischer von Treuenfeld, berüchtigt, weil er nach dem Mord an Heydrich die Vergeltungs- maßnahmen in Prag leitete. Warum jetzt, warum überhaupt? Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt Grass: „Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich.“ Wer die Rhetorik der Nach- kriegs-Entschuldigungen und -Beschul- digungen kennt, glaubt, nicht recht zu hö- ren. Der Autor, der allen die Zunge lö- sen wollte, der das Verschweigen und Verdrängen der alten Bundesrepublik zum Lebensthema machte, bekennt ein eigenes Schweigen, das, folgt man nur seinen eigenen Worten, absolut gewesen sein muß. Mit keinem seiner Kollegen hat er je darüber geredet, und auch in den großen Debatten der Nachkriegs- zeit hat er in diesem Punkt geschwiegen. Was wäre gewesen, wenn Franz Schönhubers Waffen-SS-Traktat „Ich war dabei“ auf seine Gegenstimme ge- stoßen wäre, unter der Überschrift „Ich auch“? Wie wäre die Bitburg-Debatte verlaufen, wenn er sich damals erklärt hätte – und sei es im selbstbezweifeln- den goetheschen Sinne, daß er noch nie von einem Verbrechen gehört habe, das er nicht auch selbst hätte begehen kön- nen? Statt dessen nannte er den Besuch von Reagan und Kohl auf dem Soldaten- friedhof, wo, wie wir nun wissen, wo- möglich Angehörige seiner eigenen Di- vision lagen, „eine Geschichtsklitte- rung, deren auf Medienwirkung bedach- tes Kalkül Juden, Amerikaner und Deutsche, alle Betroffenen gleicherma- ßen verletzte“. Mag sein, daß es so war – aber wäre die Debatte nicht wahrhafti- ger gewesen, wenn man gewußt hätte, daß aus einem verblendeten Mitglied der Waffen-SS (so stellt Grass selber sich dar), einem der Jugendlichen, die da lagen, einer wie er hätte werden kön- nen – nicht nur ein Verteidiger, ein Prot- agonist von Freiheit und Demokratie? Grass wurde nicht tätowiert, gewiß, aber das Mal trug er bis heute. Das ist, um es deutlich zu sagen, kei- ne Frage von Schuld und Verbrechen. Grass war ein halbes Kind. Auch später hat er sich nie zum Widerstandskämp- fer stilisiert. Daß er bis zum Nürnberger Prozeß an Hitler geglaubt und den Ho- locaust für eine Erfindung der Alliier- ten gehalten habe, hat er immer wieder erklärt. Der Film „Kolberg“, im Januar 1945 als Durchhaltefilm in die Kinos ge- kommen, hat ihn stark beeindruckt. Auch hatte die Waffen-SS, in die Grass als Kriegsfreiwilliger 1944 eintrat, be- reits Züge des letzten Aufgebots. Immer wieder ist von den Angehöri- gen dieser Generation überliefert, wie sie sich über die jungen Leute wundern, die sie einst gewesen sind – die Beschäfti- gung mit der eigenen Jugend wird zu ei- nem Akt der Selbsterzie- hung, und es ist kein Wunder, daß fast alle ihre Erinnerungsbücher in dem Augenblick auf- hören, da die Jugend vor- bei ist. Alle diese Acht- zigjährigen, von Grass bis Joachim Fest, der ebenfalls in diesem Herbst Jugender- innerungen vorlegt, sind in allen Erfol- gen gleichsam festgefrorene, gebannte Ju- gendliche geblieben – wie unerlöst und immer wieder zurückgeworfen in den Mahlstrom des Jahres 1945, trotz aller Be- wältigungsversuche der Nachkriegszeit. Es ist eine zeitgeschichtliche Pointe, wie kein Romanschriftsteller sie sich ausdenken könnte, daß die große Nach- kriegserzählung der Deutschen von Schuld und Scham, die Galerie der Tä- ter, der Verstrickten und Mitläufer, jetzt – denn es ist jetzt wohl das Ende – mit Günter Grass und seinem Eingeständ- nis endet. Grass ist der letzte, der sagt: Ich habe zu lange geschwiegen. Und: Es hat mich belastet. Grass! Im Licht dieser Selbstoffenbarung werden Kritiker und Germanisten das Leben des oft beneidenswert selbstge- wissen, das Schaffen des oft genialen Mannes einer behutsamen Revision un- terziehen. Noch im Gespräch mit dieser Zeitung beklagt er das Fehlen von „Be- wältigung“ und ist nun doch selbst zum Symbol der Schwierigkeiten solcher Be- wältigung geworden. Grass wird im nächsten Jahr, hoch ge- ehrt, seinen achtzigsten Geburtstag fei- ern. In den fast fünftausend Seiten politi- scher und autobiographischer Prosa um- geht er, was nun auf ein paar Seiten sei- ner Erinnerungen angesprochen wird. Aber verständlich wird heute die fast un- mäßige Wut auf die Eltern- und Großel- terngeneration, in seinen Augen symbo- lisiert durch Adenauer und Kiesinger. Als vor einigen Jahren bekannt wur- de, daß der Romanist Hans Robert Jauß mit achtzehn in die Waffen-SS ein- getreten war, beschädigte dies irreversi- bel sein wissenschaftliches Renommee. Damals hätte eine erklärende Stimme gutgetan. Keine, die beschönigt, was die SS gewesen ist, sondern eine, die klar- macht, daß kaum jemand für sich als Siebzehn- oder Achtzehnjährigen garan- tieren kann. Es geht nicht, schon gar nicht im Jahre 2006, um Schuldzuwei- sungen, sondern um jenes Gran von Skepsis und Selbstverunsicherung, die einem beibringen, daß das Leben kein Hollywood-Film ist, in dem man immer auf seiten der Guten das Kino verläßt. Abschreckend Nach der WM kommt der Alltag: Eintracht Frankfurt, Mainz 05 und die Offenbacher Kickers haben ihre ersten Liga-Spiele. Das Saisonziel lautet Klassenerhalt. Seite 57 Das Geständnis Von Frank Schirrmacher pba. FRANKFURT, 11. August. Gün- ter Grass hat zugegeben, daß er Mitglied der Waffen-SS war. Unter dem Titel „Beim Häuten der Zwiebel“ erscheint im September ein Erinnerungsbuch, in dem der Literaturnobelpreisträger seine Kind- heit in Danzig, Kriegsdienst und Kriegsge- fangenschaft sowie seine Anfänge als Künstler im Nachkriegsdeutschland schil- dert. In einem Gespräch mit dieser Zei- tung erläutert Grass, warum er einundsech- zig Jahre nach Kriegsende sein Schweigen bricht: „Es mußte raus.“ Bislang hieß es in den Biographien des 1927 geborenen Schriftstellers, dessen Ro- man „Die Blechtrommel“ von 1959 ein Schlüsseltext der Vergangenheitsbewälti- gung ist, er sei 1944 als Flakhelfer eingezo- gen worden und habe dann als Soldat ge- dient. Grass gibt nun an, er habe sich frei- willig zur U-Boot-Truppe gemeldet, die aber niemanden mehr genommen habe. So sei er nach Dresden zur Waffen-SS ein- berufen worden. Als Motiv seiner Mel- dung nennt er den Wunsch, der Enge des Elternhauses zu entkommen. Grass stellt sich weiterhin als typischen Vertreter sei- ner Generation dar: Das Antibürgerliche am Nationalsozialismus sei entscheidend für die Mobilisierung seiner Generation gewesen. Von der Waffen-SS will er ge- wußt haben, daß sie als Eliteeinheit galt, in der es hohe Verluste gab. Auf die symboli- sche Bedeutung der SS-Abzeichen sei er erst aufmerksam geworden, als seine Divi- sion aufgerieben war und sein Vorgesetz- ter ihm befahl, die Uniform zu wechseln. Die Waffen-SS war kein Teil der Wehr- macht, sondern umfaßte unter dem Kom- mando von Heinrich Himmler, dem „Reichsführer“ der SS, die „bewaffneten Einheiten der SS und Polizei“. Sie ging aus einer für den persönlichen Schutz Hitlers bestimmten „Verfügungstruppe“ hervor und wuchs zu einer zuletzt mehr als 900 000 Mann umfassenden Nebenarmee heran, deren Divisionen taktisch in die Wehrmacht eingeordnet waren. Die Ex- pansion ging mit der Aufgabe des Freiwil- ligkeitsprinzips einher. Wie der Historiker Bernd Wegner in seinem Standardwerk „Hitlers politische Soldaten“ darlegt, wur- de die zwangsweise Aushebung seit 1942 zum Normalfall. Nach dem 20. Juli 1944 er- ging der Befehl Himmlers, daß alle Freiwil- ligen unabhängig von ihrer SS-Eignung einzustellen waren. Von den Rekruten des Geburtsjahrgangs 1928 wurden der Waf- fen-SS 95 000 Mann zugeteilt, was einen Anteil von 17,3 Prozent ergibt. In der Geschichtspolitik der Bundes- republik ist mit der Waffen-SS die Chiffre Bitburg verbunden: 1985 gedachten Bun- deskanzler Kohl und der amerikanische Präsident Reagan der Kriegstoten auf dem Soldatenfriedhof des pfälzischen Städt- chens, auf dem auch neunundvierzig Ange- hörige der Waffen-SS bestattet sind. (Siehe Feuilleton, Seiten 33 und 35.) Günter Grass: Ich war Mitglied der Waffen-SS Der Literaturnobelpreisträger bricht sein Schweigen / Gespräch im Feuilleton Kunstmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Motormarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Beruf und Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Briefe an die Herausgeber . . . . . . . . . . . . 8 Deutschland und die Welt . . . . . . . . . . . . . 9 Zeitgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Menschen und Wirtschaft . . . . . . . . . . 13 Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Markt & Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Wetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Finanzmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Feuilleton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Schallplatten und Phono . . . . . . . . . . . . 42 Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Fernsehen und Hörfunk . . . . . . . . . . . . . . 44 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Branchen und Märkte . . . . . . . . . . . . . . V26 PRAG, 11. August (AP). Zwei Monate nach der Parlamentswahl in der Tschechi- schen Republik scheint die Bildung einer neuen Regierung möglich zu sein. Bei ei- nem Treffen unter Vermittlung von Präsi- dent Klaus einigten sich die Vorsitzenden der fünf im Parlament vertretenen Partei- en am Freitag auf einen Kompromiß zur Überwindung der politischen Krise. Da- nach soll am Montag ein Sozialdemokrat zum neuen Parlamentspräsidenten ge- wählt werden. Im Gegenzug würden die bisher regierenden Sozialdemokraten ein Minderheitskabinett unter der bisherigen oppositionellen Bürgerpartei unterstüt- zen, sagte der scheidende sozialdemokrati- sche Ministerpräsident Paroubek. Im Par- lament herrscht seit der Wahl vom 2. und 3. Juni ein Patt. Bei der Abstimmung wur- de die Bürgerpartei zwar stärkste Kraft, die Sozialdemokraten verhinderten aber mit den Kommunisten die Wahl eines kon- servativen Parlamentspräsidenten. rz. MÜNCHEN, 11. August. Der deut- sche Meister Bayern München hat am Frei- tag abend das erste Spiel der neuen Saison in der Fußball-Bundesliga gewonnen. Die Münchner besiegten Borussia Dortmund durch Tore von Makaay (24. Minute) und Schweinsteiger (55.) 2:0. Bayern-Torhüter Kahn absolvierte dabei sein 500. Bundesli- gaspiel. (Siehe Sport, Seite 29.) CANGNAN, 11. August (Reuters). Im schlimmsten Taifun in China seit einem halben Jahrhundert sind mehr als hundert Personen ums Leben gekommen. Etwa 200 wurden am Freitag noch vermißt. In den dichtbesiedelten Küstenregionen der Provinzen Zhejiang und Fujian wurden nach offiziellen Angaben 50 000 Häuser zerstört. Der Sturm war am Donnerstag mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 216 Kilometern in der Stunde auf Südostchina getroffen. Als er die Küste erreichte, war „Saomai“ stärker als ein Taifun, der im August 1956 in derselben Gegend eine Sturmflut hervorrief, bei der mehr als 3000 Personen ums Leben kamen. Das Staatsfernsehen bezifferte den Schaden durch den Taifun auf 11,3 Milliarden Yuan (rund 1,1 Milliarden Euro). Im Bezirk Cangnan waren zerstörte Felder, Strom- und Telefonleitungen zu sehen. In den Dör- fern versuchten Einwohner, Hilfe für Ver- letzte zu finden. Helfer verteilten Eis, mit dem offenbar Leichname gekühlt werden sollten. (Siehe Deutschland und die Welt.) Kompromiß in der Tschechischen Republik Bayern siegen zum Start 2:0 gegen Dortmund Schwerer Taifun verwüstet Chinas Südostküste Grass ist der letzte, der sagt: Ich habe zu lange geschwiegen. ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND Samstag, 12. August 2006, Nr. 186 / 32 R * Herausgegeben von Werner D’Inka, Berthold Kohler, Günther Nonnenmacher, Frank Schirrmacher, Holger Steltzner 1,80 D 2955 A F.A.Z. im Internet faz.net 4<BUACUQ=fabiae>:w;l;V;o;n FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG GMBH; POSTANSCHRIFT: 60267 FRANKFURT AM MAIN; TELEFON: 01 80-2 34 46 77; SIEHE AUCH SEITE 4. Belgien 2,70 / Dänemark 20 dkr / Finnland 2,70 / Frankreich 2,70 / Griechenland 2,70 / Großbritannien 2,10 £ / Irland 2,70 / Italien 2,70 / Luxemburg 2,70 / Niederlande 2,70 / Norwegen 25nkr / Österreich 2,70 / Portugal (Cont.) 2,70 / Schweden 26 skr / Schweiz 4 sfrs / Spanien, Kanaren 2,70 / Ungarn 650 Ft

Warum Ich Nach Sechzig Jahren Mein Schweigen Breche_FAZ

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Grass Interview FAZ2006

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Hr. LONDON, 11. August. Großbritan-nien ist auch am Freitag im Alarmzustandgeblieben. Nach amerikanischen Erkennt-nissen soll es fünf Verdächtigen gelungensein, unterzutauchen. Die Polizei will nichtausschließen, daß die Gruppe einen „PlanB“ hat, dem sie sich jetzt widmen könnte.Bis Freitag mittag waren 24 junge Männervorwiegend pakistanischer oder nordafri-kanischer Abstammung in Haft. Die Si-cherheitsbehörden glauben, daß sie einenAnschlag auf zehn Flugzeuge amerikani-scher Gesellschaften vorbereitet haben,dessen Ausführung „unmittelbar bevor-stand“. Die Bank von England hat diebritischen Bankkonten von 19 Mitglie-dern der Runde gesperrt und bei der Ge-legenheit ihre Namen veröffentlicht. ImZusammenhang mit den britischen Er-eignissen sind in Pakistan ebenfalls meh-rere Männer festgenommen worden. Derpakistanische Hintergrund soll weitereAufschlüsse versprechen.

Scotland Yard hat 28 Tage, um die Ver-hafteten zu verhören und eine Anklage zuermöglichen. In Fällen terroristischer Kon-spiration ist das schwieriger als eine Auf-klärung durch den Geheimdienst, der kei-ne Beweise braucht, die vor Gericht Be-stand haben. Immerhin soll der Polizei ein„Märtyrer-Video“ für die Zeit nach demMassaker in die Hände gefallen sein, alsoeine Selbstbezichtigung, die für eine Auf-führung durch den arabischen Sender AlDschazira vorbereitet war. Ansonsten warauch am Tag nach den Razzien in London,Oxfordshire und Birmingham nur in gro-ben Zügen zu sehen, wie die Geschichtesich ein Jahr lang entwickelt hatte.

Zum dramatischen Abschluß, die kurz-fristige Entscheidung zum Zugriff, gibt esdrei Versionen. Eine sagt, die Verhaftun-gen in Pakistan hätten den britischen Ver-schwörern als Warnung gedient und sie sei-en bereit gewesen, abzutauchen. Andereglauben, die pakistanischen Häftlinge hät-

ten dem pakistanischen Geheimdienstbeim Verhör so viel enthüllt, daß die paki-stanischen Behörden den britischen Kolle-gen genug Material für einen Zugriff ge-ben konnten. Wieder andere meinen, diekonspirative Verbindung nach Pakistan seiintakt gewesen und die Spur sei nur „heiß“geworden, weil eine Geldüberweisung ausPakistan am britischen Ende für Aufmerk-samkeit sorgte. Die Anweisung der Bankvon England scheint das zu bestätigen.

Die Beschattung hat aber offenbar auchgenug unabhängige Hinweise ergeben. DiePolizei war ohnehin wegen des nahendenJahrestags der New Yorker Anschläge vom11. September 2001 besonders aufmerk-sam. Es heißt, die Überwachten hätten sichfür eine Generalprobe vorbereitet, bei dergetestet werden sollte, ob es einfach sei, be-stimmte Flüssigkeiten und getarnte Zünderan Bord eines Flugzeugs mitzunehmen.(Fortsetzung und weitere Berichte Seite 2,siehe Seite 10 sowie Rhein-Main-Zeitung.)

Fünf weitere Attentäter untergetaucht?In Großbritannien Sorge über einen „Plan B“ / Polizei findet Selbstbezichtigungsvideo

F.A.Z. JERUSALEM/WASHING-TON, 11. August. Israel hat am Freitag mitder Ausweitung seiner Bodenoffensive imSüdlibanon begonnen. Das sagte der Spre-cher von Ministerpräsident Olmert amAbend in Jerusalem. Nach Angaben ausder Regierung war Olmert unzufriedenmit der erwarteten UN-Resolution, überdie der Sicherheitsrat in New York am Frei-tag verhandelte. Das Sicherheitskabinettin Jerusalem hatte schon am Mittwocheine Ausweitung der Bodenoffensive imLibanon beschlossen. Es sollte zunächstaber der Diplomatie noch eine Chance ge-geben werden. Bei einem israelischen Ra-ketenangriff auf einen Flüchtlingskonvoiim Libanon wurden nach Augenzeugenbe-richten bis zu 15 Menschen getötet oderverletzt. Die Hizbullah feuerte wieder zahl-reiche Raketen auf Israel ab.

Die Vereinigten Staaten und Frank-reich hatten sich am Freitag nach Anga-ben von Diplomaten über die wesentli-

chen Punkte einer UN-Resolution geei-nigt. Die amerikanische AußenministerinRice war ins UN-Hauptquartier nachNew York gereist, um die letzten Detailszu klären. Der Sicherheitsrat nahm amAbend Beratungen über die Resolutionauf. Noch im Laufe der Nacht sollte dar-über abgestimmt werden.

Der Text enthielt einen Plan zur Been-digung des Krieges zwischen Israel undder radikalislamischen Hizbullah. Neuwar unter anderem, daß der Sicherheitsratseine Entschlossenheit bekunden sollte,auf einen schnellstmöglichen Abzug der is-raelischen Truppen aus dem Libanon hin-zuwirken. In dem Entwurf war die Statio-nierung einer 15 000 Mann starken UN-Friedenstruppe im Süden Libanons vorge-sehen. Sie soll die Stationierung libanesi-scher Soldaten in dem Gebiet unterstüt-zen, sobald sich Israel zurückzieht. UN-Soldaten sollen ferner einen endgültigenWaffenstillstand überwachen und den liba-

nesischen Soldaten dabei helfen, die volleKontrolle über den Süden zu gewinnen,der bisher praktisch unter Kontrolle derHizbullah-Miliz steht. Die derzeitige Lageim Libanon wurde im Entwurf als „Bedro-hung des internationalen Friedens undder Sicherheit“ bewertet, ohne daß auf Ka-pitel VII der UN-Charta Bezug genom-men wurde, das dem Sicherheitsrat ein mi-litärisches Eingreifen erlaubt. Das ge-schah auf Wunsch der libanesischen Re-gierung.

Die Vetomacht Rußland legte einen ei-genen Resolutionsentwurf vor, der eineFeuerpause von 72 Stunden vorsieht, umhumanitäre Hilfe im Südlibanon zu er-möglichen. Der russische UN-BotschafterChrukin sagte, es sei Eile geboten, denndie humanitäre Lage im Libanon laufe aufeine „Katastrophe“ hinaus. Der amerika-nische UN-Botschafter Bolton bezeichne-te den russischen Vorschlag als „nicht hilf-reich“. (Siehe Seite 5.)

Israel beginnt mit Ausweitung der BodenoffensiveUnzufriedenheit mit Entwurf für UN-Resolution / Internationale Friedenstruppe mit 15 000 Mann

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Index auf Seite 56Druckauflage: 526 500 Exemplare

Cecilia Bartoli und Claudia Abba-do glänzen beim Luzerner Festivalmit Mahler und anderen, das Publi-kum kann vor Schreck erst garnicht applaudieren. Feuilleton 36

Die tun was

Wie die Aufsteiger AlemanniaAachen, VfL Bochum und EnergieCottbus sich in der Fußball-Bundes-liga zu behaupten versuchen undum Anerkennung kämpfen. Sport 28

Gallisches Dorf

Ein sächsisches Unternehmen bevor-zugt Nichtraucher. Wer abstinentlebt, erhält Sonderurlaub. Und beiNeueinstellungen haben Rauchergar keine Chance mehr. Wirtschaft 11

Nichtraucher bevorzugt

Vom Kurort zum Schlammnestund zurück. Das Erzgebirge erholtsich zusehends vom Raubbauan seinen Naturschätzen. DieSamstagsreportage Politik 3

Nach dem Berggeschrey

Die Betreuung von Pflegebedürfti-gen ist ein Wachstumsmarkt mitkaufmännischen Herausforderun-gen. Die privaten Anbieter werdenstärker. Menschen und Wirtschaft 13

TeurePflege

KABUL, 11. August (Reuters). Ein Sol-dat der Internationalen Schutztruppe Isafist nach Angaben der Nato in Afghanistangetötet worden. Ein Selbstmordattentäterhabe eine Autobombe gezündet, hieß esam Freitag. Zuvor war gemeldet worden,drei mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer sei-en bei einer Razzia im Osten des Landesgetötet worden.

jcw. FRANKFURT, 11. August. Kai-Uwe Ricke, der Vorstandsvorsitzende derDeutschen Telekom, will das Unterneh-men künftig stärker auf die Zahlung einerstabilen Dividende ausrichten und so ver-lorenes Vertrauen der Anleger zurückge-winnen. Dazu solle ein weiteres Sparpro-gramm dienen, sagte er dieser Zeitung.(Siehe Wirtschaft, Seite 11.)

Isaf-Soldat inAfghanistan getötet

Ricke ändert Strategieder Telekom

nf. BERLIN, 11. August. Die Spitzen-verbände der gesetzlichen Krankenkas-sen rechnen bis 2009 mit einem Defizitvon 13,1 Milliarden Euro. Zur Deckungmüßten die Beitragssätze von 14,5 auf15,6 Prozent steigen, hieß es. Die vonder Regierung für 2007 angekündigteErhöhung um 0,5 Prozentpunkte reichenicht aus. (Siehe Wirtschaft, Seite 11.)

Kassenbeiträgesteigen stärker

Koalition streitet überWohnungsbauprämie

kum. Es gehört nicht viel Phantasiedazu, sich vorzustellen, was gemeint ist,wenn pakistanische Ermittler sich rüh-men, aus inhaftierten VerdächtigenInformationen „herausgepreßt“ zu ha-ben. Die traurige Wahrheit ist, daß sol-che Methoden offenbar dazu geführthaben, daß eine Anschlagserie von derArt des 11. September verhindert wer-den konnte. Und zwar nicht in Paki-stan, das mit seiner Glaubwürdigkeit inSachen Terrorabwehr auf seine Weisehadern mag, sondern in Ländern, dieaus gutem Grunde auch im Kampf ge-gen kaltblütige Massenmörder aufRechtsstaatlichkeit achten. Für siewirft das die Frage auf, ob es tatsäch-lich möglich ist, bei der Vorbeugung ge-gen einen zu allem entschlossenenFeind ihrer Zivilisation saubere Händezu behalten. Konkret: Müssen sich dieKritiker der amerikanischen Strafver-folgung mutmaßlicher Terroristen undvon deren Helfershelfern nicht Gedan-ken machen?

Der britische Premierminister selbsthat darauf neulich eine Antwort gege-ben. Der Kampf gegen islamistischenExtremismus könne nicht nur mit Ge-

walt und Militär gewonnen werden, sag-te Tony Blair sinngemäß, sondern müs-se auch mit „Werten“ geführt werden,um glaubwürdig und erst dadurch er-folgreich sein zu können. Das wurdeweithin so verstanden, daß die Bush-Blair-Doktrin – Bekämpfung des Ter-rors mit aller Härte dort, woher erkommt, um ihn nicht dorthin zu lassen,wohin er will – an ihre Grenzen gesto-ßen sei. Denn nicht nur in Afghanistan,im Irak oder in Nahost ist der Krieg ge-gen den Terror zur Sisyphosaufgabe ge-worden. Auch an der Heimatfront hatder Wind bislang nur Sturm geerntet.

Die Erfahrungen, die Großbritan-nien und andere vom Terror bedrohteLänder des Westens dieser Tage sam-meln, weisen allerdings in eine andereRichtung. Es ist Selbstmord, sich mit„Werten“ und einer vermeintlich saube-ren Weste in einen Sumpf aus Fanatis-mus und Mordlust zu begeben, woFeindbilder nur deshalb ausgebrütetwerden, weil es ebenjene westlich aufge-klärten Werte gibt. Das muß nicht inRelativismus münden, der die Regie-rung Bush in Fragen der Terrorverfol-gung isoliert hat. Es führt nur zur Ein-sicht, daß zur moralisch nicht immer er-habenen Abschreckung verdammt ist,wer eine Bedrohung dieser Art eindäm-men will. Es ist keine neue Einsicht.

Tätowiert wurde er nicht. Im Herbst1944 hatte die Waffen-SS, die bis dahinjedes ihrer Mitglieder mit einer Blut-gruppentätowierung kennzeichnete, of-fenbar keine Zeit mehr für derartigeProzeduren. Aber die Uniform trug er.Er war siebzehn. Und er, der in Fragender historischen Schuld zum womöglichwichtigsten Auskunftgeber der Deut-schen wurde, hat darüber bis heute ge-schwiegen. Niemand wußte davon,nicht einmal seine Kinder; nur seineFrau. Alle Biographien – zuletzt die ausunzähligen Gesprächen über die Ju-gend des Schriftstellers im DrittenReich schöpfende von Michael Jürgs –verzeichnen den Günter Grass des Jah-res 1944 als Flakhelfer.

Zweiundsechzig Jah-re sind seither vergan-gen. Jetzt offenbart derfast Achtzigjährige in sei-nen Erinnerungen dieZugehörigkeit zur Waf-fen-SS. Grass war Panzerschütze der 10.SS-Panzerdivision „Frundsberg“. Einerihrer Kommandeure – er verließ die Di-vision im Herbst 1944 – war Karl Fischervon Treuenfeld, berüchtigt, weil er nachdem Mord an Heydrich die Vergeltungs-maßnahmen in Prag leitete.

Warum jetzt, warum überhaupt? ImGespräch mit dieser Zeitung sagt Grass:„Mein Schweigen über all die Jahrezählt zu den Gründen, warum ich diesesBuch geschrieben habe. Das mußte raus,endlich.“ Wer die Rhetorik der Nach-kriegs-Entschuldigungen und -Beschul-digungen kennt, glaubt, nicht recht zu hö-ren. Der Autor, der allen die Zunge lö-sen wollte, der das Verschweigen undVerdrängen der alten Bundesrepublikzum Lebensthema machte, bekennt eineigenes Schweigen, das, folgt man nurseinen eigenen Worten, absolut gewesensein muß. Mit keinem seiner Kollegenhat er je darüber geredet, und auch inden großen Debatten der Nachkriegs-zeit hat er in diesem Punkt geschwiegen.

Was wäre gewesen, wenn FranzSchönhubers Waffen-SS-Traktat „Ichwar dabei“ auf seine Gegenstimme ge-stoßen wäre, unter der Überschrift „Ichauch“? Wie wäre die Bitburg-Debatteverlaufen, wenn er sich damals erklärthätte – und sei es im selbstbezweifeln-den goetheschen Sinne, daß er noch nievon einem Verbrechen gehört habe, daser nicht auch selbst hätte begehen kön-nen? Statt dessen nannte er den Besuchvon Reagan und Kohl auf dem Soldaten-friedhof, wo, wie wir nun wissen, wo-möglich Angehörige seiner eigenen Di-vision lagen, „eine Geschichtsklitte-rung, deren auf Medienwirkung bedach-tes Kalkül Juden, Amerikaner undDeutsche, alle Betroffenen gleicherma-ßen verletzte“. Mag sein, daß es so war –aber wäre die Debatte nicht wahrhafti-ger gewesen, wenn man gewußt hätte,daß aus einem verblendeten Mitgliedder Waffen-SS (so stellt Grass selbersich dar), einem der Jugendlichen, dieda lagen, einer wie er hätte werden kön-nen – nicht nur ein Verteidiger, ein Prot-agonist von Freiheit und Demokratie?Grass wurde nicht tätowiert, gewiß,aber das Mal trug er bis heute.

Das ist, um es deutlich zu sagen, kei-ne Frage von Schuld und Verbrechen.

Grass war ein halbes Kind. Auch späterhat er sich nie zum Widerstandskämp-fer stilisiert. Daß er bis zum NürnbergerProzeß an Hitler geglaubt und den Ho-locaust für eine Erfindung der Alliier-ten gehalten habe, hat er immer wiedererklärt. Der Film „Kolberg“, im Januar1945 als Durchhaltefilm in die Kinos ge-kommen, hat ihn stark beeindruckt.Auch hatte die Waffen-SS, in die Grassals Kriegsfreiwilliger 1944 eintrat, be-reits Züge des letzten Aufgebots.

Immer wieder ist von den Angehöri-gen dieser Generation überliefert, wiesie sich über die jungen Leute wundern,die sie einst gewesen sind – die Beschäfti-gung mit der eigenen Jugend wird zu ei-

nem Akt der Selbsterzie-hung, und es ist keinWunder, daß fast alleihre Erinnerungsbücherin dem Augenblick auf-hören, da die Jugend vor-bei ist. Alle diese Acht-

zigjährigen, von Grass bis Joachim Fest,der ebenfalls in diesem Herbst Jugender-innerungen vorlegt, sind in allen Erfol-gen gleichsam festgefrorene, gebannte Ju-gendliche geblieben – wie unerlöst undimmer wieder zurückgeworfen in denMahlstrom des Jahres 1945, trotz aller Be-wältigungsversuche der Nachkriegszeit.

Es ist eine zeitgeschichtliche Pointe,wie kein Romanschriftsteller sie sichausdenken könnte, daß die große Nach-kriegserzählung der Deutschen vonSchuld und Scham, die Galerie der Tä-ter, der Verstrickten und Mitläufer, jetzt– denn es ist jetzt wohl das Ende – mitGünter Grass und seinem Eingeständ-nis endet. Grass ist der letzte, der sagt:Ich habe zu lange geschwiegen. Und: Eshat mich belastet. Grass!

Im Licht dieser Selbstoffenbarungwerden Kritiker und Germanisten dasLeben des oft beneidenswert selbstge-wissen, das Schaffen des oft genialenMannes einer behutsamen Revision un-terziehen. Noch im Gespräch mit dieserZeitung beklagt er das Fehlen von „Be-wältigung“ und ist nun doch selbst zumSymbol der Schwierigkeiten solcher Be-wältigung geworden.

Grass wird im nächsten Jahr, hoch ge-ehrt, seinen achtzigsten Geburtstag fei-ern. In den fast fünftausend Seiten politi-scher und autobiographischer Prosa um-geht er, was nun auf ein paar Seiten sei-ner Erinnerungen angesprochen wird.Aber verständlich wird heute die fast un-mäßige Wut auf die Eltern- und Großel-terngeneration, in seinen Augen symbo-lisiert durch Adenauer und Kiesinger.

Als vor einigen Jahren bekannt wur-de, daß der Romanist Hans RobertJauß mit achtzehn in die Waffen-SS ein-getreten war, beschädigte dies irreversi-bel sein wissenschaftliches Renommee.Damals hätte eine erklärende Stimmegutgetan. Keine, die beschönigt, was dieSS gewesen ist, sondern eine, die klar-macht, daß kaum jemand für sich alsSiebzehn- oder Achtzehnjährigen garan-tieren kann. Es geht nicht, schon garnicht im Jahre 2006, um Schuldzuwei-sungen, sondern um jenes Gran vonSkepsis und Selbstverunsicherung, dieeinem beibringen, daß das Leben keinHollywood-Film ist, in dem man immerauf seiten der Guten das Kino verläßt.

Abschreckend

Nach der WM kommt der Alltag:Eintracht Frankfurt, Mainz 05 unddie Offenbacher Kickers haben ihreersten Liga-Spiele. Das Saisonziellautet Klassenerhalt. Seite 57

Das GeständnisVon Frank Schirrmacher

pba. FRANKFURT, 11. August. Gün-ter Grass hat zugegeben, daß er Mitgliedder Waffen-SS war. Unter dem Titel„Beim Häuten der Zwiebel“ erscheint imSeptember ein Erinnerungsbuch, in demder Literaturnobelpreisträger seine Kind-heit in Danzig, Kriegsdienst und Kriegsge-fangenschaft sowie seine Anfänge alsKünstler im Nachkriegsdeutschland schil-dert. In einem Gespräch mit dieser Zei-tung erläutert Grass, warum er einundsech-zig Jahre nach Kriegsende sein Schweigenbricht: „Es mußte raus.“

Bislang hieß es in den Biographien des1927 geborenen Schriftstellers, dessen Ro-man „Die Blechtrommel“ von 1959 einSchlüsseltext der Vergangenheitsbewälti-gung ist, er sei 1944 als Flakhelfer eingezo-gen worden und habe dann als Soldat ge-dient. Grass gibt nun an, er habe sich frei-willig zur U-Boot-Truppe gemeldet, dieaber niemanden mehr genommen habe.So sei er nach Dresden zur Waffen-SS ein-

berufen worden. Als Motiv seiner Mel-dung nennt er den Wunsch, der Enge desElternhauses zu entkommen. Grass stelltsich weiterhin als typischen Vertreter sei-ner Generation dar: Das Antibürgerlicheam Nationalsozialismus sei entscheidendfür die Mobilisierung seiner Generationgewesen. Von der Waffen-SS will er ge-wußt haben, daß sie als Eliteeinheit galt, inder es hohe Verluste gab. Auf die symboli-sche Bedeutung der SS-Abzeichen sei ererst aufmerksam geworden, als seine Divi-sion aufgerieben war und sein Vorgesetz-ter ihm befahl, die Uniform zu wechseln.

Die Waffen-SS war kein Teil der Wehr-macht, sondern umfaßte unter dem Kom-mando von Heinrich Himmler, dem„Reichsführer“ der SS, die „bewaffnetenEinheiten der SS und Polizei“. Sie ging auseiner für den persönlichen Schutz Hitlersbestimmten „Verfügungstruppe“ hervorund wuchs zu einer zuletzt mehr als900 000 Mann umfassenden Nebenarmee

heran, deren Divisionen taktisch in dieWehrmacht eingeordnet waren. Die Ex-pansion ging mit der Aufgabe des Freiwil-ligkeitsprinzips einher. Wie der HistorikerBernd Wegner in seinem Standardwerk„Hitlers politische Soldaten“ darlegt, wur-de die zwangsweise Aushebung seit 1942zum Normalfall. Nach dem 20. Juli 1944 er-ging der Befehl Himmlers, daß alle Freiwil-ligen unabhängig von ihrer SS-Eignungeinzustellen waren. Von den Rekruten desGeburtsjahrgangs 1928 wurden der Waf-fen-SS 95 000 Mann zugeteilt, was einenAnteil von 17,3 Prozent ergibt.

In der Geschichtspolitik der Bundes-republik ist mit der Waffen-SS die ChiffreBitburg verbunden: 1985 gedachten Bun-deskanzler Kohl und der amerikanischePräsident Reagan der Kriegstoten auf demSoldatenfriedhof des pfälzischen Städt-chens, auf dem auch neunundvierzig Ange-hörige der Waffen-SS bestattet sind. (SieheFeuilleton, Seiten 33 und 35.)

Günter Grass: Ich warMitglied der Waffen-SS

Der Literaturnobelpreisträger bricht sein Schweigen / Gespräch im Feuilleton

Kunstmarkt ................................... 47Motormarkt ................................... 52Beruf und Chance ......................... 53Briefe an die Herausgeber ............ 8Deutschland und die Welt ............. 9

Zeitgeschehen .............................. 10Wirtschaft ..................................... 11Menschen und Wirtschaft .......... 13Unternehmen ................................ 14Markt & Meinung ......................... 18

Wetter ............................................ 18Finanzmarkt ................................. 19Kurse ............................................ 20Sport .............................................. 28Feuilleton ...................................... 33

Schallplatten und Phono ............ 42Medien .......................................... 43Fernsehen und Hörfunk .............. 44Literatur ........................................ 46Branchen und Märkte .............. V 26

PRAG, 11. August (AP). Zwei Monatenach der Parlamentswahl in der Tschechi-schen Republik scheint die Bildung einerneuen Regierung möglich zu sein. Bei ei-nem Treffen unter Vermittlung von Präsi-dent Klaus einigten sich die Vorsitzendender fünf im Parlament vertretenen Partei-en am Freitag auf einen Kompromiß zurÜberwindung der politischen Krise. Da-nach soll am Montag ein Sozialdemokratzum neuen Parlamentspräsidenten ge-wählt werden. Im Gegenzug würden diebisher regierenden Sozialdemokraten einMinderheitskabinett unter der bisherigenoppositionellen Bürgerpartei unterstüt-zen, sagte der scheidende sozialdemokrati-sche Ministerpräsident Paroubek. Im Par-lament herrscht seit der Wahl vom 2. und3. Juni ein Patt. Bei der Abstimmung wur-de die Bürgerpartei zwar stärkste Kraft,die Sozialdemokraten verhinderten abermit den Kommunisten die Wahl eines kon-servativen Parlamentspräsidenten.

rz. MÜNCHEN, 11. August. Der deut-sche Meister Bayern München hat am Frei-tag abend das erste Spiel der neuen Saisonin der Fußball-Bundesliga gewonnen. DieMünchner besiegten Borussia Dortmunddurch Tore von Makaay (24. Minute) undSchweinsteiger (55.) 2:0. Bayern-TorhüterKahn absolvierte dabei sein 500. Bundesli-gaspiel. (Siehe Sport, Seite 29.)

CANGNAN, 11. August (Reuters). Imschlimmsten Taifun in China seit einemhalben Jahrhundert sind mehr als hundertPersonen ums Leben gekommen. Etwa200 wurden am Freitag noch vermißt. Inden dichtbesiedelten Küstenregionen derProvinzen Zhejiang und Fujian wurdennach offiziellen Angaben 50 000 Häuserzerstört. Der Sturm war am Donnerstagmit Windgeschwindigkeiten von bis zu 216Kilometern in der Stunde auf Südostchinagetroffen. Als er die Küste erreichte, war„Saomai“ stärker als ein Taifun, der imAugust 1956 in derselben Gegend eineSturmflut hervorrief, bei der mehr als3000 Personen ums Leben kamen. DasStaatsfernsehen bezifferte den Schadendurch den Taifun auf 11,3 Milliarden Yuan(rund 1,1 Milliarden Euro). Im BezirkCangnan waren zerstörte Felder, Strom-und Telefonleitungen zu sehen. In den Dör-fern versuchten Einwohner, Hilfe für Ver-letzte zu finden. Helfer verteilten Eis, mitdem offenbar Leichname gekühlt werdensollten. (Siehe Deutschland und die Welt.)

Kompromiß in derTschechischen Republik

Bayern siegen zum Start2:0 gegen Dortmund

Schwerer Taifunverwüstet Chinas

Südostküste

Grass ist der letzte,der sagt: Ich habe zulange geschwiegen.

ZEITUNG FÜR DEUT SC H LAND

Samstag, 12. August 2006, Nr. 186 / 32 R * Herausgegeben von Werner D’Inka, Berthold Kohler, Günther Nonnenmacher, Frank Schirrmacher, Holger Steltzner 1,80 € D 2955 A F.A.Z. imInternet faz.net

4<BUACUQ=fabiae>:w;l;V;o;nFRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG GMBH;POSTANSCHRIFT: 60267 FRANKFURT AM MAIN;TELEFON: 01 80-2 34 46 77; SIEHE AUCH SEITE 4. Belgien 2,70 € / Dänemark 20 dkr / Finnland 2,70 € / Frankreich 2,70 € / Griechenland 2,70 € / Großbritannien 2,10 £ / Irland 2,70 € / Italien 2,70 € / Luxemburg 2,70 € / Niederlande 2,70 € / Norwegen 25 nkr / Österreich 2,70 € / Portugal (Cont.) 2,70 € / Schweden 26 skr / Schweiz 4 sfrs / Spanien, Kanaren 2,70 € / Ungarn 650 Ft

Page 2: Warum Ich Nach Sechzig Jahren Mein Schweigen Breche_FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung Samstag, 12. August 2006, Nr. 186 / Seite 33Feuilleton

Muß denn jeder Schnipsel herausgege-ben werden? Deutsche Akademien nei-gen dazu, zum Eigenkosmos zu werden,und vergessen darüber die Zeit. EinBericht zur Langzeitforschung. Seite 37

Feuilleton heute

Amerika ist seit je auf der Suche nachsich selbst. Das neue Doppelmuseumin Washington gibt dem Land Raum,sich als eine Art Gesamtkunstwerkzu präsentieren. Seite 36

Erst ließ er sich von ihm das Kiffenbeibringen, später glaubt er nicht mehran ihn. Das Verhältnis zwischen JohnLennon und Bob Dylan liest sich wieein musikakademischer Krimi. Seite 41

Projekte wollen ewig torkeln

Das Allerheiligste

Große Mutter Bobness

Ein Roman, der keiner ist: Deramerikanische Schriftsteller DonaldAntrim erinnert sich in seinem bewe-genden, abseitigen, komischen Buchan seine Rabenmutter. Literatur 46

Ihre Erinnerungen tragen den Titel„Beim Häuten der Zwiebel“. Was hat esmit der Zwiebel auf sich?

Ich mußte eine Form für dieses Buchfinden, das war das Schwierigste daran.Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsereErinnerungen, unsere Selbstbilder trüge-risch sein können und es oft auch sind.Wir beschönigen, dramatisieren, lassenErlebnisse zur Anekdote zusammen-schnurren. Und all das, also auch das Frag-würdige, das alle literarischen Erinnerun-gen aufweisen, wollte ich schon in derForm durchscheinen und anklingen las-sen. Deshalb die Zwiebel. Beim Enthäu-ten der Zwiebel, also beim Schreiben,wird Haut für Haut, Satz um Satz etwasdeutlich und ablesbar, da wird Verscholle-nes wieder lebendig.

Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erinne-rungen aufzuschreiben?

Ich will nicht sagen, daß es eine schwereGeburt war, aber es brauchte doch eine ge-wisse Überwindung, bevor ich damit be-ginnen konnte, weil ich einige grundsätz-liche Einwände gegen Autobiographienhabe. Viele Autobiographien versuchendem Leser weiszumachen, eine Sache seiso und nicht anders gewesen. Das wollteich offener gestalten, deswegen war dieForm für mich so wichtig.

Ihr Buch geht zurück bis in die Kindheits-jahre. Aber es fängt nicht mit Ihrer frühe-sten Erinnerung an, sondern es beginnt,

da sind Sie fast zwölf Jahre alt, mit demAusbruch des Krieges. Warum haben Siegenau diese Zäsur gewählt?

Der Krieg, das ist der Dreh- und Angel-punkt. Er datiert den Anfang vom Endemeiner Kindheit, weil mit Kriegsbeginnzum ersten Mal Dinge von außen bis indie Familien hinein wirksam wurden.Mein Onkel, der bei der polnischen Postwar, fehlte auf einmal, er besuchte unsnicht mehr, wir spielten nicht mehr mit sei-nen Kindern. Dann hieß es, man habe ihnstandrechtlich erschossen. Die kaschubi-sche Verwandtschaft meiner Mutter, dievorher bei uns ein und aus ging, war plötz-lich nicht mehr gern gesehen. Erst in denspäteren Kriegsjahren kam die Großtantewieder und brachte irgend etwas vom Bau-ernhof mit und holte bei uns Petroleum.Das bekam sie auf dem Land nicht, wegender Knappheit. So ergab sich wieder fami-liärer Zusammenhalt. Aber zunächst ein-mal paßten sich meine Eltern opportuni-stisch den Gegebenheiten an. Über alldas, was damals gewesen ist, wollte ich mirnoch einmal Klarheit verschaffen, vor al-lem über bestimmte Dinge bei mir selbst.Was hat dich, was hat den Jungen, der dueinmal warst, gehindert, die richtigen Fra-gen zu stellen? Du bist ja ein wacher Bur-sche gewesen, sogar aufsässig. Aber duhast keine Fragen gestellt, nicht die ent-scheidenden Fragen. Darum ging es mir.Und ich wollte meine Vergangenheit nichteinfach schildern und sagen, so war es, son-dern ich wollte davon erzählen. Denn dasist meine Sache: erzählen.

Sie suchen für Ihre Erinnerung und Ihrerzählerisches Temperament immer wie-der den Stimulus von außen. Die Zwie-bel oder Bernstein von Ihrer geliebtenOstseeküste helfen Ihnen auf die Sprün-ge. Gibt es kein Familienarchiv, aus demSie schöpfen konnten?

Als Flüchtlingskind – ich bin mittlerwei-le fast achtzig und nenne mich immernoch Flüchtlingskind – hatte ich nichts.Ich weise im Buch darauf hin, daß Kolle-gen von mir, die am Bodensee oder inNürnberg aufgewachsen sind, immer nochihre Schulzeugnisse und alles möglicheaus ihrer Kindheit greifbar haben. Ichhabe nichts mehr. Es ist alles weg. Einigewenige Fotos, die meine Mutter aufbewah-ren konnte, das war’s. Ich bin also in einerbenachteiligten Situation gewesen, diesich dann aber doch beim Erzählen als vor-teilhaft erwies.

Zu den verlorenen Schätzen Ihrer Kind-heit gehört auch das Manuskript Ihres er-sten Romans.

Ja, das war ein historischer Roman, derim dreizehnten Jahrhundert spielte, in derZeit des Interregnums, der kaiserlosen,der schrecklichen Zeit. Da gab es Femege-richte, das Stauferreich ging unter, Todund Teufel waren los. Aber ich konnte mitmeinen fiktiven Figuren nicht haushalten,am Ende des ersten Kapitels waren sie

alle tot. Da gab’s kein Weiterschreiben.Aber daraus habe ich immerhin gelernt,später mit meinen Figuren ökonomischerumzugehen. Tulla Pokriefke und OskarMatzerath haben ihre ersten Auftritteüberlebt und konnten so in späteren Bü-chern wieder auftauchen.

Sie haben wiederholt berichtet, daß erstBaldur von Schirachs Schuldbekenntnisin Nürnberg Sie davon überzeugen konn-te, daß die Deutschen den Völkermordbegangen haben. Aber jetzt sprechen Siezum ersten Mal und völlig überraschenddarüber, daß Sie Mitglied der Waffen-SS waren. Warum erst jetzt?

Das hat mich bedrückt. Mein Schwei-gen über all die Jahre zählt zu den Grün-

den, warum ich dieses Buch geschriebenhabe. Das mußte raus, endlich. Die Sacheverlief damals so: Ich hatte mich freiwilliggemeldet, aber nicht zur Waffen-SS, son-dern zu den U-Booten, was genauso ver-rückt war. Aber die nahmen niemandenmehr. Die Waffen-SS hingegen hat in die-sen letzten Kriegsmonaten 1944/45 ge-nommen, was sie kriegen konnte. Das galtfür Rekruten, aber auch für Ältere, die oftvon der Luftwaffe kamen, „Hermann-Gö-ring-Spende“ nannte man das. Je wenigerFlugplätze noch intakt waren, desto mehrBodenpersonal wurde in Heereseinheitenoder in Einheiten der Waffen-SS gesteckt.Bei der Marine war’s genauso. Und fürmich, da bin ich meiner Erinnerung si-cher, war die Waffen-SS zuerst einmalnichts Abschreckendes, sondern eine Eli-teeinheit, die immer dort eingesetzt wur-de, wo es brenzlig war, und die, wie sichherumsprach, auch die meisten Verlustehatte.

Was mit Ihnen geschah, haben Sie ja si-cher erst festgestellt, als Sie bei IhrerEinheit waren. Oder konnten Sie dasschon am Einberufungsbefehl erkennen?

An der Stelle wird’s undeutlich, weil ichnicht sicher bin, wie es war: War es schonam Einberufungsbefehl zu erkennen, amBriefkopf, am Dienstgrad des Unterzeich-ners? Oder habe ich das erst gemerkt, alsich in Dresden ankam? Das weiß ich nichtmehr.

Haben Sie damals mit Ihren Kameradendarüber gesprochen, was es bedeutet, inder Waffen-SS zu sein? War das ein The-ma unter den jungen Männern, die sichda zusammengewürfelt fanden?

In der Einheit war es so, wie ich es imBuch beschrieben habe: Schliff. Es gabnichts anderes. Da hieß es nur: Wie kom-me ich drum herum? Ich habe mir selbstdie Gelbsucht beigebracht, das reichteaber nur für ein paar Wochen. Danach be-

gann wieder die Hundsschleiferei undeine unzureichende Ausbildung mit ver-altetem Gerät. – Jedenfalls mußte es ge-schrieben werden.

Sie hätten es nicht schreiben müssen.Niemand konnte Sie dazu zwingen.

Es war mein eigener Zwang, der michdazu gebracht hat.

Warum haben Sie sich freiwillig zurWehrmacht gemeldet?

Mir ging es zunächst vor allem darumrauszukommen. Aus der Enge, aus derFamilie. Das wollte ich beenden, unddeshalb habe ich mich freiwillig gemeldet.Auch das ist ja eine merkwürdige Sache:Ich habe mich gemeldet, mit fünfzehn

wohl, und danach den Vorgang als Tat-sache vergessen. So ging es vielen meinesJahrgangs: Wir waren im Arbeitsdienst,und auf einmal, ein Jahr später, lag derEinberufungsbefehl auf dem Tisch. Unddann stellte ich vielleicht erst in Dresdenfest, es ist die Waffen-SS.

Hatten Sie ein Schuldgefühl deswegen?Währenddessen? Nein. Später hat mich

dieses Schuldgefühl als Schande belastet.Es war für mich immer mit der Frage ver-bunden: Hättest du zu dem Zeitpunkt er-kennen können, was da mit dir vor sichgeht? Ich schildere ja zum Beispiel zu An-

fang des Buches einen Mitschüler, dermehr wußte als wir anderen in der Klasse.Der hatte einen Vater, der sozialdemo-kratischer Abgeordneter im Senat war undspäter ins KZ kam. Ich kenne auch Fälle,wo sich dann die Kinder gegen ihre Elterngestellt haben. Wenn die von ihrem bürger-lich-konservativen Standpunkt aus dieNazis kritisiert haben, konnte das gefähr-lich werden. Es war nicht leicht, einem jun-gen Menschen das damals klarzumachen.Man vergißt ja leicht, wie geschickt und mo-dern die Hitlerjugend und das Jungvolk alsVorstufe aufgezogen waren. Hitlers Satz„Jugend muß von Jugend geführt werden“war ungeheuer wirkungsvoll. Mein Fähn-leinführer war ein prima Kerl, und wir ka-men uns viel besser vor als diese Partei-

burschen. So fühlten und dachten damalsviele.

Sie haben sich als einer der ersten IhrerGeneration über die eigene Verführbar-keit geäußert und waren immer sehr of-fen im Umgang mit der deutschen Ge-schichte. Dafür sind Sie oft gescholtenworden.

Ja, wir haben bis heute so viele Wider-standskämpfer, daß man sich wundert, wieHitler an die Macht hat kommen können.Aber ich will noch einmal zurückkehren indie fünfziger Jahre, um Ihnen meinen An-satz beim Schreiben der „Blechtrommel“zu erklären. Was zuvor, 1945, geschehenwar, galt als Zusammenbruch, war nicht diebedingungslose Kapitulation. Verharmlo-

send hieß es: Es wurde dunkel in Deutsch-land. Es wurde so getan, als wäre das armedeutsche Volk von einer Horde schwarzerGesellen verführt worden. Und das stimm-te nicht. Ich habe als Kind miterlebt, wie al-les am hellen Tag passierte. Und zwar mitBegeisterung und mit Zuspruch. Natürlichauch durch Verführung, auch das, ganz ge-wiß. Was die Jugend betrifft: Viele, vielewaren begeistert dabei. Und dieser Be-geisterung und ihren Ursachen wollte ichnachgehen, schon beim Schreiben der„Blechtrommel“ und auch jetzt wieder, einhalbes Jahrhundert später, bei meinem neu-en Buch.

Haben Sie Widerstand beobachtet?Wirklichen Widerstand habe ich nur in

einem Fall erlebt, das war beim Arbeits-dienst und wird im Buch ausführlich be-schrieben. Seinen Namen weiß ich nichtmehr, und so nenne ich ihn heute „Wirtun-sowasnicht“, denn das war seine stehendeRedewendung. Er gehörte keiner der herr-schenden Ideologien an, war weder Nazinoch Kommunist oder Sozialist. Er gehör-te zu den Zeugen Jehovas. Man konnte garnicht genau sagen, wogegen er war. Jeden-falls faßte er kein Gewehr an. Er ließ eseinfach fallen, immer wieder, gleich, wel-che Strafe ihm angedroht und vollzogenwurde. Und auch dieser ungewöhnlicheMensch hat mich nicht zum Umdenken be-wegen können. Ich habe ihn gehaßt und be-wundert. Gehaßt, weil wir seinetwegennoch mehr geschliffen wurden. Und be-wundert habe ich seine unglaubliche Wil-lensstärke und mich gefragt: Wie hält erdas aus? Wie schafft er das bloß?

Kann es sein, daß Sie in der Nachkriegs-zeit einfach den richtigen Zeitpunkt ver-paßt haben, um Ihre SS-Zugehörigkeitzu thematisieren?

Das weiß ich nicht. Es ist sicher so, daßich glaubte, mit dem, was ich schreibendtat, genug getan zu haben. Ich habe ja mei-

nen Lernprozeß durchgemacht und dar-aus meine Konsequenzen gezogen. Aberes blieb dieser restliche Makel. Es war des-halb immer klar für mich, daß dieser Restseinen Platz finden müßte, wenn ich michjemals dazu entschließen sollte, etwasAutobiographisches zu schreiben. Aberdas ist nicht das dominierende Thema mei-nes Buches.

Konnten Sie diesen nachträglichenSchock, Teil einer verbrecherischen Or-ganisation gewesen zu sein, in der „Blech-trommel“ und in „Katz und Maus“ verar-beiten?

Das meinte ich, als ich einmal sagte, die-ses Thema war mir ohnehin gestellt. Esfing mit der „Blechtrommel“ an. So etwas

kann man nicht wollen, das war keinefreie Entscheidung, das war unumgäng-lich. Ich habe anfangs mit meinen verschie-denen Begabungen und Möglichkeitenzwar immer wieder versucht, drum herum-zutanzen, aber die Stoffmasse des The-mas war immer da, wartete sozusagen aufmich, und ich mußte mich dem stellen.Als ich meinen ehemaligen MitschülerWolfgang Heinrichs 1990 als gebrochenenMenschen wiedertraf, ich beschreibediese Begegnung im Buch, wurde mirklar, wie sehr vom Zufall abhing, wo manbei Kriegsende landete. Ich wurde aus derGefangenschaft in den Westen entlassenund befand mich auf freier Wildbahn. Ichmußte mir selbst etwas zusammenschu-stern mit all den Irrtümern und mit allden Umwegen, während Gleichaltrige mei-ner Generation, Christa Wolf etwa oderErich Loest, im Osten des Landes sofortmit einer neuen und glaubhaften Ideo-logie versorgt waren. Da kamen auf ein-mal Widerstandskämpfer, die im spani-schen Bürgerkrieg gewesen waren, die un-ter Hitler gelitten hatten, und boten sichals Beispiele an. Daran konnte man sichorientieren.

Da ging es zu wie in einer anständigenFamilie.

Das gab’s im Westen nicht. Wir hattenAdenauer, grauenhaft, mit all den Lügen,mit dem ganzen katholischen Mief. Die da-mals propagierte Gesellschaft war durcheine Art von Spießigkeit geprägt, die esnicht einmal bei den Nazis gegeben hatte.Die Nazis hatten auf oberflächliche Weiseeine Art Volksgemeinschaft etabliert. Klas-senunterschiede oder religiöser Dünkeldurften da keine vorherrschende Rollespielen. Anders als in der DDR haben wirin der Bundesrepublik unter dem Schlag-wort „Bewältigung der Vergangenheit“jahrzehntelang Diskussionen geführt.Aber das Wort „Bewältigung“ taugte nicht.

Fortsetzung auf Seite 35

Ich habe als Kindmiterlebt, wie alles am

hellen Tag passierte: mitBegeisterung, mit Zuspruch,auch durch Verführung. Was

die Jugend betrifft: Vielewaren begeistert dabei.

Mein Schweigenüber all die Jahre zählt

zu den Gründen, warum ichdieses Buch geschrieben

habe. Das mußteraus, endlich.

Lourdes hofft auf ein Wunder. Auf einirdisches, denn des himmlischen Beistandsist sich die Pyrenäengemeinde seit 1858 si-cher. Doch wer soll Frankreichs Eisen-bahngesellschaft SNCF dazu bewegen,ihre Sonderfahrpläne für die Fahrt zurnach Rom meistbesuchten Pilgerstätte derchristlichen Welt früher bekanntzugeben?Erst zwei Tage vor dem jeweiligen Termin,so klagt der Bischof von Lourdes, würdenim ganzen Land die genauen Abfahrtszei-ten der Pilgerzüge veröffentlicht, und umderen Ausnutzung zu optimieren, führtendie Routen nur in den seltensten Fällen di-rekt nach Lourdes. Kranke und Gebrech-liche, die sich vom wundertätigen Quell-wasser der dortigen Mariengrotte Heilungversprechen, müssen also Unwägbarkeitenund Strapazen bei der Anreise auf sich neh-men (die Rückfahrt sollte dann ja kein Pro-blem mehr sein). Kein Wunder, so der Bi-schof, daß heuer bei den von den Diözesenorganisierten Gemeinschaftsfahrten einRückgang von zehn Prozent erwartet wer-de. Wobei Lourdes immer noch rettungs-los überfüllt sein wird: Am kommendenDienstag ist Mariä Himmelfahrt, und wiejedes Jahr ist das der Höhepunkt der som-merlichen Wallfahrten. Die unheimlicheBegegnung der himmlischen Art, die Ber-nadette Soubirous vor 148 Jahren inLourdes erlebte, kam damals gerade recht-zeitig für einen Wandel des Pilgerbetriebs:Die jahrhundertelang gepflegten Wander-schaften, besonders nach Santiago deCompostela, wurden durch den transport-technischen Fortschritt radikal verändert.Während ein Spötter wie Anatole Francesich darüber mokieren konnte, daß man inLourdes zwar zahllose zurückgelasseneRollstühle und Krücken finde, aber keineeinzige Prothese, besteht über die wunder-same Wirkung der Eisenbahn kein Zwei-fel: Nur vier Jahre nach der Anerkennungder Marienerscheinung durch die katho-lische Kirche wurde Lourdes 1866 ansSchienennetz angeschlossen, und damit be-gann die Massenwallfahrt. Neben der 1903begründeten Tour de France wurdeLourdes so zum Inbegriff einer neuen Ver-gemeinschaftung durch die Bewegung.Das republikanische – und laizistische –Frankreich verdankt diesem Gegenmo-dell zum monarchistischen Zentralstaateinen Teil seiner Identität. Das machtdie Klage des Bischofs von Lourdesüber die französische Staatseisenbahnso pikant. Heute kommen zwar von jähr-lich rund sechs Millionen Pilgern nurnoch 700 000 mit der Bahn an, doch da-von nutzt fast die Hälfte die Sonderfahr-ten. Immerhin hat die SNCF nun ange-kündigt, die Pilgerzüge vom kommen-den Jahr an in die regulären Fahrplänezu integrieren. Das wäre dann wirklichdas zweite Wunder von Lourdes. apl

Ist gut, Ma, ich blute nur

Ein englisches Versteigerungshaus willeinundzwanzig bildnerische Werke ver-äußern, die von Adolf Hitler stammen. Esgeht dabei angeblich um Gemälde undzwei Bleistiftzeichnungen, die währenddes Ersten Weltkriegs entstanden. Siekommen aus dem Besitz eines belgischenSammlers, der ungenannt bleiben will.Die in Cornwall ansässige Firma Jefferys,sonst eher spezialisiert auf Viehauktio-nen, will die Stücke am 26. September inLostwhitiel verkaufen, wie ein Firmen-sprecher der Deutschen Presseagenturmitteilte; es soll Interessenten dafür ausder ganzen Welt geben. Die Bildern zeig-ten vor allem Landschaften. Einige Ge-mälde trügen die Signatur „A Hitler“, an-dere nur „AH“. „Das ist keine großeKunst, das war ein Amateurmaler mit eini-gem Talent“, erörtert der kundige Jeffe-rys-Sprecher, und die Bilder stünden inkeinem Zusammenhang „mit dem, wasspäter aus Hitler geworden ist“. Man ver-mute aber schon, daß die VersteigerungSammler von nationalsozialistischen Er-innerungsstücken anziehen werde. Wohlwahr. Aber denen geht es auch bestimmtnicht um den Künstler „AH“. F.A.Z.

Wunder gewünschtWarum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen brecheEine deutsche Jugend: Günter Grass spricht zum ersten Mal über sein Erinnerungsbuch und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS

Welch TalentVon Hitler Gemaltes unterm Hammer

„Es ist sicher so, daß ich glaubte, mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben. Aber es blieb dieser Makel.“ Günter Grass beim Gespräch Foto Helmut Fricke

Zum ersten Mal nach mehr als sechzig Jahren sprichtGünter Grass über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Als Fünfzehnjähriger hatte er sich noch als Hitler-junge freiwillig zu den U-Booten gemeldet, mit siebzehnwurde Grass einberufen und kam vom Arbeitsdienst zurDivision „Frundsberg“, die zur Waffen-SS gehörte. Inseinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“,das im September erscheinen wird, beschreibt Grass sei-

ne Kindheit in Danzig, die letzten Kriegswochen als Sol-dat, in denen er nur mit knapper Not dem Tod entkam,die Kriegsgefangenschaft und die Wirren der erstenNachkriegszeit. Der Wunsch, Künstler zu werden, wurdeüber diesen Erlebnissen noch stärker. Dem Weg vomFlüchtlingskind zum Autor der „Blechtrommel“ ist derzweite Teil des Buches gewidmet. Er endet mit dem Auf-enthalt von Günter Grass und seiner ersten Frau Anna

in Paris Ende der fünfziger Jahre. Am 19. August, heutein einer Woche, werden wir in einer achtseitigen Sonder-beilage ausführliche Exklusivauszüge aus dem neuenBuch vorstellen. Die Beilage enthält außerdem zahl-reiche Rötelzeichnungen von Grass sowie zum Teilbislang unbekannte Fotodokumente aus der Jugend desSchriftstellers. Günter Grass hat an der Gestaltung derBeilage mitgewirkt. F.A.Z.

Page 3: Warum Ich Nach Sechzig Jahren Mein Schweigen Breche_FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung Samstag, 12. August 2006, Nr. 186 / Seite 35Feuilleton

Und es gab die Gegenkräfte, Franz JosefStrauß etwa, der sagte: „Genug Ascheaufs Haupt!“ und „Jetzt ist Schluß!“, undimmer wieder erscholl der Ruf nach Nor-malisierung – als wenn Normalität etwasbesonders Erstrebenswertes wäre. Im Ge-genteil: Vor Leuten, die sich „normal“nennen, habe ich Angst. Und sogar wennich im stillen dachte, jetzt ist das alles solange her, hat uns unsere Vergangenheitdoch immer wieder eingeholt. Wir habengelernt, damit zu leben und uns dem zustellen. Das sehe ich als eine Leistung an,auch im Vergleich zu anderen euro-päischen Ländern. Schauen wir nur nachEngland oder Frankreich, von Hollandund Belgien gar nicht zu reden: Die Zeitder Kolonialherrschaft und die damitverbundenen Verbrechen sind dort wieausgespart. Wahrscheinlich ist – auch daswieder eine Ironie der Geschichte – so

etwas wie eine totale Niederlage Voraus-setzung für eine solche Leistung. Ich habedas einmal an anderer Stelle gesagt: Sie-gen macht dumm. Die Sieger denken, siemüßten sich nicht um die Sünden derVergangenheit kümmern, aber auch dieSieger werden davon eingeholt. Die jungeGeneration stellt immer irgendwannFragen.

Und Sie haben die Fragen erst 1946 ge-stellt?

Das war der Schock, der aber nicht so-fort einsetzte. Es mußte erst Baldur vonSchirach im Nürnberger Prozeß aussagen,bevor ich glaubte, daß die Verbrechen tat-sächlich stattgefunden hatten. Deutschetun so was nicht, habe ich gedacht und al-les für Propaganda gehalten, dumm, wieich war. Dann aber war es unabweislich,und das Ausmaß dieses Verbrechensscheint noch zu wachsen, je größer die zeit-liche Distanz dazu ist. Es wird sogar immerunfaßlicher. Ebenso wie „Bewältigung derVergangenheit“ ein untaugliches Wort ist,kann auch jedes „Begreifen“ nur eine An-näherung sein. Pogrome gab es immer, inPolen, Rußland, überall. Aber das vonDeutschen organisierte Verbrechen, dasplanmäßige, ist einzigartig, ist einmalig.

Wann haben Sie begonnen, sich für Poli-tik zu interessieren?

Es hat lange Zeit gedauert, bis ich zueiner politischen Einstellung gefundenhabe, bis ich politische Machtverhältnisseund dergleichen auch nur halbwegs einzu-schätzen verstand. Wie viele andere mei-ner Generation ging ich ja fast in einer Artvon Verblödung aus der Nazizeit hervor.Wie ist es denn eigentlich zu erklären, daßwir bis zum Schluß noch an Endsieg undWunderwaffen glaubten? Das ist doch ausheutiger Sicht nicht zu verstehen. Meine er-sten politischen Erfahrungen habe ich einJahr nach Kriegsende als Arbeiter im Kali-bergwerk gemacht. Im Buch beschreibeich, wie unversöhnlich sich dort drei ver-schiedene Gruppierungen von Arbeiterngegenüberstanden: alte Nazis, Kommuni-sten und Sozialdemokraten. Unter Tagewurde heftig diskutiert und gestritten.Und am Ende standen oft Kommunistenund Nazis zusammen gegen Sozialdemo-kraten. So habe ich erlebt und später dannverstehen können, woran die WeimarerRepublik zugrunde gegangen war: natür-lich vor allem an den Nazis, aber auch dar-an, daß die Nazis und die Kommunistengemeinsame Sache gemacht haben. Daswar die Folge eines Komintern-Beschlus-ses aus Moskau, der nicht die Nazis, son-dern die sogenannten „Sozialfaschisten“,die Sozialdemokraten also, zum größtenFeind erklärt hatte.

Sind Sie damals im Kalibergwerk bereitszum Sozialdemokraten geworden?

Ich habe mich zunächst viel mehr fürKunst interessiert. Politisiert wordenbin ich wohl mehr während meiner Rei-sen durch Frankreich. Aus Frankreichschwappte ja auch der Streit zwischenCamus und Sartre zu uns herüber. Mankann sich heute kaum noch vorstellen,was diese Auseinandersetzung für meineGeneration bedeutet hat. Man war plötz-lich zu einer Entscheidung gezwungen,wenn man neugierig war und für sichselbst entscheiden wollte: Wie lebe ichweiter? Welche Position nehme ich ein?Und da war die Entscheidung für Camus,was mich betrifft, doch eine sehr grund-legende Entscheidung. Ähnlich ging esmir später im sogenannten „BerlinerKunststreit“ zwischen Karl Hofer undWill Grohmann, in dem Hofer die gegen-ständliche, vom Bild des Menschen be-stimmte Malerei gegen die gegenstandslo-se, die „informelle Malerei“ verteidigte.Das war, ich beschreibe es im Buch, weni-ger eine politische und mehr eine ästheti-sche Entscheidung. Aber natürlich hatteauch diese Debatte einen politischen Hin-tergrund.

Wie weit ist das alles weg, wenn man fastachtzig ist?

Das ist alles sehr nah. Wenn ich genausagen sollte, welche Reise ich 1996 unter-nommen habe, müßte ich in irgendwel-chen Notizbüchern nachsehen. Mit demAlter jedoch wird die Kindheitsphasedeutlicher. Der richtige Zeitpunkt, etwasAutobiographisches zu schreiben, hängtoffenbar auch mit dem Alter zusammen.

Haben Sie das Buch für Ihre Enkel ge-schrieben?

Bewußt wie unterbewußt haben beimSchreiben sicher auch meine Kinder undEnkelkinder eine Rolle gespielt. Wie manetwas einer anderen Generation erzählt,diese Frage hat mich oft beschäftigt. Im„Tagebuch einer Schnecke“ mußte ichihnen erklären, warum ich in den Wahl-kampf gehe, warum ich daran Anstoß neh-me, daß ein ehemaliger Großnazi wie Kie-singer Kanzler ist. Damals stand ich vorder Schwierigkeit, wie erkläre ich meinenKindern Auschwitz? Vor dieser Schwierig-keit stehen wir bis heute.

In vielen Familien war das Schweigenüber die Vergangenheit bedrückend. Hatman sich denn zumindest innerhalb IhrerGeneration über Kriegserlebnisse ausge-tauscht?

Doch, das schon. Kriegserlebnisse, daswaren bei den meisten gleichwertige Er-fahrungen: Es ging eigentlich nur umsÜberleben. Die ersten Toten, die ich ge-sehen habe, waren keine Russen, sondernDeutsche. Sie hingen an den Bäumen, vie-le unter ihnen waren in meinem Alter.Das hatten sie dem „Mittelabschnitts-Schörner“ zu verdanken. Als dieser be-rüchtigte und verhaßte General aus derrussischen Kriegsgefangenschaft entlas-sen wurde, kam er mit der Bahn an und istdann ein paar Stationen vorher ausgestie-gen, denn dort, wo er ankommen sollte,warteten haufenweise ehemalige Solda-ten, die ihn gelyncht hätten.

Spielte das Alter der Jugendlicheneigentlich eine Rolle? War ein Vierzehn-jähriger den Nazis nicht schutzloserausgeliefert als ein Achtzehn- oderZwanzigjähriger?

Gewiß, da konnte schon ein Altersun-terschied von zwei Jahren große Bedeu-tung haben. Das habe ich oft von anderengehört, die erst im Jungvolk, dann in derHitlerjugend waren: Die schönste Zeit, sohaben sie es in Erinnerung, das war beimJungvolk. Mit der Hitlerjugend kam diePubertät, und die ewigen Liederabendeund all das wurde langweilig. Die Nazis ha-ben viel abgekupfert von den Pfadfindernund von anderen Jugendverbänden. DieZeltlager, die Kameradschaft und so wei-ter, das war für die Jugend ein attraktivesAngebot. Im Vergleich zu den Zwängen,die in der Schule und im Elternhausherrschten, schien es Jugendlichen beimJungvolk freier zuzugehen.

Und es ging gegen die Autorität der El-tern.

Ja, es war antibürgerlich! Aber auchhier ist die Zufälligkeit des Geburtsjahr-ganges wichtig. Wer weiß, in was ich hin-eingeraten wäre, wenn ich drei oder vierJahre älter gewesen wäre. Ich kam mir üb-rigens bei Kriegsende keineswegs befreit

vor, ich war geschlagen. Vom Tag der Be-freiung können nur jene sprechen, diewirklich unter dem System gelitten haben.

Hatten Sie eine Vorstellung davon, wel-che Angst die Uniform der SS auslöst?

Darauf hat mich erst der Obergefreiteaufmerksam gemacht, mit dem ich unter-wegs gewesen bin, nachdem unsere Ein-heit aufgerieben war. Unsere Divisiongab es nicht mehr, es war ein einzigesChaos und Durcheinander und ein Ver-such aller, zu überleben. Mir half dabeidieser Mann vom wunderbaren Typ desdeutschen Obergefreiten – der nicht Un-teroffizier werden wollte, auf den mansich verlassen konnte, der alle Trickskannte, dem Kameradschaft wichtigwar. Er bestand darauf, daß ich die Uni-form wechselte. Mir war nicht bewußt,in welcher Gefahr ich steckte. Daherauch später mein Unglaube angesichtsder Bilder aus dem KZ: Das könnenDeutsche nicht gemacht haben, unmög-lich! In der Gefangenschaft wurden wirzum ersten Mal mit diesen Verbrechenkonfrontiert und sahen gleichzeitig, wiein den amerikanischen Kasernen dieWeißen die in getrennten Baracken un-tergebrachten Schwarzen als „Nigger“beschimpften. Ich erwähne im Bucheinen Burschen aus Virginia, ein netterKerl, bißchen dumm, der sprach mitdem Truck-Fahrer, der Schwarzer war,kein Wort. Der Weiße benutzte michmit meinem schütteren Englisch als Ver-

mittler: „Tell this guy we are leavingnow.“ Ich hatte ihm zu sagen, daß wirjetzt abfahren, der Weiße hat nie direktmit dem Schwarzen gesprochen. Ich willnicht sagen, daß das ein Schock war,aber auf einmal war ich mit direktemRassismus konfrontiert. Und dann die-ser Wahnsinn in der Gefangenschaft, dieWahnsinnsgerüchte: Das dauert nichtmehr lange, dann werden wir wiederbe-waffnet, es geht gegen die Russen, mitden Amis gemeinsam und jetzt besserausgerüstet. Das ging auf den amerikani-schen General Patton zurück.

Das war auch noch bei den NürnbergerProzessen so. Die Angeklagten haben im-mer gesagt, es wird schon nicht soschlimm werden, die brauchen uns janoch.

Das war ja nicht so ganz falsch, wennman sich überlegt, daß fünf Jahre späterdie Vorbereitungen für die Wiederbewaff-nung der Deutschen anfingen. Das Feind-bild mußte nicht korrigiert werden, bis hinzu den schrecklichen Adenauer-Plakatenmit diesem Rotgardisten, der wie ein asia-tisches Untier die Leute anstarrte. Damitkonnte man Wahlkampf machen.

Gehen wir noch einmal zurück ins Jahr1945. Alles ist zerstört, ein Leben in Un-gewißheit und Ruinen. Und da ist dieserjunge Mann, der Sie einmal waren undder genau weiß, daß er Künstler werdenwill. Wie hat man sich das vorzustellen?

Es gab nichts, keine Verlage, keine Gale-rien, keine Bühne, kein Publikum.

Aber ich hatte das doch alles im Kopf.Es war ein Andrang von Figuren, von un-geformten Dingen. Gleichzeitig herrsch-te dieses Vakuum, das Nichtwissen. Mankann sich, glaube ich, heute den Hungernach unbekannter Kunst nicht vorstel-len, den ich spürte, als ich die ersten Aus-stellungen von Nolde oder von Klee inDüsseldorf gesehen habe. Wie das aufmich gewirkt hat! Im Buch beschreibeich den Schock, den ich noch währenddes Krieges erlebte, als ich zum erstenMal Kunstwerke sah, die als entartet gal-ten, die ich nie hätte sehen dürfen, wennes nach den Nazis gegangen wäre, unddie ich ohne meine Kunstlehrerin auchnicht gesehen hätte. Das war ein Schockund gleichzeitig eine große Faszination.Ein erster Hinweis darauf, daß es nochetwas anderes gibt, etwas jenseits des-sen, was ich tagtäglich sah und hörte.Aber der Wunsch, Künstler zu werden,blieb lange ungenau, die Richtung fehl-te. Unter einem Schriftsteller konnte ichmir damals wenig vorstellen, ich dachtemehr an bildende Kunst. Aber derWunsch, der Drang war da.

Aber konnten Sie sich angesichts der Rui-nen ein normales Leben vorstellen? Alleswird wieder aufgebaut, und dann geht esschon weiter?

Ob das wieder aufgebaut werden wür-de, wußte ich nicht. Wo ich hinkam, sah

ich zerstörte Städte. Können Sie sich vor-stellen, wie Hildesheim aussah? OderHannover? Was mich und andere in mei-ner Lage damals vor allem beschäftigthat, das war die Frage, wo ich etwas fürmeine Essensmarken bekomme. Ich warbegünstigt: Bevor ich mit neunzehn Jah-ren anfing zu rauchen, hatte ich meineRauchermarken, für die man einiges ein-tauschen konnte. Dennoch: Es war ein Le-ben von einem Tag auf den anderen.Wenn ich heute sehe, wie schon ganz jun-ge Leute mit der Sorge um ihre spätereRente konfrontiert werden – ich wußtegar nicht, was Rente war.

Aber dafür hatten Sie die Freiheit.Absolut und unbekümmert. Steuern

habe ich erst gezahlt, als ich Schriftstellerwar. Ich erinnere mich noch an meine er-ste Abrechnung und wie ich mich bei mei-nem Verleger Reifferscheid beklagte:„Das ist ja ganz schön, aber soviel Steuernmuß ich zahlen?“ Da hat er zu mir gesagt:„So, wie ich Sie einschätze, werden Siezeit Ihres Lebens sehr viel verdienen, ge-wöhnen Sie sich an die Steuern. Undwenn ich Ihnen raten darf, nehmen Sie kei-nen Steuerberater, nehmen Sie einenWirtschaftsprüfer, dann sparen Sie sichdiese ekelhaften Steuerprüfungen.“

Karl Schiller, der Wirtschaftsminister,hat Sie bei den „Hundejahren“ beratenund Paul Celan bei der Arbeit an der„Blechtrommel“.

Beraten wäre bei Celan zuviel gesagt.Aber er hat mir Mut gemacht. Ich habeihm vorgelesen, und er fand das toll. Einbißchen spielte wohl auch Eifersucht hin-ein, die hat er durchaus zugegeben, denner hätte gerne selbst Prosa geschrieben.Nach ein, zwei Schnäpsen, wir tranken da-mals vor allem Bauerncalvados, konnte ersehr fröhlich sein und sang dann russischeRevolutionslieder. Aber meistens war erganz in die eigene Arbeit vertieft und imübrigen von seinen realen und auch über-steigerten Ängsten gefangen. Er hatteeine Vorstellung vom Dichter, die mir völ-lig fremd war, das ging bei ihm eher inRichtung Stefan George: feierlich, sehr fei-erlich. Wenn er seine Gedichte vortrug,hätte man Kerzen anzünden mögen.

In Ihren Erinnerungen wird deutlich,wie viele Realitätspartikel aus IhremLeben den Weg in Ihre Bücher gefundenhaben, bis hin zu Oskars Kokosfasertep-pich, der eine Ihrer ersten Behausungenschmückte.

Was sich da alles literarisch niederge-schlagen hat, ist mir erst wieder beimSchreibprozeß deutlich geworden. Mankann ein solches Erinnerungsbuch garnicht schreiben, wenn man nicht die Neu-gier auf sich hat, wenn man nicht über sichund das Entstehen der eigenen Arbeitenmehr erfahren möchte. Nehmen wir nurdie Situation, als ich den Einberufungsbe-fehl in der Tasche habe und nach Berlinkomme. Da ist Fliegeralarm, und alle müs-sen in den Keller des Bahnhofs hinein.Und dort taucht zwischen all den Unifor-mierten und Verwundeten und Heimat-urlaubsreisenden und allen anderen, diesich in den Keller geflüchtet hatten, aufeinmal eine Gruppe von Liliputanern auf,in Kostümen, und weil sie mitten in derVorstellung gewesen waren, haben sie ihrProgramm gleich im Keller fortgesetzt.Das ist in die „Blechtrommel“ eingegan-gen: Bebra und seine Liliputanergruppe.

Mit einem anderen berühmten Künstlersind Sie in den Nachkriegsjahren auf derBühne eines Düsseldorfer Jazzkellers zu-sammengetroffen: Louis Armstrong. Hatdie Jam Session, die Sie im Buch beschrei-ben, Armstrong an der Trompete, Sie amWaschbrett, wirklich stattgefunden?

Es gibt kein Foto davon, nichts, ichhabe keine Beweise. Aber in meiner Er-

innerung ist diese Episode bis ins Detailvorstellbar.

Und wie steht es mit jenem jungenFreund und Knobelkumpan Joseph, mitdem Sie zusammen im Kriegsgefangenen-lager waren? Man weiß ja, daß Ratzin-ger ebenso wie Sie im Lager Bad Aiblingwar. Aber war Ihr Freund Joseph, wie imBuch angedeutet wird, wirklich der heuti-ge Papst Benedikt XVI.?

Ich saß im Lager in Bad Aibling im-mer mit Gleichaltrigen zusammen. Dahockten wir Siebzehnjährigen, wenn esregnete, in einem Loch, das wir uns in

den Boden gebuddelt hatten. Darüberhatten wir eine Regenplane gespannt.Es waren dort 100 000 Kriegsgefangeneunter freiem Himmel versammelt. Undeiner von denen hieß Joseph, war äu-ßerst katholisch und gab auch gelegent-lich lateinische Zitate von sich. Der wur-de mein Freund und Knobelkumpan,denn ich hatte einen Würfelbecher insLager retten können. Wir haben uns dieZeit vertrieben, gewürfelt, geredet undZukunftsspekulationen angestellt, wieJugendliche das gerne tun. Ich wollteKünstler werden, und er wollte in dieKirche, dort Karriere machen. Ein biß-chen verklemmt kam er mir vor, aber erwar ein netter Kerl. Das ist doch einehübsche Geschichte, oder?

Sehr hübsch. Glauben Sie, daß Sie eineReaktion aus dem Vatikan erhalten wer-den?

Das weiß ich nicht. Falls ja, werde ich esSie wissen lassen.

Sie haben nie zuvor so ausführlich überIhre Mutter gesprochen wie in Ihren Er-innerungen. Ist da eine Art Wiedergut-machung im Spiel?

Es gibt einen ersten Anlauf in „MeinJahrhundert“, die letzte Geschichte desBandes, in der meine Mutter nach mei-nem Willen ihren hundertunddritten Ge-burtstag feiert. Im neuen Buch spielt meinsehr enges Verhältnis zu ihr eine großeRolle. Ich hatte nie die Möglichkeit, ihr zubeweisen, daß es sich gelohnt hat, zu mirzu halten und an mich zu glauben, was sieimmer getan hat. Außer einer Broschüre,die die Kunstakademie Ende der vierzigerJahre in Düsseldorf herausgegeben hat,diesem Jahrbuch, in dem eine Skulpturvon mir abgebildet ist, hatte ich nichts vor-zuweisen bis zu ihrem Tod. Und so etwashängt nach.

Sie sprechen – nicht nur mit Blick auf IhreMutter – sehr offen über Ihren Egoismus,den Egoismus des Künstlers.

Ja, das Egozentrische. Ich weiß nicht,ob es Egoismus ist, es ist doch ein Unter-schied zwischen Egoismus und diesemZwang, von sich nicht absehen zu können.Diese Egozentrik ist in jungen Jahren be-sonders ausgeprägt.

Bereuen Sie die Konsequenz, mit der SieIhrer Egozentrik gefolgt sind?

Nein, das kann man nicht bereuen, dasgehört dazu, war unvermeidbar, sonst hät-te ich nicht Buch nach Buch so rücksichts-los – auch gegen mich selbst rücksichtslos– gestalten können.Das Gespräch führten Frank Schirrmacher und Hu-bert Spiegel.

Es war ein Lebenvon einem Tag auf den

anderen. Wenn ich heutesehe, wie schon ganz junge

Leute mit der Sorge um ihrespätere Rente konfrontiert

werden – ich wußte garnicht, was Rente war.

Erst nach Baldur vonSchirachs Aussage konnte

ich glauben, daß dieVerbrechen stattgefunden

hatten. Deutsche tun so wasnicht, habe ich gedacht, und

alles für Propagandagehalten, dumm, wie ich war.

Ich hatte niedie Möglichkeit, meiner

Mutter zu beweisen, daß essich gelohnt hat, zu mir zu

halten und an mich zuglauben, was sie immergetan hat. Und so etwas

hängt nach.

Fortsetzung von Seite 33

Warum ich meinSchweigen breche

„Mein Freund und Knobelkumpan“: Den späteren Papst Joseph Ratzinger, hier alsLuftwaffenhelfer 1943, traf Günter Grass im Gefangenenlager. Foto KNA

Mit Louis Armstrong stand er auf einer Bühne, mit Paul Celan sprach er über die „Blechtrommel“, mit Karl Schiller über „Hundejahre“: Günter Grass, der Erzähler. Foto Fricke