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Neil Roughley WAS HEISST „MENSCHLICHE NATUR“? BEGRIFFLICHE DIFFERENZIERUNGEN UND NORMATIVE ANSATZPUNKTE I. Einleitung: Schwierigkeiten mit „der menschlichen Natur“ 1. Professionelle Philosophen sind heutzutage nicht sonderlich geneigt, sich zur „menschlichen Natur“ zu äußern. In Anbetracht der Erwartun- gen, die interessierte Laien in dieser Sache an die Philosophie richten, ist diese fehlende Neigung bemerkenswert. Die allgemein fehlende Neigung seitens der Philosophen wie die nichtphilosophischen Erwartungen sind beide aus der Geschichte der Verwendung des Terminus zu erklären. Von Aussagen, die den Ausdruck bemühen, werden Auskünfte ganz verschie- dener Art erhofft: darüber, was uns von den Affen unterscheidet; darüber, wie unser Reagieren und Handeln zu erklären sind; darüber, welche Auswirkungen unsere Körperlichkeit auf unsere Identität hat; und dar- über, wie wir leben sollten. Für den Philosophen sind diese Fragen in der Regel nicht nur auseinander zu halten. Sie sind auch intern zu differenzie- ren. Genau das passiert innerhalb der verschiedenen philosophischen Disziplinen wie der Wissenschaftstheorie der Biologie, der Handlungs- theorie, der Philosophie des Geistes und der Moralphilosophie. Somit erscheint „die Frage nach der menschlichen Natur“ als ein Ruf nach Ent- differenzierungen, den die Philosophie vernünftigerweise nur unbeant- wortet lassen kann. 2. Allerdings wäre es philosophiegeschichtlich befriedigender, wenn man die vielen Diskussionen, die mit dem Ausdruck geführt worden sind, nicht als kriterienloses Gebabbel abtun müsste und statt dessen Kriterien herausarbeiten könnte, die ein Urteil über die Wahrheit der vorgebrachten Aussagen ermöglichen würden. Andernfalls würden wir weder die positi- ven Charakterisierungen der „menschlichen Natur“ noch die verbreitete Behauptung, dass es so etwas gar nicht gibt, verstehen, geschweige denn überprüfen können. 3. Es ist immerhin auffallend, welche verschiedenartigen Autoren es für wichtig gehalten haben, zu bestreiten, dass es eine „menschliche Natur“

WAS HEISST „MENSCHLICHE NATUR“? BEGRIFFLICHE ......Natur („physis“), wobei die genauen Linien, an denen entlang er seine Unterscheidungen trifft, uns heute nur durch rekonstruktive

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  • Neil Roughley

    WAS HEISST „MENSCHLICHE NATUR“? BEGRIFFLICHE DIFFERENZIERUNGEN UND

    NORMATIVE ANSATZPUNKTE I. Einleitung: Schwierigkeiten mit „der menschlichen Natur“ 1. Professionelle Philosophen sind heutzutage nicht sonderlich geneigt, sich zur „menschlichen Natur“ zu äußern. In Anbetracht der Erwartun-gen, die interessierte Laien in dieser Sache an die Philosophie richten, ist diese fehlende Neigung bemerkenswert. Die allgemein fehlende Neigung seitens der Philosophen wie die nichtphilosophischen Erwartungen sind beide aus der Geschichte der Verwendung des Terminus zu erklären. Von Aussagen, die den Ausdruck bemühen, werden Auskünfte ganz verschie-dener Art erhofft: darüber, was uns von den Affen unterscheidet; darüber, wie unser Reagieren und Handeln zu erklären sind; darüber, welche Auswirkungen unsere Körperlichkeit auf unsere Identität hat; und dar-über, wie wir leben sollten. Für den Philosophen sind diese Fragen in der Regel nicht nur auseinander zu halten. Sie sind auch intern zu differenzie-ren. Genau das passiert innerhalb der verschiedenen philosophischen Disziplinen wie der Wissenschaftstheorie der Biologie, der Handlungs-theorie, der Philosophie des Geistes und der Moralphilosophie. Somit erscheint „die Frage nach der menschlichen Natur“ als ein Ruf nach Ent-differenzierungen, den die Philosophie vernünftigerweise nur unbeant-wortet lassen kann. 2. Allerdings wäre es philosophiegeschichtlich befriedigender, wenn man die vielen Diskussionen, die mit dem Ausdruck geführt worden sind, nicht als kriterienloses Gebabbel abtun müsste und statt dessen Kriterien herausarbeiten könnte, die ein Urteil über die Wahrheit der vorgebrachten Aussagen ermöglichen würden. Andernfalls würden wir weder die positi-ven Charakterisierungen der „menschlichen Natur“ noch die verbreitete Behauptung, dass es so etwas gar nicht gibt, verstehen, geschweige denn überprüfen können. 3. Es ist immerhin auffallend, welche verschiedenartigen Autoren es für wichtig gehalten haben, zu bestreiten, dass es eine „menschliche Natur“

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    gibt. Die Tatsache, dass Kulturanthropologen, Existentialisten, Marxisten und neuerdings „Kulturpsychologen“ darunter sind, könnte den Anschein erwecken, dass es sich hierbei lediglich um den Ausdruck der „Biopho-bie“ (Brown 2000: 165) gewisser Geistes- und Sozialwissenschaftler handelt. Dieser Anschein löst sich aber auf, wenn man zweierlei beachtet. Zum einen erheben sich gerade innerhalb der Biologie Stimmen, die das Gegebensein einer „menschlichen Natur“ bestreiten. Zum anderen hat vor kurzem der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Sorgen darüber geäußert, dass durch neuere biotechnologische Entwicklungen „die Einheit der menschlichen Natur [...] in Frage gestellt“ werden könnte (2001: 76). Dieser Schritt fällt besonders auf, weil Habermas der noch philosophisch aktive Repräsentant der gesellschaftskritischen Tradition ist, die von Marx über Lukács und Horkheimer reicht und in Aussagen über „den Menschen“ ideologische Konstrukte gesehen hat. In einem 1958 erschie-nenen Artikel hatte Habermas selbst gegen „eine Anthropologie, die es mit der ,Natur des Menschen‘ ... zu tun hat“, eingewandt, dass „der Mensch ... erst geschichtlich wird, was er ,ist‘“ (1958: 32). 4. Im Folgenden möchte ich Kriterien anbieten, die eine Übersicht über die verschiedenen Verwendungen des Ausdrucks erlauben. Wir sollten, so möchte ich zeigen, drei deskriptive Begriffe der menschlichen Natur unterscheiden.1 Der Einfachheit halber werde ich dabei von der MN1, der MN2 und der MN3 reden. Die verbreitete Vermischung dieser drei Beg-riffe ist eine zentrale Ursache der diskursiven Schwierigkeiten, die mit dem Ausdruck verbunden sind. Diese werden dadurch verstärkt, dass es an der einen oder der anderen Stelle relativ enge Zusammenhänge zwi-schen ihnen, insbesondere zwischen der MN2 und der MN3, gibt. 5. Die zweite Ursache für viele Verständnisprobleme liegt darin, dass häufig die verschiedenen Inhalte der Begriffe und evaluative oder norma-tive Stellungnahmen nicht auseinander gehalten werden. Ob es sich dabei um explizit ethische Diskussionskontexte handelt oder nicht: Vielfach wird stillschweigend angenommen, dass die Verwendung des Ausdrucks eine positive Bewertung des damit Bezeichneten oder sogar die Einstel-lung impliziert, dass es geschützt oder gefördert werden sollte. Auch ohne die Vermischung der drei deskriptiven Begriffe trägt dies wesentlich

    1 Diese Analyse ist eine Ausarbeitung von in Roughley (2000a) nur skizzenhaft entwi-ckelten Unterscheidungen. In einer kürzeren Fassung wurde sie am 26.01.2004 als meine Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz vorgetragen. Für hilfreiche Kommentare und Diskussionen bedanke ich mich bei Eike Bohlken, Barbara Guckes, Stephan Schlothfeldt, Holmer Steinfath und Marcel Weber.

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    zur Verunklarung bei, indem dadurch die Frage vorentschieden erscheint, welcher Wert der „menschlichen Natur“ zukommt. 6. Nach der Unterscheidung der MN1, der MN2 und der MN3 werde ich für jeden der drei Fälle diese normative Frage kurz diskutieren. Es wird sich herausstellen, dass nur die MN2 von normativer Bedeutung ist, und dies nicht etwa, weil ein Moment des „Sein-Sollenden“ zum Begriff ge-hört, sondern nur unter der – allerdings plausiblen – Bedingung, dass weitere Prämissen akzeptiert werden. Die Rede von der „menschlichen Natur“ im dritten Sinn markiert ein Feld normativer Auseinander-setzungen, ohne aber selbst normativ bedeutsame Kriterien bereitzustel-len. 7. Die Vermischungen, die es hier auseinander zu nehmen gilt, sind alt. Sie sind, genau genommen, ein Aristotelisches Erbe. Daher werde ich, bevor ich zur MN1 komme, mit einer kurzen Diskussion der einschlägi-gen Stellen bei Aristoteles (Met. 1104b 16ff.; Phys. 192b 9ff.) einsetzen. Allerdings ist das Aristotelische Erbe hier keineswegs ein bloß negatives. Aristoteles ist derjenige, der das Projekt einer Unterscheidung verschie-dener Begriffe der „Natur“ lanciert hat. Insofern knüpft die hier zu entwi-ckelnde Analyse auch konstruktiv an Aristoteles an. II. „Natur“: Das Aristotelische Erbe 1. Im Buch � der Metaphysik unterscheidet Aristoteles fünf Begriffe der Natur („physis“), wobei die genauen Linien, an denen entlang er seine Unterscheidungen trifft, uns heute nur durch rekonstruktive hermeneuti-sche Bemühungen zugänglich sind. Für meine Fragestellung von Bedeu-tung sind drei der durch Aristoteles unterschiedenen Begriffe. Bedeutsam ist aber auch Aristoteles´ Meinung, dass diese auf eine bestimmte Weise begrifflich ineinander geflochten sind. 2. Der erste für uns relevante Aristotelische Naturbegriff profiliert sich gegen die Platonische Konzeption des Seins als Produkt demiurgischen Wirkens. Dabei unterscheidet Aristoteles das Natürliche von den Produk-ten der „techn�“. So verstandene Naturdinge besitzen ein eigenes, inhä-rentes Prinzip der Bewegung oder des Wachstums (Phys.192b 11-19; Met. 1014b 18-26). 3. Aristoteles verwendet „physis“ auch in einem zweiten uns interessie-renden Sinne, nämlich um das Wesen eines Gegenstandes zu bezeichnen. Hier wird „physis“ streckenweise als mit dem Terminus „ousia“ gleich-

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    bedeutend benützt, wobei „ousia“ den weiteren Begriff bezeichnet. Eine plaktative Formulierung von Jürgen Mittelstraß aufgreifend (1981: 39), kann man sagen, dass, während die erste Aristotelische Verwendung von „physis“ die „Dinge der Natur“ bezeichnet, die zweite „die Natur der Dinge“ meint. 4. An diese Unterscheidung wird sich die Analyse der Rede von der „Na-tur“ auch im Ausdruck „menschliche Natur“ konstruktiv anknüpfen las-sen. Den zwei Begriffen wird aber von Aristoteles ein dritter Naturbegriff zur Seite gestellt. Dieser ist zum einen an seine teleologische Metaphysik gebunden, zum anderen wirkt er trotz deren Überholtheit heute noch nach. Es handelt sich dabei um eine spezifische Konzeption dessen, was das „Wesen“ einer Sache ausmacht, nämlich um die volle Realisierung einer festgelegten Form. „Natur“ in diesem dritten Sinne fehlt den un-entwickelten Dingen der Natur (im ersten Sinne), da sie ihre „Bestim-mung“ noch nicht erreicht haben (Met. 1015a 4). Sie fehlt auch allen durch „techn�“ erzeugten Gegenständen, da ihnen kein Prinzip des Wachstums inhärent ist. 5. Der dritte Naturbegriff führt somit die ersten zwei Begriffe im Rahmen einer teleologischen Metaphysik wieder zusammen. Diese Fusionierung ist aus zwei unabhängigen Gründen problematisch. Zum einen ist, spätes-tens seit Darwins Nachweis, dass zufällige Variation der Motor der Evo-lution ist, die Idee einer festgelegten, zu realisierenden Form als notwen-dig und hinreichend dafür, dass eine Entität zu einer natürlichen Art ge-hört, hinfällig geworden. Zum anderen dürfte unabhängig von Darwin klar sein, dass der erste und der zweite Begriff von „Natur“ analytisch völlig getrennt sind: Auch künstlich erzeugte Gegenstände können eine „Natur“ in dem Sinne besitzen, dass es notwendige und hinreichende Bedingungen ihres Gegebenseins gibt. Ein „ousia“ wird ihnen daher von Aristoteles zugeschrieben. 6. Schließlich wird der problematische Charakter dieses Aristotelischen Erbes noch dadurch gesteigert, dass für Aristoteles die „Natur“ einer En-tität im dritten Sinne nicht nur seine kausale, sondern auch seine norma-tive „Bestimmung“ ist. Somit gehört zur Aristotelischen Konzeption der „Natur“ eines Gegenstandes, dass diese „Natur“ nicht nur, wenn nichts dazwischen kommt, realisiert werden wird, sondern auch die Stipulie-rung, dass sie realisiert werden sollte. 7. Diese unvollständige Skizze der Aristotelischen Naturbegriffe enthält mehr oder weniger explizite Vorformen der Unterscheidungen, die ich im Folgenden für die deskriptive Verwendung des Ausdrucks „menschliche

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    Natur“ herausarbeiten werde. Sein erster Naturbegriff entspricht der MN3, sein zweiter der MN1. Die Idee der Natur als voll entwickelter Form ließe sich sogar mit der MN2 in Beziehung setzen. III. MN1: Spezieszugehörigkeit 1. Die Erkenntnis Darwins, dass Evolution von zufälligen Variationen individueller Organismen abhängt, hat der Aristotelischen zeitlosen Klas-sifikation der biologischen Arten nach Oberbegriff und unterscheidenden Merkmalen den metaphysischen Boden entzogen (Hull 1967: 310ff.; Mayr 1970: 11). Manchen Philosophen der Biologie zufolge impliziert diese Darwinsche Einsicht, dass es keine menschliche Natur (Hull 1984: 36; 1986; de Sousa 2000: 287f.; 292) oder, in der alternativen Formulie-rung, kein menschliches Wesen (Hull 1978: 358; Mayr 1987: 156) gibt. Könnte es sein, dass sich unser Thema als Folge der Evolutionstheorie mit einem Schlag erledigt hat? 2. Schauen wir uns das Argument etwas genauer an. Die Evolution gibt es, so die Prämisse, nur deswegen, weil zufällige Variationen den Raum möglicher Weiterentwicklungen der existierenden biologischen Populati-onen durchspielen. Daher lassen sich aus Sätzen über die Eigenschaften von existierenden Speziesangehörigen keine Sätze über einzelne Eigen-schaften ableiten, die weitere individuelle Angehörige der gleichen Spe-zies besitzen müssen. Für die Spezieszugehörigkeit sind keine aktuell instantiierten Eigenschaften notwendig. So wie es Tiger ohne Streifen geben kann, so kann es Menschen ohne Arme oder ohne Herz geben. Solche statistisch unüblichen Individuen verlieren nicht ihren Status als Speziesangehörige, sondern bleiben einfach statistisch unübliche Exemp-lare. 3. Aus der Grundprämisse der Evolutionstheorie folgt, so die allgemein akzeptierte Sicht in der Evolutionsbiologie, dass Spezies „historische Entitäten“ sind (Hull 1978: 338ff.; 1984: 19). Damit wird die These zum Ausdruck gebracht, dass die Kernidee, die im Begriff der biologischen Art steckt, die einer gewissen Abstammung ist. Eine Spezies ist lediglich die Gruppe von Organismen, die sich durch ein bestimmtes Segment eines phylogenetischen Baums repräsentieren lässt. 4. Den Punkt kann man durch den Vergleich mit chemischen Elementen illustrieren. Sollte es z.B. eines Tages keine Atome mit der Atomzahl 79 mehr geben, so gäbe es kein Gold mehr. Es wäre aber dann durchaus metaphysisch möglich, dass wieder Individuen entstehen, die diese

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    Atomzahl besitzen und somit Träger des „Wesens“ von Gold sind (Hull 1984: 22f.; Mayr 1987: 157). Sollte hingegen auf wundersame Weise in der Zukunft ein Tier zur Welt kommen, das in allen phäno- wie genotypi-schen Merkmalen dem Pterodaktylus identisch wäre, so würde es trotz-dem nicht zur gleichen biologischen Art gehören wie sein prähistorischer Doppelgänger. Da der biologische Artbegriff eine Entität herausgreift, die eine kausale Rolle in der Evolution erfüllt, ist das Abstammungskriterium zentral. So gilt auch, dass von Menschen hergestellte Androiden, egal wie sehr sie uns ähneln mögen, keinen Anteil an der menschlichen Natur in diesem Sinne hätten. 5. Nun dürfte es klar sein, dass Abstammung nicht ausreicht, um eine Spezies von einer verwandten zu unterscheiden. Vielleicht, so könnte man denken, lassen sich die begrifflich relevanten Bedingungen vervoll-ständigen. Immerhin scheinen die hier tätigen Evolutionsbiologen, Gene-tiker und Paläontologen davon auszugehen, dass sie in der Lage sind, begründete Entscheidungen darüber zu fällen, mit was für einer biologi-schen Art sie es zu tun haben. Einig sind sich die Biologen darin, dass eine Spezies als Folge eines Vorgangs der Speziation zustande kommt, die im üblichen Fall in der Spaltung einer vorhergehenden Art, im unüb-lichen Fall aus der Fusion zweier früherer Arten besteht (Mayr 1970: 248ff.). Damit stellt sich die Frage, ob sich Bedingungen dafür angeben lassen, dass Speziation stattgefunden hat. Auf diese Frage gibt es bei den einschlägigen Autoren keine einheitliche Antwort. Zu den Auskünften zählen: die Existenz einer Fortpflanzungsgemeinschaft, die Besetzung einer ökologischen Nische und genetische oder phänotypische Kohärenz (de Queiroz 1999: 60). 6. Es fällt auf, dass die Kriterien, die hier bemüht werden, allesamt rela-tional sind: Abstammung ist notwendigerweise Abstammung von x; die Ideen einer Fortpflanzungsgemeinschaft und der Kohärenz spezifizieren interne Relationen innerhalb einer bestimmten Population. Bei keinem dieser Kriterien werden Eigenschaften genannt, die eine kontextlose oder nichtzirkuläre Beantwortung der Frage erlauben würden, mit was für einer Spezies man es zu tun hat. 7. Jetzt sind wir in der Lage zu sehen, was genau durch die Behauptung der Nichtexistenz einer menschlichen Natur in unserem ersten Sinne bestritten wird. Die Behauptung ist, dass es keine notwendigen und hin-reichenden Bedingungen der Zugehörigkeit zur menschlichen Art gibt. Die definitorisch relevanten Bedingungen sind relational, enthalten zeitli-che und vielleicht räumliche Spezifizierungen und sind möglicherweise disjunkt. Es gibt in der Tat, wie ich sagen möchte, keine MN1*. Es ist

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    diese Konzeption der menschlichen Natur, die zu Recht von Mayr, Hull und de Sousa als leer dargestellt wird. 8. Was durch diese Argumente aber nun nicht gezeigt wird, ist, dass es keinen präzisierbaren Begriff der biologischen Art und entsprechend gar keine Bedingungen für die Spezieszugehörigkeit gibt. Naheliegend ist es eher, dass die biologische Art ein Clusterbegriff ist. Einer solchen Kon-zeption zufolge wäre eine Spezies eine Einheit, die aus einer stabilen, obwohl nicht zeitlosen Eigenschaftskonstellation besteht. Eine solche Position wird etwa von Richard Boyd vertreten, dem zufolge „natürliche Arten“ kausal zusammenhängende („homöostatische“) Eigenschafts-cluster sind (1999: 145ff.). Dieser Speziesbegriff sieht gerade vor, dass beliebige einzelne Eigenschaften individueller Speziesangehöriger fehlen und mit der Zeit sogar bei einer ganzen Art verschwinden können. 9. Die MN1* ist eine Spezifizierung – eine naheliegende, aber keines-wegs zwingende Spezifizierung – eines breiteren ersten Begriffs der menschlichen Natur. Dieser Begriff, die MN1, ist dann erfüllt, wenn die – wie auch immer gearteten – Bedingungen der Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens erfüllt sind. 10. Unabhängig davon, ob eine Clusterkonzeption biologischer Arten überzeugen kann, ist es unkontrovers, dass notwendige und hinreichende Bedingungen hier nicht zu haben sind. Was folgt nun daraus? Gemäß Hull folgt, dass es keine Merkmale gibt, die sich eignen, die „traditionelle Funktion“ zu erfüllen, die die „menschliche Natur“ erfüllen sollte. Diese Funktion wird erfüllt, so Hull, durch eine „property which makes us pe-culiarly human“ (1986: 7). Was aber ist mit dem Ausdruck „makes us peculiarly human“ gemeint? Wenn das wieder nur die Angabe von not-wendigen und hinreichenden Bedingungen für die Spezieszugehörigkeit bedeutet, dann sind wir tatsächlich schon am Ende der Diskussion. Ei-gentlich dürfte es aber klar sein, dass die traditionelle Funktion des Beg-riffs in der Philosophie das Herausgreifen des „eigentümlich Menschli-chen“ in einem ganz anderen Sinne ist. IV. MN2: Die charakteristische menschliche Lebensform 1. Diesen anderen Sinn, die MN2, lässt sich als die charakteristische menschliche Lebensform umschreiben. Im Folgenden versuche ich etwas genauer zu fassen, was darunter verstanden werden sollte. Klar ist, dass dieser Sinn aus seiner Vermischung mit dem ersten Sinn des Ausdrucks gelöst werden muss, eine Vermischung, die auch auf Aristoteles zurück-

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    geht. Aristoteles hatte erkannt, wie wichtig auch hier die Biologie ist. Die Biologie stand aber erst in ihren Anfängen. Nicht nur wurde sie vom te-leologischen Gedanken beherrscht. Aristoteles konnte auch nicht ahnen, dass die Aufspaltung des Fachs in Teildisziplinen wie Evolutionsbiolo-gie, Ethologie, vergleichende Morphologie und Neurobiologie stark di-vergierende Blicke auf die Frage ermöglichen würde, was „der Mensch“ „ist“. Vor allem ist aber die Frage nach der MN2, im Gegensatz zur Frage nach der MN1, keine rein biologische Frage. Für ihre Beantwortung sind nicht nur biologische Auskünfte, sondern auch Auskünfte anderer Arten, von großer Bedeutung. 2. Fangen wir bei einer bekannten Charakterisierung der „menschlichen Natur“ an, die Aristoteles in der Historia Animalium (487b 33ff.) sowie in der Politik (1253a 2-29) liefert. „Der Mensch“ ist, so Aristoteles, ein „politisches“ Lebewesen. Die Einführung dieses Gedankens in der Histo-ria Animalium, wo Menschen neben Bienen, Wespen, Ameisen und Kra-nichen auf diese Weise charakterisiert werden, macht deutlich, dass diese Charakterisierung ein Zug im Schema der Klassifikation der biologischen Arten nach Oberbegriff und unterscheidenden Merkmalen ist (vgl. Kull-mann 1980: 432). Aber die Aristotelische These, dass es – in irgend ei-nem gehaltvollen Sinne – „wesentlich“ für „die Menschen“ ist, „poli-tisch“ zu leben, d. h. gemeinsame Ziele zu verfolgen, artikuliert eine Ein-sicht, die nicht durch die postdarwinistische Unhaltbarkeit des „typologi-schen Speziesbegriffs“ (Mayr 1970: 11) falsch oder leer wird. Eine Ex-plikation des Begriffs der MN2 sollte demnach klarmachen, was der ge-haltvolle Sinn von „für die Menschen wesentlich“ hier ist. 3. In einem ersten Schritt muss man, als Folge der Erkenntnisse bezüglich der MN1, zwei Einschränkungen im Hinblick auf das Subjekt solcher Prädikationen wie „ist politisch“ vornehmen. Die erste folgt daraus, dass wir damit schwerlich über alle Entitäten Aussagen machen, die durch das relevante Segment des phylogenetischen Baums repräsentiert werden. Der Begriff „des Menschen“, um den es hier geht, hat eine indexikalische Komponente, insofern er alle Speziesangehörigen umfasst, deren Lebens-form substantielle Überschneidungen mit den jetzt Lebenden aufweist. Der relevante evolutionäre Zeitraum wird vermutlich kürzer sein als der durch die biologische Art eingenommene. Er wird aber immerhin von einer Ausdehnung sein, innerhalb derer eine Konstellation stabiler Eigen-schaften beschreibbar ist. Eine Möglichkeit, seinen Anfang festzulegen, wäre der Anbruch des Jungpaläolithikums vor 30 000 Jahren. Die Kolo-nisierung Australiens und die Anfertigung von Skulpturen um diese Zeit sind nach der Einschätzung mancher Paläoanthropologen (David-son/Noble 1993: 363) die ersten gesicherten Belege für das Vorhanden-

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    sein der Fähigkeit detailliert geplanten und koordinierten Handelns. Wie weit in die Zukunft hinein sich der relevante Zeitraum erstrecken wird, ist natürlich eine offene Frage. Wie diese zu beantworten sein wird, wird wohl nicht unwesentlich von zukünftigem menschlichem Handeln abhän-gen (vgl. VI.10). 4. Die zweite Einschränkung betrifft die innerhalb dieses Zeitraums exis-tierenden Träger der MN2. Klarerweise wird nicht jeder Speziesangehöri-ge an ihr im vollen Umfang teilhaben. Die Eigenschaften, um die es hier geht, besitzen Menschen also nicht strikt universell, sondern nur generell. 5. Das Projekt der Beschreibung der MN2 ist im Prinzip nicht anders als die allgemeine Ethologie irgendeiner Spezies geartet (vgl. Williams 1995: 79). Die Ethologie fragt danach, wie bestimmte Tiere im Allgemeinen leben. Dabei ist es von geringer Bedeutung, dass es zu den allgemeinen Beschreibungen Ausnahmen gibt. Das Projekt lässt sich nicht als ein Su-chen nach Naturgesetzen verstehen. Es zielt auf die Beschreibung der charakteristischen Lebensform der Spezies, genauer: einer spezifischen evolutionären Phase der Spezies. 6. Um eine solche Beschreibung zu entwickeln, muss man Eigenschaften herausgreifen, die für die Lebensführung der Speziesangehörigen beson-ders bedeutsam sind. Dabei heißt „bedeutsam“ nicht, dass irgendjemand den relevanten Eigenschaften besonderen Wert zumisst. Es hat stattdessen einen kausalen Sinn und meint die Eigenschaften, denen bei der Erklä-rung des Verhaltens der relevanten Organismen am meisten Gewicht beizumessen ist. Aus dieser Perspektive prägen das Sprechen, das Über-legen und die Weitergabe von Wissen und Techniken im gleichen Sinne die menschliche Lebensweise wie die Ausstattung mit Rüssel, enormem Körpergewicht und besonders dicker Haut die Lebensform der Elefanten prägen. Käme ein Elefant mit einem nur sechs Zentimeter langen Rüssel zur Welt, so würde er, falls er überleben könnte, ein elefantenuntypisches Leben führen. Ihm fehlte etwas, was man mit Mary Midgley (2000: 57) eine strukturelle Eigenschaft nennen kann. 7. Die „menschliche Natur“ im Sinne der MN2 besteht also aus den struk-turellen Eigenschaften der charakteristischen menschlichen Lebensform. (Um hier präzise zu sein, müsste man von so etwas wie „der postjungpa-läolithischen (!) Lebensform“ reden. Eine Qualifikation dieser Art wird im Folgenden unterstellt.) Die Philosophiegeschichte hat verschiedene Kandidaten für Inklusion in die MN2 hervorgebracht. Obwohl diese oft als konkurrierend gesehen worden sind, ist dies höchst unplausibel. Zu fragen ist nicht, ob der Mensch „der erste Freigelassene der Natur“ (Her-

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    der) oder das „animal rationabile“ (Kant), als homo loquens oder eher als „das handelnde Wesen“ (Gehlen) zu charakterisieren ist. Was unter die MN2 fällt, wird sich kaum mit einem einzigen Begriff zusammenfassen lassen. Zu fragen ist stattdessen, wie Eigenschaften wie Freiheit, Ver-nunft, Sprache und Handlungsfähigkeit zusammenhängen. Die Aristoteli-sche These, dass die spezifische „politische“ Natur der Menschen davon abhängt, dass sie sprechende Wesen sind (Pol. 1253a 9f.), gehört in die-sen Zusammenhang. 8. Die Beschreibung der MN2 kann man aber nicht den Philosophen über-lassen. Es gehören auch Eigenschaften hierher, deren Entdeckung erst durch die Entwicklung der empirischen Wissenschaften möglich wurde. Dazu zählen die zuerst von Portmann herausgearbeiteten morphologi-schen Eigenschaften menschlicher Neugeborener (1951: 26ff.) und die neurowissenschaftlich weitgehend noch zu erforschenden besonderen Bedingungen der Epigenese selektiv stabilisierter Synapsen im menschli-chen Gehirn (vgl. Changeux 1986: 264ff.). Schließlich gibt es keinen Grund, hier Merkmale auszuschließen, die Menschen mit anderen Tieren teilen. Da die relevante Eigenschaftskonstellation ein Evolutionsprodukt ist, dürfte es selbstverständlich sein, dass sie Eigenschaften enthält, die andere Tiere auch besitzen. 9. Es ist nun „die menschliche Natur“ oder „das menschliche Wesen“ im Sinne der MN2, die bzw. das offenbar von Marx in der sechsten Feuer-bach-These, vom frühen Habermas (1958: 19) sowie von Sartre (1945: 49) bestritten wird. Der angebliche Mangel an charakteristischer Struktur menschlicher Lebensformen soll jeweils durch die determinierende Macht unterschiedlicher ökonomischer Verhältnisse, durch die „Selbst-verständnisse“, die Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen ent-wickeln, und durch die indeterministische Freiheit des Einzelnen erklärt werden. Alle Behauptungen dieser Art müssen auf starken Thesen grün-den, die verständlich machen, welche Eigenschaften der Spezies das Feh-len von allgemeinen ethologischen Charakteristiken erklären. Solche Thesen werden aber selbst Aussagen über die MN2 sein. So gesehen, zeigt sich z.B. der Existentialismus Sartres nicht als Verleugnung der MN2, sondern als eine extrem monistische Position, der zufolge das ein-zige Merkmal, das das menschliche Leben generell strukturiert, die radi-kal indeterministische Freiheit ist. 10. Bei allen Autoren, die das gänzliche Fehlen einer MN2 behaupten, steht in der Regel mehr auf dem Spiel als die deskriptive Frage, ob all-gemein ethologische Merkmale der menschlichen Lebensform herausge-arbeitet werden können. Auch hier folgt die Diskussion Weichen, die bei

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    Aristoteles gestellt wurden: nämlich durch seine Beimischung einer nor-mativen Komponente in den Begriff des Wesens als eine Bestimmung, die realisiert werden sollte. Diese Konzeption wird im Hinblick auf „den Menschen“ im ergon-Argument der Ethiken entfaltet. Zweifellos ist es ein – verständliches – Motiv von existentialistisch und hermeneutisch argumentierenden Autoren, solche normativen Festlegungen zurückzu-weisen. Es zeugt aber von mangelnder begrifflicher Differenzierung, wenn eine zutreffende Beschreibung der MN2 deswegen als unmöglich gilt, weil man die aristotelische Voraussetzung übernimmt, dass eine solche Deskription normative Implikationen haben muss. Für eine teleo-logische Metaphysik besteht ein solcher Zusammenhang; für die post-darwinsche Philosophie nicht. V. MN3: Interventionslos Gewordenes 1. Vermutlich liegt aber das, was in solchen Fällen an der Rede von der „menschlichen Natur“ Anstoß erregt, in der vagen Unterstellung einer dreifachen Konjunktion: der MN2, deren Normierung und der dritten Aristotelischen Bedeutungsschicht des auf den Menschen angewandten Terminus „Natur“, nämlich der Idee der „Natürlichkeit“ im Gegensatz zur „Künstlichkeit“. 2. Der dritte Begriff der menschlichen Natur, den es hier zu unterscheiden gilt, ist also die auf den Menschen angewandte Konzeption der Natür-lichkeit. Konsequenterweise versucht man die MN3 dadurch zu fassen, dass man zunächst den Begriff der Natürlichkeit, dann ihre Anwendung auf „den Menschen“ expliziert. 3. Im Anschluss an Aristoteles kann man in einem ersten, unproblemati-schen Schritt festhalten, dass die relevante Idee der Natürlichkeit durch den Gegensatz zum Hergestellten zu definieren ist. Die Aristotelische positive Bestimmung der Naturdinge als durch ein internes Prinzip der Bewegung, durch ihren „Zweck“, animiert, können wir aber nicht über-nehmen. Daher bleibt nur noch die Schrumpfposition, mit Mill (1874: 375) das Natürliche negativ als das Nichthergestellte zu bestimmen. Da-durch verlagert sich die Definitionslast gänzlich auf den Begriff des Her-stellens. Mill expliziert den Begriff des Hergestellten als Produkt des Handelns bzw. des „willentlichen“ oder des „absichtlichen“ Handelns von Menschen. Dabei lässt er offen, wie sich willentliches, absichtliches und bloßes Handeln zueinander verhalten.

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    4. Wie auch immer Mill diese handlungstheoretische Frage beantwortet hätte: Keine seiner Bestimmungen reicht zur Klärung aus. Die spezifi-scheren Begriffe sind offensichtlich zu eng: Wo Menschen Umweltver-schmutzung verursachen, ohne es zu merken oder zu wollen, wird das dadurch verschmutzte Stück der Welt nicht natürlicher, als wenn seine Verschmutzung vorsätzlich zustande gekommen wäre. Aber wenn man jede Veränderung durch menschliches Handeln als eine ausschließende Bedingung für die „Natürlichkeit“ des dadurch Zustandegekommenen betrachtet, dann gibt es kaum einen natürlichen Gegenstand auf dieser Erde. Die Gestalt, die die Wüsten und die Meere heute haben, ist, wie die gesamten klimatischen Verhältnisse, von menschlichem Handeln mitver-ursacht. 5. Trotzdem haben wir einen Begriff von „Natürlichkeit“, den wir nicht geneigt sind, solchen Phänomenen abzusprechen. Diese Neigung ist nicht bloß auf Unwissen um das Ausmaß anthropogener Veränderungen zu-rückzuführen. Wir können eine gezielt eingerichtete Parkanlage mit Bäumen, Pflanzen und Gras mitten in der Stadt als ein Stück „Natur“ ansehen, obwohl wir genau wissen, dass sie ohne menschliches Zutun nicht existierte. Anhand solcher Fälle wird nun ein Merkmal des dritten Naturbegriffs deutlich – ein Merkmal, das er mit der MN2, nicht aber der MN1 teilt. „Natur“ in diesem dritten Sinne ist ein gradierbarer Begriff. Vielleicht sind bestimmte Ecken des tropischen Regenwaldes mehr oder weniger so, wie sie gewesen wären, wenn die Evolution den homo sa-piens nicht hervorgebracht hätte. Im Unterschied dazu ist der Schwarz-wald zum großen Teil das Ergebnis gezielter Anpflanzung. Trotzdem ist der Schwarzwald im relevanten Sinne natürlicher als der Potsdamer Platz. Das liegt daran, dass die Gestalt, die die Bäume dort einnehmen, auf wei-te Strecken ohne weitere menschliche Eingriffe zustande kommt. Waldstücke, in denen die Förster gezielt eigene Eingriffe unterlassen, sind in diesem Sinne natürlicher als Waldgebiete, in die sie regelmäßig intervenieren. 6. Bis zu einem gewissen Punkt haben wir, wenn wir uns sachlich infor-mieren, klare und begründbare Intuitionen hinsichtlich der Natürlichkeit einer Sache. Dabei mag es zunächst so aussehen, als ob der Natürlich-keitsgrad quantitativ, nämlich anhand der Anzahl menschlicher Interven-tionen (Wie oft greift der Förster ein?) entscheidbar sei. Aber spätestens seitdem es technisch möglich geworden ist, in die Tiefenstruktur der Entwicklungsanlagen von Entitäten einzugreifen, scheint es intuitiv klar, dass es in dieser Frage qualitativ unterschiedliche Arten von Eingriffen gibt. Der einmalige Eingriff in den genetischen Code einer Pflanze hat, so

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    scheint es, stärkere Konsequenzen für deren Natürlichkeit als ihr regel-mäßiges Gießen. 7. Die Idee eines Eingriffs in die „Tiefenstruktur“ einer Entität lässt sich als den Einbau von Eigenschaften analysieren, die ihren Träger dazu dis-ponieren, andere Eigenschaften zu entwickeln. Die „tiefere“ Ebene ist demnach dadurch ausgezeichnet, dass die ihr zugeordneten Eigenschaften Dispositionsbasen konstituieren. So verstandene Eingriffstiefe beinhaltet also die Installation von zweitstufigen Eigenschaften, d. h. Dispositionen, erststufige – meistens phänotypische – Eigenschaften zu instantiieren. 8. Allerdings ist unklar, ob die intuitive Idee der Eingriffsqualität mit diesem Begriff der Eingriffstiefe identisch ist. Das intuitive Urteil, dass gentechnische Eingriffe eine neue Eingriffsqualität beinhalten, wird ver-mutlich je nach Art und Menge der relevanten erststufigen Eigenschaften in unterschiedlichem Maße zur Anwendung kommen. Bewirkt der geneti-sche Umbau lediglich eine geringe Veränderung in einer erststufigen Eigenschaft, etwa der Farbe einer Gemüsesorte, so wird man nicht unbe-dingt von einem „substantiellen“ Eingriff reden, der das Gemüse beson-ders „unnatürlich“ werden lässt. Sollte allerdings die Farbe leuchtend pink sein, so wären wir viel eher geneigt, von „Unnatürlichkeit“ zu reden. Daran sieht man, dass andere Faktoren bei solchen Urteilen auch eine Rolle spielen, nicht zuletzt die Gewöhnung an die entsprechende Eigen-schaftskonstellation. Wo aber der gentechnische Eingriff Dispositionen installiert, eine hohe Anzahl an erststufigen Merkmalen zu entwickeln, die der Träger sonst nicht besessen hätte, da scheint die Rede von einem substantiellen, „denaturierenden“ Eingriff angemessen. 9. Wenn wir uns nun der MN3 zuwenden, so können wir sie allgemein als das Set von menschlichen Eigenschaften definieren, zu deren Entstehung kein menschliches Handeln kausal beigetragen hat. Diese Definition trägt der Gradierbarkeit des Begriffs dadurch Rechnung, dass sie es erlaubt, einem Menschen geringeren oder höheren Anteil an der MN3 beizumes-sen, je nachdem wie viele seiner Eigenschaften aus einer solchen eingriff-sunabhängigen Genese hervorgehen. In Anbetracht der Möglichkeit von Tiefeneingriffen müssten auch Eigenschaften mitgezählt werden, zu de-ren Instantiierung der Eingriff ihren Träger disponiert, obwohl er sie nicht aktuell besitzt – ein Zusatz, der offensichtlich viele weitere Fragen auf-wirft. 10. Noch bevor wir zu den gentechnologisch eröffneten Dimensionen kommen, bestehen besondere Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses Begriffs der Natur auf „den Menschen“. Die offensichtlichste ist, dass die

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    Zeugung schon eine menschliche Handlung beinhaltet. Ich werde im Folgenden diesen Punkt einfach beiseite lassen, da die Zeugung eine notwendige Bedingung der Entstehung menschlichen Lebens überhaupt ist. Gegebenenfalls könnte man das Problem mit einer Qualifikation in der Bestimmung der MN3 lösen. 11. Danach fangen aber erst die großen, nicht weniger offensichtlichen Schwierigkeiten an. Diese folgen aus der Konjunktion der Begriffsbe-stimmung und eines entwicklungspsychologischen Gemein-platzes: dass das Werden eines jeden Menschen von weiteren Einwirkungen anderer Menschen auf mehrere Weisen massiv abhängig ist. Diese betreffen das nackte Überleben, den Erwerb speziestypischer Fähigkeiten (u.a. die Teilhabe an der MN2) und die Entwicklung eines individuellen psycholo-gischen Profils. Daher ist das Leben eines erwachsenen Menschen in diesem Sinne durch und durch „unnatürlich“. 12. Auch diese Tatsache lässt sich durch die missverständliche Behaup-tung ausdrücken, dass „der Mensch“ „keine Natur“ hat. Im Vergleich mit dem Bestreiten der MN1 und der MN2 ist diese Behauptung aber relativ trivial. Sie besagt nicht viel mehr als, dass Menschen keine „Nestflüch-ter“ wie Pferde oder Giraffen sind, die direkt nach der Geburt mit der Herde mitlaufen können (Portmann 1951: 27), und dass sie auf die Wei-tergabe von erlernbaren Fähigkeiten durch andere Speziesangehörige angewiesen sind. Diese Angewiesenheit auf das Einwirken anderer Men-schen ist wiederum selbst von zentraler Bedeutung für die MN2. Wenn man die verschiedenen Naturbegriffe nicht trennt, lässt sich dieser einfa-che Zusammenhang mit paradoxen, Tiefe suggerierenden Formulierun-gen ausdrücken: „Es gehört“, so könnte jemand sagen, „zur Natur des Menschen, keine Natur zu haben“ (vgl. Plessner 1928: 309ff.). Offen-sichtlich resultiert hier die scheinbare Paradoxie lediglich aus der doppel-deutigen Verwendung des Wortes „Natur“. 13. Nun können Aussagen über das in diesem Sinne „Natürliche“ „am Menschen“ an einer anderen Stelle als auf der allgemeinen Ebene der charakteristischen menschlichen Lebensform ansetzen. Die Idee des ohne Intervention Gewordenen impliziert einen temporalen Bezug und dies muss nicht wie bei der MN2 die gesamte Zeit eines „charakteristischen“ menschlichen Lebens umfassen. Entwirrt man die Fragen nach der MN2 und der MN3, so ist man nicht von vornherein auf die ziemlich witzlose Verneinung von letzterer festgelegt. 14. Ein naheliegender zeitlicher Bezugspunkt für die Frage nach der MN3 ist die Geburt. Menschliche Wesen kommen im Allgemeinen mit einer

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    ganzen Palette an genetischen Anlagen zur Welt. Entsprechend gibt es eine Verwendung des Ausdrucks „menschliche Natur“, die dieses Set an Dispositionen meint. Nennen wir dieses Set die natale MN3. Die „evolu-tionären Psychologen“ Tooby und Cosmides definieren entsprechend die „menschliche Natur“ als die Summe der „universal innate mental proces-ses and developmental mechanisms“, mit denen Menschen zur Welt kommen (Tooby/Cosmides 1990: 23; vgl. Brown 2000: 167). Obwohl es vermutlich falsch ist, dass es sich hierbei um strikt universelle Eigen-schaften handelt, dürfte es trotzdem unkontrovers sein, dass Menschen generell eine so verstandene „Natur“ besitzen. Die Kontroversen entste-hen in der Regel da, wo behauptet oder angenommen wird, dass bestimm-te Inhalte der natalen MN3 die Gestalt der MN2 festlegen. 15. In dieser Frage repräsentieren evolutionäre Psychologie und Sartre-scher Existentialismus polar konträre Positionen. Für Sartre verhindert die indeterministische Freiheit nicht nur, dass die menschliche Lebens-form charakteristische strukturelle Eigenschaften aufweist, sondern vor allem, dass die den Speziesangehörigen „von Natur aus“ mitgegebenen Dispositionen determinieren, wie sie ihr Leben jeweils führen. Evolutio-näre Psychologen hingegen nehmen an, dass es ein starkes Determinati-onsverhältnis zwischen der MN3 und der MN2 gibt. Gerade für sie wäre es aber zweckmäßig, diese kausale These von der Behauptung zu unter-scheiden, dass die dafür entscheidenden Dispositionen genetisch mitge-liefert werden. Wo dies nicht getan wird, wird in Disputen schnell auf der Allgemeinheitsebene von „Welt-“ oder „Menschenbildern“ gestritten, anstatt über spezifische Thesen zu diskutieren. 16. Nun ist es spätestens seit der Entwicklung der Gentechnologie nicht mehr selbstverständlich, dass die genetisch verankerten Dispositionen, die ein Mensch zum Zeitpunkt der Geburt hat, ohne Eingriffe entstanden sein müssen. Gemäß der in VI.9 gegebenen Definition der MN3 büßen Neugeborene als Folge pränataler genetischer Eingriffe etwas an ihrer natalen MN3 ein. Wie bei der „externen“ Natur können Tiefeneingriffe, die die Veränderung einer hohen Anzahl an erststufigen Eigenschaften zur Folge haben, als stark „denaturierend“ gelten. Aber auch hier dürfte mit der Zeit Gewöhnung Veränderungen in Urteilen darüber bewirken, inwie-weit ein genetischer Eingriff als substantiell anzusehen ist. Die Gewöhnung an die Technologie der In-Vitro-Fertilisation liefert hier einen Vergleichsfall. Klar dürfte aber auch sein, dass Interventionen, deren Folgen Abweichungen von der MN2 mit sich bringen, als substan-tiell gelten würden.

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    17. Die MN3 ist also das Set an Eigenschaften „am Menschen“, deren Zustandekommen keine kausale Folge früherer menschlicher Handlungen ist. Spezifizierungen dieses generischen Begriffs kommen dadurch zu-stande, dass die Rede „vom Menschen“ spezifiziert wird. Gemeint kann dabei, erstens, die charakteristische menschliche Lebensform insgesamt sein. So verstanden hat „der Mensch“ keine MN3. „Der“ betroffene „Mensch“ kann auch, zweitens, das Abstraktum sein, das die meisten Menschen bei der Geburt umfasst. „Der“ so aufgefasste „Mensch“ hat sehr wohl eine MN3, und zwar eine, die empirisch erforschbar ist. 18. Ein dritter Gehalt der Rede „vom Menschen“ ist das je konkrete menschliche Individuum. Gemeint können demnach die interventionslos gewordenen Dispositionen sein, mit denen einzelne Speziesangehörige zur Welt kommen. Hier hat die Rede von „der menschlichen Natur“ keine Implikationen hinsichtlich dessen, wie viele weitere Menschen Träger dieser genetischen Eigenschaften sind. Die Entfernung von gesundheits-gefährdendem genetischem Material, mit dem bestimmte Individuen zur Welt kommen, lässt sich nur dann als Eingriff in „die menschliche Natur“ charakterisieren, wenn dabei nicht vorausgesetzt wird, dass hierzu nur Eigenschaften gehören, die alle menschlichen Neugeborenen besitzen. Beispielsweise scheint die von van den Daele (1987) und Habermas (2001) verwendete Rede von „der menschlichen Natur“ als dem Gegens-tand medizinischer, aber auch „liberal eugenischer“ Eingriffe keine uni-versellen Implikationen zu haben. VI. Normative Ansatzpunkte 1. Bis jetzt habe ich dafür plädiert, die drei deskriptiven Begriffe der „menschlichen Natur“ stringent auseinander zu halten. Es gibt, wie wir gesehen haben (V.11-13; V. 14-15; V.16), Stellen, an denen es mehr oder weniger plausibel erscheint, dass zwischen ihnen kausale Relationen oder Begründungsbeziehungen bestehen. Diese lassen sich aber nur dann dis-kutieren, wenn klar ist, dass die fraglichen Beziehungen zwischen zwei voneinander unabhängigen Relata bestehen. In einem letzten Schritt möchte ich nun die Frage nach der normativen Relevanz der drei deskrip-tiven Begriffe kurz diskutieren. 2. Zuerst zur MN1: Debatten über den Begriff der Spezies finden in erster Linie im Rahmen der Biologie und deren Wissenschaftstheorie statt – weit entfernt von ethischen Diskussionen. An manchen Stellen werden aber aus den Erkenntnissen in der Frage nach den Bedingungen der Spe-

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    zieszugehörigkeit Schlüsse gezogen, die, wenn nicht selbst normativ, doch als normrelevant erscheinen. 3. Ronald de Sousa argumentiert ausgehend von der evolutions-theoretischen Zurückweisung der MN1* folgendermaßen: „cite any cha-racter you like, and I´ll find you some member of the species who lacks it. But not a normal member of the species! You´ll say: quite, so what we have are not universal characters, but normative ones: what you must mean by ,universal‘ is not that everyone shares it but that everyone ought to share it“ (2000a: 315f.). Solche durch die Biologie ungedeckten nor-mativen Kriterien kommen, so de Sousa weiter, höchstens in Kontexten des Ausschlusses zum Tragen. Da diese Kriterien sowohl unwissen-schaftlich als auch moralisch dubios sind, sollten wir, durch die Evoluti-onsbiologie belehrt, auch außerhalb biologischer Diskussionen auf jede Rede von der menschlichen Natur verzichten. 4. In dieser Argumentation geht de Sousa davon aus, dass die Nichtexis-tenz der MN1* das Projekt einer Beschreibung der MN2 unrealisierbar macht. Dabei nimmt er an, dass es zur Benennung von strikt universell besessenen Eigenschaften nur die Alternative gibt, dass die genannten Bedingungen normative sind. Das ist aber falsch. Die Beschreibung der MN2 zielt darauf ab, Merkmale herauszuarbeiten, die in dem Sinne be-deutsam sind, dass sie für die Lebensweise (einer bestimmten evolutionä-ren Phase) der Spezies prägend sind. Diese strukturellen Eigenschaften beeinflussen in besonderem Maße die Gestalt, die die anderen Merkmale der Speziesangehörigen annehmen. Welche dieser Eigenschaften wertvoll sind, wie wertvoll sie sind und welche Maßnahmen gegebenenfalls zu ergreifen sind, wo sie fehlen, ist auf dieser ersten deskriptiven Ebene vollkommen offen. Das ethologische Projekt der Beschreibung der MN2 ist mit der Annahme vollkommen vereinbar, dass die charakteristische menschliche Lebensform „pervasive and characteristic bad habits“ (Midgley 2000: 57) aufweist. 5. Auch David Hull sieht die Ablehnung einer MN1* als moraltheoretisch signifikant an. Hull betont, dass aus evolutionsbiologischer Sicht die uni-verselle Verteilung von irgendwelchen Eigenschaften unter Exemplaren von homo sapiens rein kontingent wäre. Er fährt fort: „I for one would be extremely uneasy to base something as important as human rights on such temporary contingencies“ (1986: 4). 6. Aber auch hier werden die Ebenen vermischt. Zweifellos sind alle menschlichen Eigenschaften aus der zeitlosen Perspektive der Evoluti-onsbiologie bloß vorübergehende Erscheinungen. Aber aus dieser Per-

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    spektive ist auch die Spezies selbst nur ein temporärer Akteur. Daraus folgt, wenn man nicht radikaler metaethischer Objektivist ist, dass auch Rechte, inklusive Menschenrechte, in dieser Perspektive vorübergehend sind. Rechte entstehen erst innerhalb der – evolutionär begrenzten – menschlichen Lebensform, der MN2. Dabei entstehen sie nicht bloß, weil die biologische Art Mensch existiert, sondern weil Speziesangehörige Träger spezifischer Eigenschaften sind. Und wenn es, schließlich, nicht zur MN2 gehörte, dass die daran teilhabenden Individuen durch Schmerz-erfahrung und Demütigung gefährdet wären, dann gäbe es gar keinen Anhaltspunkt für den Begriff des Menschenrechts: Divergierten Men-schen so stark von einander, dass ihnen gar keine Dispositionen gemein-sam wären, die geteilte Formen der Schutzbedürftigkeit erklärten, dann wäre die Idee der Menschenrechte sicherlich nie entstanden. 7. Außerhalb von Diskussionen mit Vertretern einer von Gott gegebenen, zeitlosen Bestimmung des Menschen erweist sich also die Nichtexistenz der MN1* als normativ irrelevant. Zur MN2 hingegen gehören Merkmale, die durchaus normativ bedeutsam sind. Bemerkenswert ist, dass diese normative Relevanz, wie bei den gerade genannten dispositionellen Merkmalen, in einer bei allen Menschen voraussetzbaren negativen Be-wertung ihrer Aktivierung gründen kann. Eine in der MN2 „anthropolo-gisch“ fundierte Moral ist keineswegs darauf festgelegt, den Fokus auf Eigenschaften zu legen, die besonders positiv bewertet werden. 8. Die Mehrschichtigkeit der MN2 spricht im Übrigen auch gegen die Vorstellung, dass eine plausible Moral die Beachtung lediglich einer solchen Eigenschaft fordert. Eine solche Reduktion steckt beispielsweise in der Kantischen Aufforderung zur Beachtung der „Menschheit in der Person“, die je nach Interpretation in „Vernunft“, verstanden als Reflexi-onsfähigkeit (Korsgaard 1996: 116-122), oder in Freiheit (Guyer 1993: 68-75) besteht. 9. Aus postaristotelischer Sicht dürfte es ferner klar sein, dass die MN2 keine „intrinsisch normativen“ Eigenschaften enthält. Eine aufgeklärte universalistische Moral kann heute nur bestimmte dispositionelle Eigen-schaften herausgreifen, die das charakteristische Leben von Speziesange-hörigen im jetzigen Evolutionsabschnitt prägen, und fordern, dass deren Beachtung dem Umgang mit ihren Trägern Schranken setzt. Dass solche Regelungen gefordert sind, ist keine Implikation des Inhalts der MN2. Diese Forderungskomponente lässt sich nur mit der Hilfe zusätzlicher, normativer Prämissen generieren. Was aber zu beachten ist, wenn diese Prämissen gegeben sind, hängt in beträchtlichem Maße von der Struktur der MN2 ab.

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    10. Schließlich werfen die neuen medizinischen Technologien, die ein Schrumpfen, im Extremfall: die Abschaffung der natalen MN3 möglich erscheinen lassen, normative Fragen auf, die sowohl die MN2 als auch die MN1 betreffen. Wenn Eingriffe in das menschliche Genom, etwa in die Keimbahn, eine bestimmte Stufe erreichen würden, dann hätten wir mit grundsätzlichen Veränderungen in der Struktur der charakteristischen menschlichen Lebensform zu rechnen. Solche Veränderungen kämen künstlich erzeugten Mutationen gleich, deren Träger möglicherweise das Potential hätten, als „Gründerpopulation“ einer neuen Spezies zu fungie-ren. Damit würde nicht nur eine Wandlung der MN2, sondern auch eine Spaltung, möglicherweise das Aussterben der Trägergruppe der MN1 eintreten. 11. Diese Szenarien sind für die moralische Perspektive leicht schwindel-erregend, da sie nicht nur präzedenzlose Möglichkeiten innerhalb unserer Moral, sondern auch den Wegfall ihrer konstitutiven Bedingungen in Aussicht stellen. Fielen bei allen „Menschen“, etwa als unbeabsichtigte Nebenfolge irgendwelcher Interventionen, die mentalen Kapazitäten weg, die den wertenden Bezug zur Welt erst konstituieren, so ginge jede Moral zu Ende. Entstünden als Ergebnis erfolgreicher Züchtung postmenschli-che Wesen, die kaum noch versehrbar wären, so wären sie gar nicht mehr auf den Schutz der Moral angewiesen und möglicherweise nicht mehr in eine moralische Lebensform einzubinden. 12. Es ist wenigstens metaphysisch möglich, dass solche Extremszenarien am Ende von Entwicklungen stehen könnten, die mit der „Denaturierung“ (im Sinne der MN3) des menschlichen Erbguts, d. h. seiner substantiellen technischen Umbildung, anfangen. Die Fragen der heutigen Medizinethik betreffen aber in erster Linie kleinere Schritte, die kaum Anlass zur Ü-berzeugung geben, dass sie dahin führen müssen. Die Schritte, um die es geht, sind Interventionen in das menschliche Werden, die Gradierungen von „Unnatürlichkeit“ mit sich bringen. Es dürfte aber klar sein, dass solche Unnatürlichkeit, d. h. Interferenz in das menschliche Werden, nicht das Problem ist. Das Wesen der Medizin ist das Eingreifen in lau-fende Prozesse des Werdens, und da, wo es ihr gelingt, die physiologi-schen Bedingungen des Wohlbefindens der Patienten wiederherzustellen, hegt kaum jemand Zweifel an der moralischen Zulässigkeit des Eingrei-fens. 13. Auch Habermas, der zuletzt medizinethische Fragen unter der hoch abstrakten Perspektive der „Zukunft der menschlichen Natur“ diskutiert hat und dabei auf moralische Gefahren in der Verschiebung der Grenze

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    zwischen „Gewachsenem“ und „Gemachtem“ hinweist, sieht das Prob-lem nicht in dieser Verschiebung selbst. Für Habermas problematisch sind in erster Linie diejenigen pränatalen Interventionen, die nicht unter dem Vorzeichen der präsumptiven Zustimmungsfähigkeit der Betroffe-nen vorgenommen werden (2001: 90ff.). Hier trägt die Idee der „Natür-lichkeit“ im Sinne der MN3 kein eigenständiges normatives Gewicht. Allerdings ist das diskurstheoretisch gewendete Menschheitskriterium Kants in vielen Fragen der Medizinethik genauso nutzlos. Die Frage nach der moralischen Qualität des „unnatürlichen“ Umgangs mit extrauterin erzeugten Embryonen lässt sich durch Überlegungen zur Zustimmungs-fähigkeit nicht lösen, höchstens präjudizieren: Wenn die potentiellen Personen zustimmen können müssten, die aus den zu zerstörenden Emb-ryonen hervorgehen könnten, dann wäre die wesentliche Frage über den moralischen Status der Embryonen schon beantwortet – noch bevor man überlegt hätte, was die aus ihnen hervorgehenden Personen vielleicht sagen würden. Die entscheidende Frage, wann Zustimmung von welchen Entitäten normativ relevant wäre, ist nicht Kantisch zu beantworten. 14. Als Beispiel für einen Autor, der der MN3 selbst normatives Gewicht beimessen möchte, kann Ludwig Siep (1996: 297f.; 1996a: 242ff.) gelten. In seinem Kommentar zu Habermas weist Siep einerseits zu Recht auf die Unbrauchbarkeit des Kantischen Kriteriums für viele medizinethische Fragen hin. Andererseits macht er den Vorschlag, eine anthropologische Ethik zu entwickeln, innerhalb derer sowohl „die Zufälligkeit der Evolu-tion“ als auch „der anthropologische Zustand der Unvollkommenheit, Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit“ positiv bewertet und als zu be-wahren betrachtet werden sollen (Siep 2002: 114ff.). 15. Wollte man den ersten Punkt wörtlich nehmen, so beinhaltete er eine moralische Bejahung der Nichtexistenz einer MN1*. Demnach müssten wir einen positiven Wert darin sehen, dass Mutationen essentiell zur Spe-zies gehören: dass Menschen mit verschiedenen Augenfarben, aber auch mit zusammengewachsenen Köpfen oder ohne Arme zur Welt kommen können. Konsequenterweise sollten wir auch das eines Tages vorpro-grammierte Ende der Spezies begrüßen. 16. Das wäre genauso merkwürdig wie die Vorstellung, dass wir deswe-gen keine Optimierung unserer genetischen Ausstattung anstreben soll-ten, weil unsere Versehrbarkeit etwas intrinsisch Wertvolles sei. Diese zweite These greift gerade diejenigen dispositionellen Merkmale der MN2 auf, die Bedingungen einer universalistischen Moral sind – nämlich unsere physischen und psychischen Verletzbarkeiten (VI.6-7). Siep zu-folge sollen diese Bedingungen der Moral eine positive Bewertung ver-

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    dienen, nicht weil sie diesen Status als Bedingungen haben (vgl. Siep 2002: Anm. 7), sondern weil sie „natürlich“ im Sinne der MN3 sind. 17. Das ist aber vollkommen unplausibel. Wir tun in der Tat gut daran, kein Projekt der vollkommenen Optimierung der Gattung, oder auch von Teilen derselben, zu lancieren. Das hat aber verschiedene, verzweigte Gründe, die sich zum Teil in Kantische Form gießen lassen, zum Teil mit Konsequenzen in anderen Wertbereichen zu tun haben. Die Rede von unserer „Verletzbarkeit“ fasst verschiedene Dispositionen zusammen, die zum Kern der Konstellation MN2 gehören: die Dispositionen zur Schmerzempfindung und zur emotionalen Erfahrung ebenso wie die Zer-brechlichkeit unserer Körperteile im wörtlichen Sinne. Streichen wir un-sere allgemeine Schmerzempfindlichkeit, so streichen wir wohl auch die Fähigkeit, Lust zu empfinden. Schmerzen sind ferner bekanntlich oft Warnzeichen, dass der Körper angegriffen wird. Und unsere Emotionali-tät ist plausiblerweise eine zentrale mentale Bedingung eines als sinnvoll erfahrenen Lebens. 18. Hier wie sonst sind die erreichbaren Ziele bei der Bekämpfung ein-zelner, mehr oder weniger „natürlich“ entstehender Probleme gegen ihre nachteiligen Konsequenzen abzuwägen. Ob die Probleme die direkten oder indirekten Folgen menschlichen Einwirkens sind oder ob sie ohne menschliches Handeln entstanden wären, ist meistens irrelevant. Selbst-verständlich sollten wir den möglichen langfristigen Auswirkungen unse-res Handelns gerade in schwer überschaubaren Kausal-zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit widmen. Die enormen Schwierigkeiten, in diesem Punkt Klarheit zu erlangen, mahnen im Bereich der Gentechnolo-gie zu besonderer Vorsicht. Diese Unüberschaubarkeit hängt wiederum damit zusammen, dass die Vorgänge, in die eingegriffen werden sollte, nicht von uns gemacht sind. Aus diesem Grunde sollte die „Natürlich-keit“ der menschlichen Natur im Sinne der MN3 in der Tat als eine Bar-riere angesehen werden, die man nicht leichtfertig überqueren sollte. 19. Die Tatsache, dass eine Eigenschaft zur MN3 gehört, ist aber für sich genommen normativ irrelevant. Dass es die MN1* nicht gibt, hat eben-falls keine normativen Konsequenzen. Von normativer Bedeutung ist nur die MN2, und dies auch nur unter bestimmten Bedingungen: Eine plau-sible universalistische Moral kann nicht umhin, die Beachtung von struk-turellen Eigenschaften der charakteristischen menschlichen Lebensform zu fordern. Worin „Beachtung“ hier besteht und warum die Forderungen bestehen, kann aber keine Theorie der menschlichen Natur beantworten. Das sind Fragen der normativen Moraltheorie.

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