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Roland Käser IVL Referat, 28. November 2013, Zug 1. Zwei Grundpositionen Kontextuelles Rollenverständnis Die systemische Epistemologie hat - wie keine andere zuvor - kontextuelle Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Spätestens seither ist bekannt, dass die Effektivität und Nützlich- keit einer Organisation abhängig ist vom Mass, wie es gelingt, eine funktionale kontextuelle Einbettung vorzunehmen. Diese ist charakterisiert durch eine kontextuelle Bezogenheit, ohne aber auf ein eigenes Profil und eine eigene Identität zu verzichten. Dysfunktional und kontra-produktiv wäre eine Organisation dann, wenn sie ihren Auftrag unabhängig vom Umfeld defi-niert, in das sie eingebettet ist und ihre Handlungsleitsätze und Arbeitskonzepte völlig losgelöst von den kontextuellen Erfordernissen entwickeln und festlegen würde. Ökosystemische Überlegungen unterstützen die These, dass sich die Schulpsychologie in einer einzigartigen Lage befindet, die es nicht nur zu erkennen, sondern auch zu nutzen gilt. Mit dem Vorliegen von Bezugssystemen und Landkarten, die eine grössere Isomorphie zur Schulpsy-chologie aufweisen, ist dies nun eher möglich. Das schulpsychologische Merkmal der Schul-nähe führt zu verschiedenen lmplikationen. Eine davon ist von nicht geringer sozialpolitischer Bedeutung: Durch die Verbundenheit der Schulpsychologie mit der öffentlichen Institution Schu-le wird der Zugang zur psychologischen Grundversorgung für eine grosse Bevölkerungsgruppe erleichtert, die sonst aus Informationsmangel oder wegen fehlender finanzieller Ressourcen nie eine solche Hilfe in Anspruch hätte nehmen können. Die Schulnähe dieser Beratungsinstitution führt überdies dazu, dass Schulpsychologinnen praxisgeprüfte Expertinnen für schulische Fra-gen und Probleme werden. Wie nur wenige andere Wissenschaftler der Pädagogischen Psy-chologie haben sie durch die hautnahe 'Fronterfahrung' Gelegenheit, das erworbene Fach-wissen täglich an der Realität zu prüfen und entsprechend zu modifizieren. Sie werden damit zu gefragten Fachleuten für schulische und pädagogische Fragen..... Als Teil der öffentlichen Schule ist der Schulpsychologische Dienst

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Roland KäserIVL Referat, 28. November 2013, Zug

1. Zwei Grundpositionen

Kontextuelles RollenverständnisDie systemische Epistemologie hat - wie keine andere zuvor - kontextuelle Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Spätestens seither ist bekannt, dass die Effektivität und Nützlich-keit einer Organisation abhängig ist vom Mass, wie es gelingt, eine funktionale kontextuelle Einbettung vorzunehmen. Diese ist charakterisiert durch eine kontextuelle Bezogenheit, ohne aber auf ein eigenes Profil und eine eigene Identität zu verzichten. Dysfunktional und kontra-produktiv wäre eine Organisation dann, wenn sie ihren Auftrag unabhängig vom Umfeld defi-niert, in das sie eingebettet ist und ihre Handlungsleitsätze und Arbeitskonzepte völlig losgelöst von den kontextuellen Erfordernissen entwickeln und festlegen würde.

Ökosystemische Überlegungen unterstützen die These, dass sich die Schulpsychologie in einer einzigartigen Lage befindet, die es nicht nur zu erkennen, sondern auch zu nutzen gilt. Mit dem Vorliegen von Bezugssystemen und Landkarten, die eine grössere Isomorphie zur Schulpsy-chologie aufweisen, ist dies nun eher möglich. Das schulpsychologische Merkmal der Schul-nähe führt zu verschiedenen lmplikationen. Eine davon ist von nicht geringer sozialpolitischer Bedeutung: Durch die Verbundenheit der Schulpsychologie mit der öffentlichen Institution Schu-le wird der Zugang zur psychologischen Grundversorgung für eine grosse Bevölkerungsgruppe erleichtert, die sonst aus Informationsmangel oder wegen fehlender finanzieller Ressourcen nie eine solche Hilfe in Anspruch hätte nehmen können. Die Schulnähe dieser Beratungsinstitution führt überdies dazu, dass Schulpsychologinnen praxisgeprüfte Expertinnen für schulische Fra-gen und Probleme werden. Wie nur wenige andere Wissenschaftler der Pädagogischen Psy-chologie haben sie durch die hautnahe 'Fronterfahrung' Gelegenheit, das erworbene Fach-wissen täglich an der Realität zu prüfen und entsprechend zu modifizieren. Sie werden damit zu gefragten Fachleuten für schulische und pädagogische Fragen.....

Als Teil der öffentlichen Schule ist der Schulpsychologische Dienst eine allen offen stehende Anlaufstelle. Dadurch definiert sie sich als Institution erster Instanz resp. als 'Primärinstitution'. Eine derart konzipierte Beratungsstelle ist mit einer Fülle unterschiedlichster Fragestellungen konfrontiert. Dies bedingt eine Offenheit und Flexibilität der Institution und erfordert breit ange-legte Fachkenntnisse. Die Funktion als öffentliche Anlaufstelle, die sich oft auch mit Notfällen befassen muss, prägt die Arbeitsorganisation, die Beratungsmodalität und die Auswahl der Interventionsinstrumente. Die von der Sachlogik her naheliegenden oder zwingenden metho-dischen Schlussfolgerungen sind aber nicht immer kongruent mit den persönlichen Vorlieben und dem Ausbildungshintergrund der dort Tätigen. Wie an anderer Stelle postuliert, kann die Schulpsychologie ihren Auftrag als Institution erster Instanz aber nur erfüllen, wenn sie sich auch als Krisenberatungsstelle versteht und ihre Instrumente entsprechend darauf ausrichtet. Eine Krisenberatung unterscheidet sich von einer langdauernden Psychotherapie, die auf tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen ausgelegt ist: Eine Krisenberatung zeichnet sich aus durch eine geringe Wartezeit, eine kurze Durchführungsdauer, eine Zentrierung auf das aktuelle Problem und den Einbezug des sozialen Umfeldes.

Eine Schulpsychologie, die einem dynamischen Weltbild verpflichtet und darauf bedacht ist, die mannigfaltigen Ressourcen zu aktivieren, muss sich aber auch als Dienstleistungsbetrieb polyvalenter Ausrichtung definieren. Die Vielfalt und der Facettenreichtum dieses Fachgebietes werden auch von anderen Autoren hervorgehoben:"School psychology potentially has the ability to affect almost every aspect of education: the multiple ways in which children and youth, parents and educators interact and influence one another. School psychology is concerned with persons, groups, and sy-stems. It tries to work with children, parents, educators, administrator, programs, and organizations within the public schools and in other settings in which education takes place" (Bardon 1990, Vorwort).

Die polyvalente Ausrichtung ist nicht nur als Vorrecht, sondern auch als Verpflichtung aufzufassen. Eine Verpflichtung, die nicht ganz zu Unrecht auch Gefühle der Über-forderung auslösen kann und zu Konsequenzen in der Aus- und Weiterbildung sowie bei der beruflichen Laufbahnplanung führen muss. Wenn aber die Frage des Kompetenzerwerbs geklärt ist, kann diese Funktionserweiterung als 'Job Enrichement' ver-standen werden und damit als Gegen-mittel gegen fehlende Arbeitszufriedenheit und Burnout wirken; denn arbeitspsychologische Forschungen ergeben, dass Arbeitsvielfalt zu Arbeitszufriedenheit führt.

Realistisches Rollenverständnis......Ökosystemische Landkarten haben ein wirklichkeitsadäquateres Rollenverständnis zur Folge, was meines Erachtens in der Schulpsychologie zu einer Zunahme des Selbst-bewusstseins und des Grenzbewusstseins führen muss.

Die neuen Perspektiven zeigen nicht nur die Mannigfaltigkeit des schulpsychologischen Netzwerkes auf, sondern weisen auch auf die Bedeutsamkeit der Institution Schulpsychologie hin, die einerseits auf dem beispiellosen Standort beruht und zum anderen aus der damit verknüpften spezifischen Arbeitsweise resultiert. Die Positionierung innerhalb der Schule öffnet den Zugang zu vielen menschlichen, institutionellen und methodischen Ressourcen, erleichtert die Möglichkeit, präventiv tätig zu sein. Der SPD als Beratungsstelle 'erster Instanz', die einen wichtigen Beitrag zur psychologischen Grundversorgung unserer Gesellschaft leistet, gibt Anlass genug zu einem beruflichen Selbstbewusstsein. System- und kommunikationstheo-retische Analysen haben aufgezeigt, dass schon allein das Vorhandensein eines SPD, die strukturelle Koppelung des Schulpsychologen und der Territorialitätseffekt Wirkungen zeigen. Der besondere Standort der Beratungsstelle führt zu einer Zusammenarbeit mit Menschen, die von der Lebensphase her (Entwicklungskrisen) und durch die spezifischen Umstände (Be-lastungskrisen durch schulische Herausforderungen) in einem permanenten Umbruchs- und Neukalibrierungsprozess stehen und damit in erhöhtem Masse offen für Anregungen und Impulse sind.....

Der Einblick in bislang nicht bekannte Zusammenhänge führt aber auch zur Achtung vor Personen und Situationen, zur Bescheidenheit und zu einem Grenzbewusstsein. Das Erkennen der Fähigkeiten menschlicher Systeme zur Selbstaktualisierung und Problem-ösung führt zu einer Haltung der Wertschätzung und Achtung vor den Humansystemen. Der Schulpsychologe ist sich der Ressourcen und Autonomie der Menschen bewusst - und damit gleichzeitig auch seiner vergleichsweise geringen Einflussmöglichkeiten als professioneller Helfer.

Das Erkennen der Selbstregulationsfahigkeit lebender Systeme befreit die Schulpsychologin aber auch vom Anspruch, immer richtige Lösungen präsentieren und realisieren zu müssen. Das Vertrauen auf die Kräfte und Fähigkeiten eines Systems regt daher auch an, Ungewohntes auszuprobieren und neue Wege zu beschreiten.

Das Gewahrwerden der Unüberschaubarkeit von Einflussvariablen und Wirkungszusammen-hängen sowie der eigenen Verwobenheil mittels struktureller Koppelung kann aber auch Angst und Überforderungsgefühle auslösen. Ein solches Grenzbewusstsein soll aber keineswegs in die Resignation führen, sondern zu einem sensiblen und selbstkritischen Differenzieren zwischen Machbarem und Unbeeinflussbarem.

Ein Rollenverständnis, das sowohl Vorzüge wie Einschränkungen des Berufes realistisch beurteilt, erlaubt eher eine sachbezogene Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der täglichen Arbeit und führt zu einem massvollen Selbstbewusstsein, wie es etwa im folgenden Zitat eines erfahrenen Schulpsychologen zum Ausdruck kommt: "Je länger je mehr wird mir bewusst, wie wenig ich verändern kann - zugleich wird mir auch bewusst, wie bedeutungsvoll meine Arbeit ist" (Wirth; persönliche Mitteilung).

z.T. aus : R. Käser: "Neue Perspektiven" 1993, 464-468