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Was hat
Gesundheit mit
Ökonomie zu tun?
Grundlagen der Gesundheitsökonomie
14 WER SOLL DAS NOCH BEZAHLEN?
Ursachen der hohen Krankheitskosten.
27 STACHELIGES WESEN ODER „EXTRAWURST“?
Die individuellen Gesundheits-leistungen (IGeL).
40 ANDERE LÄNDER,
andere Gesundheitssysteme.
Kern der Lerneinheit. Der situative Rahmen und die zugrunde liegende Denkweise der Gesundheitsökonomie, die aktuelle Problemlage im Gesund-heitswesen sowie Grundtypen von Gesundheitssystemen.
PROF. DR. ANKE RAHMELProfessorin für allgemeine Betriebswirtschaftslehre im Gesundheitswesen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Aalen Autorin dieses studymags
Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Mannheim und Schweden verschiedene Tätigkeiten in
Wissenschaft und Praxis. Seit April 2010 Professur für BWL im Gesundheitswesen mit Schwer-punkten in den qualitativ-strategischen betriebswirtschaftlichen Funktionsbereichen. Aktuell diverse Forschungs- und Praxisaktivitäten zum Themenbereichen „Arbeitgeberattraktivität in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung“ in Kooperation mit der OPINIO Forschungsinstitut GbR und diversen Krankenhäusern. Gegenwär-tige wissenschaftliche Positionen als stellvertretende Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des OPINIO Forschungsinstituts sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Projektes: Soziale Inklusion von älteren Menschen, Angehörigen und Pflegenden in verschiedenen Pflegeset-tings durch technikgestützte Kommunikation.
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Hochschule Fresenius onlineplus | Was hat Gesundheit mit Ökonomie zu tun?
Wie und anhand welcher Mittel wird die aktuelle Situ-ation im Gesundheitswesen bewertet? Auf welchen grundlegenden Ansätzen baut die Denkweise der Gesundheitsökonomie auf? Wodurch zeichnen sich Gesundheitssysteme aus und welche Varianten lassen sich beobachten? Mit diesen und weiteren grundlegenden Fragestellungen der Gesundheitsökonomie setzen wir uns in diesem studymag auseinander.
Die Wissenschaft liefert uns reichlich Erkenntnisse darüber, wie einerseits Gesundheit entsteht und erhalten werden kann (Salutogenese) sowie darüber, wodurch Krankheit hervorgerufen wird und therapiert werden kann (Pathogenese). Vor allem die Medizin trägt dazu bei, den menschlichen Körper in gesundem wie in krankem Zustand zu erklären.
Jedem Staat ist es ein Anliegen, das vorhandene medizinische Wissen zu nutzen, um die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen bzw. ihnen bei Krankheit zu helfen. In der Gesamtheit wird dabei von einem Gesundheitssystem gesprochen. In einem solchen Gesundheitssystem entstehen aber Kosten, für die die Leistungsempfängerin (Patientin) oder der Leistungsempfänger (Patient) selbst oder/und die Gemeinschaft aufkommen muss. Leistungen der Gesundheitsversorgung sind nicht unbegrenzt verfügbar, sondern – je nach Finanzierungskraft des Staates bzw. seiner Bevölkerung – mehr oder weniger knapp. Knappe Ressourcen müssen so eingesetzt werden, dass sie einen möglichst hohen Nutzen für die Gesundheitsversorgung gewährleisten. Hier setzt die Gesundheits-ökonomie an: Fragen der Effektivität (werden die richtigen Maßnahmen ergriffen?) und der Effizienz (werden diese Maßnahmen optimal durchgeführt?) erhalten eine umso höhere Bedeutung, wenn die Finanzierung eines Gesundheitssystems an seine Grenzen stößt.
Vor diesem Hintergrund wird dieses studymag Informationen bereitstellen, um einen Einblick in folgende Grundlagen der Gesundheitsökonomie zu geben:
▪ Kapitel 1: Demografische und soziodemografische Entwicklungen und ihre Folgen für die von der Gesellschaft zu tragende „Krankheitslast“
▪ Kapitel 2: Rationalisierung, Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen im Kontext begrenzter Ressourcen aus der Perspektive der Gesundheitsökonomie
▪ Kapitel 3: Gesundheitssysteme und deren Grundlagen (Sozialstaatsprinzip), Rahmenbedingungen (Wirtschafts und Sozialordnung) und Varianten (MarktModell; BismarckModell; BeveridgeModell)
„Überhaupt aber beruhen neun Zehntel unseres Glücks allein auf der Gesundheit.“
Arthur Schopenhauer Deutscher Philosoph
Einleitung
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LEGENDE
Infotexte
Achtung enthält sehr wichtige Informationen
oder weist auf mögliche Fehler-quellen hin.
wird für allgemeine Hinweise verwendet oder
gibt Empfehlungen. Auch finden Sie hier Verweise auf weitere Literatur.
Infoboxen
In Infoboxen verdeutlichen wir Zusammenhänge anhand von (Fall-)Beispielen, werfen in Exkursen einen Blick über den Tellerrand, erläutern Fachbegriffe mit Definitionen oder ergänzen den Inhalt mit Videos. Bei Aktionen sind Sie gefragt: Reflektieren Sie das Thema und vertiefen Sie das Gelesene mit Aufgaben!
Sonstiges
QR-Codes können Sie mit einer App auf Ihrem
Smartphone scannen oder im digitalen studymag anklicken, um hinterlegte Informationen abzurufen.
Begriffe, die im Glossar defi-niert werden, sind in Kapitälchen gesetzt.
Querverweise verlinken innerhalb des studymags, z. B. auf ein anderes Kapitel.
Links zu externen Quellen sind grün hervorgehoben.
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LERNEN MIT ONLINEPLUS …
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Hochschule Fresenius onlineplus | Was hat Gesundheit mit Ökonomie zu tun?
Lernziele
Wenn Sie dieses studymag bearbeitet haben, können Sie …
▪ die aktuelle Lage im Gesundheitswesen aus der Perspektive der Gesundheitsökonomie beschreiben,
▪ Ursachen dafür identifizieren,
▪ Zweck und Aufgaben der Gesundheitsökonomie definieren,
▪ mögliche Stoßrichtungen der Gesundheitsökonomie anhand von Beispielen aufzeigen,
▪ die wesentlichen Inhalte der gesetzlichen Grundlagen zum Gesundheitssystem wiedergeben,
▪ die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips aufzeigen,
▪ das Ziel der Gleichheit von Verwirklichungschancen näher beschreiben,
▪ die Zusammenhänge zwischen der Sozialordnung und der Wirtschaftsordnung erklären,
▪ Solidarität und Subsidiarität im Kontext der Gesundheitsökonomie erläutern,
▪ einen Überblick über die Gesundheitssysteme in Europa geben.
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InhaltInhalt
20 . . . Aufgrund der demografischen Entwicklung werden zukünftig mehr Gesundheitsleistungen benötigt, wodurch Mehrkosten im Umlage system der gesetzli-chen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung entstehen, die nicht finanzierbar erscheinen. Vor dem Hinter-grund dieser Gesamtsituation werden nun die Möglichkeiten der Gesundheitsökonomie aufgezeigt.
EINLEITUNG 5
LERNZIELE 7
LITERATUR 44
GLOSSAR 48
INDEX 51
ABBILDUNGEN 52
TABELLEN 53
BILDQUELLEN 54
IMPRESSUM 56
10 . . . Das Gesundheitswesen dürfte Ihnen nicht fremd sein – jeder sammelt im Laufe des Lebens Erfahrungen mit Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken oder Kranken-versicherungen. Selten bekommen Sie einen Einblick, wie das dahinter stehende System funktioniert und wie zentrale Entschei-dungen getroffen werden, die das Angebot des Gesundheitswesens als Ganzes gesehen bestimmen und steuern.
1 WIE GESUND IST DAS GESUNDHEITSWESEN? 10
Themenbereiche der Gesundheitsökonomie
1.1 Ein Einstieg in die aktuelle Lage des Gesundheitswesens 11
1.2 Krankheitslast als Informationsbasis 12
1.3 Ursachen der hohen Krankheitskosten 14
1.3.1 Multimorbidität und Krankheitskosten im Alter 14
1.3.2 Perspektiven zur „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen 16
1.3.3 Chronische Krankheiten im Alter 17
1.3.4 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit im hohen Alter 18
2 DIE GESUNDHEITS-ÖKONOMIE ALS RATGEBER FÜR DAS GESUNDHEITSWESEN 20
Effizienz und Effektivität im Gesundheitswesen
2.1 Ökonomie und Gesundheitsökonomie 21
2.2 Stoßrichtungen der Gesundheitsökonomie 24
2.3 Beispiel: Kassenindividueller Zusatzbeitrag 25
2.4 Beispiel: Individuelle Gesundheitsleistungen 27
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study nowonlineplus.de
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3 DAS SYSTEM VERSTEHEN 30
Einführung in das Gesundheitssystem
3.1 Grundbegriffe und gesetzliche Grundlagen 31
3.2 Handlungsfelder der sozialen Gerechtigkeit 32
3.3 Wirtschafts und Sozialordnung 33
3.3.1 Wirtschaftsordnung 33
3.3.2 Sozialordnung 33
3.4 Grundprinzipien der Sozialordnung 34
3.4.1 Solidarität 34
3.4.2 Subsidiarität 35
3.4.3 Beispiel: Das Umlageverfahren 36
3.5 Grundtypen von Gesundheitssystemen 37
3.5.1 BeveridgeModell 38
3.5.2 MarktModell 39
3.5.3 BismarckModell 40
3.5.4 Gesundheitssysteme in Europa 40
3.5.5 Zur Stabilität von Gesundheitssystemen 41
30 . . . Nachdem nun die grundlegenden Informationsquellen, Ziele und Ansätze der Gesundheitsökonomie besprochen wurden, ist es an der Zeit, das System näher kennenzulernen, das den Rahmen für alle Aktivitäten bildet und somit die Möglich-keiten der Planung und Bereitstellung von Gesundheitsleistungen beschreibt.
Hochschule Fresenius onlineplus | Was hat Gesundheit mit Ökonomie zu tun? 9 | 24
Das Gesundheitswesen dürfte Ihnen nicht fremd sein – jeder sammelt im Laufe des Lebens Erfahrungen mit Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken oder Krankenversicherungen. Allerdings können Sie beim mehr oder weniger alltäglichen Umgang mit Krankheiten meistens nur beobachten, wie sich einzelne Zahnräder drehen; selten bekommen Sie einen Einblick, wie das dahinter stehende System funktioniert und wie zentrale Entschei-dungen getroffen werden, die das Angebot des Gesundheitswesens als Ganzes gesehen bestimmen und steuern. Darum blicken wir in diesem studymag zur Einführung in die Gesundheitsökonomie aus der ökonomi-schen Gesamtperspektive auf das Gesundheitswesen.
1 WIE GESUND IST DAS GESUNDHEITSWESEN?THEMENBEREICHE DER GESUNDHEITSÖKONOMIE
Hochschule Fresenius onlineplus | Was hat Gesundheit mit Ökonomie zu tun?
Die Gesundheitsökonomie sucht Lösungen für die krankheitsbedingten Probleme einer Gesellschaft. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass – wie so oft im Leben – alle Ressourcen wie finanzielle Ressourcen, ausgebildete Ärztinnen und Ärzte oder medizinische Gerätschaften begrenzt sind, denn wir als Gesellschaft haben nicht genügend Mittel, um alle Probleme zu lösen. Stattdessen müssen wir bei unseren Gesundheitsleistungen Prioritäten setzen. Wir müssen rationalisieren, priorisieren und rationieren. Und um dabei möglichst wenig Ressourcen zu verschwenden, müssen wir das System kennen und begreifen, wie die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen funktioniert und welche gesetzlichen Vorgaben den Rahmen in Form von Handlungs und Finanzierungsmöglichkeiten vorgeben.
Es liegt in der Natur des Gesundheitswesens, dass wir bei unseren Überlegungen den Menschen nicht außer Acht lassen können und wollen. Schließlich geht es darum, kranken Menschen zu helfen und folgende Ziele zu erreichen (Müller & Böhm, 2009, S. 9):
▪ „Gesundheit fördern und Krankheit verhindern
▪ Krankheiten heilen und vorzeitige Mortalität reduzieren
▪ Personen versorgen, die chronische Krankheiten haben und pflegerische Hilfe benötigen
▪ Personen versorgen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen haben und pflegerische Hilfe benötigen
▪ Patientinnen und Patienten einen würdevollen Tod ermöglichen
▪ Öffentlichen Gesundheitsschutz oder öffentliche Gesundheitsprogramme für die Bevölkerung bereitstellen und verwalten
▪ Zugang zu Versicherungssystemen (gesetzlich oder privat organisiert) verschaffen, welche die Bevölkerung vor den finanziellen Folgen von Krankheit schützen; der Aufbau solcher Systeme, deren Verwaltung und Kontrolle sind Teil der Gesundheitsausgaben“
In diesem Kontext müssen Entscheidungen getroffen werden, um das System am Laufen zu halten und gesund-heitsausgaBen, also alle „Leistungen und Güter mit dem Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, sowie Investitionen der Einrichtungen des Gesundheitswesens“ (Müller & Böhm, 2009, S. 9), effizient zu gestalten. Die Gesundheitsökonomie unterstützt bei diesen Entscheidungen.
Aus dem Blickwinkel der Gesundheitsökonomie gilt es, vor dem Hintergrund knapper Ressourcen zu wirtschaften und Entscheidungen zu treffen. Folgende Fragen stehen dabei im Fokus (Müller & Böhm, 2009, S. 7):
▪ „Wie viel wird in Deutschland für Gesundheit ausgegeben?
▪ Wer trägt die Ausgaben?
▪ Für welche Leistungen wird wie viel gezahlt?
▪ Von welchen Einrichtungen werden die Leistungen erbracht?
▪ Wie viel wenden die privaten Haushalte aus eigener Tasche für die Gesundheit auf?“
1.1 Ein Einstieg in die aktuelle Lage des Gesundheitswesens
Die aktuelle Gesamtsituation des deutschen Gesund-heitswesens ist in erster Linie dadurch geprägt, dass Wohlstand, Bildung und nicht zuletzt die Gesundheitsversorgung dafür sorgen, dass die Menschen wesentlich älter werden. Seit den 1960erJahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen um gut 11 Jahre, bei Männern sogar um gut 12 Jahre. Die höhere Lebenserwartung wirkt sich u. a. auf die restliche Lebensdauer aus, mit der die 65Jährigen im Durchschnitt rechnen können. Bei den Männern beträgt dieser Lebensabschnitt 17,5 und bei den Frauen 20,5 Jahre (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 2014). Mit anderen Worten: Der Anteil der Rentnerinnen und Rentner an der Gesamtbevölkerung hat zugenommen und wird weiter zunehmen. Dieser Effekt wird begleitet von einem anhaltenden Geburtenrückgang. Wir können also ohne Übertreibung von einer alternden Gesellschaft sprechen.
Aus Sicht der Gesundheitsökonomie entstehen durch diese Entwicklung finanzielle Probleme. Die analog zur Lebenserwartung zunehmende Rentenbezugsdauer (seit 1960 erhöhte sich die durchschnittliche Dauer des Rentenbezugs um 91 %) greift die finanzielle Basis des Sozialversicherungssystems an. Sie setzt nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung, sondern auch die gesetzliche Krankenversicherung (geregelt in SGB V) und die soziale Pflegeversicherung (geregelt in SGB XI) gewaltigen Herausforderungen aus, denn die verstärkte Inanspruchnahme der angebotenen Leistungen hat keine Finanzierungsquelle, die ihr gegenübersteht.
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Wie gesund ist das Gesundheitswesen?
Die drei genannten Unterarten unseres Sozialversicherungssystems sind als Umlagesysteme (mehr dazu in Kapitel 2.3) konzipiert, d. h. die aktuell eingezahlten Beiträge der Arbeitnehmer/innen werden unmittelbar zur Finanzierung von aktuellen Inanspruchnahmen (Leistungen der Versicherten) herangezogen. Da der Anteil an einzahlenden Personen geringer wird, während sich der Anteil an Personen, die Leistungen in Anspruch nehmen, erhöht, kann nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: Das Umlageverfahren könnte in naher Zukunft nicht mehr ausreichen, um das System zu finanzieren.
1.2 Krankheitslast als Informationsbasis
Die Basis jeder Entscheidung sollten Informationen zur aktuellen Lage sein. Im Falle der Gesundheitsökonomie werden Informationen über die Gesundheit der Bevölkerung erhoben und gesucht. In diesen Zeiten des demografischen Wandels, in denen die Lebenserwartung zunimmt und sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung ändert, kommt der Beobachtung der KranKheitslast (engl. Burden of Disease) eine besondere Bedeutung zu. Hierunter ist die Belastung der Bevölkerung durch Krankheiten zu verstehen. Beispielsweise das Robert Koch Institut (RKI) in Berlin (vgl. Robert KochInstitut, 2013) und das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Universität des USBundesstaates Washington in Seattle (vgl. Institute for Health Metrics and Evaluation, 2016), das die Studie „Global Burden of Disease (GBD)“ herausgibt, widmen sich der Aufgabe, die Entwicklung der Krankheitslast zu prognostizieren. In diesen Untersuchungen wird mit Fachbegriffen gearbeitet, die an dieser Stelle im Sinne von Kennzahlen definiert werden sollen:
Definitionen
Mortalität, auch Sterberate: Hier wird für einen bestimmten Zeitraum die Anzahl der Todesfälle einer definierten Bevölkerungsgruppe ins Verhältnis zum Gesamtumfang dieser Gruppe gesetzt (z. B. 10,6 Gestorbene auf 1.000 Einwohner).
MorBidität: Erkrankungshäufigkeit in der Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraums (zahlenmäßiges Verhältnis zwischen Kranken und Gesunden einer Bevölkerungsgruppe). Morbiditätsindikatoren sind z. B. das Auftreten chronischer Erkrankungen, die Häufigkeit von Krankenhausaufenthalten sowie die Anzahl der Hausarztkonsultationen und Krankheitstage (z. B. waren im Jahr 2006 ca. 11 % der 60 bis 69Jährigen in den alten Bundesländern an Diabetes erkrankt).
letalität: Maß für die Tödlichkeit einer Krankheit, ausgedrückt in der Letalitätsrate. Für einen definierten Zeitraum wird die Zahl der Sterbefälle durch die mittlere Größe des Bestandes an Erkrankten geteilt (z. B. beträgt die Letalität des Hirninfarktes ca. 10 %).
inzidenz: Anzahl der Neuerkrankungen an einer bestimmten Krankheit in einer definierten Bevölkerungsgruppe (Population) während eines bestimmten Zeitraums (z. B. ca. 180 Schlaganfälle auf 100.000 Einwohner p. a.).
Prävalenz: Häufigkeit, mit dem eine bestimmte Krankheit (oder ein bestimmtes Merkmal) in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu einem definierten Zeitpunkt vorkommt (z. B. rund 70.000 Dialysepatienten in Deutschland).
vulneraBilität: Bezeichnung für die individuelle Disposition, auf Belastung verstärkt mit Angst, Verwirrung und Spannung zu reagieren.
(Begriffsklärungen in Anlehnung an Burchert, 2011)
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Mithilfe dieser und weiterer Kennziffern können die gesundheitliche Lage der Bevölkerung eines Landes im Zeitverlauf betrachtet, Erfolge und Herausforderungen für Medizin und Public Health identifiziert, der weltweite Vergleich mit anderen Ländern angestellt und Potenziale für mögliche Interventionsmaßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation erkannt und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Ferner können das Auftreten und der Verlauf einzelner Krankheiten dargestellt und aufbereitet werden. Diese führen dann zu Erkenntnissen, die für die Berechnung von Krankheitslasten herangezogen werden können.
Deutlich wird in den Studien zur Veränderung des Krankheitsspektrums vor allem, dass sich gesellschaftliche Veränderungen direkt auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken. So geht das vermehrte Aufkommen von Dienstleistungsberufen Hand in Hand mit psychischen Belastungen (z. B. Depression, Burnout oder neurasthe-nie) die mittlerweile als Hauptgrund für Erwerbsunfähigkeit (Frühberentung) identifiziert werden, während früher körperliche Belastungen (und damit einhergehende Erkrankungen des Muskel/Skelettsystems) dominierten. Auch das zunehmend häufige Aufkommen von demenziellen Erkrankungen (vor allem in Form der AlzheimerKrankheit) im Bereich der Menschen in der Altersgruppe ab 85 steht in direktem Zusammenhang mit der gestiegenen Lebenserwartung.
Hinweis
Um einen Einblick in die Bevölkerungsverteilung nach Alter in verschiedenen Ländern zu erhalten, können Sie beispielsweise einen Blick auf die folgende Website werfen:
ht tp: / /www. laenderdaten.de/bevoe lkerung/bevoelkerungspyramide.aspx
Dort werden auch verschiedene grundlegende Erscheinungsformen von Bevölkerungspyramiden erklärt.
Wer das Gesundheitssystem der nächsten zwei Jahrzehnte proaktiv planen möchte, sollte auf die in den Berichten prognostizierten Zahlen zurückgreifen und die dort beschriebenen Entwicklungen berücksichtigen. Mit ihrer Hilfe kann die zukünftige Krankheitslast der Gesellschaft berechnet werden. Folgende mögliche Entwicklungen könnten die Gesundheit der Bevölkerung bzw. die vorhandenen Maßnahmen und deren Wahrnehmung als geeignete Instrumente beeinflussen:
▪ Demografische Entwicklungen: Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, im quantitativen Verhältnis von Männern und Frauen, im Anteil von Inländern, Ausländern und Eingebürgerten an der Bevölkerung, in der Geburten und Sterbefallentwicklung sowie den Zuzügen und Wegzügen.
▪ Soziodemografische Entwicklungen: Veränderungen in den Bereichen Familienstruktur und Familienstand, Religionszugehörigkeit, Haushaltsgrößen, (Schul)Bildung, Berufsabschlüsse, Berufstätigkeit, Einkommen, sozialer Status, Medienkompetenz, Freizeitaktivitäten usw.
▪ Pathogenetische Entwicklungen: Änderungen im Wissensstand zu den bedrohlichsten Krankheiten und ihren Ursachen (z. B. neue Erkenntnisse über die auslösenden Faktoren von Krebs und anderer Krankheiten)
▪ Salutogenetische Entwicklungen: Änderungen im Wissensstand über das Entstehen von Gesundheit (z. B. neue Erkenntnisse über gesunde Lebensführung und Gesundheitsressourcen)
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Wie gesund ist das Gesundheitswesen?
1.3 Ursachen der hohen Krankheitskosten
1.3.1 Multimorbidität und Krankheitskosten im Alter
Das zentrale Handlungserfordernis für die Gesundheitsversorgung stellt die alternde Gesellschaft dar. Die geburtsstarken Jahrgänge (BabyBoomer) haben mit ihren aktuell 45 bis 60 Jahren mittlerweile ein Alter erreicht, in dem sie vermehrt medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen. Ab dem Jahr 2018 werden sie mehr und mehr in den Ruhestand treten und einerseits zunehmende Lasten für die Sozialversicherung auslösen und andererseits im Arbeitsmarkt nicht ausgleichbare Lücken hinterlassen.
Die Erkenntnis, dass ältere Menschen häufiger erkranken und daher vermehrt Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, gilt als erwiesen. Die Häufigkeit und die Dauer von Krankheitsphasen und funktionellen Einschränkungen steigen im Alter exponentiell an. Zudem leiden die Älteren in diesem Lebensabschnitt an mehreren Erkrankungen gleichzeitig, dies wird als MultiMorBidität bezeichnet (Nöthen, 2011, S. 667).
Definition
MultiMorBidität bezeichnet den Zustand einer Person, die gleichzeitig an mehreren Krankheiten leidet. Dies ist insbesondere bei älteren Menschen sehr häufig der Fall (z. B. das gleichzeitige Bestehen einer Sehstörung und einer Gangstörung). Die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein und mitunter auch willkürlich wirken, insbesondere bei chronischen Erkrankungen im Alter (z. B. Demenz, Herzinsuffizienz etc.).
Abbildung 01: Anzahl der Erkrankungen im Altersverlauf
0
200
400
600
800
1000
1200
45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-80Erkrankungen in Tausend
Alter in Jahren
Krebs Herz-Kreislauf
Verdauungssystem Muskeln und Skelett
Die Abbildung zeigt die Anzahl verschiedener Erkrankungen im Altersverlauf. Sie können sehen, dass ab einem Alter von etwa 65 Jahren vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen überproporti-onal zunehmen. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an AOK Baden-Württemberg, 2010)
Folgende Erkrankungen werden häufiger als Beispiele für eine vor allem im Alter auftretende Multimorbidität angeführt (vgl. Wetterling, 2016):
▪ Bluthochdruck
▪ Herzerkrankungen
▪ Demenz
▪ Diabetes mellitus Typ II
▪ Fettstoffwechselstörung
▪ Lungenerkrankungen
▪ Bewegungsstörungen
▪ Schwerhörigkeit
▪ Sehstörungen
Das MetaBolische syndroM gilt als Hauptrisikofaktor für Herzerkrankungen und ist eine Kombination aus erhöhten Blutfetten, Übergewicht, Diabetes mellitus und Bluthochdruck. Es ist eines der häufigsten und bekanntesten syn-droMe. Diese Erkrankungen sind oft chronisch und meist führt nur eine Polypharmazie (Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig) zu einer Linderung der Beschwerden (Wetterling, 2016).
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Abbildung 02: Risikofaktoren des metabolischen Syndroms
Bluthochdruck
BauchumfangZuckerstoffwechsel
HDL-Cholesterin
Fettstoffwechsel
Die fünf Risikofaktoren für ein metabolisches Syndrom sind Über-gewicht, Taillenumfang, Blutzucker, Blutfette und der Blutdruck. Ein metabolisches Syndrom liegt laut NCEP (National Cholesterol Education Programm, 2002) vor, wenn mindestens drei dieser fünf Faktoren vorhanden und festgelegte Grenzwerte überschritten sind.
Bei einer akuten Verschlechterung der genannten Symptome ist eine Behandlung in den meisten Fällen stark erschwert. Das liegt daran, dass die multimorbiden, oft chronischen Erkrankungen gleichzeitig auftreten. In vielen Krankenhäusern werden hierfür geriatrische Abteilungen eingerichtet. Diese dienen zur Behandlung älterer multimorbider Patientinnen und Patienten.
Aus der Perspektive der Gesundheitsökonomie sind die Kosten, die im Alter ab 85 Jahren durch Multimorbidität entstehen, beträchtlich. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes übersteigen die ProKopfAusgaben in der Altersgruppe der „Älteren“ (65–84) den Ausgabenschnitt um das Doppelte und in der Gruppe der „Hochbetagten“ (85 und älter) um fast das Vierfache (Hof, 2001).
Abbildung 03: Krankheitskosten nach Altersgruppen
0
50000
100000
150000
200000
250000
300000
unter 15 Jahre
15 bis unter 30 Jahre
30 bis unter 45 Jahre
45 bis unter 65 Jahre
65 bis unter 85 Jahre
85 Jahre und mehr
Insgesamt
unter 15 Jahre
15 bis unter 30 Jahre
30 bis unter 45 Jahre
45 bis unter 65 Jahre
65 bis unter 85 Jahre
85 Jahre und mehr
Insgesamt
unter 15 Jahre
15 bis unter 30 Jahre
30 bis unter 45 Jahre
45 bis unter 65 Jahre
65 bis unter 85 Jahre
85 Jahre und mehr
Insgesamt
männlich weiblich Insgesamt
2002 2003 2004 2008
Die Abbildung zeigt die Höhe der Krankheitskosten nach Altersgruppen. Es wird deutlich, dass vor allem zwischen 45 und 85 Jahren sehr hohe Kosten anfallen. Da es sich bei den dargestellten Kosten um absolute Werte handelt, erscheinen die Ausgaben für die Altersgruppe „85 Jahre und mehr“ relativ gering. Würden wir hier jedoch die Pro-Kopf-Ausgaben darstellen, würde deren Wert der höchste sein. (Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt, 2016).
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Wie gesund ist das Gesundheitswesen?
1.3.2 Perspektiven zur „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen
In Zukunft wird mit einer „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen gerechnet. Damit ist hauptsächlich der Trend gemeint, dass die Kosten des Gesundheitswesens schneller steigen als die Wachstumsrate des Nationaleinkommens – eine Befürchtung, die zumindest augenscheinlich von den Daten des Statistischen Bundesamtes gestützt wird. Als erwiesen gilt dieser Zusammenhang allerdings nicht. Einige Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich die steigende Zahl älterer Menschen nicht eins zu eins oder gar überproportional auf die Ausgaben für Gesundheit auswirken wird. In diesem Zusammenhang werden in der Fachdebatte zwei unterschiedliche Ansätze diskutiert: die MediKalisierungsthese und die KoMPressionsthese (vgl. Verbrugge, 1984; Ackermann, 2005).
Die Medikalisierungsthese nimmt an, dass mit der Alterung der Bevölkerung die Zahl der chronisch Kranken und Multimorbiden zunimmt und mit ihr quasi synchron die Behandlungsausgaben steigen. Dieser Ansatz zeigt, dass wir zwar durch die steigende Lebenserwartung mehr Lebensjahre dazu gewinnen, diese allerdings zunehmend mit Krankheiten oder sogar Behinderung verbringen werden. Es wird eine vermehrte Zunahme von Erkrankungen angenommen, wobei ein Teil der Krankheiten bereits in jüngeren Jahren erstmals auftritt und die Betroffenen chronisch durch das gesamte Leben begleitet.
Im Gegensatz dazu steht die Kompressionsthese. Die Anhänger/innen dieser Ansicht gehen davon aus, dass zukünftig zwar die Lebenserwartung weiter zunimmt, die Menschen aber aufgrund des medizinischen und technischen Fortschritts jedoch länger aktiv und gesund bleiben werden. Demnach sollten die Ausgaben sich nicht wesentlich verändern, da die alterstypischen Erkrankungen – entsprechend der steigenden Lebenserwartung – später auftreten werden und die Menschen länger gesund bleiben. Krankheiten treten erst in der Phase kurz vor dem Tod auf, sodass die maximale Lebenserwartung zunehmend auf natürlichem Weg von den Menschen erreicht wird. Die erstmals in den 1970erJahren von James F. Fries entwickelte Kompressionsthese besagt, dass Menschen erst als Hochbetagte in ihren letzten Lebensjahren einen hohen Bedarf an medizinischen Leistungen haben.
Bis heute ist nicht sicher belegt, ob die Berechnung zukünftiger Krankheitslast eher dem Ansatz der Krankheitsextension (= chronische Krankheiten treten unabhängig von der Zunahme der Lebenserwartung unverändert wie heute auf und begleiten Menschen nur entsprechend länger; vgl. Berger, 2014) oder der Krankheitskompression folgen sollte. Verschiedene Einzelstudien der letzten Jahre lieferten Indizien, dass die Vorhersagen der Vertreter/innen der Kompressionsthese zutreffen könnten (entspre
chend lassen sich auch die in der nachfolgenden Abbildung gezeigten Daten interpretieren), hierzu aber keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden können. Es gibt noch keine eindeutigen Beweise für die Kompressions oder Medikalisierungsthese. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die soziale Schicht, also Bildung und ein hohes Einkommen, zu einer besseren Gesundheit beitragen.
Abbildung 04: Studie zu den Kosten von Krankenhaustoden nach Alter
0
5000
10000
15000
20000
25000
bis 14 Jahre
15-29 Jahre
30-44 Jahre
45-64 Jahre
65-84 Jahre
über 85 Jahre
Kosten in €
Alter
Sterbefälle Entlassungen
Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Behand-lungskosten bei Sterbefällen im Krankenhaus mit fortschreitendem Alter abnehmen. Die Abbildung zeigt die entsprechenden Behand-lungskosten für verschiedene Altersklassen im Jahr 2008. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Staeck, 2011)
Es gibt auch Anzeichen dafür, dass eine Kombination dieser beiden Theorien die Realität am besten beschreibt. Diesen Ansatz verfolgt Kane im Bi-Modalen KonzePt, das zwei zukünftige Entwicklungen prognostiziert: Zum einen, dass die nachkommende Generation langfristig betrachtet einen besseren Gesundheitszustand haben wird, und zum anderen, dass wir zunehmend behinderte und pflegebedürftige Menschen wie auch gesundheitlich beeinträchtigte Menschen haben werden. Als Synthese aus beiden Theorien beschreibt das bimodale Konzept also, dass die Zahl der gesunden Jahre zwar zunehmen wird, das Altern der Bevölkerung jedoch insgesamt zu einem Anstieg der Nachfrage nach Gesundheits und Pflegeleistungen führen wird – wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie es durch die Medikalisierungsthese erwartet werden könnte (Braun & Schumann, 2007, S. 5).
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Hochschule Fresenius onlineplus | Was hat Gesundheit mit Ökonomie zu tun?
1.3.3 Chronische Krankheiten im Alter
Ebenfalls eng mit dem Alter verbunden ist der Einfluss der chronischen Erkrankungen (auch als Volkskrankheiten bezeichnet) auf die Gesundheitskosten. Chronische Krankheiten sind „das Ergebnis eines länger andauernden Prozesses degenerativer Veränderung somatischer oder psychischer Zustände“ oder Störungen, die „dauernde somatische oder psychische Schäden oder Behinderung zur Folge“ (Waltz, 1981, S. 89) haben.
Die Wahrscheinlichkeit, an einer oder an mehrerer chronischer Erkrankungen zu leiden, ist im dritten Lebensabschnitt am höchsten. Nach Angaben des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universitätsklinik HamburgEppen dorf leiden über 65Jährige in großer Zahl an drei oder mehr chronischen Krankheiten und dieses Mehrfachauftreten von chronischen Erkrankungen stellt nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar: 62 Prozent der Menschen über 65 Jahre, also fast zwei Drittel, leiden an mehreren chronischen Krankheiten (Peters, Holle & Bussche, 2016). Zu den häufigsten chronischen Erkrankungen gehören folgende:
▪ Lungenkrankheiten, z. B. Asthma bronchiale und COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung)
▪ Erkrankungen des Verdauungssystems, z. B. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa
▪ neurologische Erkrankungen, z. B. Demenz, Epilepsie, Parkinson, Alzheimer oder Multiple Sklerose
▪ Erkrankungen des Skeletts, z. B. Rheuma
▪ Stoffwechselerkrankungen, z. B. Diabetes mellitus und Gicht
▪ HerzKreislaufErkrankungen, z.B. Koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck oder Arteriosklerose
▪ Frauenleiden, z. B. Endometriose (gutartige, meist schmerzhafte Wucherungen von Gewebe der Gebärmutterschleimhaut)
▪ Suchterkrankungen, z. B. Alkoholismus
▪ alle Arten von Krebserkrankungen
Abbildung 05: Steigende Behandlungskosten
33,635,2
36,9
11,414,6 15,4
7,2 8,6 9,3
4,9 5,6 6,3
2002 2006 2008
Kreislauf Krebs Demenz Diabetes
in Milliarden Euro. Die Abbildung zeigt, dass innerhalb von 6 Jahren die Behandlungs-kosten gestiegen sind. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Sonnet, 2010)
Die chronischen Krankheiten verursachen mehr als zwei Drittel aller Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen. Der Anteil von chronisch Kranken in der Bevölkerung liegt in einer Größenordnung von 40 %. Zwar sind auch jüngere Patientinnen und Patienten von chronischen Krank heiten betroffen, doch ist das Aufkommen (die sog. Prävalenz) bei den über 65Jährigen weitaus höher. Laut Schätzungen leiden ca. 70 % in dieser Altersgruppe an mindestens einer der chronischen Krankheiten und ferner ist bei ca. 80 % der Patientinnen und Patienten in dieser Altersgruppe die Ursache für einen Hausarztbesuch eine oder mehrere chronische Krankheiten (Amelung, 2007, S. 4).
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Wie gesund ist das Gesundheitswesen?
1.3.4 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit im hohen Alter
Die Entwicklung des Altersaufbaus hat nicht nur Auswirkungen auf die akutmedizinische Versorgung, sondern auch auf Gesundheitsleistungen, die der geriatrischen rehaBilitation sowie der Pflege zuzuordnen sind.
Geriatrische Patienten sind nach den medizinischen Leitlinien der Fachgesellschaften definiert durch ein höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre oder älter) sowie eine geriatrietypische Multimorbidität. Die so Bezeichneten leiden u. a. oft unter Immobilität, Sturzneigung und Schwindel, kognitiven Defiziten, Inkontinenz, Fehl und Mangelernährung, Störungen im Flüssigkeitshaushalt, Depressionen, Angststörungen, einer herabgesetzten körperlichen Belastbarkeit sowie Seh und Hörbehinderungen.
Die demografische Prognose deutet darauf hin, dass der Anteil geriatrischer Patienten ansteigen wird und insofern auch Leistungen der Rehabilitation und Pflege einer stärkeren Nachfrage ausgesetzt sein werden. So dient die geriatrische Rehabilitation dazu, die Selbstständigkeit von älteren Patientinnen und Patienten zu erhalten und wiederherzustellen sowie die Lebensqualität zu verbessern. Sie soll den Erkrankten ein möglichst unabhängiges Leben ermöglichen, bei dem sie eigenverantwortlich und möglichst selbstständig in ihrem gewohnten Umfeld leben, bzw. sollen die älteren Patientinnen und Patienten in dieses Leben zurückgeführt werden. Konkrete Maßnahmen sind hier z. B. die Behandlung von zentralen Lähmungen, Schluck, Sprach und Sprechstörungen nach einem Schlaganfall, eine Bewegungstherapie, eine Prothesenanpassung und Gangschule nach Amputationen, die Behandlung von chronischen Schmerzen bei degenerativen Gelenkerkrankungen, Hirnleistungstraining usw. (vgl. beispielhaft Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren BadenWürttemberg, Hrsg., 2014, Kapitel 6)
PflegeBedürftigKeit ist im Sinne des SGB XI bei denjenigen Personen gegeben, „die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen“ (§ 14 SGB XI). Die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung sind als Sachleistung (professionelle Pflege durch zugelassene Leistungserbringer) oder als Geldleistung (Pflegegeld bei selbstorganisierter Pflege im häuslichen Umfeld) ausgelegt und können ambulant, teilstationär (z. B. Tagespflege) oder stationär (Heimpflege) erbracht werden. In der sozialen und privaten Pflegeversicherung gab es Anfang des Jahres 2016 rund 2,7 Mio. Pflegebedürftige, von denen im Jahr 2014 rund 1,8 Mio. ambulante und 0,75 Mio. stationäre Leistungen erhielten (Bundesministerium für Gesundheit, 2016b).
Die Pflegequote (also das Verhältnis der Pflegebedürftigen zur Bevölkerungsgruppe) steigt mit zunehmendem Alter deutlich an, so dass bei den Hochbetagten jeder zweite Mensch dieser Altersgruppe Pflegeunterstützung benötigt. Verschiedene Studien stellen dar, dass die Nachfrage nach Pflegeleistungen demografiebedingt stark zunehmen wird. So kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung zu dem Ergebnis, das die Gesamtzahl der Leistungs bezieher bis zum Jahr 2030 auf etwa 3,4 Mio. Pflegebedürftige (dies entspricht einer Veränderung von 47,4 % gegenüber den Zahlen von 2009) ansteigen wird (Rothgang, Müller & Unger, 2012, S. 35). Dabei kommt es der Studie zufolge zu Verschiebungen in der Leistungsstruktur. So wird ein Rückgang der Angehörigenpflege prognostiziert, was sich auf ein entsprechendes Mehr an Leistungen in der stationären und Weniger in der ambulanten Pflege niederschlägt. Ursache hierfür ist der steigende Anteil Hochbetagter unter den Pflegebedürftigen, bei denen die Heimpflege in höherem Alter eine größere Bedeutung einnimmt.
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Aktion
▪ Beschreiben Sie bitte mit eigenen Worten, was unter der Krankheitslast zu verstehen ist und geben Sie Beispiele für Informationen, die dazu aus Studien gezogen werden können.
▪ Grenzen Sie bitte die Medikalisierungsthese gegenüber der Kompressionsthese ab. Welche Bedeutung haben diese Theorien im Kontext der demografischen und soziodemografischen Entwicklung?
Zusammenfassung
Die demografische Entwicklung (Altersaufbau) und die soziodemografische Entwicklung (Zunahme der Ein und Zweipersonenhaushalte) wird zu einer steigenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in den Bereichen der Behandlung, der medizinischen Rehabilitation und der Pflege führen. Untersuchungen belegen, dass in diesen Entwicklungen sowohl extensorische als auch kompressorische Entwicklungseffekte auszumachen sind, die insofern für das Szenario des von Kane beschriebenen bimodalen Konzepts (siehe Kapitel 1.3.1) sprechen.
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