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Health Inequality Ein Thema für Ärzte, Pflegepersonal und Netzwerke in Gesundheit und Grundbildung Vortrag von Marion Döbert, VHS Bielefeld, im Rahmen des Transferworkshops ALPHA-POWER im Gesundheitswesen Gesundheit und Grundbildung 7. März 2012 Klagenfurt, Österreich 1

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Health Inequality

Ein Thema für Ärzte, Pflegepersonal und Netzwerke in Gesundheit und Grundbildung

Vortrag von Marion Döbert, VHS Bielefeld, im Rahmen des Transferworkshops

ALPHA-POWER im Gesundheitswesen Gesundheit und Grundbildung

7. März 2012Klagenfurt, Österreich

Das Projekt ALPHA-POWER im Gesundheitswesen wird gefördert aus Mitteln des Fonds Gesundes Österreich und des Landes Kärnten

Sehr geehrter Damen und Herren,

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ich freue mich sehr, dass wir im Rahmen Ihres Projektes ALPHA-POWER unsere Erfahrungen aus dem Bielefelder VHS-Projekt „Alphabetisierung-Grundbildung-Gesundheit“ einbringen dürfen.

Unser Fokus lag auf der Stärkung von Health Literacy durch Unterricht für die Zielgruppe. Ihr Fokus liegt auf Stärkung von Health Literacy für die Zielgruppe durch Schulung der Health Professionals. Das ergänzt sich m.E. hervorragend.

Ich möchte nun an den Vortrag des Gesundheitswissenschaftlers Markus Anders anschließen, um den Bezug zur Lebenswelt von funktionalen Analphabeten herzustellen und –daraus ableitend – Vorschläge und Ideen für Ihr Projekt ALPHA-POWER zu entwickeln.

Menschen ohne Schrift sind gesundheitlich benachteiligt, weil sie nicht lesen und schreiben können. Herr Anders hat aufgezeigt, dass sie deshalb kaum die Ebene der funktionalen Health Literacy erreichen.

Aber Menschen ohne Schrift sind darüber hinaus grundsätzlich gesundheitlich benachteiligt, weil sie in ökonomischer, kultureller und sozialer Armut leben.

Im Zusammenhang mit den Studien zu sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen hat sich international der Begriff der „Health Inequality“ durchgesetzt.

Ich möchte im Folgenden aufzeigen, dass funktionaler Analphabetismus brisante Schnittstellen zu fast allen Lebens- und Handlungsbereichen in unserer Gesellschaft hat und dass dieses Wirkgefüge seinerseits zu starken gesundheitlichen Belastungen beitragen und den Zugang zu Gesundheitsressourcen versperren.

Handlungsfeld Gesundheit

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Herr Anders hat bereits eindrücklich dargestellt, wie sich soziale Benachteiligung auf den Gesundheitsstatus und Health Literacy auswirkt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Studien aufgreifen, die sich speziell mit den Auswirkungen eines geringen oder hohen Literacy-Levels auf sämtliche Lebensbereiche befassen:

In der Studie „Literacy Changes lives: An advocacy resource“ aus dem Jahr 2008 wurden die Daten von Langzeitstudien (Kohorten) ausgewertet: die National Child Development Study (NCDS), die seit 1958 und die British Cohort Study, die seit 1970 läuft (BCS70). Auch Erkenntnisse anderer Untersuchungen (z.B. aus Schottland) wurden berücksichtigt. Die Studie befasst sich mit den Auswirkungen von Literalität bzw. nicht ausreichender Literalität auf die verschiedenen Lebensbereiche und damit auch auf den Bereich der Gesundheit.

Die niederländische Studie „Stil vermogen“ befasst sich wie die britische Studie „Literacy changes lives“ mit den Auswirkungen von Literalität bzw. nicht ausreichender Literalität auf nahezu alle gesellschaftlichen Handlungsfelder, und ebenfalls auch auf die Gesundheit.

In allen Untersuchungen gibt es die klare Aussage:Ein niedriger Sozial- und damit auch Bildungsstatus geht einher mit einem schlechteren Gesundheitsstatus.

Einige Ergebnisse:

Kinder aus armen Familien haben bereits vor der Einschulung eher Entwicklungsverzögerungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen.

Ein niedriger Sozialstatus – und damit ein Leben in relativer Armut – ist verbunden mit starken gesundheitlichen Belastungen und einem gesundheitsriskanteren Verhalten.

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Insbesondere Arbeitslosigkeit wirkt beeinträchtigend auf Gesundheit, Lebensqualität und zu erwartende Lebenszeit.

In der Amsterdamer Studie „Stil vermogen“ wurden 22 verschiedene Krankheiten mit verschiedenen Kompetenzleveln im Lesen in Beziehung gesetzt.

Insgesamt wurde festgestellt, dass niedrige Schriftsprachkompetenz statistisch signifikant verbunden ist mit dem häufigeren Auftreten von Asthma, chronischer Bronchitis, Krebs, Herzinfarkt, Herzgefäß-Erkrankungen, Gefäßverengung, Schlaganfall, Erkrankungen von Nieren, Galle und Leber, Gelenkerkrankungen, Diabetes, Rücken- und Armbeschwerden, Migräne, Epilepsie und psychischen Problemen.

In der Amsterdamer Studie zeigt sich, dass ein hohes schriftsprachliches Kompetenz-Niveau grundsätzlich einhergeht mit einem besseren Gesundheitsstatus. Förderung von Schriftsprachlichkeit hätte somit einen direkten Einfluss auf das geringere Auftreten von Krankheiten und auf einen allgemeinen guten Gesundheitszustand.

Handlungsfeld Familie/ Erziehung/ PartnerschaftDie Studien „Stil vermogen“ und „Literacy changes lives“ beziehen sich auch auf das Handlungsfeld Familie/ Erziehung/ Partnerschaft. Einige Ergebnisse:

Wer in der Schule Lernen nicht mochte, entwickelt Antipathie gegen Lernen schlechthin und beteiligt sich eher nicht an Weiterbildung. Geringer Literalitätsgrad geht einher mit mangelnder oder gänzlich fehlender Motivation zu Qualifizierung und beruflichem Aufstieg.

Eltern mit geringen Kompetenzleveln im Schriftsprachlichen und Rechnen erwarten von ihren Kindern, dass sie frühstmöglich die Schule verlassen, was sich widerspiegelt in den untersuchten 16-Jährigen, die so schnell wie möglich die Schule verlassen wollen.

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Personen mit geringem Literalitätslevel leben eher allein und ohne Kinder. Isolation und geringer Kontakt sind die Folge.

Junge Frauen mit geringem Level tendieren dagegen dazu, sehr früh zu heiraten und früh mehr als 3 oder 4 Kinder zu bekommen.

Ehescheidungen kommen sehr viel häufiger vor als bei Personen mit hohem Literalitätslevel.

Leben in beengten Wohnverhältnissen ohne Zugang zu technologischer Ausstattung steht in engem Zusammenhang zu geringer Qualifikation.

Bei einem niedrigen Level sind eher beide Partner arbeitslos.

Die Menschen also, die am ehesten Bildung bräuchten, um ihr Leben verbessern und erleichtern zu können, die am ehesten ihre Kinder unterstützen müssten und die am ehesten Wohnraum für viele Kinder nötig hätten, haben gerade dies alles nicht.

Von dem internationalen Kinderhilfswerk World Vision wurden Kinderstudien in Auftrag gegeben, um die Lebenswelten von Kindern aus der Sicht der Kinder selber heraus zu erheben. Dazu wurden deutschlandweit (z.B. in der Studie von 2007) fast 1600 Kinder zwischen acht und elf Jahren befragt.

Die Forscher Hurrelmann und Andresen von der Universität Bielefeld haben in den zwei bislang erschienenen Kinderstudien von 2007 und 2010 aufgezeigt, dass vor allem (relative) Armut eine zentrale Ursache von Chancenlosigkeit ist. Dabei umfasst Armut drei Bereiche: ökonomische, kulturelle und soziale Armut (Hurrelmann/ Andresen, 2007 und 2010)

Die World Vision Studie weist nach, dass Kinder aus der unteren sozialen Schicht eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen haben und dies auch genau so erleben.

Gründe sind: Fehlende finanzielle Ressourcen im Elternhaus bis hin zur Armut

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Überforderung und Streit in der Familie durch eben diese finanziellen Probleme

fehlendes (kreatives) Anregungsmilieu in der Familie fehlende individuelle Förderung in Kindergarten und Schule Nichterreichbarkeit oder fehlende Zugänglichkeit von Vereinen und

Freizeiteinrichtungen Verlagerung der Freizeitaktivitäten auf Fernseh- und Medienkonsum,

damit verbunden geringere Einbindung in Gruppenaktivitäten und Isolierung sowie geringere Leseaktivität. Insbesondere Jungen sind hier besonders betroffen.

Kinder aus benachteiligten Familien sagen aus, dass sie zu wenig Zuwendung bekommen und zwar nicht wegen der Berufstätigkeit von Eltern, sondern - im Gegenteil- aufgrund der Sorgen und Belastungen die mit Arbeitslosigkeit oder unzureichender Integration in den Arbeitsmarkt verbunden sind.

Kinder aus unteren Schichten fühlen sich weniger wert geschätzt, und sie schätzen ihre Selbstwirksamkeit geringer ein.

Kinder aus unteren Schichten haben ein geringeres Bildungsbestreben. Abitur als zukünftiger Schulabschluss erscheint ihnen schon in diesem Alter als abwegig. Teilhabe an Bildung spielt - wie im Elternhaus selbst - keine Rolle.

Stellen wir dem nun Äußerungen aus Stress-Clustern von erwachsenen Lernerinnen und Lernern aus unseren Alphabetisierungskursen in Bielefeld gegenüber:

Mein Mann und ich streiten immer wegen der Kinder. Mein Mann und ich streiten immer ums Geld. Ich habe keine Partnerin und fühle mich einsam. Ich lerne auch

niemanden kennen – die halten mich ja doch alle für blöd, weil ich nicht richtig lesen und schreiben kann.

Mein Kind hat Schulprobleme und ich kann nicht helfen.

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Ich habe einen Kreditvertrag für meinen Partner unterschrieben und wusste gar nicht, was ich unterschreibe. Jetzt zahle ich schon seit Jahren die Schulden ab.

Ich habe immer nur befristete Verträge. Man weiß nie, wie das Leben weitergeht.

Seitdem ich arbeitslos bin, habe ich kein Geld mehr, ich kann mit meinen Freunden und meinen ehemaligen Arbeitskollegen nicht mehr mithalten, nicht mehr ins Kino, in die Disko oder ins Café gehen.

Ich habe seit ich arbeitslos bin, keinen Kontakt mehr zu meinen Kollegen – ich habe ja auch nichts mehr zu erzählen, in meinem Leben passiert gar nichts mehr.

Sie sehen, meine Damen und Herren, dass die Erfahrungen der Kinder aus den World-Vision-Studien sich spiegelbildlich in einem sich stets wiederholenden Zirkel im Erwachsenenalter und wiederum bei den eigenen Kindern wiederfinden.

Ökonomische, soziale und kulturelle Armut mindern nicht nur die Bildungschancen des Kindes, sondern die Chancen in sämtlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, also die Lebenschancen insgesamt bis ins Erwachsenenalter hinein.

Handlungsfeld Arbeit/ Ökonomie

Die Studie „Literacy Changes lives: An advocacy resource“ stellt zu diesem Handlungsfeld fest:

Geringe schriftsprachliche Kompetenz geht einher mit sehr großer Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu sein oder zu werden:

22% der Männer und 30% der Frauen unterhalb des Eingangslevel 2 leben in Arbeitslosen-Haushalten.

Auch wenn Arbeit in sehr jungen Jahren gefunden werden konnte, tritt bei niedrigem Literalitätslevel Arbeitslosigkeit im Alter von ca. 23 Jahren ein.

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Geringes mathematisches/ rechnerisches Vermögen hat sogar noch einen stärkeren Einfluss auf diese Zusammenhänge.

Männer und Frauen unter Literalitätslevel 1 arbeiten am Arbeitsplatz seltener am PC und sind seltener vollbeschäftigt.

Geringer Alphabetisierungsgrad heißt also: eher arbeitslos eher geringes Lohnniveau eher prekäre Arbeitsverhältnisse eher gesundheitsbelastende Arbeitsplätze weniger Chancen auf Beförderung geringe berufliche Aufstiegsbestrebungen.

Die Studie weist aber auch nach, dass bereits eine geringfügige Steigerung von Numeracy und Literacy signifikante positive Auswirkungen auf Beschäftigung und Lohnhöhe hat. Die Wahrscheinlichkeit, vom Wohlfahrtssystem abhängig zu sein, sinkt von 19% auf 6%.

Jedes Jahr dokumentiert die OECD, dass Investitionen in Bildung zu beachtlichen gesellschaftlichen Gewinnen führen:

durch wesentlich höhere Steuereinnahmen durch längeren Verbleib in der Erwerbstätigkeit und damit längeren

Arbeitskräfteerhalt durch Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit durch höhere Einkommen und durch einen verbesserten Gesundheitsstatus in der Gesellschaft!

Justiz/ Kriminalität Jugendliche und Erwachsene mit unzulänglicher Grundbildung im Lesen, Schreiben, Rechnen stehen leichter in der Gefahr, juristisch »abzurutschen«. Ursachen dafür sind beispielsweise der Verzicht auf Versicherungen, um nichts Falsches zu unterschreiben; starke Verschuldung, weil Kaufverträge (wie z.B. Handyverträge) oder

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Nutzungsbedingungen (im Internet) nicht gelesen werden können oder weil andere dazu drängen, Kreditverträge zu unterschreiben; keine Reaktion auf Mahnschreiben, da sie nicht gelesen werden können; Verlust an wichtigen Papieren wie Rentenbescheide, Miet- oder Arbeitsverträge, Unterlagen über Schulbesuche u.a.; Verpassen von wichtigen Terminen, zu denen schriftlich eingeladen wurde wie z.B. zur ARGE; aggressives Verhalten in der Partnerschaft oder gegenüber den Kindern, weil die Geldsorgen und juristischen Probleme zu immer mehr Druck in den Beziehungen führen.

Die niederländische Studie „Stil vermogen“ hat festgestellt:

Befragte mit höherem Schriftsprachniveau (und damit auch Bildungsniveau) geben kriminelle Taten zu wie schwarz Auto fahren oder Steuer-, Renten und Versicherungsbetrug. Auch Diebstähle in Geschäften und am Arbeitsplatz werden von Personen mit höherem Schriftsprachniveau zugegeben.

Personen mit geringem Schriftsprachniveau benennen dagegen wesentlich häufiger eigene Beteiligung an Bedrohung, Misshandlung und Körperverletzung anderer.

Die Studie weist darauf hin, dass Investitionen in höhere Schriftsprachkompetenz (und damit verbunden höheren Bildungsgrad) ein wirksames Mittel wären, um schweren kriminellen Delikten vorzubeugen.

Menschen – vor allem auch Jugendliche – , die sich abgehängt fühlen von der Gemeinschaft, denen die Ressourcen fehlen, teilhaben zu können, die kein Vertrauen in sich und die Gesellschaft haben, die kein Lebensglück erfahren, sie ziehen sich zurück in die Isolation oder in Subkulturen, in Alkohol oder Drogen, oder in eine Welt der Verachtung und Aggressivität

Soziale Kohäsion/ Zivilbürgerliches Engagement/ Politikbeteiligung

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Die britische Längsschnittstudie „Literacy changes Lives“ zeigt genauso wie die Studie „Stil vermogen“ auf, dass Schriftsprachniveau und soziale Kohäsion in einem engen Verhältnis zueinander stehen.

Personen mit geringem Literalitätslevel berichten sehr viel häufiger, sich absolut gar nicht für Politik zu interessieren. Dies drückt sich auch in geringer bis gar keiner Beteiligung an Wahlen aus.

Menschen mit niedrigem Schriftlevel begegnen den anderen Menschen in ihrem sozialen Umfeld voller Misstrauen.

Und Menschen mit geringem Schriftlevel sind wesentlich seltener Mitglieder in Organisationen und Vereinen.

Wie drückte es ein Lerner im Stresscluster aus:„Ich nehme am Leben nicht mehr teil.“

Fehlende Grundbildungsförderung in Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit – und ich möchte hinzufügen auch im Alter – führt offensichtlich dazu, dass Menschen nicht mehr teilhaben an der Gesellschaft und dass die Gesellschaft nicht mehr auf diese Menschen zählen kann.

Handlungsfeld Kultur Gerade in Gegenden/ Sozialräumen, in denen strukturelle Arbeitslosigkeit herrscht, in denen man sich auf ein Leben ohne Arbeit einstellen muss, wo Altersarmut und Isolation sich ballen oder in denen engflächig verschiedene Kulturen unter benachteiligten Bedingungen zusammenleben, spielt kulturelle Bildung eine besondere Rolle. Über Medien- und kulturelle Kompetenz werden Selbstwirksamkeit, Teilhabe, sinnerfülltes Altern und interkulturelle Akzeptanz ermöglicht. Dies ist besonders wichtig für Menschen, die in ihrer Biografie kaum Möglichkeiten zur Entwicklung von vitalen kreativen Ressourcen hatten. Ohne Türöffner werden sie jedoch nicht am kulturellen Leben teilhaben.

Folgerungen

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In nahezu allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern sind funktionale Analphabeten sozial benachteiligt. Nahezu alle Lebensbereiche, in denen sie sich bewegen, sind dadurch belastend und krankmachend.

Hinzu kommt ein weiteres gesundheitliches Dauerrisiko: Sie leben ein Leben in Angst und Abhängigkeit!

Unabhängig von den jeweiligen schriftsprachlichen Kompetenzleveln haben die Betroffenen

Angst vor schriftsprachlichen Anforderungssituationen Angst vor Decouvrierung und damit verbundener sozialer Stigmati-

sierung und sie fühlen sich stets abhängig z.B. von der eingeweihten

Vertrauensperson.

Dies führt zu bestimmten „Überlebensstrategien“: Vermeidung von Schriftsprachsituationen und dadurch Rückzug in

soziale Isolation Täuschung durch Ausreden wie: „Ich muss jetzt zum Bus, ich lese mir

das zu Hause durch“ oder durch Verbinden des Arms, um nicht schreiben zu müssen, aber auch z.B. durch die Nutzung von Hörbüchern, um mitreden zu können

Delegation, d.h. Übertragung der Lese- und Schreibaufgaben an eine Vertrauensperson.

Krank machend und gravierend sind alle oben benannten Belastungsfaktoren vor allem deshalb:

1. weil es sich oft um massive entwicklungs- und gesundheitsstörende Mangelerfahrungen schon im Kindheits- und Jugendalter handelt, oft auch traumatischer Art ohne weitergehende Aufarbeitung

2. weil es sich um Stress existenzieller Art handelt („Ich kann den Bus nicht bezahlen“, „Ich habe kein Geld mir die Zähne machen zu

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lassen“, „Ich kann die Schulsachen für mein Kind nicht bezahlen“, „Ich habe keine Handschuhe“, „Ich habe kein Geld für einen Führerschein,finde aber ohne Führerschein keine Arbeit“ usw.)

3. weil es sich um sich summierende Mehrfachbelastungen handelt (Geldsorgen, Krankheit, Abhängigkeit, Isolation, Arbeitslosigkeit, Beziehungsprobleme usw.)

4. weil es sich um multifaktorielle Langzeitbelastungen handelt (viele Jahre Leben in Angst z.B. vor Enttarnung durch Partner, Kinder, Freunde, Arbeitgeber, Kollegen u.a.; Angst vor Verlust der eingeweihten Vertrauensperson; Langzeitarbeitslosigkeit, Arbeit über lange Zeiträume in unterbezahlten oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen usw.).

Eine gravierende Folge der bisher aufgezählten Mehrfachbelastungen sind negative Kognitionen und Emotionen. Man glaubt an nichts Gutes mehr. Es fehlt an Zutrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Es fehlt an einer positiven Einschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit. Es fehlt an Vertrauen, irgendetwas im Leben selber beeinflussen zu können.

Die negative Einschätzung von Selbstwirksamkeit ist selbst wiederum ein starker gesundheitlicher Risikofaktor, vor allem in Verbindung mit Angst. Eine negative Einschätzung der Selbstwirksamkeit verstärkt z.B. Stresserleben (vgl. dazu Schwarzer/ Jerusalem 2002).

Dragano spricht im Zusammenhang von gesundheitlicher Ungleichheit im Lebenslauf von einer „Addition der Gefahren“:

„Im ungünstigsten Fall addieren sich die Belastungen verschiedener Lebensstationen, und im Ergebnis steht eine regelrechte ´Belastungskarriere`. Da Kinder aus unteren sozialen Schichten nicht nur ein Risiko für frühe Schädigungen haben, sondern auch in späteren Lebensphasen häufiger sozial vermittelten gesundheitlichen Belastungen

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ausgesetzt sind, kann es mit der Zeit zu einer Ansammlung von Risiken kommen. Es wird daher von einem ´Kumulationsmodell`oder einem Modell der ´Risikoketten`gesprochen.“ (Dragano 2007, S. 24)

Besonders gravierend ist, dass sich die Risiken wechselseitig verstärken können: Soziale Benachteiligungen machen krank, und Krankheit oder gesundheitsriskantes Verhalten können wieder selbst zu sozialem Abstieg beitragen.

Diese Interaktionen können offenbar aber gerade auch durch Bildung in eine positive Wechselwirkung verkehrt werden. Dragano bezieht sich auf die Ergebnisse einer schottischen Langzeitstudie:

„Debbie A. Lawlor und Mitarbeiter berichten aus einer schottischen Geburtenkohortenstudie, dass die soziale Stellung während der Kindheit zwar einen starken Einfluss auf gesundheitsschädigendes Verhalten (hier: Alkoholmissbrauch, Rauchen, Übergewicht) hat, sich die Wirkung frühkindlicher Benachteiligung aber signifikant abschwächt, wenn die betroffenen Kinder später eine hohe Schulbildung erhalten. Diese so genannte ´Effektmodifikation`verweist nochmals auf die vielfache Verschränkung gesundheitlicher und sozialer Entwicklungen im Lebenslauf.“ (Dragano 2007, S. 24).

Damit wird deutlich, dass Prävention im Lebenslauf möglich ist, auch und gerade durch Bildungs-Intervention.

Dies, meine Damen und Herren, gibt wichtige Impulse für die Rolle von Health Professionals als Gesundheitsberater im sozialen Kontext des Patienten/ des Kunden. Präventionsstrategien sind eher dann wirksam, wenn sie die sozial vermittelten gesundheitlichen Belastungen in den verschiedenen Handlungsfeldern berücksichtigen.

Folgerungen für das Projekt Alpha-Power/ Schulungen für Health Professionals

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Sensibilisierung und Schulung von Personal sollte sich auf die vier Säulen des Gesundheitswesens beziehen, da es in allen Bereichen Kontakte zwischen Professionellen und Menschen ohne Schrift gibt:

Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention Kurative Medizin Pflege Rehabilitation

(vgl. zu den vier Säulen des Gesundheitsbereichs Health Care Communication Laboratory 2005, S. 16 f).

Definition der Zielgruppe Zunächst sollte geklärt werden, wer zur Bezugsgruppe funktionaler Analphabeten gehört. Gemeinhin wird nämlich davon ausgegangen, dass es sich um Personen handelt, die überhaupt nicht lesen und schreiben können. Diese Personen stellen jedoch nur einen kleinen Teil der Bezugsgruppe dar. Die Bandbreite an verschiedenen Schriftsprachkompetenzen sollte anschaulich dargestellt werden.

Am besten können anhand von konkreten Schreibbeispielen die verschiedenen Alfa-Level anschaulich vermittelt werden (Folien: Gestern briet ich). Es sollte verdeutlicht werden, dass nicht nur Analphabeten im engeren Sinne (Unterschreiten der Buchstaben- und/ oder Wortebene), sondern auch Personen auf Alpha-Level 3 (Unterschreiten der Textebene) und Alpha-Level 4 (orthographisches Schreiben nicht über Grundschulniveau hinauskommend) nicht in der Lage sind, angemessen mit Gesundheitsinformationen umzugehen.

Erläuterungen und Zahlen zu den Alpha-Leveln (in Deutschland) liefert das Presseheft zu der leo.–Level-One Studie, das im Frühjahr 2011 publiziert wurde.: http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf (s. Anlage 2)

Sensibilisierung für die Bezugsgruppe- auch emotiv

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Professionelle aus dem Gesundheitswesen sollten für die Bezugsgruppe funktionaler Analphabeten sensibilisiert werden. Dabei sollte beim Lebenslauf-Modell angesetzt werden. Nur wenn die massive Belastung von funktionalen Analphabeten im Rahmen des Kumulationsmodells gesundheitlicher und sozialer Risiken vermittelt wird, kann eine echte Sensibilisierung für die Bezugsgruppe erfolgen. Zudem werden gesundheitsriskante Verhaltensweisen nachvollziehbarer und plakative Vor-Verurteilung vermeidbarer. Emotive Einstiege in das Thema sind z.B. über die Filmspots des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung möglich.

Mit Hilfe des Lebenslauf-Modells (z.B. vermittelt in Form von schriftlich dokumentierten Fallstudien, Filmbeispielen, Interviews mit Betroffenen, Einbezug von Lernern u.a.) wird deutlich, wie scham- und angstbesetzt es für die Betroffenen ist, in schriftsprachliche Anforderungssituationen zu geraten.

In den Schulungen sollten die „Überlebensstrategien“ (Situationsvermeidung, Delegation und Täuschung; vgl. dazu Döbert/ Hubertus 2000) von schriftfernen Menschen vermittelt und deutlich gemacht werden, welche Auswirkungen diese Strategien auf das Verhalten von Patienten, auf die Kommunikation zwischen Professionellen und dem Patienten sowie auf sein Gesundheitsverhalten haben.

Die Bewältigungsstrategien können wichtige Indikatoren im Erstkontakt sein. Mit dem Blick auf die Biografie wird deutlich, warum sich Patienten in der Regel beim Erstkontakt und im weiteren Behandlungsverlauf nicht outen und wie wichtig eine vertrauensbildende Ansprache im Kontakt zwischen Professionellen und Patient ist. Bestandteil der Schulungen sollten daher auch Module zu entsprechenden Kommunikationstrainings sein.

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In der biografischen Herangehensweise lassen sich auch die Kommunikationsbarrieren aufzeigen, die vor allem durch verschiedene Sprachcodes und den unterschiedlichen Umgang mit Schriftsprache entstehen. Während für Health Professionals der Umgang mit Schriftsprache –auch mit anspruchsvollem medizinischem Vokabular – selbstverständlicher Bestandteil ihres beruflichen und alltäglichen Handelns ist, können die Patienten der Bezugsgruppe medizinische Fachsprache nicht einmal sprach-semantisch (also von der Bedeutung her) erschließen, erst recht aber nicht lesen oder im schriftlichen Kontext aktiv verwenden. Health Professionals sollten für ihre Rolle als beratende Übersetzer zwischen den verschiedenen sozialen und bildungsbezogenen Milieus mit Blick auf Health Literacy sensibilisiert werden.

Optimierung von Informationen Den Schulungen vorausgehend oder in den Schulungen selbst wird

gesichtet und zusammengestellt, welche schriftsprachlichen Anforderungen in den jeweiligen gesundheitsbezogenen Handlungsfeldern vom Patienten abverlangt werden: Wie sind die Orientierungsmöglichkeiten im Haus? Welche Aufnahmeformulare gibt es? Welche Informationsmaterialien werden ausgegeben? Welche Dokumentationsunterlagen sollen vom Patienten geführt werden usw.? Die am häufigsten verwendeten Materialien werden auf Lesbarkeit, Verständlichkeit und Handhabbarkeit hin überprüft. Expertinnen/ Experten beraten, welche Möglichkeiten der Optimierung es gibt.

Gesundheitsinformationen sollten in Anlehnung an das Alpha-Level-Modell konzipiert werden, damit sie auf verschiedenen Kompetenz- Leveln maßgeschneidert zugänglich sind.

Zur Optimierung von Erstkontakten, Beratungssettings, Formularwesen, Orientierung im Hause u.a. sollte geprüft werden, an welchen Stellen andere als schriftsprachliche Medien genutzt

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werden könnten: Bilder, Filme, Abbildungen, Graphic novels oder Comics, Handyinfos/ I-Phone mit Gesundheits-Apps usw.

Es sollte geprüft werden, welche der bereits bestehenden Gesundheits-Apps auch für die Zielgruppe funktionaler Analphabeten eingesetzt werden könnten. Beispiele solcher Apps sind:

Zur Verwaltung von Diabetes-Daten:http://www.diabetesplus.info/de/Zum Abnehmen und Muskelaufbau:http://www.muskel-guide.de/fitness/die-10-besten-iphone-fitness-apps-zum-abnehmen-und-das-muskelaufbau-training/

Gerade Apps mit ihren visuellen und akustischen Möglichkeiten könnten als Personal Training-Instrument auf die spezifischen Gesundheitsbelange von Menschen mit Lese- und Schreibproblemen hin ausgerichtet und eingesetzt werden.

Für die Optimierung von Erstkontakten wäre es förderlich, ein bundesweit durchgängiges Logo (stilisierter Kopf mit stilisiertem Buch/ Stift) auf allen Formularen aufzunehmen, so dass ein Kunde/ Patient das Bild einfach nur ankreuzen muss, wenn er/ sie Probleme mit der Schriftsprache hat. So erkennen Professionelle sofort anhand des angekreuzten Logos, dass besondere Formen der Ansprache und der Vermittlung von Gesundheitsinformationen vonnöten sind. Eine andere Möglichkeit wäre es, ein solches Logo als Bild im Handy/ I-Phone abzuspeichern und beim Erstkontakt diskret dem Berater zu zeigen. Dazu müsste das Logo jedoch allen Health Professionals (und Beratern aus anderen Handlungsfeldern) bekannt sein. Dies kann durch Schulungen erfolgen, würde aber durch Kampagnen in einer größeren Breite wirken.

Schulung der Beratungskompetenz

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Wie bereits oben benannt, sollte die Förderung vertrauensbildender, patientenzentrierter Beratungskompetenz bei den Health Professionals ein wichtiger Bestandteil der Schulungen sein. Darüber hinaus sind die Health Professionals aber auch wichtige Multiplikatoren bei der Beratung in andere Netzwerke. Förderung von Health Literacy erfolgt einerseits durch Wissens- und Kompetenzsteigerung bei den Betroffenen, aber sie kann nur dann effektiv erreicht werden, wenn auch die belastenden und krank machenden Verhältnisse geändert werden. Für die Schulung von Health Professionals bedeutet dies, ihnen ihre wichtige Rolle als Berater und Vermittler zu anderen professionellen Multiplikatoren klar zu machen. Wichtig ist es daher, Verweisungswissen zu vermitteln, das Hilfe und Unterstützung in Netzwerken initiiert.

Ein praktischer Erkennungswegweiser für Health Professionals in Anlehnung an die niederländischen Modelle sollte nach den Schulungen am Arbeitsplatz der Professionellen vorhanden sein. Siehe dazu auch: http://lezenenschrijven.nl/algemeen/files/2011/08/212567_HKW_Gezondheidssector.pdfVon Döbert/Anders wurde 2011 ein ähnlicher Erkennungswegweiser für Deutschland entwickelt (s. Anlage 1).

Einbeziehung von Fachberatern Übersetzer zwischen den Fachsprachen sind auch notwendig im

Dialog zwischen den Workshop-Pädagogen und den Health Professionals. Dies wurde mir besonders deutlich bei der Entwicklung des Erkennungswegweisers für Health Professionals zusammen mit Markus Anders. Pädagogen und Health Professionals leben in anderen professionellen Welten mit anderen Fachbegriffen und semantischen Zugängen (z.B. Begriffe wie „niedrige Compliance im Therapieverlauf“). Um effektive Workshops gestalten zu können, sollte unbedingt ein Vertreter der Health Professionals beratend im Vorfeld und auch ggf. bei den Workshops selbst einbezogen werden.

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Sehr geehrte Damen und Herren, dies sind einige Anregungen, die Sie in Ihrem Projekt ALPHA-POWER als Impulse aufnehmen könnten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Ihrem Projekt dazu beitragen, dass vielen Menschen nicht nur die Chance auf eine bessere Gesundheit eröffnet wird, sondern auch auf Teilhabe und ein würdevolles Leben in der Gesellschaft.

Vielen Dank!

Quellen:Anders, Markus (2008): Analphabetismus und Gesundheit. Die Auswirkungen des funktionalen Analphabetismus auf den Gesundheitszustand. In: Döbert, M. (2008), S. 10-12Anders, Markus (2009) Analphabetismus und Gesundheit. Die Auswirkungen des funktionalen Analphabetismus auf den Gesundheitszustand. In: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (Hrsg.): Alphabetisierung und Gesundheit. ALFA-Forum. Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, Frühjahr 2009, Nr. 70, S.14-15Bildungsbericht 2008:http://www.bildungsbericht.de/daten2008/bb_2008.pdfBildungsbericht 2010:http://www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdfZu „Bildung auf einen Blick“:http://www.wbv.de/info/oecd-bildungsstudie-2008.htmlhttp://www.oecd.org/dataoecd/44/61/45927731.pdfhttp://www.bmbf.de/pub/bildung_auf_einen_blick_10_wesentliche_aussagen.pdfhttp://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/meldung/oecd-studien-bildung-auf-einen-blick-2010-und-lernen-fuer-die-arbeitswelt-vorgestellt.htmlBundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (Hrsg.): Alphabetisierung und Gesundheit. ALFA-Forum. Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, Frühjahr 2009, Nr. 70Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2007): Aus Politik und Zeitgeschichte. Gesundheit und soziale Ungleichheit. Heft 42/2007, BonnDigivaardig&Digibewust-Redaktion (2010): Basisvaardigheden op de werkplek. Leidschendamwww.digivaardigdigibewust.nlDöbert, M./ Hubertus, P. (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart: Ernst Klett Verlag GmbHDöbert, M. (2008): Abschlussbericht ESF-Projekt: Alphabetisierung-Grundbildung-Gesundheit. VHS BielefeldDöbert, M. (2009): Alphabetisierung-Grundbildung-Gesundheit. In: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (Hrsg.): Alphabetisierung und Gesundheit. ALFA-Forum. Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, Frühjahr 2009, Nr. 70, S.8-12Dragano, Nico: Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2007): Aus Politik und Zeitgeschichte. Gesundheit und soziale Ungleichheit. Heft 42/2007, Bonn, S.18-24Dugdale, G. and Clark, C. (2008): Literacy Changes Lives: An advocacy resource. London: National Literacy Trust Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH.Freire, P. (1977). Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH.Groot, W./ Maassen van den Brink, H. (2006): Stil vermogen, een onderzoek naar de maatschappelijke kosten van laaggeletterdheid. Amsterdam: Stichting Lezen en SchrijvenISBN 90-78261-02-1Grotlüschen, A. / Riekmann, W (2011): leo. – level One Studie. Literalität von Erwachsenenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Presseheft. Hamburghttp://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdfHealth Care Communication Laboratory (2005): Denkanstösse für ein Rahmenkonzept zu Health Literacy. Forschungsbereich Health Literacy: Health Care Communication Laboratory, Università della Svizzera italiana. Lugano, Schweiz

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http://www.gesundheitsfoerderung.ch/pdf_doc_xls/f/gesundheitsfoerderung_promotion_staerken/Grundlagen_Wissen/HealthLiteracy.pdfHeindl, I. (2007): Ernährung, Gesundheit und Soziale Ungleichheit. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) 2007, S.32-38 Stefan Hradil (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen.Hurrelmann, K./ Andresen, S. (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt/ a. M.: World VisionHurrelmann, K./ Andresen, S. (2010): Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie. Frankfurt/ a. M.: World VisionHurrelmann, K. (2009): Sozialisation – Bildung - Gesundheit. Kann wissenschaftliche Forschung politische Effekte erzielen? Abschiedsvorlesung an der Universität Bielefeld im Januar 2009Jerusalem, M. (Hrsg.)/ Hopf,D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen. Weinheim: Beltz 2002, (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft; 44Stark, W. (2003): Empowerment. In: Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Editiert von BZgASchwarzer, R./ Jerusalem, M. (2002): Das Konzept der Selbstwirksamkeit. In: Jerusalem, M. (Hrsg.)/ Hopf,D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen. Weinheim: Beltz 2002, (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft; 44; S. 28-53)Wößmann, L./ Piopiunik, M. (2009): „Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_30242_30243_2.pdfhttp://de.wikipedia.org/wiki/Sozial_bedingte_Ungleichheit_von_Gesundheitschancen

Anlage1Erkennungswegweiser

für Ärztinnen/ Ärzte und Pflegepersonal

Lese- und Schreibprobleme bei deutschsprachigen Erwachsenen

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Um was es geht.

Funktionale Analphabeten sind Erwachsene, die gar nicht oder unzureichend lesen und/ oder schreiben können, obwohl sie Deutsch als

Muttersprache sprechen oder die deutsche Sprache fließend beherrschen. In Deutschland leben 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Sie

vermeiden Situationen, in denen sie lesen und/ oder schreiben müssen. Aus Scham sprechen sie ihr Manko nicht an. Dadurch können sie in

gesundheitlich riskante Situationen geraten (falsche oder gar keine Einnahme von Medikamenten, Vermeiden wichtiger Therapietermine,

niedrige Compliance im Therapieverlauf, Verzicht auf Gesundheitsleistungen u.a.).

Signale, die auf Lese- Schreibprobleme hindeuten können:

Der Patient (im Folgenden immer auch die Patientin) zeigt Anzeichen von Angst, wenn er etwas aufschreiben oder lesen soll. Er

wirkt angespannt und abweisend, wenn schriftsprachliche Anforderungen an ihn gestellt werden.

Er nimmt seine Medikamente nicht oder nicht richtig ein und verweist darauf, dass er den Beipackzettel nicht verstanden hat oder

dass keine Erläuterungen bei dem Medikament gewesen wären.

„Diese Formulierungen sind so kompliziert/ verwirrend, die verstehe ich nicht/ die kann ja kein normaler Mensch verstehen.“

Auch einfach auszufüllende Formulare nimmt der Patient mit nach Hause. „Das füll ich später aus.“ Oder er bittet Sie, das

Formular für ihn auszufüllen. „Ich habe meine Brille vergessen.“ „Ich habe eine schlechte/ unleserliche Handschrift.“ „Ich habe

immer Kopfschmerzen, das lese ich dann zuhause durch.“ „Sie können das bestimmt schneller als ich.“

Der Patient hält mehrfach Termine nicht ein, weil er sie sich nicht notieren kann.

Der Patient betont, dass er sich nicht mit Geschriebenem befasst. „Ich habe gar keine Zeit zum Lesen.“ „Ich sehe lieber fern.“

Der Patient tritt immer mit einer Bezugsperson auf, die für ihn agiert.

Was können Sie tun?

Bieten Sie dem Patienten ein vertrauensvolles Gespräch an. Sagen Sie ihm bei entsprechenden Hinweisen, dass es viele Erwachsene in

Deutschland gibt, denen das Lesen und Schreiben nicht leicht fällt. Unterstützen Sie den Patienten beim Lesen und Ausfüllen erforderlicher

Schriftstücke. Informieren Sie ihn, dass es spezielle Lese- Schreibkurse für Erwachsene gibt und dass die Teilnahme an einem Kurs seine

persönliche Unabhängigkeit stärkt und sehr positive Auswirkungen auf seine Gesundheit und sein Leben insgesamt hat. Geben Sie ihm die

kostenlose ALFA-Telefon-Nr.: 0800 – 53 33 44 55. Über diese Nummer kann er erfahren, wo ein Kurs in seiner Nähe angeboten wird.

Mehr Informationen finden Sie unter: http://www.alphabetisierung.de. Hier gibt es auch einen Kursfinder.

2011 Marion Döbert/ Markus Anders

Anlage 2

Allgemeine Daten zur Größenordnung des Funktionalen Analphabetismus in DeutschlandDie nachfolgenden Informationen zur Größenordnung des Funktionalen Analphabetismus in Deutschland sind der leo.–Level-One Studie (vgl. Grotlüschen/ Riekmann 2011) entnommen.

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Alpha-Level 1-2: Eine Person kann mit Mühe einzelne Wörter Sinn entnehmend lesen, aber keine Sätze. Wörter müssen Buchstabe für Buchstabe erarbeitet werden. In diese Level-Gruppe gehören auch Personen, die keine Wörter lesen und schreiben können, also nur (einzelne) Buchstaben kennen.Alpha-Level 3: Eine Person kann einzelne Sätze lesen und schreiben, scheitert aber am Lesen und Schreiben zusammenhängender Texte. Diese beiden Alpha-Level bezeichnen die Gruppe der funktionalen Analphabeten, die in Deutschland 14,4% der erwerbsfähigen deutschsprachigen Bevölkerung im Alter von 18-64 Jahren ausmacht (=7,5 Millionen). Auf Alpha-Level 1-2 befinden sich 4,5%=2,3 Millionen der Bezugsgruppe. Auf Alpha-Level 3 befinden sich 10%=5,2 Millionen der Bezugsgruppe.Auf allen drei Alfa-Leveln schneiden Männer wesentlich schlechter ab als Frauen.Zu der Anzahl der Menschen, die auf den Alfa-Leveln 1-3 einzuordnen sind, sind noch 13,3 Millionen Menschen (=25% der Bezugsgruppe) hinzuzurechnen, die sich auf Alfa-Level 4 befinden: Sie lesen und schreiben auch bei gebräuchlichem Wortschatz fehlerhaft. Die Rechtschreibkompetenz liegt unter dem Niveau am Ende der Grundschulzeit.Damit sind in Deutschland insgesamt 39,4% der Bezugsgruppe, also 20,8 Millionen Menschen der Bezugsgruppe nicht in der Lage, Schriftsprache so für sich und andere zu nutzen wie es in den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern Familie, Arbeitswelt, Gesundheitssektor, soziale, kulturelle und politische Partizipation eigentlich erwartet wird. Insbesondere auch die Nutzung stark schriftsprachbasierter Informations- und Kommunikationsmedien wie Internet, soziale Netzwerke u.a. ist stark eingeschränkt bzw. für die Personen auf Alfa-Level 1-3 nahezu unmöglich. Personen auf Alfa-Level 4 befürchten in der Regel, sich aufgrund ihrer unzureichenden und unsicheren Rechtschreibung bloßzustellen. Es ist daher zu erwarten, dass sie nicht schreibaktiv partizipieren.Der größte Teil der funktionalen Analphabeten ist zurzeit 50-64 Jahre alt (33%).20% der funktionalen Analphabeten sind 18-29 Jahre alt.Der größte Anteil findet sich also in der Gruppe der Menschen, deren Gesundheitskapital durch höheres Alter eingeschränkter ist.

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