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Das System Erde:Vom Prozessverständnis zum Management
EIN GEOWISSENSCHAFTLICHES FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSPROGRAMM VON
GEOTECHNOLOGIEN
GEOTECHNOLOGIEN
Das System Erde:Vom Prozessverständnis zum Management
EIN GEOWISSENSCHAFTLICHES FuE-PROGRAMM
VOM BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (BMBF)
UND DER DEUTSCHEN FORSCHUNGSGEMEINSACHFT (DFG)
Programmkonzeption H.-P. Bährund Redaktion: E. Ehlers
R. EmmermannH.-P. HarjesJ. LauterjungV. MosbruggerA. Rudloff F. SeifertL. StroinkJ. ThiedeG. WeferF.-W. Wellmer
Die Erde ist ein dynamischer Planet, der sich – an-getrieben durch großräumige konvektive Stoff- undEnergieumlagerungsvorgänge in seinem Inneren unddurch vielfältige Einwirkungen von außen – in einemständigen Wandel befindet. Es hat sich deshalb dieErkenntnis durchgesetzt, dass wir den LebensraumErde nur verstehen, wenn wir die Erde als System,das heißt im Zusammenwirken aller ihrer Kompo-nenten – der Geosphäre, Kryosphäre, Hydrosphäre,Atmosphäre und Biosphäre – betrachten.
Vorwort
Die Zukunft der Menschheit und unserer Ge-
sellschaft wird entscheidend davon abhän-
gen, wie rasch ein nachhaltiges Erdmanage-
ment entwickelt und global umgesetzt werden kann. Es
ist eine der zentralen Herausforderungen für die Geo-
wissenschaften, dafür die wissenschaftlichen Grundla-
gen und technologischen Voraussetzungen zu erarbeiten.
Um dieser Verpflichtung gerecht zu werden und die in
Deutschland bestehende Forschungskompetenz entspre-
chend zu bündeln, wurde von der Senatskommission für
Geowissenschaftliche Gemeinschaftsforschung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft – kurz: Geokommis-
sion – die Programmschrift „GEOTECHNOLOGIEN“
erarbeitet und 1999 den Forschungsförderinstitutionen
und der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie stellt die Grundla-
ge für das gleichnamige Sonderprogramm dar, das seit
nunmehr vier Jahren durch das Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche For-
schungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Mit der
vorliegenden Neuauflage dieser Programmschrift soll eine
erste Bilanz gezogen und eine notwendige Anpassung der
Forschungsthemen vorgenommen werden.
Ohne Zweifel hat das FuE-Programm GEOTECH-
NOLOGIEN schon jetzt viel bewegt. Von den 13 für
eine Daseinsvorsorge besonders relevanten Kernthemen
werden inzwischen sieben im Rahmen von größeren
Verbundprojekten bearbeitet. Bei der Erforschung der
Gashydrate und der satellitengestützten Erdbeobachtung
nehmen deutsche Forscher dank dieses Sonderpro-
gramms inzwischen sogar eine weltweite wissenschaftli-
che und technologische Spitzenposition ein. Die bisheri-
gen Forschungsarbeiten machen aber auch die großen
Kenntnislücken sichtbar. Insbesondere zeigt sich immer
deutlicher, dass in der Dynamik des Systems Erde neben
langsamen auch sehr schnelle Veränderungen eine wichti-
ge Rolle spielen, ohne dass wir bisher die komplexen
Rückkopplungsmechanismen und nicht-linearen Schwel-
lenwertreaktionen verstehen. Dies mahnt uns, intensiv
an einem Systemverständnis der Erde als unabdingbare
Voraussetzung für ein Erdmanagement zu arbeiten.
Angesichts des Erfolges und der internationalen
Sichtbarkeit des FuE-Programms GEOTECHNOLO-
GIEN erscheint eine Weiterführung zwingend. In der
Fortsetzungsphase müssen die bisher noch nicht bear-
beiteten Kernthemen in Angriff genommen werden:
Dazu gehören so verschiedene und hochaktuelle For-
schungsgebiete wie die Entwicklung von „Frühwarn-
systemen gegen Naturkatastrophen“, die nachhaltige
„Nutzung und der Schutz des Untergrundes“ oder „Das
Gekoppelte System Erde – Leben“. Gleichzeitig sind
aber auch neue Forschungsinitiativen zu den bereits in
der ersten Phase vorangetriebenen Themen zu ent-
wickeln und zu fördern. Die hier vorgelegte Neuauflage
der Programmschrift GEOTECHNOLOGIEN stellt
dafür die notwendige inhaltliche Grundlage dar. In Zu-
sammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern wurden
nahezu alle Kapitel grundlegend überarbeitet. Die Er-
gebnisse bereits laufender Forschungsvorhaben werden
dabei berücksichtigt und in die rasche Entwicklung in-
tegriert. Um den wachsenden Anforderungen an ein
nachhaltiges Erdmanagement gerecht zu werden, ergibt
sich überdies eine immer stärkere Verzahnung mit den
Nachbardisziplinen der Natur- und Ingenieurwissen-
schaften und den Sozialwissenschaften.
Wie bisher wendet sich auch die Neuauflage der Pro-
gramm-Konzeption sowohl an politische Entscheidungs-
träger als auch an die „scientific community“. Sie ist auf-
gefordert, die Umsetzung mit innovativen Forschungs-
konzepten voranzutreiben. Die Komplexität der Aufga-
ben erfordert in der Regel größere Verbundprojekte und
technologische Neuentwicklungen. Die dafür notwendi-
gen finanziellen Aufwendungen sind durch die hohe ge-
sellschaftliche Relevanz der Forschungsarbeiten ge-
rechtfertigt.
Unser Dank gilt all den Wissenschaftlern, die mit
Überzeugung und ungewöhnlichem Engagement das
FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN entwickeln und
umsetzen, sowie dem Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) und der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft (DFG) für die finanzielle Unterstützung.
V. MosbruggerVorsitzender des Koordinierungsausschusses
GEOTECHNOLOGIEN
R. EmmermannProgrammkomitee
GEOTECHNOLOGIEN
GEOTECHNOLOGIEN............................................................................................ V
Geowissenschaften – Perspektiven für unseren Planeten ................................................. VI
Verstehen, Nutzen, Schützen – Wie die Geowissenschaften
dem Menschen und seiner Umwelt helfen ......................................................................... VI
Konzertierte Aktion für Spitzenleistung ............................................................................. IX
FuE Programm GEOTECHNOLOGIEN – Stand der Umsetzung.................................... IX
ForschungsschwerpunkteErfassung des Systems Erde aus dem Weltraum .............................................................. 1
Das Erdinnere als treibende Kraft geowissenschaftlicher Prozesse ................................. 9
Kontinentränder: Brennpunkte im Nutzungs- und Gefährdungspotenzial der Erde ........ 19
Tomografie der Erdkruste – Von der Durchschallung zum Echtzeitmonitoring ............... 29
Sedimentbecken: Die größte Ressource der Menschheit ................................................... 41
Gashydrate im Geosystem ................................................................................................ 51
Stoffkreisläufe: Bindeglied zwischen Geosphäre und Biosphäre ..................................... 61
Das gekoppelte System Erde – Leben: Dynamik der Biosphäre
und Steuerung der globalen Umwelt ................................................................................ 71
Erkundung, Nutzung und Schutz des unterirdischen Raumes .......................................... 85
Mineraloberflächen: Von atomaren Prozessen zur Geotechnik ........................................ 93
Frühwarnsysteme im Erdmanagement .............................................................................. 101
Informationssysteme im Erdmanagement ........................................................................ 111
Globale Klimaänderungen – Ursachen und Auswirkungen ............................................. 117
Liste der Autoren ............................................................................................................. 125
Verzeichnis der Abkürzungen ........................................................................................ 126
INHALTSVERZEICHNIS
VDas anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung, die
immer intensivere Nutzung unseres Planeten und seiner
Ressourcen, sowie seine Veränderung im Rahmen einer
beispiellosen zivilisatorisch-technischen Entwicklung,
erfordern ein nachhaltiges und international abge-
stimmtes Handeln zum Erhalt des Lebensraums Erde.
Dies wurde auf dem Weltgipfel für Nachhaltige Ent-
wicklung in Johannesburg im August/September 2002
noch einmal eindrucksvoll bestätigt. In der Umsetzung
dieser wichtigen Zukunftsaufgabe kommt den Geo-
wissenschaften mit ihrer Erdsystemforschung eine
zentrale Rolle zu. Sie können aufgrund ihres System-
verständnisses der Erde konkrete Konzepte und Lö-
sungsansätze anbieten, die sich an dem Leitbild der
Nachhaltigen Entwicklung orientieren.
Die Erde ist ein dynamischer Planet, der sich –
angetrieben durch konvektive Stoff- und Energieströme
in seinem Inneren und durch vielfältige Einwirkungen
von außen – in einem ständigen Wandel befindet. Es hat
sich deshalb die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir den
Lebensraum Erde nur verstehen, wenn wir die Erde als
System begreifen, in dem die Geosphäre, Kryosphäre,
Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre auf komplexe
Weise miteinander verbunden sind. Prozesse, die in und
auf der Erde ablaufen, sind miteinander gekoppelt und
bilden verzweigte Ursache-Wirkungs-Ketten, die durch
den Eingriff des Menschen in die natürlichen Gleich-
gewichte und Kreisläufe nachhaltig beeinflusst werden
können.
Die rasche Entwicklung der Messtechnik und die
modernen Computertechnologien haben den Geowissen-
schaften in den letzten Jahren völlig neue Möglichkeiten
an die Hand gegeben. Sie sind heute in der Lage,
Prozesse in allen zeitlichen und räumlichen Skalenbe-
reichen hochaufgelöst zu erfassen, zu quantifizieren und
zu modellieren. Das geowissenschaftliche Instrumenta-
rium reicht von speziellen Satelliten und raumgestützten
Messsystemen über die verschiedenen Verfahren der
geophysikalischen Tiefensondierung und Forschungs-
bohrungen bis hin zu Laborexperimenten unter simu-
lierten in situ-Bedingungen, sowie mathematischen
Ansätzen zur Systemtheorie und Modellierung von Geo-
prozessen.
Die Nutzung und Weiterentwicklung dieses Poten-
zials bedürfen einer gemeinsamen Anstrengung von
Wissenschaft und Wirtschaft. Seine Anwendung auf die
Erforschung unseres Planeten dient dem Ziel, das
System Erde in all seinen Kompartimenten zu verstehen,
globale Veränderungen infolge natürlicher Vorgänge von
anthropogen bedingten Veränderungen zu unterscheiden
und relevante Prozesse mit ihren Wechselbeziehungen
zu quantifizieren. Auf der Grundlage dieses System- und
Prozessverständnisses sollen Strategien für die Sicher-
ung und umweltverträgliche Gewinnung natürlicher
Ressourcen, die Nutzung des ober- und unterirdischen
Raumes, die Deponierung von Abfallstoffen, die Be-
urteilung der Klima- und Umweltentwicklung sowie für
die Vorsorge vor Naturkatastrophen und der Minderung
ihrer Folgen entwickelt werden. Nur durch ein der-
artiges, international abgestimmtes und global umge-
setztes „Erdmanagement“ wird es möglich sein, der Ver-
pflichtung gerecht zu werden, die Erde als Lebensraum
zu bewahren und zukünftigen Generationen eine ange-
messene Lebensgrundlage zu erhalten.
Anliegen dieser Programmschrift ist es, die strate-
gische Ausrichtung der deutschen geowissenschaftlichen
Forschung aufzuzeigen. Sie umfasst 13 interdisziplinär
orientierte Themenschwerpunkte, die als Schlüsselthe-
men der geowissenschaftlichen Forschung in Deutsch-
land angesehen werden können. Durch die Bearbeitung
grundlegender prozessorientierter Fragestellungen kön-
nen somit wichtige Beiträge zu den drängenden gesell-
schaftsrelevanten und ökologischen Herausforderungen
der Zukunft geleistet werden.
Das Gesamtpaket erfordert eine Finanzierung in Höhe
von circa 30 Millionen Euro pro Jahr. Es wird in Teilen
und zeitlich abgestuft realisiert. Dazu wurde im Jahr
2000 das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN, als
gemeinsames Sonderprogramm des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung (BMBF) und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichtet. Ein Teil
der Themenschwerpunkte befindet sich bereits in der
Förderung (siehe S. IX). Alle Themenschwerpunkte re-
präsentieren das vielfältige und breite Spektrum geo-
wissenschaftlicher Forschung in Deutschland. Das FuE-
Programm GEOTECHNOLOGIEN gründet sich damit
auf ein – auch im internationalen Vergleich – beacht-
liches wissenschaftliches, methodisches und technologi-
sches Know-how, auf dem auch in Zukunft erfolgsver-
sprechend aufgebaut werden kann.
GEOTECHNOLOGIEN
Geowissenschaften – Perspektiven für unseren Planeten
Das Wissen um die Verletzlichkeit unseres Planeten
Erde als Lebensraum des Menschen hat in den letzten
Jahren Eingang in breite Kreise unserer Gesellschaft
gefunden. Nicht nur die verheerenden Folgen von Erd-
beben oder Vulkanausbrüchen, die uns Dank moderner
Technik nahezu täglich aus allen Teilen der Welt be-
drückend nah vor Augen geführt werden, auch die Sze-
narien einer globalen Klimaveränderung oder das
Bedürfnis einer stark wachsenden Weltbevölkerung nach
mehr Energie, mehr Wasser und mehr Raum haben in
der Öffentlichkeit zu einem gesteigerten Bewusstsein für
das äußerst anfällige System Erde geführt. Allgemein
akzeptiert ist dabei, dass ein Großteil der ökologischen
Probleme „hausgemacht“ ist, das heißt erst durch den
Menschen verursacht wird. War der Eingriff des
Menschen in seine Umwelt bis vor kurzem noch einer
von zahlreichen Prozessen, die unseren Planeten einem
steten Wandel unterwerfen, so haben im modernen
Industriezeitalter die menschlichen Aktivitäten Ver-
änderungen hervorgerufen, die in ihrer Größenordnung
den natürlichen Veränderungen von Jahrmillionen
entsprechen. Der Mensch ist damit selbst zu einem
geologischen Faktor geworden.
Fragen nach den Ursachen und den Möglichkeiten
einer verlässlichen Vorsorge werden heute nicht mehr
nur von den unmittelbar Betroffenen gestellt. Zwar be-
deuten Störungen des ökologischen Gleichgewichts – ob
anthropogen oder natürlich – nach wie vor gravierende
Einschnitte in die jeweiligen Lebensbedingungen; lang-
fristig schränken sie jedoch nicht nur die Lebensqualität
des Einzelnen ein, sie stellen vielmehr eine potenzielle
Gefährdung des globalen Gesellschafts- und Wirt-
schaftssystems dar. Dies gilt in besonderer Weise für die
Umweltbelastungen, die inzwischen weltweite Ausmaße
angenommen haben, und deren Folgen, zum Beispiel für
die Klimaentwicklung, noch nicht absehbar sind. Von
globaler Dimension sind aber auch die Auswirkungen
von Naturkatastrophen. Ihre Anzahl ist in den vergang-
enen Jahrzehnten keineswegs angestiegen. Überpropor-
tional gewachsen sind dagegen ihre zum Teil verhee-
renden Folgen: regional, aufgrund einer zunehmenden
Konzentration von Menschen und Wirtschaftsgütern in
gefährdeten Gebieten, und global durch das Zusam-
menwachsen der Weltwirtschaft. Dadurch werden heute
auch solche Länder, die durch ihre geographische Lage
nicht direkt gefährdet sind, indirekt von den Folgen von
Naturkatastrophen in Mitleidenschaft gezogen. Würde
beispielsweise ein vergleichbares Erbeben, wie es die
japanische Küstenstadt Kobe im Januar 1995 heim-
suchte, die Hauptstadt Tokyo treffen, so hätte dies nicht
nur einen unabsehbaren Verlust an Menschenleben und
Wirtschaftsgütern zur Folge. Wegen der herausragenden
Stellung Tokyos im Weltwirtschaftshandel wäre auch
eine dramatische Destabilisierung des Weltkapitalmark-
tes nicht auszuschließen.
Es wächst daher das Bewusstsein, dass ein nachhalti-
ges und international abgestimmtes Handeln zum Erhalt
des Lebensraums Erde notwendig ist. Den Geowissen-
schaften fällt in der Umsetzung dieser Aufgabe eine
zentrale Rolle zu, da sie aufgrund ihrer Kenntnis um die
Entwicklung und Dynamik unseres Planeten und der ihn
steuernden Prozesse über ein umfassendes Systemver-
ständnis verfügen.
Verstehen, Nutzen, Schützen – Wie dieGeowissenschaften dem Menschen und seiner Umwelt helfen
Forschungsgegenstand der Geowissenschaften ist das
System Erde, das heißt der Planet, auf dem wir leben,
mit den in seinem Inneren und an der Oberfläche ablau-
fenden chemischen, physikalischen und biologischen
Prozessen sowie den Wechselwirkungen zwischen den
Teilsystemen Geo-, Kryo-, Hydro-, Atmo- und Bio-
sphäre. Die raum-zeitliche Untersuchung des Systems
Erde erfolgt in allen Skalenbereichen, von der globalen
Beobachtung unseres Planeten aus dem Weltraum bis in
die atomare Dimension der Kristallgitter, von geolo-
gischen Zeiträumen für die Bildung von Gebirgen
(Millionen Jahre) bis in den Mikrosekundenbereich bei
Bruchvorgängen in Gesteinen (Erdbeben). Dementspre-
chend wird ein breites Spektrum an Methoden und
Techniken eingesetzt, das von speziellen Satelliten und
raumgestützten Messsystemen über hochauflösende
Verfahren der geophysikalischen Tiefenerkundung bis
hin zu Laborexperimenten reicht, in denen zum Beispiel
die in Erdkruste und Erdmantel existierenden Druck-
und Temperaturbedingungen naturgetreu nachempfun-
den werden können. Die modernen Computertechnolo-
gien haben den Geowissenschaftlern zudem völlig neue
Möglichkeiten an die Hand gegeben, Prozesse in allen
zeitlichen und räumlichen Skalenbereichen hochaufge-
löst zu erfassen und quantitativ zu modellieren.
Forschungsziel ist es, diese Prozesse und ihre Wech-
selbeziehungen zu verstehen sowie die Einwirkungen
des Menschen auf natürliche Gleichgewichte und Kreis-
läufe abzuschätzen und auf der Grundlage dieses
System- und Prozessverständnisses zu einem nachhaltig
orientierten Erdmanagement zu gelangen. Dabei spielen
die Ressourcensicherung und die umweltschonende
Ressourcennutzung eine zentrale Rolle. In einem um-
fassenderen Sinne bezieht sich der Begriff Ressourcen
dabei nicht nur auf die klassischen Energieträger und
Rohstoffe, sondern auch auf Wasser, Raum und Luft.
Unter gleichrangiger Berücksichtigung dieser drei Kom-
ponenten – Prozesse (Verständnis), Ressourcen (Nut-
zung) und Erdmanagement (Schutz) – konzentriert sich
das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN auf 13
ausgewählte Kernbereiche, die als Schlüsselthemen für
die zukünftige Orientierung geowissenschaftlicher For-
schung angesehen werden können. Entsprechend der
integrierenden und globalen Arbeitsweise der modernen
Geowissenschaften wird dabei der interdisziplinären Zu-
VI
VII
sammenarbeit und internationalen Kooperation große
Bedeutung beigemessen. Dies gilt insbesondere für die
benachbarten Natur- und Ingenieurwissenschaften und
in zunehmenden Maße für die Sozial- und Wirtschafts-
wissenschaften. Das breite und differenzierte Themen-
spektrum der Geowissenschaften eröffnet darüber hi-
naus vielfältige Möglichkeiten, Grundlagenwissen in
neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen umzu-
setzen und damit neue wirtschaftliche Anwendungsfel-
der zu erschließen. Die drei Komponenten des Pro-
gramms sind eng miteinander gekoppelt und können in
Form eines Wirkungsdreiecks dargestellt werden.
Auf diesen Leitvorstellungen beruhen die 13 großen
Themenschwerpunkte des FuE-Programms GEOTECH-
NOLOGIEN:
Zu einer Schlüsseltechnologie der globalen Erfor-
schung von Prozessen ist in den letzten Jahren die Erfas-sung des Systems Erde aus dem Weltraum geworden.
Völlig neue Perspektiven der Informationsgewinnung aus
geophysikalischen Erkundungs- und Abbildungsmethoden
ergeben sich auch durch den Einsatz moderner Computer-
technologien. Die Entwicklung weist hier in Richtung
einer Echtzeitbeobachtung von dynamischen Struktu-
ren, das heißt einer 4-D-Tomographie der Lithosphäre.
Das System Erde wird weitgehend durch das Erdin-nere als treibender Kraft geologischer Prozesse be-
stimmt. Damit kommt der Erkundung der stofflichen Zu-
sammensetzung und der Struktur der Erde sowie der im
Untergrund ablaufenden Prozesse, vom oberflächennahen
Bereich bis in große Erdtiefen, eine zentrale Rolle für die
Nutzung des Untergrundes oder auch die Vorsorge vor
Naturgefahren zu.
Ein vielversprechendes Einsatz- und Testgebiet einer 4-
D-Tomographie sind die aktiven Kontinentränder als
Regionen der Erde, in denen geologische Prozesse beson-
ders rasch ablaufen. Kontinentränder sind als Lebensraum
für den Menschen von stark zunehmender Bedeutung, da
sie „Ballungsräume“ mit Wirtschaftsmärkten darstellen.
Aktive Kontinentränder bergen ein besonderes Gefah-
renpotenzial durch starke Erdbeben oder Seebeben (Tsu-
namis) sowie hochexplosiven Vulkanismus. Sie zeichnen
sich ebenso wie die passiven Kontinentalränder aber
gleichzeitig durch bedeutende Vorkommen von Roh-
stoffen und fossilen Energieträgern aus.
Vor dem Hintergrund der Ressourcensicherung spie-
VIII
len Sedimentbecken eine herausragende Rolle. In Sedi-
mentbecken werden wesentliche Ressourcen für die
Zukunft der Menschheit gebildet und gespeichert. Dazu
gehören die fossilen Energieträger, die zu 90 % die Welt-
energieversorgung sicherstellen, ebenso wie der größte
Teil des für die Trinkwasserversorgung benötigten
Grundwassers. Daneben sind Sedimentbecken Quellen
für viele nichtmetallische Rohstoffe, Baustoffe, Zement-
rohstoffe und Düngemittel. Inzwischen gewinnen sie
eine zunehmende Bedeutung als Standorte für Deponien
hochtoxischer und radioaktiver Abfälle sowie als
Speicher für Gase, Flüssigkeiten und Feststoffe.
Die wachsende Verantwortung der Geowissenschaf-
ten im Rahmen eines integrierenden Umweltmanage-
ments wird insbesondere auch bei der Erkundung, derNutzung und dem Schutz des unterirdischen Raumesdeutlich. Mit der Bevölkerungszunahme wird bei der
Schaffung von Versorgungs- und Verkehrswegen, bei der
Erschließung und Speicherung von fossilen Energieträ-
gern und bei der Deponierung von Abfallstoffen in zu-
nehmendem Maße der unterirdische Raum einbezogen
werden müssen. Hierzu bedarf es innovativer Methoden
der Planung, Herstellung und Qualitätssicherung von
Horizontalbohrungen, Tunneln und Mikrotunneln für
Ver- und Entsorgungsleitungssysteme im Untergrund
von Siedlungs- und Industriegebieten. Darüber hinaus
werden neue geotechnische Sicherheitskonzepte für die
Nutzung untertägiger Bereiche als Wirtschaftsraum, als
Untertagespeicher und zur Endlagerung umweltgefähr-
dender Stoffe, u.a. zur unterirdischen Deponierung des
Treibhausgases CO2, benötigt. Zu entwickeln sind zu-
verlässige, praktikable Kriterien und Methoden zur
Bewertung und Quantifizierung der Nutzungspotenziale
und -risiken.
Die nachhaltige Nutzung des Lebensraums Erde er-
fordert ein deutlich verbessertes Verständnis der
Wechselwirkungen und Koppelungsmechanismen der
Teilsysteme Geosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und
Biosphäre. Umwelt- und Klimaänderungen zeigen kurz-
fristige Schwankungen und langfristige Trends. Ablauf,
Schnelligkeit und Folgen von Schwankungen sind in
erdgeschichtlichen Dokumenten der Geo-Biosphäre
überliefert. Das gekoppelte System Erde – Leben gibt
ein Maß für Eigenschaften, Raten und Schwankungs-
breiten der Prozesse, die die Evolution von kleinsten
Mikroben bis zum Menschen kontrollieren und beein-
flussen. Vergleiche der heutigen Situation mit der erdge-
schichtlichen Entwicklung liefern den notwendigen
Rahmen, um die Sensibilität des Systems Erde – Leben
gegenüber Änderungen der Geosphäre, Hydrosphäre,
Atmosphäre und Biosphäre zu verstehen und ihre Aus-
wirkungen auf den Menschen und seinen Lebensraum zu
identifizieren. Neuere Forschungen zeigen dabei immer
deutlicher, wie sehr gerade auch Organismen das System
Erde beeinflussen, wobei sie Klima- und Umweltverän-
derungen verursachen, dämpfen oder positiv verstärken
können. Vor dem Hintergrund möglicher natürlicher Kli-maänderungen stellt die Untersuchung der anthropogen
verursachten Klimaeinflüsse und -änderungen eine Her-
ausforderung an die Wissenschaft dar. Wenn die aktuelle
Frage nach dem anthropogenen Einfluss auf das Klima
und die Umwelt zuverlässig beantwortet werden soll,
müssen Geschwindigkeit, Art und Ausmaß von natür-
lichen Klimavariationen erforscht und ihre Ursachen
erkannt werden. Erst dadurch wird es möglich, natür-
liche von anthropogen bedingten Klimaveränderungen
verlässlich zu unterscheiden. Aus geologisch-klimatolo-
gischen Archiven, wie dem Eis vergletscherter Gebiete
und marinen sowie kontinentalen Sedimenten, können
physikalische, chemische und biologische Messgrößen
rekonstruiert werden, die zur Erstellung von Klimamodel-
len und zur Validierung von Klimaprognosen dienen.
Die anthropogene Beeinflussung der Ökosysteme
führt zu einer nachhaltigen Veränderung der Stoffhaus-
halte in Geosphäre, Kryosphäre, Hydrosphäre, Atmos-
phäre und Biosphäre. Spätestens seit der industriellen
Revolution hat dieser Einfluss eine Dimension ange-
nommen, die in vielen Fällen den natürlichen Verände-
rungen – zumindest bei einzelnen Stoffen – entspricht
und diese manchmal sogar übertrifft. Die Eingriffe erge-
ben sich durch die Entnahme und Nutzung von Roh-
stoffen sowie durch die Rückgabe an die „Natur“ in
Form von Abfall, Abwasser und Abgas. Schwerpunkt-
mäßig sollen die Stoffkreisläufe der Elemente Kohlen-
stoff und Schwefel untersucht werden, da diese Stoffe
vom Menschen in erheblichen Mengen in Umlauf
gebracht und damit ihre natürlichen Stoffflüsse be-
sonders stark beeinflusst werden.
Nach neuesten Abschätzungen und Berechnungen
sind die größten Methanvorkommen der Erde an Gashy-drate gebunden. Sie stellen damit eine mögliche Ein-
flussgröße für die globale Klimaänderung dar. Die Mas-
se des in Hydraten gebundenen klimarelevanten Me-
thans übersteigt die des heute in der Atmosphäre be-
findlichen Methans um das circa 3.000fache. In der ge-
genwärtigen Klimadiskussion aber findet Methan im
Vergleich zu Kohlendioxid nur wenig Beachtung, ob-
wohl sein „Treibhauspotenzial“ wesentlich größer als
das des Kohlendioxids ist.
Chemische Reaktionen und umweltrelevante Aus-
tauschprozesse zwischen den einzelnen Teilsystemen
werden in den meisten Fällen durch die physikalisch-
chemischen Eigenschaften von Mineraloberflächen ge-
steuert. Allein die Erdkruste beinhaltet mehrere Hundert-
millionen Quadratkilometer dieser Oberflächen, die wie
eine riesige „chemische Fabrik“ wirken. Durch die
direkte Beobachtung von Reaktionsmechanismen im
atomaren Maßstab können fast alle anthropogen beein-
flussten regionalen und globalen Prozesse verstanden,
unter dem Gesichtspunkt der Prozessoptimierung und
der Umweltverträglichkeit verbessert und direkt für
konkrete Umsetzungen in neue technische Produkte
genutzt werden.
Naturkatastrophen, wie zum Beispiel Erdbeben, Vul-
kanausbrüche, Wirbelstürme, Hochwasser oder Hangrut-
schungen, haben in den letzten zwei Jahrzehnten in der
ganzen Welt über drei Millionen Menschenleben ge-
fordert, das Leben von mindestens 800 Millionen
Menschen beeinträchtigt und zu unmittelbaren Schäden
in Höhe von 230 Milliarden US$ geführt.
Der steigende Bedarf an Katastrophenhilfe und
Katastrophennachsorge kann nur durch eine Abwehr-
strategie bewältigt werden, die Konzepte und Techno-
logien zur Katastrophenvorbeugung in den Mittelpunkt
stellt. Gemäß der IDNDR-Initiative „Mehr Katastro-
phenvorbeugung zur Reduzierung der notwendigen
Katastrophennachsorge“ sind viele Länder aufgerufen,
allein oder im Rahmen von Absprachen, neben der Aus-
arbeitung von Plänen zur Katastrophenvorbeugung und
zum Katastrophenschutz auch die Entwicklung und Ein-
richtung globaler, regionaler und lokaler nationaler
Frühwarnsysteme vorantreiben.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisie-
rung von Forschung und Wirtschaft bekommt die enge
Verbindung von Wissenschaft und Informationstechno-logie eine besondere Bedeutung. Die Themenstellungen
und Organisation wissenschaftlicher Projekte werden
zunehmend komplexer, tragen immer deutlicher einen
globalen, ganzheitlichen Charakter und basieren auf der
Integration und Auswertung unterschiedlicher Daten.
Die heute verfügbaren Informations- und Kommunika-
tionstechnologien bilden die technischen Grundlagen für
verteiltes Arbeiten über Organisationsgrenzen hinweg,
für den Zugriff auf entfernte Informationsbestände oder
für die Kommunikation über große Distanzen und
schaffen wichtige Voraussetzungen, um eine Spitzenstel-
lung im internationalen Wettbewerb zu erreichen. Des-
halb ist die Weiterentwicklung und Optimierung dieser
Technologien integraler Bestandteil jedes Projekts im
Konzept GEOTECHNOLOGIEN. Insbesondere geht es
darum, den Informationsfluss sowie die Integration,
Dokumentation und Verfügbarkeit von Daten im
Rahmen des Gesamtkonzepts sicherzustellen.
Konzertierte Aktion für Spitzenleistung
Deutschland gehört heute zum Kreis der führenden
Nationen auf dem Gebiet der geowissenschaftlichen
Forschung und deren technologischer Umsetzung. Dies
ist nicht zuletzt einer soliden Ausbildung, einem ausge-
zeichneten infrastrukturellen Rahmen und einer guten
Forschungsförderung zu verdanken. Erhalt und Ausbau
dieser Rahmenparameter sind für eine konkurrenzfähige
Stellung – insbesondere im internationalen Umfeld – un-
bedingt notwendig. Dies gilt für die personelle und sach-
liche Grundausstattung der einzelnen Hochschul- und
Forschungsinstitute ebenso wie für eine angemessene
Projektförderung von nationalen und internationalen
Programmen.
Um den gesellschafts- wie arbeitsmarktpolitischen
Anforderungen an die Geowissenschaften gerecht
werden zu können, bedarf es jedoch eines konzertierten
Vorgehens, an dem auch die Wissenschaft beteiligt sein
sollte. Sie ist dabei in erster Linie gefordert, neue
Perspektiven zu entwickeln, wie sie ihren Beitrag in
Bezug auf Management und nachhaltige Entwicklung
des Lebensraums Erde wahrnehmen will. Neben der
Definition wissenschaftlicher Leitlinien gehören dazu,
wie in weiten Bereichen bereits begonnen, konkrete
Vorschläge zur Reform der Studiengänge, um diese
unter Bewahrung der notwendigen Flexibilität den ge-
änderten Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.
Des Weiteren ist es notwendig, dem ohne Frage berech-
tigten Anliegen nach stärkerer Transferleistung zwischen
Grundlagenforschung und anwendungsorientiertem
Nutzen zu entsprechen. Schon heute lässt sich in vielen
spezifischen Forschungsprojekten der Geowissenschaf-
ten Grundlagenforschung nicht mehr von angewandter
Forschung abgrenzen. So findet – nach wie vor zwar
grundlagenorientiert – geowissenschaftliche Forschung
heute immer stärker ihren Niederschlag in der Ent-
wicklung neuer Technologien, Methoden und markt-
fähiger Produkte. Herausgegriffen seien nur die im
Rahmen von KTB entwickelten und inzwischen welt-
weit eingesetzten Verfahren der Richtbohrtechnologie,
die auf der marinen Geoforschung basierenden Tech-
nologien zur Untersuchung und Langzeitüberwachung
des Meeresbodens in der Tiefsee oder die konsequente
Umsetzung von Grundlagenwissen in die Praxis der
Denkmalpflege und die Bereitstellung von geotech-
nischen Sicherheitskonzepten für die Nutzung des
Untergrundes als Wirtschaftsstandort. Der Erschließung
aufsehenerregender Hochtechnologiefelder, wie zum
Beispiel der Raumfahrt, tragen geowissenschaftliche
Satellitenprojekte, wie die vom GFZ Potsdam feder-
führend durchgeführten Satellitenmissionen CHAMP
(CHAllenging Mini-Satellite Payload for Geophysical
Research and Application) und GRACE (Gravity
Recovery and Climate Experiment) Rechnung.
Geowissenschaftliche FuE-Aktivitäten werden sich
auch zukünftig am nationalen Bedarf orientieren
müssen. Gleichermaßen bedeutend aber sind die am
internationalen Markt ausgerichteten FuE-Aktivitäten,
die in erster Linie der Sicherung und dem Transfer be-
stehenden Know-hows dienen.
FuE Programm GEOTECHNOLOGIEN – Standder Umsetzung
Seit dem Start des FuE-Programms GEOTECHNO-
LOGIEN im Jahre 2000 wurden sieben der dreizehn
thematischen Schwerpunkte in konkrete Forschungs-
projekte umgesetzt. Sie werden entweder im Rahmen
der BMBF-Projektförderung oder als DFG-Schwer-
punktprogramme bearbeitet und sind auf Arbeitsebene
vielfach miteinander vernetzt.
Die Beobachtung des Systems Erde aus demWeltraum
Zu dem Themenschwerpunkt „Die Beobachtung des
Systems Erde aus dem Weltraum“ fördern das Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und
die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Zeit
IX
elf Forschungsverbünde mit einem Finanzvolumen von
knapp 10 Millionen Euro in einer ersten Förderphase
(2001–2004). Der Schwerpunkt der Fördermaßnahmen
fokussiert sich auf die internationalen Satelliten-
missionen GRACE (Gravity Recovery And Climate
Experiment), CHAMP (CHAllenging Minisatellite
Payload) und GOCE (Gravity field and steadystate
Ocean Circulation Explorer) sowie die wissenschaftliche
Auswertung und praktische Nutzung dieser
Missionsdaten.
Mit der vom GeoForschungsZentrum Potsdam gelei-
teten Satellitenmission CHAMP, dessen deutsch-ameri-
kanischem „Schwesterprojekt“ GRACE und der von der
Europäischen Raumfahrt Agentur ESA für 2006 geplan-
ten Schwerefeldmission GOCE wird ein neues Kapitel
in der Erforschung des Planeten Erde aufgeschlagen.
Ziel der Missionen ist die hochgenaue Vermessung des
Schwere- und Magnetfeldes der Erde. So ist es mit einer
neuartigen Technik an Bord der Satelliten möglich,
deren Bahnbestimmung und damit die Schwerefeldbe-
rechnung um mehrere Größenordnungen gegenüber her-
kömmlichen Verfahren zu verbessern. Ein Quanten-
sprung, da durch die exakte Vermessung der Schwerkraft
sehr genaue Aussagen über Meeresspiegeländerungen
und Tiefenwasserströme in den Ozeanen möglich sind.
Einen ebenso praktischen Beitrag liefert die hochgenaue
Vermessung des Erdmagnetfeldes, das zur Zeit stark
abnimmt. Das Erdmagnetfeld schützt die Erde wie ein
unsichtbarer Schirm vor den elektromagnetischen Teil-
chen der Sonne, dem sogenannten Sonnenwind. Fällt
dieser Schutz einmal aus, kann das Leben auf der Erde
empfindlich gestört werden: Stromnetze brechen zusam-
men und Kommunikationssysteme und die Navigations-
anlagen in Flugzeugen und Satelliten würden gestört. Im
Rahmen der CHAMP-Mission wollen die Forscher
daher vergleichsweise einfache Modelle entwickeln, mit
denen die zeitlichen Variationen des Erdmagnetfeldes
verständlich zu beschreiben sind. Eine verlässliche
Vorhersage des Weltraumwetters rückt damit in
greifbare Nähe. CHAMP und GRACE vermessen zu-
dem die vertikale Verteilung des Wasserdampfs und der
Temperatur in der Atmosphäre. Diese Daten sind sowohl
für die Wettervorhersage als auch für die Klima-
forschung von großer Bedeutung. Integraler Bestandteil
der Förderung ist die Entwicklung neuer Technologien,
in der Regel durch die Zusammenarbeit mit kleinen und
mittelgroßen Unternehmen. So koordiniert die Bayer-
ische Akademie der Wissenschaften einen Forschungs-
verbund aus Universitäten und Technologie-
unternehmen, die ein Verfahren entwickeln, mit dem die
Messung des Erdschwerefeldes aus niedrigfliegenden
Flugzeugen möglich wird: Eine für viele praktische An-
wendungen wichtige Technologie, da nur so die erfor-
derliche räumliche Auflösung von etwa 1 km erreicht
werden kann. Den Aufbau eines weltweit gültigen
Bezugsystems zur Integration geodätischer Raumver-
fahren hat ein von der Technischen Universität München
koordinierter Verbund aus Universitäten und außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen im Rahmen des
Internationalen Erdrotationsdienstes (IERS) übernom-
men. Mit dem Aufbau eines solchen Nutzerzentrums
übernimmt Deutschland in diesem Forschungsfeld eine
führende internationale Rolle.
An den geförderten Forschungsprojekten sind Uni-
versitäten, außeruniversitäre Einrichtungen und auf-
grund der erheblichen Anwendungsrelevanz diverse
Wirtschaftsunternehmen aus Deutschland beteiligt. Bei
der Datenauswertung wird ein bislang selten erreichtes
Maß an interdisziplinärer Zusammenarbeit erreicht. Fast
alle Vorhaben sind zudem in internationale Gemein-
schaftsprojekte eingebunden.
Das Erdinnere als treibende Kraft geologischerProzesse
Zu diesem Themenkomplex richtete die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) im Frühjahr 2000 das
Schwerpunktprogramm „Erdmagnetische Variationen:
Raum-Zeitliche Struktur, Prozesse und Wirkungen auf
das System Erde“ ein.
Die Feldstärke des Erdmagnetfeldes ist augenblick-
lich in schneller Abnahme begriffen. So ist der Anteil
des Dipolmomentes in den letzten 300 Jahren um rund
3% zurückgegangen, im Nordatlantik beträgt die gegen-
wärtige Abnahme sogar 100 nT/Jahr, also 25 % pro Jahr-
hundert. Dieser rapide Rückgang der Feldintensität kann
als Hinweis auf eine kurz bevorstehende Umpolung des
Erdmagnetfeldes gedeutet werden. Dies wäre für das
Leben auf der Erde jedoch mit erheblichen Konse-
quenzen verbunden, da das Magnetfeld die Erdober-
fläche gegen den Einfall der hochenergetischen kosmi-
schen Strahlung abschirmt.
Seit Einrichtung des Schwerpunktprogramms „Erd-
magnetische Variationen“ konnten wesentliche Beiträge
zu einem verbesserten Verständnis des Erdmagnetfeldes
geleistet werden. Die CHAMP-Mission mit ihren räum-
lich und zeitlich sehr hochaufgelösten Magnetfeld-
messungen erlaubt neuartige, sehr detaillierte Analysen
des Hauptfeldes und seiner säkularen Variationen. Die
paläomagnetischen Analysen werden mit großem
Aufwand durchgeführt und führen zu immer präziseren
Aussagen über das Paläofeld wie etwa das Verhalten des
lokalen Feldvektors während kurzer geomagnetischer
Exkursionen. Die Einflüsse der Diagenese in Sedi-
menten auf die Remanenzträger und damit des paläo-
magnetischen Signals als Abbild der geomagnetischen
Variationen werden immer detaillierter und besser
verstanden. Übergreifende Analysen wie das Zusam-
menführen von weltweiten Säkularvariationsdaten auf
der Basis von Observatoriums- und Satellitenmessungen
als auch Paläomagnetikdaten erlauben deutlich ver-
besserte Anpassungen von Modellen an die gemessenen
Säkularvariationen. Die Geodynamomodellierer machen
spektakuläre Fortschritte in ihrem Verständnis der für
den Dynamoprozess wesentlichen physikalischen Pro-
zesse und stehen in engem Kontakt mit den Mag-
netikern, um ihre Modelle anhand von rezenten und
Paläodaten zu erproben. Auch hinsichtlich der Wir-
kungen erdmagnetischer Variationen auf das Magneto-
sphären-lonosphären-Atmosphärensystem sind wichtige
X
Fortschritte zu verzeichnen. So ist mit großer Wahr-
scheinlichkeit davon auszugehen, dass während eines
Polaritätswechsels eine deutliche Abnahme des Ozons in
der polaren Atmosphäre auftritt, die durch vermehrten
Eintritt hochenergetischer Protonen bewirkt wird.
Übergeordnetes Ziel des Schwerpunktprogramms ist
die Erstellung von Geodynamomodellen, die wesent-
liche Eigenschaften des Erdmagnetfeldes beschreiben,
um eventuell auch Voraussagen entwickeln zu können.
Kontinentränder: Brennpunkte im Nutzungs- undGefährdungspotenzial der Erde
Die Ränder der Kontinente zählen heute zu den
wichtigsten Lebens- und Wirtschaftsräumen der Erde.
Mehr als 80 % der Weltbevölkerung lebt inzwischen in
einem circa 200 km breiten Streifen entlang der Küsten.
Die Bedeutung der Kontinentränder wird nach allen
demographischen und ökonomischen Studien zukünftig
sogar noch zunehmen. Gleichzeitig konzentrieren sich
über 90 % der globalen Erdbebentätigkeit sowie fast alle
hochexplosiven Vulkane auf diese Lebensräume. Konti-
nentränder sind daher weltweit in den Blickpunkt der
Forschung gerückt.
Der BMBF fördert unter dem Themenschwerpunkt
„Kontinentränder: Brennpunkte im Nutzungs- und
Gefährdungspotenzial der Erde“ ab dem 1. Januar 2004
drei interdisziplinär angelegte Forschungsverbünde mit
einem Gesamtvolumen von knapp 6 Millionen Euro für
eine erste dreijährige Förderphase. Vor den Küsten
Chiles und Indonesiens werden Wissenschaftler von
Universitäten und außeruniversitären Forschungsein-
richtungen gemeinsam mit ihren Partnern vor Ort die
„bewegte“ Geschichte von kollidierenden Krustenplatten
erforschen. Die Wissenschaftler erwarten, dass sie mit
ihren Ergebnissen entscheidend zur Erforschung von
Erdbeben und Vulkanausbrüchen und damit zur Ent-
wicklung neuer Frühwarnsysteme beitragen können.
Von großer ökologischer wie ökonomischer Bedeu-
tung ist ein Vorhaben vor der Küste Namibias, das die
periodisch auftretenden Ausbrüche toxischer Gase (Me-
than und Schwefelwasserstoff) in einem der fisch-
reichsten Meeresökosysteme der Erde untersucht. Die
deutschen Wissenschaftler und ihre Partner aus Südafri-
ka und Namibia wollen daher zunächst die Herkunft und
Verbreitung der Gase klären und die Auswirkungen der
Eruptionen auf die umgebende Lebewelt untersuchen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) trägt
der europäischen Komponente der internationalen Kon-
tinentrandforschung Rechnung. Im Rahmen der For-
schungsinitiative EUROMARGINS der European
Science Foundation (ESF) fördert die DFG unter dem
Dach von GEOTECHNOLOGIEN zur Zeit 11 For-
schungsprojekte mit einem Finanzvolumen von 2,1
Millionen Euro für eine ebenfalls dreijährige Förder-
phase. Die Vorhaben sind Teil europäischer Gemein-
schaftsprojekte.
Sedimentbecken: Die größte Ressource derMenschheit
Zu diesem Forschungsschwerpunkt richtete die DFG
im Frühjahr 2002 ein Schwerpunktprogramm ein. Unter
dem Titel „Dynamik sedimentärer Systeme unter
wechselnden Spannungsregimen am Beispiel des zen-
traleuropäischen Beckensystems“ werden derzeit 29
Einzel- und Verbundvorhaben gefördert. Das zentrale
Thema dieses Schwerpunktprogramms ist die Quantifi-
zierung der Prozesse, die für die Bildung und Ausge-
staltung von Sedimentbecken verantwortlich sind. Zu
diesen Prozessen gehören:
• die durch das globale Spannungsfeld bedingte
Dehnung oder Verkürzung der Erdkruste, sowie die
damit verbundene Entwicklung von Störungssystemen
• Kompaktion, Salzbewegung und Fluidbildung, sowie
die spätere Überprägung durch externe Steuerungs-
faktoren
• die Transportprozesse, über die Gase und Flüssigkei-
ten durch den Porenraum der Gesteine migrieren, ihre
Abhängigkeit von Kompaktion, Störungssystemen
und geothermischem Feld, sowie die dabei auftreten-
den Wechselwirkungen mit dem Festgestein
• die Sedimentanlieferung und -verteilung als Spiegel
tektonischer Prozesse und klimatischer Veränderungen.
Das gewonnene Verständnis soll später auf andere,
weniger gut erforschte Sedimentbecken übertragen
werden. Die Arbeiten werden in enger Kooperation mit
Wissenschaftlern aus Großbritannien, Dänemark und
Polen durchgeführt.
Gashydrate im Geosystem
Gashydrate sind heute weltweit ins Blickfeld der
Forschung gerückt. In einigen Ländern, wie zum Beispiel
in Japan, ist man sogar entschlossen, diese Energiequelle
zukünftig kommerziell zu nutzen. Auch in Deutschland
wird der Gashydratforschung eine hohe Priorität beigemes-
sen. Im Forschungsprogramm GEOTECHNOLOGIEN
nimmt sie daher eine herausgehobene Stellung ein. Knapp
15 Millionen Euro standen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern in 14 Verbundprojekten in einer ersten
Förderphase (2000-2003) zur Verfügung. Das Hauptaugen-
merk der Forschungsvorhaben richtet sich jedoch nicht auf
das mögliche Energiepotenzial der Gashydrate, sondern auf
ihre Rolle im Kohlenstoffkreislauf, ihre mögliche Klima-
wirksamkeit und das Risikopotenzial.
Die FuE-Arbeiten im Rahmen des Schwerpunktes
„Gashydrate im Geosystem“ konzentrieren sich daher auf
fünf Themenbereiche:
• Erkennung und Quantifizierung von Gashydraten
• Methanumsetzung im globalen Kohlenstoffkreislauf
• Zeitliche Veränderung der globalen Methanbilanz:
Klimawirksamkeit
• Mechanische Instabilität des Untergrundes und
Risikopotenzial durch Gashydrate
• Technologieentwicklung
XI
Die bislang durchgeführten Forschungsarbeiten kön-
nen bereits auf eine Reihe international vielbeachteter
Erfolge verweisen. Dies gilt insbesondere für die Ent-
wicklung neuer Technologien auf den Gebieten des An-
lagenbaus, der Sensorik und der Erkundungs-, Entnah-
me- und Untersuchungstechniken. Mit neuartigen Be-
probungstechnologien und der Entwicklung von Druck-
und Experimentierkammern ist es somit erstmals mög-
lich, Gashydrate unter den realen Druck- und Tempera-
turbedingungen ihres Herkunftsgebietes zu bergen und
für weitere Experimente im Labor zu nutzen. Feder-
führend in der Entwicklung dieser Technologien sind die
Technische Universität Hamburg-Harburg und die
Technische Universität Berlin. Neue Einblicke in bislang
verschlossene Lebenswelten vermitteln Forschungsar-
beiten in den sauerstofffreien Tiefen des Schwarzen
Meeres. Wissenschaftlern der Universitäten Hamburg
und Göttingen sowie des Bremer Max-Planck-Instituts
für Marine Mikrobiologie gelang im Rahmen eines
internationalen Verbundvorhabens der Nachweis von
urzeitlichen Mikroorganismen, die Methan ohne Sauer-
stoff abbauen können und damit eine wichtige Rolle im
Methankreislauf des Meeres übernehmen. Im internatio-
nalen Bohrprojekt MALLIK, an dem im Rahmen von
GEOTECHNOLOGIEN Wissenschaftler des GFZ
Potsdam teilnahmen, wurde in der kanadischen Arktis
zur Jahreswende 2001/2002 erstmals ein Gashydrat-
reservoir erfolgreich angezapft. Große Bedeutung
kommt auch der Standsicherheitsprognose von Tiefsee-
hängen und hier verankerten Offshore-Anlagen zu. Wis-
senschaftlern von der FU-Berlin und der Universität
Kiel gelang es erstmals, Spannungsreaktionen im Sedi-
ment, die durch eine Volumenänderung von Gashydraten
hervorgerufen wird, messtechnisch zu erfassen.
Eine internationale Begutachtung zum Ende der
ersten Förderphase (2001-2003) bescheinigte der Gas-
hydratforschung im Rahmen des Sonderprogramms
GEOTECHNOLOGIEN, eine weltweit führende Posi-
tion eingenommen zu haben.
Informationssysteme im Erdmanagement – VonGeodaten zu Geodiensten
Geodaten sind ein wesentlicher Teil des in der mo-
dernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft
vorhandenen Wissens. Sie werden auf allen Ebenen des
Öffentlichen Lebens genutzt und sind vielfach Grund-
lage des planerischen Handelns. Ihre Verfügbarkeit ist
maßgebliche Voraussetzung für Standort- und Investi-
tionsentscheidungen. Geodaten und Geoinformationen
bilden damit ein Wirtschaftsgut ersten Ranges und kön-
nen wesentlich zum ökonomischen Wachstum beitra-
gen. Gegenwärtig ist ein effizienter Umgang mit Geo-
informationen jedoch nur eingeschränkt oder mit er-
heblichem Kostenaufwand möglich. Wesentliche Ur-
sache hierfür sind der Mangel an einheitlichen Daten-
strukturen, Formaten und Spezifikationen sowie
veraltete Informationstechniken, auf denen viele der
heutigen Systeme basieren.
In einer ersten dreijährigen Förderphase werden seit
2002 sieben Verbundvorhaben im Rahmen des Themen-
schwerpunktes „Informationssysteme im Erdmanage-
ment – Von Geodaten zu Geodiensten“ gefördert. Wis-
senschaftler aus Universitäten und außeruniversitären
Forschungseinrichtungen arbeiten hier gemeinsam mit
ihren Partnern aus der Industrie zu folgenden Themen-
stellungen:
• Entwicklung von plattformunabhängigen offenen
Softwaresystemen für die Datenhaltung, Analyse und
Präsentation
• Verbesserte Nutzbarkeit großer heterogener geo-
wissenschaftlicher Datenbestände
• Modellierung raum-zeitlicher Zusammenhänge
• Entwicklung innovativer Visualisierungsmethoden
für raumbezogene und dynamische geowissenschaft-
liche Daten in 2-D, 3-D und 4-D.
In enger Absprache mit anderen Initiativen zu dieser
Thematik leisten sie einen wichtigen Beitrag, um die
wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen für
eine effizientere Nutzung großer heterogener Datenbe-
stände zu schaffen und ihre langfristige Verfügbarkeit in
Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung sicherzustellen.
Globale Klimaänderungen – Ursachen und Aus-wirkungen
Im Rahmen einer programmübergreifenden Initiative
wird der Themenschwerpunkt „Globale Klimaänderung-
en – Ursache und Auswirkungen“ bearbeitet. Dies bot
sich an, da quasi zeitgleich mit dem FuE-Programm
GEOTECHNOLOGIEN das vom BMBF geförderte
Deutsche Klimaforschungsprogramm (DEKLIM) ins
Leben gerufen wurde. In DEKLIM arbeiten Wissen-
schaftler unterschiedlicher Disziplinen an Fragestellung-
en zur Klimaforschung in folgenden Bereichen:
• Paläoklima
• Regionale Prozessstudien im Ostseeraum
• Klimavariabilität und Vorhersagbarkeit
• Klimawirkungsforschung
Zwölf Vorhaben richten sich in erster Linie auf die
Rekonstruktion des Paläoklimas. Sie werden unter dem
gemeinsamen Dach von DEKLIM und GEOTECHNO-
LOGIEN durchgeführt.
XII
Förderinstitution
BMBF, DFG
DFG
BMBF, DFG
–
DFG
BMBF
–
–
–
–
–
BMBF
BMBF
Status
Komplementäre Förderung von 11 Ver-
bund- und Einzelvorhaben (2002-2004)
Schwerpunktprogramm „Erdmagnetische
Variationen: Raum-Zeitliche Struktur,
Prozesse und Wirkungen auf das System
Erde“ (Beginn: 2000)
Förderung von 14 Verbund- und Einzel-
vorhaben (2004-2006)
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Schwerpunktprogramm „Dynamik Sedi-
mentärer Becken “ (Beginn: 2002)
Förderung von 14 Verbund- und Einzel-
vorhaben (2000-2003)
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Zur Zeit noch nicht in der Förderung
Förderung von sechs Verbundvorhaben
(2002-2005)
Förderung von 13 Einzel- und Verbund-
vorhaben zum Verständnis des Paläokli-
mas im Rahmen von DEKLIM (Beginn:
2001/2002)
XIII
Tabelle: Themenschwerpunkte des Forschungs- undEntwicklungsprogramms GEOTECHNOLOGIEN undder Stand ihrer Umsetzung
Themenschwerpunkte
Erfassung des Systems Erde
aus dem Weltraum
Das Erdinnere als treibende Kraft
geowissenschaftlicher Prozesse
Kontinentränder: Brennpunkte im
Nutzungs- und Gefährdungspotenzial
der Erde
Tomographie der Erdkruste – Von der
Durchschallung zum Echtzeitmonitoring
Sedimentbecken: Die größte Ressource
der Menschheit
Gashydrate im Geosystem
Stoffkreisläufe: Bindeglied zwischen
Geosphäre und Biosphäre
Das gekoppelte System Erde – Leben
Erkundung, Nutzung und Schutz des
unterirdischen Raums
Mineraloberflächen: Von atomaren
Prozessen zur Geotechnik
Frühwarnsysteme im Erdmanagement
Informationssysteme im Erdmanagement
Globale Klimaänderungen – Ursachen
und Auswirkungen
1
Die Ausmessungen der Erdfigur und ihre Veränderung, die Orientierung der Erde im
Raum und die Beschreibung ihres Magnet- und Schwerefeldes sind die Schwerpunkte
des Themas „Beobachtung des Systems Erde aus dem Weltraum“. Sie liefern wesentli-
che Beiträge zur Dynamik des Erdkörpers und zur Entschlüsselung der komplexen Wechsel-
wirkung zwischen den verschiedenen Einheiten des Systems Erde.
Raumgestützte Beobachtungsverfahren nehmen aufgrund einer atemberaubenden Entwicklung
in den letzten Jahren heute eine Sonderstellung in der geowissenschaftlichen Forschung ein.
Nur sie sind in der Lage, in kurzer Zeitabfolge globale Messreihen zu liefern, die konsistent
und homogen sind. Dadurch konnte das Spektrum der erfassbaren Erdparameter deutlich er-
weitert, die Messgenauigkeit erhöht und der Faktor Zeit erschlossen werden. So lassen sich
heute beispielsweise die Bewegungsraten kontinentaler Platten direkt messen. Dicht verteilte
GPS-Empfänger in Erdbebengebieten können kleinste Erdkrustenverschiebungen nachweisen.
Mit anderen Anwendungen wiederum werden minimale Verformungen, zum Beispiel vor dem
Ausbruch eines Vulkans detektierbar.
Mit den Ergebnissen der Satellitenmissionen CHAMP, GRACE und GOCE lässt sich das
Schwerefeld der Erde mit großer Detailgenauigkeit erfassen. Damit werden das Zirkulations-
verhalten der Ozeane, Massenanomalien, Massentransport und Massenaustauschprozesse im
Erdsystem erstmals sichtbar gemacht. Deutsche Wissenschaftler sind, unter anderem durch das
FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN, federführend an diesen internationalen Missionen
beteiligt. Deutschland konnte damit in gleich mehreren Schlüsselfeldern dieses innovativen
Forschungsgebietes eine weltweit anerkannte Führungsposition übernehmen.
In den kommenden Jahren gilt es, die bestehenden und zukünftige Messverfahren nicht nur
weiterzuentwickeln, sondern die bisher meist separat eingesetzten Technologien zu einem Inte-
grierten Geodätisch-Geodynamischen Monitoringsystem (IGGM) zu verschmelzen. Im Sinne
eines Systemansatzes ist dies der notwendige Schritt zu einer Prozesserfassung und einem
Prozessverständnis des Systems Erde.
Erfassung des Systems Erde aus dem Weltraum
Integriertes Geodätisch-Geodynamisches Monitoringsystem
Mit der Verknüpfung in Raum und Zeit der
Komponenten Geokinematik, Erdrotation
und Schwerefeld zu einem globalen Erfas-
sungssystem lässt sich eine wesentliche Lücke bei der Er-
forschung der Dynamik des Erdsystems schließen, näm-
lich die der Quantifizierung von Massenaustausch- und
Massentransportprozessen im Erdsystem und von Mas-
senungleichgewichten. Das heißt, es lassen sich Ab-
schmelzungsvorgänge in den Eiszonen unseres Planeten,
isostatische Ausgleichsbewegungen der darunter liegen-
den Erdkruste, thermische Expansion des Ozeanwasser-
volumens, klimatisch bedingte Verlagerungen von Atmos-
phärenmassen, Veränderungen der Ozeandynamik, hydro-
logische Kreisläufe und Krustenbewegungen beziehungs-
weise -deformationen quantifizieren und in ihrer Wech-
selbeziehung erforschen. Nur mit dem Einsatz moderner
Satellitenverfahren, das heißt mit den Missionen CHAMP,
GRACE, GOCE, CRYOSAT, ENVISAT, TerraSAR-X –
alle mit wesentlicher deutscher Förderung – ist eine glo-
bale Erfassung dieser Prozesse in Raum und Zeit mach-
bar. Zusätzlich setzt ein derartiges Verfahren für die Er-
fassung von Deformationsprozessen und Erdrotation eine
extrem genaue Vernetzung aller geodätischer Obser-
vatorien zu einem integralen, erdumspannenden „Groß-
observatorium“ voraus.
Mit einem Symposium im Oktober 1998 in München
wurde der internationale Dialog zum Aufbau eines der-
artigen Erfassungssystems angestoßen. Die Internationa-
le Assoziation für Geodäsie (IAG) richtete in der Folge
eine Arbeitsgruppe ein, die derzeit an einem Reali-
sierungskonzept arbeitet. Auf der Generalversammlung
der International Union of Geodesy and Geophysics
(IUGG) im Jahr 2003 in Sapporo soll dieses „Integrated
Global Geodetic Observing System“ (IGGOS) als Pilot-
projekt gestartet und mittelfristig in die „Integrated Glo-
bal Observing Strategy“ (IGOS) von ICSU und UNES-
CO eingebracht werden. In den kommenden Jahren müs-
sen die wissenschaftlichen, technischen und organisato-
rischen Voraussetzungen für den Aufbau des Erfassungs-
systems geschaffen werden.
International Earth Rotation Service (IERS)
Das Integrierte Geodätisch-Geodynamische Monito-
ringsystem setzt sich das Ziel Geokinematik, Erdrotation
und Schwerefeld in einem globalen Bezugssystem mit
einer Relativgenauigkeit von 1 Milliardstel (10 -9) und
gleichmäßig über Jahrzehnte zu vereinigen. Unter Geo-
kinematik ist dabei die millimetergenaue Erfassung aller
Veränderungen der Oberflächengeometrie (Land, Eis-
flächen und Meeresoberflächen) zu verstehen, unter Erd-
rotation die kleinen Schwankungen der Drehrate der
Erde (Tageslängenschwankungen) und der Orientierung
des Erdkörpers bezüglich des Fixsternhimmels, das Erd-
schwerefeld wird ausgedrückt durch die Form des
Geoids und der Schwereanomalien.
Grundvoraussetzung für das Erreichen der angestreb-
ten Genauigkeit, Konsistenz und Stabilität ist eine voll-
kommen uniforme Verarbeitung und Kombination aller
Beobachtungsdaten und eine einheitliche Modellierung
aller Einflussfaktoren (Atmosphäre, Ozeane, Gezeiten,
Tektonik, relativistische Effekte, Stationseinflüsse et ce-
tera). Diese Aufgabe hat sich der IERS für die kommen-
den Jahre gestellt. Über das FuE-Programm GEOTECH-
NOLOGIEN wurde eine Bündelung der deutschen Kräf-
te (FESG, DGFI, Uni Bonn, GFZ, BKG) erreicht und die
internationale Stellung des deutschen Beitrags wesent-
lich verstärkt. Die Koordination der Auswertungen der
internationalen technikspezifischen Dienste wird durch
die FESG durchgeführt. Größte Herausforderung ist da-
bei die Kombination und uniforme Auswertung aller
geodätischen Raumverfahren sowie der Einsatz von ein-
heitlichen Modellierungsverfahren und Auswertealgo-
rithmen (siehe Abb. 1). Erste Schritte auf diesem Weg
sind bereits vollzogen.
CHAMP
Ein herausragendes Ereignis war der erfolgreiche
Start des unter Federführung des GeoForschungsZen-
trum Potsdam entwickelten deutschen Geoforschungssa-
telliten CHAMP (CHAllenging Minisatellite Payload)
im Juli 2000 (siehe Abb. 2). Mit CHAMP ist erstmals die
kontinuierliche Bahnverfolgung eines in sehr niedriger,
2
Themenschwerpunkt: „Erfassung des Systems Erde aus dem Weltraum“
Förderstatus BMBF:Sechs Verbundprojekte mit einem Fördervolumen
von 8,1 Millionen Euro für eine 3-jährige Pro-
jektphase (2002-2004).
Förderstatus DFG:Komplementäre Förderung von fünf Einzelvorha-
ben im Rahmen des DFG-Normalverfahrens.
Fördervolumen: 1,7 Millionen Euro für eine
dreijährige Projektphase.
Ziel:Beteiligung an den internationalen Satellitenmis-
sionen CHAMP, GRACE, GOCE und eine
fächerübergreifende Auswertung der wissen-
schaftlichen Daten.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinäre Beteiligung von Universitäten,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen
und Wirtschaftsunternehmen.
nahezu polarer Umlaufbahn die Erde umkreisenden Ge-
opotenzialsatelliten mit Hilfe der hochfliegenden GPS-
Satelliten Realität geworden. Aus den so laufend beob-
achtbaren Bahnstörungen konnten wiederum erstmals
mit Hilfe eines Präzisionsbeschleunigungsmessers an
Bord die nichtgravitativen Störungsanteile abgetrennt
werden. Schon aus wenigen Wochen CHAMP-Daten
wurde so ein Schwerefeldmodell entwickelt, das hin-
sichtlich Genauigkeit alle bisherigen Satellitenmodelle
um eine Größenordnung übertroffen hat. Da sich solche
genauen Schwerefeldmodelle bereits aus kurzen
CHAMP-Beobachtungszeiträumen ergeben, gerät die
Aufdeckung umweltrelevanter zeitlicher Schwerefeldän-
derungen in den Bereich des Möglichen.
Mit sehr genauen Skalar- und Vektormagnetometern
ausgestattet, ist CHAMP die erste geowissenschaftliche
Mission, mit der gleichzeitig beide Geopotenziale – das
Schwerefeld und das Magnetfeld der Erde – systema-
tisch ausgemessen werden können. Aus den Magnetfeld-
sondierungen entstehen detaillierte globale Bilder der
Krustenmagnetisierung und der Änderungen des Mag-
nethauptfeldes (Intensität, Pole). Selbst kleinste, von den
Meeresgezeiten angeregte Magnetfeldänderungen sind
mit CHAMP erfassbar.
Dem für die Bahn- und Schwerefeldbestimmung be-
nutzten GPS-Empfänger an Bord von CHAMP ist zu-
sätzlich eine weitere Beobachtungsfunktion zugewiesen
worden. Er sondiert die Atmosphäre und liefert über die
Brechung der GPS-Radiosignale Vertikalprofile der
Temperatur- und Wasserdampfverteilung in der Stratos-
phäre und Troposphäre, und damit wichtige Eingangs-
größen für die Wettervorhersage und Klimaforschung.
Im Rahmen des FuE-Programms GEOTECHNOLO-
GIEN wurde das gesamte für die CHAMP Mission am
GFZ Potsdam entwickelte Wissenschaftsdatensystem
SDS (Science Data System) mit Realdaten endgültig
ausgetestet und seit Herbst 2001 operationell für die rou-
tinemäßige Vorverarbeitung von Bahn-, Schwerefeld-
und Magnetfeldmessungen und die systematische Be-
rechnung von höherwertigen Datenprodukten genutzt.
Diese Daten und Produkte werden über das CHAMP Da-
ten- und Informationssystem (ISDC) laufend ohne große
Verzögerung allen interessierten Nutzern zur Verfügung
gestellt. Außerdem wird in begleitenden Pilotstudien an
neuartigen Auswertealgorithmen zur Bahn- und Gravita-
tionsfeldmodellierung und der Aufdeckung ionosphäri-
scher geophysikalischer Signaturen aus CHAMP-Beob-
achtungen gearbeitet.
Bis zum Frühjahr 2003 wurden insgesamt mehr als 2
Millionen Daten- und Produktfiles der CHAMP Mission
im Verarbeitungszentrum des GFZ Potsdam erzeugt und
im CHAMP ISDC abgelegt. Diese Information wird sehr
intensiv von jetzt über 200 Wissenschaftlergruppen
weltweit genutzt, sowohl für wissenschaftliche Untersu-
chungen als auch praktische Anwendungen. Im Januar
2002 fand am GFZ Potsdam das international sehr gut
besuchte „First CHAMP Science Meeting“ statt, auf
dem intensiv die ersten CHAMP Ergebnisse vorgestellt
und diskutiert wurden. Diese Ergebnisse sind in einem
600-seitigen, kürzlich erschienenen Buch im Springer-
Verlag dokumentiert. Das zweite CHAMP Science Mee-
ting wird im September 2003 stattfinden.
GRACE
Ein Quantensprung in der Schwerefeldbestimmung
kann von der im März 2002 erfolgreich gestarteten ame-
rikanisch-deutschen Zwillingsmission GRACE (Gravity
Recovery And Climate Experiment) erwartet werden
(siehe Abb. 3). Primäres Missionsziel dieser aus zwei
Satelliten bestehenden Konfiguration, die im Abstand
von 200 km in etwa 500 km Flughöhe die Erde umkreist,
ist die gegenüber CHAMP nochmals um den Faktor 100
gesteigerte Genauigkeit in der Bestimmung des stati-
3
Abb. 1: Grundlage eines globalen geodätisch-geody-namischen Monitoringsystems ist die millimetergenaueVerknüpfung von GPS, des französischen DORIS-Sys-tems, von Laserentfernungsmessung zu Satelliten undzum Mond und der Langbasisinterferometrie (VLBI).Sie wird in diesem Bild symbolisiert durch das VLBI-Teleskop, die Kuppel der Laserentfernungsmessanlageund die beiden GPS-Antennen (FundamentalstationWettzell). Abb. 2: Der GeoForschungssatellit CHAMP.
schen Schwerefeldes, insbesondere aber auch die Erfas-
sung zeitlicher Feldänderungen. Diese zeitlichen Varia-
tionen im Schwerefeld hängen zusammen mit der Um-
verteilung von Massen im Erdinnern, im Ozean, in den
Landeisgebieten und in der Atmosphäre. Wesentliche
Elemente dieser Tandemmission sind wiederum die
Bahnverfolgung beider Satelliten mit GPS und Präzisi-
onsbeschleunigungsmessern und ein fast CHAMP-iden-
tisches Buskonzept. Herausragende Ergänzung ist das
Messsystem HAIRS, das die Präzisionsdistanzmessung
zwischen den beiden Satelliten realisiert. Es erlaubt, µm
Entfernungsänderungen und damit kleinste auf die Satel-
liten wirkende, gravitativ bedingte Beschleunigungen zu
erfassen. Als sekundäres Missionsziel werden auch bei
GRACE die GPS Empfänger für die Atmosphären- und
Ionosphärensondierung eingesetzt.
Die GRACE Mission ist in mehrfacher Hinsicht eine
große technologische Herausforderung und hat eine über
12 Monate andauernde Erprobungsphase notwendig ge-
macht. Erste, in dieser Phase vom Center of Space Re-
search, Austin und dem GFZ Potsdam, durchgeführte
Schwerefeldanalysen sind sehr vielversprechend und deu-
ten an, dass das primäre Missionsziel erreichbar sein wird.
Mit Hilfe des FuE-Programms GEOTECHNOLO-
GIEN wurde es ermöglicht, neben dem amerikanischen
ein eigenständiges deutsches Team für die Auswertung
der sehr komplexen GRACE-Daten aufzubauen. Die Ar-
beiten dieses am GFZ Potsdam und den Universitäten
Bonn, München und Stuttgart angesiedelten Teams um-
fassen alle Schritte von der integrierten Sensoranalyse,
der Daten- und Produktverwaltung über die globale und
regionale Schwerefeldanalyse bis hin zur Bestimmung
und Analyse des zeitvariablen Schwerefeldes. Diese in der
gerade auslaufenden GRACE-Erprobungsphase endgültig
aufgebauten und geprüften Verarbeitungselemente
werden die Basis für eine effiziente Bereitstellung von
GRACE-Daten und Datenprodukten an die deutschen und
europäischen GRACE-Nutzer über das GRACE-Daten-
und Informationssystem am GFZ Potsdam bilden.
4
Abb. 3: Die GRACE Satelliten vor dem Start.
CHAMP/GRACE Daten- und Informationssystem
Für das Management von CHAMP- und GRACE-
Missionsdaten und Datenprodukten werden am GFZ
Potsdam mit Unterstützung aus dem FuE-Programm
GEOTECHNOLOGIEN online-ISDC (Information
System and Data Centres) betrieben. Diese missions-
spezifischen ISDCs werden in der nächsten Zukunft
in eine übergreifende IT Struktur GESIS (German
Earth Science Information System) integriert. Die IS-
DCs sind die Zentralstelle für den Datenfluss zwi-
schen den CHAMP/ GRACE Prozessierungsgruppen
und das Interface für die wissenschaftlichen Nutzer zu
allen Missionsdaten und Datenprodukten. Die ISDCs
sind eingebettet in die Bodeninfrastruktur der entspre-
chenden Mission, für CHAMP und GRACE in die ent-
sprechenden Science Data Systems.
Ein ISDC besteht aus den Hauptkomponenten Ope-
rational System, Clearinghouse und Data Warehouse.
Seine Aufgaben sind die Archivierung und Lang-
zeitspeicherung von Datenprodukten verschiedener
Bearbeitungsstufen, der Betrieb eines Katalogsystems
für das Produkt Retrieval und Download und die kon-
tinuierliche Überwachung und Beschreibung des Pro-
dukt-Input/Output Zustands.
Im CHAMP-ISDC (siehe Abb. 4) sind bis März 2003
2,85 Terabyte Daten angefallen und werden 2,34 Millio-
nen Produkte verwaltet. Der CHAMP-Projekt spezifische
Anteil an der Datennutzung durch das GFZ lag in 2002
bei knapp 40 %. Die externe (nicht-GFZ) Nutzung der
CHAMP Daten lag im gleichen Jahre schwerpunktmäßig
in Deutschland, USA, Japan, VR China, Taiwan, Däne-
mark und den Niederlanden (siehe Abb. 5). In Deutsch-
land nutzten in diesem Zeitraum überwiegend die me-
teorologischen Universitätsinstitute und die über das FuE-
Programm GEOTECHNOLOGIEN geförderten Hoch-
schulinstitute und Forschungseinrichtungen diese Daten.
GOCE
GOCE ist die erste Kernmission des neudefinierten
erdwissenschaftlichen Raumfahrtprogramms der ESA.
Diese Mission befindet sich im Jahr 2003 in der Bau-
phase (Phase C/D); ihr Start ist für das Jahr 2006 vorge-
sehen. GOCE ist eine reine Gravitationsfeldmission, im
Gegensatz zu GRACE ist sie jedoch primär auf die sehr
genaue und detaillierte Bestimmung des stationären An-
teils des Gravitationsfelds ausgerichtet. Das Hauptin-
strument ist ein Gravitationsgradiometer, ergänzt durch
GPS-Tracking und aktive Lagekontrolle und Kompensa-
tion von Oberflächenkräften (siehe Abb. 6). Das Gravi-
tationsfeldmodell aus GOCE wird einen wesentlich de-
taillierteren Einblick in die Struktur der ozeanischen und
kontinentalen Lithosphäre und des oberen Erdmantels
(Sedimentbecken, Plumes, Riftzonen, Gebirgsbildungs-
prozesse et cetera) eröffnen als dies heute möglich ist.
Das hochauflösende Geoidmodell gibt in Kombination
mit Satellitenaltimetrie ein sehr detailreiches Bild der
Oberflächenzirkulation der Weltmeere
und damit implizit auch der Massen-
transporte in den oberen Ozeanschich-
ten. Für Anwendungen in den Bereichen
Kataster, Kartographie, Geoinforma-
tions- und Bauingenieurwesen entsteht
ein weltweit homogenes und konsisten-
tes Höhensystem. Geoid-, Schwere- und
Höhenmodell sind zudem von direktem
Nutzen für die Erforschung von Meeres-
spiegelschwankungen.
Voraussetzung für die wissenschaftli-
che Nutzung in Geophysik, Ozeanogra-
phie, Geodäsie und Meeresspiegelfor-
schung ist die Rekonstruktion eines
Schwerefeldmodells aus einem System
von sehr komplexen Messsensoren. Für
diesen Schritt hat sich ein Auswertekon-
sortium von zehn europäischen Institutio-
nen gebildet. Mit Unterstützung des FuE-
Programms GEOTECHNOLOGIEN entstand in
Deutschland durch eine Kooperation mehrerer Institutio-
5
Abb. 4: Das CHAMP Bodensegment mit dem einge-bundenen Information System and Data Center (ISDC).
Abb. 5: Prozentuale Verteilung der CHAMP Daten-nutzung in 2002.
nen eine gemeinsame Auswertestrategie, die sich mo-
mentan im Aufbau befindet und die in wesentlichen Tei-
len in das europäische Auswertekonzept integriert wer-
den soll.
Mit den Arbeiten zu CHAMP, GRACE und GOCE,
mit der intensiven deutschen Beteiligung an CRYO-
SAT, TerraSAR-X und ENVISAT und mit den Arbei-
ten zum IERS werden wesentliche Voraussetzungen
für den Aufbau eines globalen Erfassungssystems er-
möglicht. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, Vorberei-
tungen für die wissenschaftliche Nutzung der Daten
von CHAMP, GRACE, GOCE und TerraSAR in der
Geophysik, Ozeanographie, Geodäsie, Glaziologie,
Hydrologie und Meeresspiegelforschung zu treffen.
Mit einigen DFG-Vorhaben wurde auch dieser Aspekt
in Angriff genommen. Außerdem müssen ergänzende
und neuartige terrestrische Sensoren und Flugmesssys-
teme entwickelt werden.
Fluggravimetrie
In den Regionen der Welt, in denen für spezielle geo-
physikalische und ozeanographische Fragestellungen die
Genauigkeit und räumliche Auflösung der Satellitenver-
fahren nicht mehr ausreichen, soll mit Hilfe der Fluggra-
vimetrie eine lokale Verfeinerung geschaffen werden. Für
die Messung werden sehr empfindliche Akzelerometer
eingesetzt. Die große Herausforderung ist die Trennung
des gemessenen Gravitationsfeldsignals von allen
Störeinflüssen der Flugbewegung. Es gibt im Wesentli-
chen drei alternative Lösungsansätze, die sich in Auswer-
testrategie und technologischem Konzept unterscheiden.
Die Arbeiten in Kanada und in der Bundesrepublik sind
dabei wegweisend.
Im Rahmen einer durch das FuE-Programm GEO-
TECHNOLOGIEN geförderten vergleichenden Studie
werden diese drei alternativen Ansätze untersucht. Ziele
der Partner im Verbundprojekt „Fluggravimetrie“ sind
Weiterentwicklung und Vergleich der drei Konzepte.
Grundidee ist die Beobachtung der Gesamtbeschleuni-
gung auf einem bewegten Träger , die sich aus Gravitati-
on und Flugzeugbewegung zusammensetzt. Die Regi-
strierung erfolgt mit Beschleunigungsmessern. Unabhän-
gig hiervon wird der Beschleunigungsanteil der reinen
Flugzeugbewegung und die Drehbewegung des Flug-
zeugs mittels GPS und Kreiseln erfasst. Aus der Differenz
von Gesamt- und Flugzeugbeschleunigung wird die
Schwere beziehungsweise der Gravitationsvektor abgelei-
tet. Das Ziel ist dabei eine räumliche Auflösung von circa
1 km. Während für eines der Konzepte ein Vertikalakze-
lerometer auf eine kreiselstabilisierte Plattform montiert
wird, verfolgen die beiden anderen Ansätze das Strap-
Down-Prinzip. Bei ihm werden die Beschleunigungsmes-
ser im Flugzeug fest montiert, sie werden damit voll den
Flugbewegungen ausgesetzt. Der Bewegungsablauf wird
über sehr genaue Laserkreisel erfasst. Die beiden Strap-
Down-Ansätze unterscheiden sich durch die Akzelerome-
terausstattung, einmal eine Eigenentwicklung direkt zuge-
schnitten auf derartige Messungen (siehe Abb. 7) und das
andere Mal ein aus der Trägheitsnavigation entlehntes Sy-
stem.
GeosensorRinglaser erfassen Rotationen lokal, das heißt ohne
Bezug zum Fixsternhimmel. Sie stellen daher ein alter-
natives Messkonzept zu den geodätischen Raum-
verfahren, wie VLBI, dar. Für eine geowissenschaftli-
che Nutzung sind jedoch Ringlaser mit einer extrem ho-
hen Genauigkeit und Auflösung
notwendig. Der im Juni 2001 in Be-
trieb genommene Großringlaser im
Untergrundlabor des Observatori-
ums Wettzell (siehe Abb. 8) ist eine
Weltneuheit. Mit ihm wird eine Re-
lativgenauigkeit von einem Milli-
ardstel (10-9) angestrebt. So konnte
erstmals die tägliche Wanderung
der Rotationsachse der Erde, die
sogenannten Oppolzer-Terme, ex-
perimentell nachgewiesen werden.
Auch die Messbarkeit von nichtpe-
riodischen Störungen der „gleich-
förmigen“ Erddrehrate in einem
Zeitbereich von 1 bis 2 Tagen
zeichnet sich ab.
Der logische nächste Schritt ist
die Entwicklung eines transporta-
blen Ringlasers, eines Geosensors,
mit dem erstmals die durch Erdbeben verursachten Ro-
tationsbewegungen beobachtet werden könnten. Rota-
tionen in Zusammenhang mit Erdbeben sind in der Lite-
ratur zwar angesprochen, aber bisher nicht messbar. Mit
6
Abb. 6: Prinzip der Satellitenmission GOCE: Gravita-tionsfeldbestimmung mit Hilfe eines Gravitationsgra-diometers in Kombination mit Verbindungsmessungenzu den GPS-Satelliten.
dem nun im Rahmen des FuE-Programms
GEOTECHNOLOGIEN in Entwicklung stehenden Geo-
sensor, sollen diese Untersuchungen möglich werden.
Hierzu werden an der Ludwigs-Maximilians-Universität
München die gegenwärtigen Erdbebenmodelle für die
Berücksichtigung von Rotationsanteilen erweitert. Der
Beginn der Sensor-Integration wird für die zweite Jah-
reshälfte 2003 erwartet.
Als weitere Anwendung dieses Messansatzes zeichnet
sich die Bauwerksüberwachung in erdbebengefährdeten
Gebieten ab. Erstmals könnten so durch Erdbeben indu-
zierte Torsionskräfte an Bauwerken erfasst werden.
Das geodätisch-geodynamische Beobachtungssystem
in der eingangs beschriebenen Form wird in den näch-
sten Jahren aufgebaut werden. International wie national
sind bereits wichtige Teilschritte zu seiner Realisierung
getan. Für den Zeitraum bis 2006 und danach sind die
notwendigen Satellitensysteme bereits im Orbit bezie-
hungsweise im Bau, (siehe Tab. 1) Komplementäre ter-
restrische Messsensoren und Flugmesssysteme werden
derzeit entwickelt (vergleiche Kapitel
„Das Erdinnere“).
Das geplante Beobachtungssystem
entspricht einem einzigen erdumspan-
nenden Großobservatorium, das aus
Hunderten von über die Erde verteil-
ten Einzelmessstationen aufgebaut
ist. Alle Stationen sind millimeterge-
nau verknüpft und synchronisiert und
vereinigen in sich mehrere sich ergän-
zende Beobachtungsverfahren. Inte-
graler – und sehr wesentlicher – Be-
standteil des Großobservatoriums
sind die geodätisch nutzbaren Satelli-
tensysteme, insbesondere alle in der
Tabelle aufgelisteten Satellitenmis-
sionen. Auch sie werden in dieser
Strategie miteinander vernetzt und
ihre Messreihen durch diese Vernet-
zung vergleichbar und kombinierbar.
Das Beobachtungssystem wird einen wesentlichen
Beitrag zum Verständnis der Dynamik des Erdsystems
leisten können, das heißt zum Verständnis der Wech-
selwirkung von inneren und äußeren Kräften im Sy-
stem „Atmosphäre, Ozeane, Eismassen und feste
Erde“. Wichtige Klima-, Umwelt- und Ressourcenfra-
gen sind hiervon berührt. Das geodätisch-geodynami-
sche Beobachtungssystem misst die raum-zeitlichen
Veränderungen der Erdfigur, das heißt die Veränderun-
gen des Meeresspiegels, der Eisoberflächen und die
tektonischen und isostatischen beziehungsweise isody-
namischen Verformungen des Erdkörpers. Es werden
aber auch die durch Massenverlagerungen in Atmos-
phäre, Ozeanen, Eiskappen und fester Erde verursach-
ten Schwere- beziehungsweise Geoidanomalien und
Erdrotationsschwankungen erfasst. Die entscheidende
neue und zusätzliche Qualität in der Erdsystemfor-
schung entsteht aus der Kombination dieser drei Ein-
zelelemente: Geokinematik (Veränderungen der Erdfi-
gur), Erdrotation und Schwere/Geoid. Erstmals wer-
den sich Massentransporte im Erdsystem erfassen, ver-
folgen und – im Sinne einer Bilanzierung – quantifizie-
ren lassen. Für die Erforschung von Ozeantransporten,
der Wasserkreisläufe, der Eismassenbilanz und Meeres-
spiegelschwankungen und der Dynamik von Erdkruste
und -mantel wird dies einen Quantensprung bedeuten.
Massen- und Energietransporte sind Schlüsselgrößen
für ein Verständnis der Dynamik des Erdsystems. Mit
dem beschriebenen Ansatz wird ein neues, sehr zentra-
les Segment der Erdsystemforschung geöffnet.
Mit der signifikanten Beteiligung an den Satelliten-
missionen CHAMP, GRACE, GOCE, CRYOSAT,
ERS-1 & 2, ENVISAT und TerraSAR-X (siehe Tab. 1)
liefert Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Reali-
sierung dieses Beobachtungssystems und zur Klima-,
Umwelt- und Erderforschung allgemein. Es muss nun
gelingen, diese guten Randbedingungen optimal für
Forschung und Entwicklung zu nutzen. Mit der Förde-
rung des Themas „Beobachtung des Systems Erde aus
dem Weltraum“ durch das BMBF und durch die DFG
7
Abb. 7: Prototyp Strap-Down-Fluggravimeter SAGS.
Abb. 8: Großringlaser im SatellitenobservatoriumWettzell: Messung der Schwankungen der Erdrotationim Labor ohne Anbindung zu Quasaren oder Satelliten.
wurde bereits ein wichtiger Schritt getan (siehe auch
Seite IX).
In der Folgephase sollte primär folgendes sicherge-
stellt werden:
• Das Beobachtungssystem muss mit der erforderlichen
Genauigkeit, Konsistenz und Stabilität umgesetzt
werden. Hierzu sind die methodischen Grundlagen
für den Internationalen Erdrotationsdienst IERS, die
notwendige Dateninfrastruktur und technologische
Umsetzung des Raum-, Flugzeug- und Bodenseg-
ments weiterzuentwickeln.
• Die Arbeiten der deutschen Auswertezentren bezie-
hungsweise der deutsche Beitrag an den internationa-
len Auswertekonsortien zur Aufbereitung, Verarbei-
tung und Analyse der bei den laufenden, anlaufenden
und geplanten Satellitenmissionen (siehe Tab. 1) an-
fallenden Messreihen (die Schaffung von sogenann-
ten Level-1 und Level-2 Produkten) muss sicherge-
stellt werden. Nur dadurch lässt sich der Informati-
onsgehalt der Daten dieser Missionen mit Hilfe einer
breiten Nutzergemeinschaft für die Erd-, Klima- und
Umweltforschung voll ausschöpfen.
• Es entstehen neuartige Datenreihen. Ihre Nutzung für
Forschung und Anwendung sollte gefördert und ent-
wickelt werden. Es geht dabei im weitesten Sinn um
Massentransporte und Massenverteilung im System
Erde – ein wesentlicher Teilaspekt bei der Modellie-
rung der Erde als ein dynamisches Multikomponen-
tensystem im Sinne eines 4-D-Erdmodells – und um-
fasst Prozesse wie den Transport ozeanischer Wasser-
massen, den Kreislauf des Wassers im Untergrund,
die Eismassenbilanz und Meeresspiegelschwankun-
gen und die Dynamik von Erdkruste und -mantel.
Damit könnte Deutschland auf einem sehr zukunfts-
trächtigen Gebiet der Erdsystemforschung seine techno-
logische und wissenschaftliche Spitzenstellung festigen.
8
Tab. 1: Aktuelle Satellitenmissionen mit Bezug zum Thema “Beobachtung des Systems Erde”, und mit starker deutscher Beteiligung (fett gedruckt).
Missionsbezeichnung Missionstyp geplante Laufzeit
CHAMP (D) Schwere/Magnetfeld/Atmosphäre 2000 – 2007GRACE (USA/D) Schwere (stationär, zeitabh.), Atmosph. 2002 – 2010GOCE (ESA) Schwere (stationär, hochauflösend) 2006 – 2008
TOPEX-POSEIDON Ozean-Altimetrie 1992 – 2004(USA/F)
Jason-1 (USA/F) Ozean-Altimetrie 2001 – 2006
ICESAT (USA) Eis-Altimetrie 2003 – 2008CRYOSAT (ESA) Eis-Altimetrie 2004 – 2007
ERS-2 (ESA) Altimetrie/Klima/Umwelt 1995 – 2005ENVISAT (ESA) Altimetrie/Klima/Umwelt 2002 – 2007TerraSAR-X (D) SAR/INSAR/Atmosphäre 2005 – 2010
LAGEOS-1 & 2 (USA) Referenzsystem, Schwere 1975 - offen
GPS (USA) Navigation/Positionierung/Bahnen/Zeit/Erdrotation 1978 - offen
GALILEO (EU, ESA) Navigation/Positionierung 2008 - offen
Die geowissenschaftlichen Prozesse an der Erdoberfläche sind vielfach das Ergebnis
von Wechselwirkungen zwischen Kräften des Erdinneren und Einflüssen der Atmos-
phäre. Chemische und physikalische Unterschiede zwischen dem Erdinneren und der
Erdoberfläche, wie zum Beispiel der Temperaturgradient, treiben diese Prozesse an, die die
Erde zu einem dynamischen System werden lassen.
Die Kräfte im Erdinneren können die Lebensbedingungen des Menschen unmittelbar be-
einflussen: Erdbeben entstehen durch Spannungen in der Erdkruste, die auf Fließprozesse im
Erdmantel zurückgehen. Die Auffaltung von Gebirgen, die Bildung von Sedimentbecken, das
Wachsen und Verschwinden von Ozeanen, ja fast alle geodynamischen Vorgänge sind das
direkte oder indirekte Resultat dieser Fließvorgänge im Erdinneren.
Durch die stetige Konvektion im Erdinneren ist der Erdmantel sowohl Quelle, als auch Senke
der globalen geochemischen Kreisläufe. In Subduktionszonen verschwindet Material aus dem
äußeren Kreislauf. An den mittelozeanischen Rücken wird es ihm in Form von Magma wie-
der zugeführt. Die in Vulkanen geförderte Lava hat ihren Ursprung oder zumindest ihre Wär-
mequelle im Erdmantel. In der Lava gelöste Gase führen zu explosivem Vulkanismus und zur
Gefährdung ganzer Regionen. Gase die bei großen Vulkanausbrüchen freigesetzt werden,
verändern pulsartig die Erdatmosphäre, weit mehr als anthropogene Einflüsse. Der Wärmein-
halt aufsteigenden Magmas verursacht lokale geothermische und geochemische Anomalien,
die für die Wärmegewinnung und die Lagerstättenbildung von großer Bedeutung sind. Bei
der Konvektion flüssigen Eisens im äußeren Erdkern, wird kinetische in magnetische Energie
umgewandelt. Das erzeugte geomagnetische Feld bildet zusammen mit der Atmosphäre einen
Schutzschild um die Erde gegen den Einfall kosmischer Strahlung aus dem Weltraum; es hat
damit starken Einfluss auf die Entwicklung der Biosphäre.
Das Verständnis der Prozesse im Erdinneren und ihrer zeitlichen Variation ist daher neben dem
grundlegenden geowissenschaftlichen Interesse auch von hoher technologischer Bedeutung.
9
Das Erdinnere als treibende Kraftgeowissenschaftlicher Prozesse
Aufbau und Dynamik des Erdinneren: Einfluss auf Erdoberfläche und Atmosphäre
Unsere Kenntnis des Erdinneren stützt sich vor
allem auf geophysikalische Messungen am
Erdkörper, die geochemische Analyse der Mi-
nerale und Gesteine und die Materialeigenschaften irdi-
scher Materie, aber auch auf den Vergleich mit anderen
Planeten des Sonnensystems. Eine Synthese und die Ent-
wicklung eines globalen, dynamischen Modells werden
über Modellierungsverfahren erreicht, welche die physi-
kalischen, chemischen und Materialparameter als Rand-
bedingungen verwenden. Die räumlichen und zeitlichen
Skalen der Prozesse reichen vom atomaren bis zum glo-
balen Maßstab, sowie von kurzfristigen Ereignissen zu
Jahrmillionen oder -milliarden. Die Großeinheiten der
Erde (Abb. 9) zeigen spezifische Stoffeigenschaften und
eine ganz unterschiedliche Dynamik.
Die Erdkruste mit einer Mächtigkeit von circa 10 bis
80 km (je nach tektonischer Situation) ist heterogen und
besteht aus Sedimenten sowie magmatischen und meta-
morphen Gesteinen. Der Erdmantel (bis zu einer Tiefe
von 800 km) ist aus SiO2-armen silikatischen Gesteinen
(Periotit) aufgebaut. Die Gesteine verhalten sich infolge
der hohen Temperaturen ab einer Tiefe von circa 150 km
plastisch und befinden sich in einer langsamen (circa
cm/Jahr) Konvektionsbewegung im festen Zustand. In
geringeren Tiefen verhält sich jedoch der Erdmantel
ebenso wie die Erdkruste spröde; diese bruchhaften Ver-
formungen äußern sich in Erdbeben. Oberster Erdmantel
und Erdkruste werden daher auch als Lithosphäre zusam-
mengefasst. Der Erdkern besteht zum überwiegenden
Teil aus Eisen, das im äußeren Erdkern flüssig, im inne-
ren Erdkern fest ist. Die rasche Konvektion des flüssigen
Eisens (circa mm/Sekunde) ist für die Erzeugung des
Magnetfeldes der Erde maßgeblich verantwortlich.
Diese Großeinheiten der Erde stehen physikalisch und
chemisch in Wechselwirkung, sowohl untereinander als
auch mit der Hydro- und Atmosphäre und dem äußeren
Magnetfeld der Erde.
Durch die Kopplung mit der Kruste wird der Erdman-
tel in die geochemischen Zyklen sowohl als Quelle als
auch als Senke einbezogen. Die Subduktionszonen sind
der Ort starker Erdbeben und ihre Dynamik bestimmt die
Plattentektonik. Die gashaltigen Magmen, die an Sub-
duktionszonen gebildet werden, bewirken explosiven
Vulkanismus und stören schlagartig die atmosphärischen
Gleichgewichte mit zum Teil drastischen Einflüssen auf
unser Klima. Die Grenze zwischen Erdmantel und Erd-
kern ist der Ort steiler Gradienten der physikalischen Pa-
rameter (insbesondere der Temperatur) und der chemi-
schen Zusammensetzung. Die Kopplung beider Einhei-
ten führt zu einer markanten Gradientenzone (der soge-
nannten D"-Lage), über deren Natur jedoch bisher wenig
bekannt ist. Das im äußeren Erdkern entstehende Ma-
gnetfeld wirkt bis in den Außenraum unseres Planeten
und bestimmt die Wechselwirkung der Erde mit dem in-
terplanetaren Medium, dem Sonnenwind. Die zeitlich
und räumlich variable Intensität des Erdmagnetfelds
führt unter anderem zu einer Variation der Intensität ioni-
sierender Strahlung, die die Atmosphäre beziehungswei-
se die Erdoberfläche erreicht.
Für unser Verständnis der Erde als ein dynamisches
System ist es daher nicht nur wichtig, die stofflichen und
physikalischen Eigenschaften der einzelnen Großeinhei-
ten zu erfassen, sondern insbesondere ihre Dynamik zu
verstehen und vorherzusagen. Dies gilt sowohl für die
Prozesse innerhalb der Einheiten, als auch für ihren ener-
getischen und chemischen Austausch.
Ansätze zur Erforschung der Prozesse im Erd-inneren
Bei einem Erdradius von 6371 km können nur die
obersten circa 10 km durch Tiefbohrungen direkt beob-
achtet werden. Für über 99 % des Volumens der Erde ist
eine Kombination indirekter Verfahren heranzuziehen.
Unter diesen sind zu nennen:
• Geophysikalische Messungen am Erdkörper. Aus den
Laufzeiten von Erdbebenwellen lassen sich die elasti-
schen Eigenschaften der Erde und die Dichte der Ma-
terie als Funktion der Tiefe bestimmen. Moderne to-
mographische Methoden der Seismologie erlauben zu-
sätzlich die Erfassung lateraler Inhomogenitäten. Zum
Beispiel äußern sich die (relativ kalten) Subduktions-
zonen in Form erhöhter Wellengeschwindigkeiten; sie
lassen sich so bis in Tiefen von mindestens 660 km lo-
kalisieren. Aufsteigende, heißere Materie im Erdman-
tel („mantle plumes“) führt zu einer lokalen Erniedri-
gung der Wellengeschwindigkeiten. Die seismische
10
Themenschwerpunkt: „Das Erdinnere als treibende Kraft geowissenschaftlicher Prozesse“
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung durch den BMBF.
Förderstatus DFG:DFG-Schwerpunktprogramm „Erdmagnetische
Variationen: Raum-Zeitliche Struktur, Prozesse
und Wirkungen auf das System Erde“ seit 2000.
Fördervolumen: circa 1,7 Millionen Euro pro Jahr.
Ziel:Quantifizierung des Erdmagnetfeldes in Form
von Geodynamomodellen und deren Anwendung
in Wissenschaft und Praxis.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinärer Verbund aus Universitäten und
außeruniversitären Einrichtungen.
Tomographie erlaubt damit erstmals direkte Einblicke
in die Dynamik des Erdinneren und in Kombination
mit Materialparametern und Modellierung, Aussagen
über die gegenwärtige Temperaturverteilung als Funk-
tion von Tiefe und Ort. Weitere wichtige messbare
Größen sind die elektrische Leitfähigkeit, die effekti-
ve Viskosität und das globale Magnetfeld der Erde.
Die Ortsauflösung der letzteren Methoden ist aller-
dings in Tiefen des Erdmantels und des Erdkerns noch
nicht sehr hoch, so dass sich derzeit nur Aussagen über
die generelle Variation dieser Parameter mit der Tiefe
treffen lassen. Die genannten Verfahren werden erwei-
tert durch die satellitengestützte Beobachtung der Erde
von außen her (vergleiche Kapitel „Beobachtung des
Systems Erde im Weltraum“).
• Geochemische Analyse der Produkte, die durch Pro-
zesse in großen Tiefen entstehen. Viele Typen von
Magmen werden durch teilweise Aufschmelzung des
Erdmantels gebildet, zum Teil in relativ geringen Tie-
fen von circa 100-150 km durch aufsteigende Mantel-
gesteine (Ozeanbasalte), zum Teil durch Wechselwir-
kung zwischen hydrierter Erdkruste mit dem Erdman-
tel in den Subduktionszonen (Andesite der Orogenzo-
nen), zum Teil in wesentlich größeren Tiefen (circa
660 km) unter speziellen, bisher wenig verstandenen
Bedingungen (Kimberlite). Die chemische Analyse
dieser Aufschmelzprodukte und der Stoffe, die sie in
die Erdatmosphäre freisetzen, erlaubt in Kombination
mit (kosmo-) chemischen Modellen zur Zusammen-
setzung der Erde Rückschlüsse auf die chemische
Konstitution des Erdmantels und seine Beziehung
zum Erdkern sowie die zeitliche und örtliche Ent-
wicklung. Mit diesem Verfahren sind die Prozesse im
oberen Erdmantel (einschließlich der sogenannte
Übergangszone bis 660 km Tiefe) bisher recht gut
verstanden, zum tieferen Erdmantel ist die Evidenz
kontrovers.
• Mineralogie von Proben aus großer Tiefe. Vor allem
Einschlüsse in Diamanten sind weitgehend unverän-
derte Proben des Erdmantels, mit Information zur mi-
neralogischen (zusätzlich zur chemischen) Konstitu-
tion des Erdmantels. Mit ihrer Hilfe kann die Abfolge
von Mineralen als Funktion der Tiefe bis mindestens
660 km ermittelt werden. Weitere Einblicke über das
Hochdruckverhalten der Materie ergeben sich aus dem
Studium von Meteoriten, die zum Teil sehr hohen
Stoßwellendrücken ausgesetzt waren.
• Experimentelle Geochemie und Geophysik. Unter An-
nahme realistischer chemischer Zusammensetzungen
werden im Labor die Eigenschaften der Materie unter
11
Abb. 9: Das Erdinnere und seine Dynamik. Der ausflüssigem Eisen bestehende äußere Erdkern befindetsich in einer raschen Konvektionsbewegung und er-zeugt das Magnetfeld der Erde. Der Erdmantel bestehtaus festem Silikatgestein, das durch langsame Konvek-tionsbewegung die Plattentektonik in der starren Erd-kruste und dem obersten Erdmantel (= Lithosphäre)bewirkt.
den relevanten Drücken und Temperaturen untersucht.
Welche Verbindungen und welche Kristallstrukturen
sind als Funktion von Druck, Temperatur und chemi-
scher Zusammensetzung stabil und was sind ihre physi-
kalischen und chemischen Eigenschaften? Neben
Gleichgewichtszuständen werden auch dynamische
Prozesse (Kinetik von Reaktionen und Phasentransfor-
mationen, Rheologie) bestimmt (Abb. 10). Diese For-
schungsrichtung ist letztendlich eine materialwissen-
schaftliche, eingegrenzt auf die irdische Materie und
spezialisiert auf extreme Drücke und Temperaturen.
• Numerische Modellierung. Die im Erdkörper gespei-
cherte bzw. produzierte Wärme wird durch Konvek-
tionsströme in mechanische Energie umgewandelt.
Diese stellen den Antriebsmechanismus für alle endo-
genen geologischen Prozesse dar, von der Plattentek-
tonik bis zur Erzeugung und Variation des Erdmagnet-
feldes. Die Beschreibung der Konvektionsströme in
Raum und Zeit ist nur durch Modellierung unter
Berücksichtigung der Stoffeigenschaften und der Er-
gebnisse der seismischen Tomographie möglich. Kon-
vektionsströme müssen durch nichtlineare mathemati-
sche Gleichungen beschrieben werden, und die Mo-
dellierung solcher komplexer Systeme wird erst durch
die Verfügbarkeit extrem leistungsfähiger Computer
und Entwicklung neuer Software möglich. Bisherige
Ergebnisse zeigen, dass die Materieströmungen im
Erdmantel und im Erdkern zeitlich und örtlich fluktu-
rieren, so dass neben langsamen, graduellen Änderun-
gen immer wieder spontane Ereignisse auftreten, wie
das Aufbrechen von Kontinenten, episodische und ört-
lich lokalisierte Häufung von Vulkanismus oder die
Umkehr des Erdmagnetfeldes.
Ein wesentlicher Fortschritt in der Bewältigung der
großen geowissenschaftlichen Zukunftsaufgaben wird
nur dann zu erreichen sein, wenn diese ganz verschiede-
nen methodischen Ansätze integriert werden. Die im
übernächsten Abschnitt geschilderten Forschungs- und
Entwicklungsaufgaben zeigen die notwendige enge Ver-
knüpfung der traditionellen geowissenschaftlichen Teil-
disziplinen. Sie spannen den Bogen von einer atomaren
Betrachtungsweise irdischer Materie bis zu den globalen
physikalischen und chemischen Prozessen sowie zu ihrer
Bedeutung für das Geomanagement.
Stand der Entwicklung und Anwendung
Unsere Kenntnis der Prozesse im Erdinneren hat in
den letzten circa 10 Jahren sprunghaft zugenommen, da
insbesondere auf den Gebieten der seismischen Tomo-
graphie, der Hochdruck-Materialforschung, der geoche-
mischen Analytik und der Modellierung des Gesamt-
systems Erde große Fortschritte erzielt wurden. Ein
„Quantensprung“ der Erkenntnis des Systems Erde, ins-
besondere für das Geomanagement, ist in naher Zukunft
durch die Integration dieser Teilaspekte zu erwarten.
Im folgenden Überblick über die deutsche Expertise
auf dem Gebiet der Dynamik des Erdinneren seien nur
die wichtigsten Gruppen genannt, die mit erdgebundenen
Beobachtungssystemen, Laborexperimenten oder Model-
lierung arbeiten. Satellitengestützte Technologien werden
im Kapitel „Beobachtung des Systems Erde aus dem
Weltraum“ behandelt. Alle genannten Arbeitsgruppen
sind in nationale und internationale Programme geowis-
senschaftlicher Forschung eingebunden. Die Gruppen er-
gänzen sich in der Konzeption, der beherrschten Metho-
dik und von ihrer Ausstattung her für die unten beschrie-
benen integrierten (und integrierenden) Forschungs- und
Entwicklungsprojekte.
Verschiedene Arbeitsgruppen an deutschen Univer-
sitäten arbeiten auf dem Gebiet der Modellierung geody-
namischer Prozesse (vor allem die Geophysik in Bonn,
Göttingen, München und Münster). Probleme des Erd-
magnetismus, der zeitlichen Variationen des Erdmagnet-
feldes und möglicher Auswirkungen dieser Variationen
auf das System Erde werden unter anderem von Physik
und Geophysik-Arbeitsgruppen in Bayreuth, Braun-
schweig, Bremen, Göttingen, Münster, Potsdam (GFZ)
und Osnabrück behandelt.
Seismologie des Erdmantels wird am Zentralobserva-
12
Abb. 10: Teilweise in Hochdruckminerale (Wadsleyit,Ringwoodit) experimentell umgewandelter Olivin-Ein-kristall (Zentrum), umgeben von einer vollständig umge-wandelten feinkörnigen Matrix. Die Breite des um-gewandelten Saums ist ein Maß für die Umwand-lungsgeschwindigkeit. Die Kantenlänge des Einkristallsbeträgt 0,5 mm.
torium Gräfenberg sowie – unter besonderer Berücksich-
tigung der Tomographie – am GeoForschungsZentrum
Potsdam betrieben. Dort stehen auch die Seismik-Daten
überlanger, mit Atomexplosionen erzeugter seismischer
Profile aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zur
Verfügung, die bisher ungeahnt detaillierte Informatio-
nen über den Aufbau der oberen ca. 700 km der Erde ge-
liefert haben.
Die Erforschung der Materialeigenschaften irdischer
Materie und ihrer Dynamik ist der Schwerpunkt der Ar-
beiten des Bayerischen Geoinstituts in Bayreuth. Neben
der Weiterentwicklung der Hochdruck-Methodik werden
dort die Gleichgewichtszustände, die Kinetik der Trans-
formationen und die ganze Breite der physikalischen und
chemischen Eigenschaften untersucht. Ein weiterer
Schwerpunkt ist das Verhalten von Magmen (Bildung, Ei-
genschaften, Transport, Eruption). Auf dem Gebiet der
Rheologie konzentriert sich Bayreuth auf den plastischen
Bereich und die Mechanismen tiefer Erdbeben.
Am GeoForschungsZentrum Potsdam werden insbe-
sondere die Rheologie und die Transporteigenschaften der
Erdkruste untersucht. Einen Schwerpunkt bilden die mit
der Entstehung von Erdbeben verknüpften Bruchprozesse
sowie der Übergang von spröder zu duktiler Verformung.
Gesteins- und Mineralrheologie ist auch das Thema einer
größeren Arbeitsgruppe am Institut für Geologie, Mine-
ralogie und Geophysik der Ruhr-Universität Bochum.
Geochemische Analytik und Isotopengeochemie zur
Erfassung und Modellierung von Mantelprozessen wird
schwerpunktmäßig am Max-Planck-Institut für Chemie
in Mainz betrieben.
Die unten skizzierten Projekte sind zwar in der Grund-
lagenforschung verankert, bilden aber die Basis für eine
langfristig erfolgreiche direkt anwendungsbezogene For-
schung, die zum Teil in den folgenden Kapiteln weiter
detailliert wird:
• Quantifizierung der Antriebskräfte von Platten, mit
Rückwirkungen auf die Erdbebenforschung;
• Bilanzierung des globalen und regionalen Wärmeflus-
ses, Rückwirkungen auf die Geothermik;
• Vervollständigung geochemischer Stoffzyklen durch
Einbeziehung des Erdmantels (Quelle und Senke) und
damit Quantifizierung zum Beispiel von nichtanthro-
pogenem, meist episodischem Schadstoff-Eintrag in
die Atmosphäre – damit Rückwirkungen auf die Kli-
maforschung;
• Entwicklung neuer Prospektionsmethoden für die La-
gerstättenforschung;
• Abschätzung vulkanischer Risiken, gegebenenfalls
Frühwarnsysteme;
• Entwicklung von Methoden zur Simulation konvekti-
ver Massen- und Wärmetransport-Prozesse;
• gezielte Entwicklung neuer Materialien durch Hoch-
drucksynthese.
Notwendige Forschungs- und Entwicklungsauf-gaben
Die nachfolgend beschriebenen Projekte sind Teil der
Gesamtkonzeption, die im Erdinneren ablaufenden Pro-
zesse und die mechanische und energetische Kopplung
der verschiedenen Tiefenzonen durch eine Kombination
verschiedener methodischer Ansätze zu erhellen und die
Erkenntnisse für das Geomanagement nutzbar zu machen.
a. Hochdruckchemie und Hochdruckphysik irdischerMaterieIn diesem Projekt wird angestrebt, die Dynamik des
Erdmantels als Funktion von Ort und Zeit über die
Kenntnis der relevanten Materialeigenschaften zu verste-
hen. Diese Eigenschaften können im Labor meistens nur
unter in situ-Bedingungen bei hohen Drücken und Tem-
peraturen sowie unter Kontrolle der chemischen Poten-
ziale gewonnen werden. Dies stellt eine hohe Herausfor-
derung an die Messtechnik und Dateninterpretation dar.
Die Messung vieler physikalischer Eigenschaften un-
ter in situ-Bedingungen (wie elektrische und thermische
Leitfähigkeit, Wellengeschwindigkeiten, rheologische
Parameter) setzt eine Mindestprobengröße von etwa 5 bis
13
Abb. 11: Installation einer 5000 t-Presse am Bayeri-schen Geoinstitut, Bayreuth. Mit dieser Presse lassensich Eigenschaften der Erdmaterie unter Drücken bisüber 25 GPa (das heißt mehr als 700 km Erdtiefe) ingroßen Volumina untersuchen.
10 mm3 voraus. Ähnliches gilt für die erforderlichen Pro-
benvolumina, die zur Synthese von Einkristallen der
Hochdruck-Strukturen mit dem Ziel der Strukturauf-
klärung benötigt werden, für die (ex situ) Messung ther-
modynamischer Eigenschaften und für die Bestimmung
chemischer Diffusionskoeffizienten. Diese Messungen
sind bisher – vor allem bedingt durch das mit steigendem
Drücken immer weiter abnehmende verfügbare Proben-
volumen – nur vereinzelt und lediglich bis in den Druck-
bereich von circa 14 GPa durchgeführt worden, das heißt
nur für Tiefen, die etwa der Grenze zwischen dem oberen
Erdmantel und der Übergangszone (vergleiche Abb. 9)
entsprechen.
Es wird vorgeschlagen, die Vielstempeltechnik weiter-
zuentwickeln, die zur Zeit Probenvolumina bis zu
10 mm3 bei 10 GPa und 5 mm3 bei 14 GPa erlaubt. Ziel
ist es, die verfügbaren Probenvolumina zu vergrößern
und den Druckbereich zu erweitern. Ersteres kann durch
Erhöhung der Presskraft (derzeit in der Regel 1.000 t)
und entsprechende Vergrößerung des Druckwerkzeugs
erreicht werden, letzteres durch den Einsatz von Sinter-
diamanten oder kubischem Bornitrid an den mechanisch
besonders beanspruchten inneren Stempeln. Vorversuche
am Bayerischen Geoinstitut haben gezeigt, dass selbst
mit konventionellen Hartmetallstempeln durch die Er-
höhung der Presskraft auf circa 3.000 t Probenvolumina
von circa 5 mm3 bei circa 23 GPa erreicht werden können
(vergleiche Abb. 11). In Japan sind mit Sinterdiamant-
stempeln Drücke von 60 GPa in diesen Apparaturen er-
reicht worden, allerdings noch bei sehr kleinen (< 1 mm3)
Volumina. Das technologische Ziel scheint daher erreich-
bar. Die Überlegungen gelten gleichermaßen für in situ-
Messungen in der zweistufigen Apparatur (sogenannte 6-
8 Konfiguration, Typ Bayerisches Geoinstitut), als auch
für die einstufige (sogenannte MAX80, GFZ Potsdam)
Apparatur (speziell für Beugung von Synchrotronstrah-
lung unter in situ-Bedingungen).
Des Weiteren ist die in situ-Messtechnik in Richtung
größerer Genauigkeit und kleinerer Probenvolumina wei-
terzuentwickeln. Bei der besonders wichtigen Bestim-
mung elastischer Eigenschaften zur Messung der Ge-
schwindigkeit seismischer Wellen ist dies zum Beispiel
durch Ultraschall-Interferometrie im Mega- bis Giga-
herzbereich möglich. Auch für die ex situ-Charakterisie-
rung von Produkten sind Messverfahren, besonders mit
hoher Ortsauflösung, zu verbessern.
Aus diesen methodischen Weiterentwicklungen wer-
den – neben Einblicken in den Aufbau und die Dynamik
der Erde – auch grundlegende Erkenntnisse zur Synthese
von Materialien mit maßgeschneiderten Eigenschaften
erwartet.
b. Tomographie und Modellierung der KonvektionIn diesem Projekt sind hoch ortsaufgelöste Verfahren
der geophysikalischen Beobachtung des Erdkörpers (wie
die seismische Tomographie) zur Beschreibung des Ist-
Zustands des Erdmantels zu entwickeln. Ziel ist es, die
vertikale und horizontale Variabilität von Eigenschaften
zu bestimmen, die Geometrie von subduzierten Platten in
der Übergangszone und im tieferen Erdmantel zu verfol-
gen und die Anisotropie der seismischen Wellenausbrei-
tung zu erfassen. Durch den Vergleich mit Materialpara-
metern lassen sich so die Fließstruktur und der Deforma-
tionsmechanismus der Erdmantelgesteine ableiten. Zum
Beispiel lässt der Vergleich der seismischen Anisotropie
mit richtungsabhängigen elastischen Konstanten der
Hochdruckminerale Aussagen zum Gefüge der Erdman-
telgesteine zu.
Weiterhin sind Computermodelle zur 4-D (Raum,
Zeit)-Modellierung der Prozesse in Kugelsymmetrie un-
ter Einbeziehung der Variation der Stoffeigenschaften zu
entwickeln und über den Vergleich mit den tomographi-
schen Ergebnissen zu verifizieren. Zur Klärung spezieller
Teilaspekte werden darüber hinaus vereinfachte Modelle
erforderlich sein, mit denen zum Beispiel die Mischungs-
eigenschaften dreidimensionaler, zeitlich veränderlicher
Konvektion beschrieben werden können. Dies ist für die
Umverteilung geochemisch signifikanter Elemente wich-
tig. Es soll die Modellierung von „mantle plumes” erfol-
gen, die für Vulkanismus außerhalb aktiver Kontinental-
ränder verantwortlich gemacht werden. In Mitteleuropa
ist die Eifel-Vulkanzone mit einer letzten Eruption vor
circa 10.000 Jahren, das heißt im geologischen Zeitmaß
der Jetztzeit, möglicherweise auf einen Mantel-Plume
zurückzuführen. Das Ablösen von „mantle plumes“ an
der D"-Lage könnte zudem das Umklappen des Erdma-
gnetfeldes steuern. Die Modellierung der Transportpro-
zesse in Mehrphasenströmungen ist wichtig für die Be-
schreibung der Erstarrung von Magmenkörpern und der
Differenzierung des Erdkörpers in der Frühphase seiner
Entstehung. Konvektionsströmungen steuern die Vor-
zugsorientierung anisotroper Minerale; ihre Modellie-
rung kann die Ursachen seismischer Anisotropie erklären
und in Kombination mit den anisotropen Materialeigen-
schaften, einen Anhaltspunkt für die Richtung von Kon-
vektionsströmen liefern.
c. Die Variation des Erdmagnetfeldes: Steht eine Feldumkehr bevor?Zeitliche Variationen des Erdmagnetfeldes gehören zu
den raschesten globalen geologischen Veränderungen,
die den Menschen bekannt sind. Im Bereich des Nordat-
lantik beobachtet man zum Beispiel zur Zeit eine Abnah-
me der Intensität des Magnetfeldes um etwa 3 % pro Jahr.
Aus gesteinsmagnetischen Untersuchungen ist bekannt,
dass sich die Richtung des Erdmagnetfeldes gelegentlich,
das heißt in Abständen von einigen hunderttausend Jah-
ren, umkehrt und während solch einer Umkehr das Erd-
magnetfeld auf etwa 10 % seiner heutigen Intensität ab-
nimmt. Es ist daher wahrscheinlich, dass sich das Ma-
gnetfeld der Erde kurz vor dem Zustand einer Umkeh-
rung befindet. Andereseits ist es auch möglich, dass das
Erdmagnetfeld zur Zeit deutlich stärker als im Mittel der
vergangenen Jahrmillionen ist und die beobachtete Ab-
nahmne nur auf eine Normalisierung hindeutet. Da das
Magnetfeld wesentlich die Wechselwirkung der Erde mit
dem interplanetaren Medium bestimmt und den Sonnen-
wind mit seinen hochenergetischen Teilchen von der Erd-
atmosphäre fernhält, sollen in diesem Projekt die Vorgän-
ge während einer Feldumkehr und ihre erwarteten Aus-
14
wirkungen auf die Atmosphäre und Biosphäre erarbeitet
werden.
Die notwendigen Forschungs- und Entwicklungsauf-
gaben umfassen zunächst die kontinuierliche Überwa-
chung des Erdmagnetfeldes mit erdmagnetischen Obser-
vatorien und insbesondere mit Satelliten im Weltraum
(vergleiche Kapitel „Beobachtung des Systems Erde aus
dem Weltraum“). Zur Voraussage der Vorgänge während
einer Feldumkehr müssen die Möglichkeiten der ge-
steins- und paläomagnetischen Untersuchung der zeit-
lich-räumlichen Variationen in der geologischen Vergan-
genheit erweitert werden. Die Dynamoprozesse, die zur
Entstehung des Erdmagnetfeldes im äußeren Erdkern
führen, müssen im Labor und auf Großrechnern unter
Berücksichtigung experimentell bestimmter Stoffpara-
meter modelliert werden.
Dieser Themenkomplex wird seit dem Jahr 2000im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Erd-magnetische Variationen: Raum-Zeitliche Struktur,Prozesse und Wirkungen auf das System Erde“ geför-dert (siehe Seite X).
d. Bildung und Entgasung von Magmen: Ursachen fürexplosiven VulkanismusGroße explosive Vulkaneruptionen können das Klima
auf der Erde nachhaltig beeinflussen. Für das „Jahr ohne
Sommer“ 1816, mit verheerenden Frostperioden in der
nördlichen Hemisphäre, wird zum Beispiel die Eruption
des Tambora (Indonesien) 1815 verantwortlich gemacht.
Die gasreichen Magmen entstehen in einem Keil des Erd-
mantels oberhalb von Subduktionszonen, aus denen flui-
de Bestandteile zugeführt werden. Die im Magma gelös-
ten Gase kontrollieren den Eruptionsprozess und verän-
dern die Erdatmosphäre. Die Injektion von Schwefeldi-
oxid in die Stratosphäre bei einer vulkanischen Eruption
führt zur globalen Abkühlung: Schwefeldioxid wird hier
zu Sulfat aufoxidiert, die Sulfat-Aerosole sind extrem
stabil und können monate- bis jahrelang in der Stratos-
phäre bleiben, wo sie zu einer erhöhten Reflektion der
Sonnenstrahlung führen. Daten des Ultraviolettspektro-
meters an Bord des Nimbus 7-Satelliten der NASA zei-
gen, dass bei der Eruption des Pinatubo (Philippinen) im
September 1991 insgesamt 20 Millionen t Schwefeldio-
xid in die Stratosphäre injiziert wurden. Hierdurch wurde
die optische Dicke der Stratosphäre noch Monate nach
der Eruption um das hundertfache erhöht. Der Ausbruch
des Pinatubo führte zu einer globalen Abkühlung von
0.5°C, die einen Teil der industriell bedingten Auf-
heizung der Atmosphäre durch Treibhausgase wie CO2
für einige Jahre kompensieren wird. Für die Vorhersage
der Entwicklung des Klimas auf der Erde müssen daher
die Bildung von Magmen und die Wechselwirkung von
vulkanischer Aktivität und atmosphärischen Prozessen
verstanden werden. Ein technologisch wichtiger
Aspekt der Freisetzung von flüchtigen Bestandteilen
aus Magmen ist die Bildung von magmatisch-hydro-
thermalen Erzlagerstätten. Versteht man diese Pro-
zesse, die insbesondere an Subduktionszonen gebun-
den sind, so ist die Entwicklung von gezielteren Me-
thoden zur Aufsuchung neuer Rohstoffvorräte möglich.
Hieraus ergeben sich folgende notwendige For-
schungs- und Entwicklungsaufgaben: Die von Vulkanen
freigesetzten Gasmengen und Gaszusammensetzungen
sind zu bestimmen und für die Vorhersage von Eruptio-
nen und klimatischer Einflüsse zu nutzen. Messungen
von Satelliten aus können nur sehr große Eruptionen und
wenige Gasspezies erfassen. Diese Daten müssen daher
ergänzt werden durch die Beprobung von Gasen an der
Erdoberfläche. Bisher sind solche Untersuchungen nur
eingeschränkt möglich und oft mit hohen Sicherheitsrisi-
ken behaftet. Die Weiterentwicklung der Infrarot-Emissi-
onsspektroskopie kann die Analyse von freigesetzten
heißen Gasen aus einer Entfernung von mehr als 10 km
ermöglichen und gleichzeitig Daten über die Gas-
temperaturen liefern, die auch zur Vorhersage von akuten
Eruptionen dienen können. Die Entwicklung dieser Tech-
15
Abb. 12: Die Aufzeichnung von akustischen Ereignis-sen (Emissionen) erlaubt es, Bruchprozesse im Gesteinin situ zu verfolgen. Die Abbildung zeigt Ort (Kugelpo-sition) und Stärke (Kugelgröße) der Emissionen in ei-ner zylindrischen Granitprobe, die im Experiment biszum Bruch belastet wurde.
nik befindet sich zur Zeit erst im Anfangsstadium.
Die Verteilung von flüchtigen Bestandteilen, insbe-
sondere Schwefel, zwischen Schmelze und Gasphase ist
experimentell zu untersuchen. Um zu verstehen, wie die
für die klimatische Entwicklung der Erde relevanten
Schwefelspezies aus Magmen freigesetzt werden, muss
ihre Verteilung zwischen einer Gasphase und Silikat-
schmelzen im Labor bestimmt werden. Wegen der extre-
men Korrosivität von Schwefelverbindungen bei hohen
Temperaturen und Drücken sind diese Untersuchungen
besonders schwierig, aber auch für das Verständnis mag-
matisch-hydrothermaler Erzlagerstätten entscheidend, da
Erzmetalle hier in der Regel an Schwefel gebunden sind.
Die Eruptionsdynamik und Entgasungsprozesse sollen
modelliert werden. Die durch Vulkane freigesetzte Men-
ge von Schwefeldioxid macht gegenwärtig etwa 10 % der
anthropogenen Produktion aus. Im Gegensatz zum indus-
triell freigesetzten Material, das in der Troposphäre bleibt
und durch Regen sehr schnell ausgewaschen wird, kön-
nen jedoch Vulkane Schwefeldioxid in die Stratosphäre
injizieren, wo es eine lange Verweilzeit und nachhaltige
klimatische Auswirkungen hat. Es liegt daher auf der
Hand, dass für das Verständnis der Wechselwirkung von
Vulkanen und Klima die Modellierung der Erup-
tionsdynamik (Höhe der Eruptionssäule, Massenfluss,
Temperaturverteilung in der Eruptionssäule und so wei-
ter) von entscheidender Bedeutung ist. Für die Entwick-
lung zuverlässiger Computermodelle werden insbeson-
dere experimentelle Daten zur Viskosität von Schmelzen,
zur Gaslöslichkeit in Schmelzen und zu Diffusionsge-
schwindigkeiten benötigt.
Neue analytische Methoden zur Untersuchung von
Fluideinschlüssen in Mineralen sind zu entwickeln. Di-
rekte Informationen über den Gehalt an flüchtigen Be-
standteilen in Magmen und die Zusammensetzung frei-
gesetzter Gase in natürlichen magmatischen Systemen
erhält man aus der Untersuchung von Fluid- und
Schmelzeinschlüssen in Mineralen. Mit gegenwärtigen
Methoden ist aber eine vollständige Analyse und Inter-
pretation der Bildungsbedingungen dieser Einschlüsse
noch nicht möglich. Die weitere Entwicklung und expe-
rimentelle Kalibrierung von Raman- und Infrarotspektro-
skopischen Untersuchungsmethoden ist daher notwedig.
e. Deformation des Erdmantels und der LithosphäreDie mit hochauflösenden Messverfahren der Geodäsie
(siehe Kapitel „Beobachtung des Systems Erde aus dem
Weltraum“) heute direkt zu beobachtenden Bewegungen
und Verformungen der Lithosphäre sind Ausdruck der
Mantelkonvektion, die durch den Wärmeabtransport aus
dem Erdinneren angetrieben wird. Sie erfordert die De-
formation (in festem Zustand) von Gesteinen und Mine-
ralen in allen Tiefenbereichen. Bei den niedrigen Tempe-
raturen nahe der Erdoberfläche werden die Gesteine vor
allem durch Spröd-Prozesse deformiert, was häufig zu
Erdbeben führt (siehe Abb. 12). In Tiefen unterhalb circa
15 km ist die Deformation dagegen überwiegend aseis-
misch; sie wird durch thermisch aktivierte Prozesse, wie
das Klettern von Dislokationen und Diffusionskriechen,
bewirkt. Die mechanische Festigkeit der Gesteine der Li-
thosphäre und des Erdmantels wird durch zahlreiche Fak-
toren beeinflusst, wie Mineral- und Gesteinszusammen-
setzung, Temperatur, Druck, Stress, An- oder Abwesen-
heit von Schmelzen und so weiter.
Trotz erheblicher experimenteller Anstrengungen in
den letzten Jahrzehnten sind bisher nur wenige dieser
Faktoren systematisch an Krusten- und Mantelgesteinen
untersucht worden und das auch nur an wenigen einfa-
chen Systemen. Die Arbeiten konzentrieren sich insbe-
sondere auf die Deformation von Quarz- und Olivin-
Aggregaten unter trockenen oder nassen Bedingungen,
um Randbedingungen für die Deformation der Erdkruste
beziehungsweise des obersten Erdmantels zu erhalten.
Diese Daten werden heute für die Modellierung von Plat-
tenkollisionen, Verbiegung der Lithosphäre und die Man-
telkonvektion herangezogen. Andererseits besteht die
Erde nicht aus einem einfachen, monomineralischen Ge-
stein, und konventionelle Deformations-Apparaturen er-
reichen nur den Druckbereich der Erdkruste und des
obersten Erdmantels. Daher mangelt es an rheologischen
Daten für Minerale und Gesteine des unteren Erdmantels
und der Übergangszone zur Modellierung der Kon-
vektion, sowie für realistische polymineralische Gesteine
der Erdkruste. Die zukunftsträchtigsten Forschungsfelder
auf experimentellem Gebiet sind die Rheologie des unte-
ren Erdmantels und der Übergangszone, die Deformation
polymineralischer Gesteine der Lithosphäre, die Rolle
der Fluide und die Anisotropie.
Die Fließbewegungen im unteren Mantel, das heißt
des volumenmäßig größten Bereichs des Erdinneren,
sind die wichtigste Komponente der „Wärmekraftma-
schine Erde“. Um realistische Modelle der Mantelkon-
vektion rechnen zu können und auch die noch offene Fra-
ge der Größe der Konvektionszellen zu klären, müssen
rheologische Experimente an den wichtigsten Mineralen
des unteren Erdmantels unter denjenigen Bedingungen
durchgeführt werden, unter denen sie stabil sind. Da das
Silikat Perovskit (das wichtigste Mineral des unteren
Erdmantels) erst bei Drücken oberhalb circa 23 GPa sta-
bil ist, müssen zur Messung seiner mechanischen Eigen-
schaften neue Geräte und Techniken entwickelt werden
(siehe Abschnitt a) Hochdruckphysik).
Die Übergangszone ist eine komplexe Region des Erd-
mantels, die ein wichtiges geochemisches Reservoir dar-
stellt. Neue tomographische seismische Untersuchungen
belegen, dass subduzierte ozeanische Kruste in der Regel
in dieser Tiefe stagniert, aber gelegentlich auch in den
unteren Erdmantel eindringt. Die experimentelle Bestim-
mung der Rheologie der Minerale der Übergangszone
und ihrer Gesteine wird klären, unter welchen Bedingun-
gen ein solches Eindringen möglich ist und was die
Rückwirkungen auf die Spannungsverteilung in der sub-
duzierten Kruste sind. Hiervon sind wiederum Antworten
auf die Frage nach der Entstehung tiefer Erdbeben zu er-
warten. Wie für die Rheologie des unteren Mantels ist
auch hier die Entwicklung neuer Technologien erforder-
lich, zum Beispiel zur Bestimmung der mechanischen Ei-
genschaften von Majorit-Granat.
Die derzeitig zur Modellierung von Lithosphären-De-
formation verwendeten rheologischen Daten von Quarz
16
oder Olivin beschreiben die komplexen Gesteine nur un-
zulänglich, da andere Minerale oder sogar Schmelzen im
allgemeinen volumetrisch wichtig sind und ganz andere
Verformungseigenschaften aufweisen. Außerdem kann
die Anwesenheit einer zweiten Phase (gleichgültig, ob
ein anderes Mineral oder Schmelze) zu einer wesentli-
chen Verringerung der Festigkeit führen, da an den Korn-
grenzen Anpassungsprozesse stattfinden, die in einphasi-
gen Systemen nicht auftreten. Daher ist es wichtig, die
Deformation polymineralischer Aggregate zu untersu-
chen, wie zum Beispiel Pyroxen + Plagioklas oder
Olivin + Orthopyroxen.
Die Anwesenheit von Wasser führt zu einer drasti-
schen Verringerung der Festigkeit vieler Silikat-Minera-
le; die Rolle anderer volatiler Spezies wie Kohlenstoff
oder Schwefel ist weitgehend unbekannt. Außerdem wer-
den Minerale, insbesondere solche mit Übergangsmetall-
elementen, von Sauerstoff-Fugazitäten und den Aktivitä-
ten der beteiligten Oxid-Komponenten beeinflusst. Für
eine realistische Beschreibung der Rheologie der Erde
müssen diese Einflüsse untersucht werden.
Bei starker Deformation der Gesteine ändert sich ihre
Textur, insbesondere, wenn es zu Dislokations-Kriechen
kommt. Diese Gefügeänderung führt zu einer bevorzug-
ten Orientierung der Mineralkörner im Gestein. Da die
elastischen Eigenschaften eines Minerals in der Regel
von seiner Orientierung abhängen, sind die elastischen
Wellengeschwindigkeiten in einem Gestein mit Vorzugs-
orientierung anisotroper Minerale ebenfalls anisotrop.
Ein solches anisotropes Verhalten wird in der Lithos-
phäre in Form der Aufspaltung von S-Wellen („shear
wave splitting“) beobachtet, ein starker Hinweis auf die
Fließrichtung des Erdmantels und die Verformung.
Zur quantitativen Auswertung dieses wichtigen Indi-
kators sind Experimente an polymineralischen Gestei-
nen der Kruste und des Mantels unter starker Ver-
formung erforderlich.
17
Die Ränder der Kontinente sind wie keine andere Region der Erde durch ein hohes
Nutzungs- und Gefährdungspotenzial für den Menschen gekennzeichnet. Aufgrund
ihrer besonderen geologischen Situation zeichnen sich diese Bereiche durch reiche
Rohstoffvorkommen aus. Sie sind vielfach aber auch Orte von extremen Naturereignissen,
wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Flutwellen. Über 90 % der globalen Erdbebenaktivität,
sowie fast alle besonders gefährlichen, hochexplosiven Vulkane sind an aktive Kontinentränder
gebunden. Gleichzeitig konzentrieren sich in einem 200 km breiten Streifen entlang der Küsten
etwa 80 % der Weltbevölkerung. Die Kontinentränder zählen damit zu den wichtigsten Lebens-
und Wirtschaftsräumen, deren Bedeutung nach allen demographischen und ökonomischen
Studien zukünftig sogar noch zunehmen wird. Sie sind daher weltweit in den Blickpunkt der
Forschung gerückt.
Kontinentränder sind vor allem wegen der hohen Prozessraten ein ideales natürliches Labor, um
die grundlegenden Prozesse zu klären, die einerseits die Erde gestalten und andererseits Nutzen
und Schaden für den Menschen bestimmen. Die Lösung der anstehenden Fragen erfordert den
Einsatz neuartiger und substanziell verbesserter Technologien, die wiederum neue Forschungs-
felder eröffnen. Die in dem vorliegenden Themenschwerpunkt gebündelten Forschungsziele
setzen ein hohes Maß an Interdisziplinarität voraus, dem durch intensive nationale und interna-
tionale Kooperation Rechnung getragen wird.
Um in den kommenden Jahren einen durchgreifenden Erkenntnisgewinn zur Dynamik und Ent-
wicklung von Kontinenträndern zu erzielen, sind konzentrierte und integrierte Forschungsakti-
vitäten erforderlich. Die dabei gewonnenen grundlegenden Erkenntnisse sind eine essenzielle
Voraussetzung für eine erfolgreiche Risiko- und nachhaltige Ressourcenforschung. Sie fördert
insbesondere die Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt und einen darauf ausgerich-
teten Know-how Transfer und Erfahrungsaustausch. Die zukünftigen Arbeiten sind zudem ein
wichtiger Beitrag zum Meeresforschungsprogramm der Bundesregierung.
19
Kontinentränder: Brennpunkte im Nutzungs- und Gefährdungspotenzial der Erde
Aufbau und Entwicklung von Kontinenträndern– die zentralen Fragen
An Kontinenträndern grenzt junge, dünne
ozeanische Kruste basaltischer Zusammen-
setzung an ältere, dicke kontinentale Kruste
mit vergleichsweise langer und komplexer Vorgeschich-
te. Gehören beide zur gleichen Lithosphärenplatte, ohne
aktuelle Relativbewegung, so handelt es sich um einen
passiven Kontinentrand (rifted margin), der in der geo-
logischen Vergangenheit durch Aufbrechen eines Konti-
nents und Bildung neuer ozeanischer Kruste zwischen
den nun zwei verschiedenen Platten zugehörenden Tei-
len dieses Kontinents entstanden ist. Ein passiver Konti-
nentrand ist heute keine Plattengrenze. Im Gegensatz
dazu steht der aktive Kontinentalrand (convergent mar-
gin), an dem ozeanische Lithosphäre unter kontinentale
Lithosphäre subduziert wird. An einem solchen Konti-
nentrand spielen sich heute tektonische Bewegungen ab,
womit Veränderungen in menschlichen Zeitskalen, Seis-
mizität und aktiver Vulkanismus mit dem entsprechen-
den Gefährdungspotenzial verknüpft sind. Beide Typen
von Kontinenträndern spielen damit für die Menschheit
eine zentrale Rolle, da die an Kontinentränder gebunde-
nen Küstenregionen bevorzugte Siedlungsräume sind
und damit eine große Zahl von Menschen dem spezifi-
schen Gefahrdungspotenzial ausgesetzt sind. Anderer-
seits konzentrieren sich auf Kontinentränder Rohstoffe
unterschiedlichster Art in ganz besonderem Maße.
Passive Kontinentränder (rifted margins)Das Aufbrechen eines Kontinents wurde ursprünglich
als Folge einer progressiven Ausdünnung kontinentaler
Kruste (mit oder ohne Rift-Vulkanismus) betrachtet, die
zur Bildung eines neuen ozeanischen Spreizungsfensters
führt oder vorher zum Stillstand kommt. Tatsächlich ist
der Vorgang wegen des räumlichen und zeitlich unsteti-
gen Fortschreitens des Aufbrechens wesentlich kompli-
zierter. Um die Abläufe besser zu verstehen, ist es erfor-
derlich, die Entwicklung vom komplexen ersten Zerbre-
chen bis zur gleichmäßigen Krustenspreizung sowohl an
aktiven Spreizungszonen als auch an fossilen Rifts zu
untersuchen. Darüber hinaus wird beim Standardmodell
für die Entwicklung divergenter Ränder angenommen,
dass die Lithosphäre nach dem Aufspalten abkühlt und
allmählich absinkt. Zusätzlich zur konduktiven Abküh-
lung müssen aber weitere Prozesse beteiligt sein. Ge-
genwärtig ungeklärte Phänomene bei der frühen Ent-
wicklung eines Randes, wie etwa Postrift-Hebung oder
anomal starke Absenkung, sind mit dem einfachen
konduktiven Modell nicht zu erklären. Es ist zu unter-
suchen, inwieweit diese Anomalien mit Änderungen in
der Plattenkinematik, mit der Aktivität naher Hot Spots
und/oder mit regionalen Variationen in Sedimentzufuhr
und -transport gekoppelt sind. Ferner ist die Frage zu be-
antworten, wie sich die Vertikalbewegungen auf die
Kontinenthangstabilität und die Entwicklung des Koh-
lenwasserstoff (KW)-Potenzials auswirken. Ein erst
neuerdings erkanntes Phänomen ist der verbreitete
äußerst intensive, dabei kurzlebige Vulkanismus man-
cher divergenter Kontinentränder mit wahrscheinlich
dramatischen globalen Auswirkungen auf die Paläoum-
welt. Die vulkanischen Kontinentränder zählen zu den
ganz großen magmatisch-vulkanischen Provinzen der
Erde, deren Entstehung mit dem plattentektonischen
Paradigma bislang nicht überzeugend erklärt werden
kann. Ein enger Zusammenhang zwischen einigen Hot
Spots und dem Aufspalten von Kontinenten wird vermu-
tet, doch sind die möglichen Hintergründe für das Auf-
treten beziehungsweise Fehlen des transienten Magma-
tismus nicht hinreichend untersucht. Die möglicherwei-
se erheblichen Konsequenzen für das Kohlenwasser-
stoffpotenzial sind nicht bekannt.
Ziele für die nächste Dekade:• Untersuchung und Modellierung einer vollständigen
Riftentwicklung (vulkanischer und nichtvulkanischer
Kontinentrand) vom aktiv propagierenden Riftzen-
trum bis zum reifen passiven Kontinentrand; auch der
zeitliche Ablauf, Ausdehnung und Zusammensetzung
des initialen Vulkanismus soll in erster Näherung er-
fasst werden;
• Abbildung der Riftachse/-spitze und der gekoppelten
aktiven Prozesse; Abbildung der Lithosphären-Asthe-
nosphärengrenze über den Ozean-Kontinentübergang
eines passiven Randes;
• Entwicklung physikalischer Modelle der Riftpropaga-
tion und der Randentwicklung; Rekonstruktion und
Vergleich von Regionen mit normaler und anomaler
20
Themenschwerpunkt: „Kontinentränder: Brennpunkte im Nutzungs-und Gefährdungspotenzial der Erde“.
Förderstatus BMBF:Ab 1.1.2004 Förderung von drei Forschungsver-
bünden. Fördervolumen: circa 6,5 Millionen Euro
für eine 3-jährige Förderphase.
Förderstatus DFG:Förderung von 11 Projekten im Rahmen der
europäischen (ESF) Initiative EUROMARGINS.
Fördervolumen: 2,1 Millionen Euro für eine
3-jährige Förderphase.
Ziel:Grundlagenstudien zur Entwicklung von Konti-
nenträndern und Risikominderung durch Ursa-
chenforschung von Naturkatastrophen, wie Erd-
beben oder Vulkanausbrüche.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinärer Verbund aus Universitäten und
außeruniversitären Einrichtungen.
Absenkungs- und Sedimentationsgeschichte unter
Berücksichtigung der regionalen Plattenkinematik;
• Auswirkungen von transientem Vulkanismus/Magma-
tismus auf das Sedimentationsmilieu und die Bildung
von Erzlagerstätten; Untersuchung der Auswirkung
von anomalen Hebungen und Senkungen auf die Erdöl
und Gashydratbildung/-stabilität.
Aktive Kontinentränder (convergent margins)Die wesentlichen Prozesse an konvergenten Konti-
nenträndern sind mit Fluiden verknüpft, die aus Gestei-
nen und Sedimenten der abtauchenden Platte freige-
setzt werden. Dies gilt insbesondere für Seismizität,
Magmatismus, Massen und Stofftransport und die An-
reicherung zu nutzbaren Lagerstätten. Die Quelle und
die Menge dieser Fluide wie auch der gesamte Massen-
umsatz sind jedoch bisher kaum bekannt beziehungs-
weise schwer zu quantifizieren.
Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass dem Po-
renfluiddruck eine zentrale Steuerfunktion für Auslö-
sung und Propagation von Erdbeben zukommt. Experi-
mente sind daher erforderlich, um den Zusammenhang
zwischen seismischen Zyklus und Fluidabgabe, Fluid-
migrationswegen, Druckentwicklung, Permeabilität und
Deformation im seismischen Zyklus zu klären. Hier-
durch wird eine bessere Abschätzung des seismischen
Risikos aufgrund besser bestimmter geologischer Rand-
bedingungen erwartet. Zum Beispiel ist das Zerbrechen
der ozeanischen Platte an Dehnungsstörungen im Be-
reich der „Äußeren Schwelle“ (Outer Rise) vor dem
Tiefseegraben eine bisher kaum untersuchte mögliche
Region für die Wasseraufnahme in die abtauchende
ozeanische Lithosphäre. Bereiche mit sehr niedrigem
Wärmefluss können hiermit zu korrelieren sein. Benötigt
werden daher geophysikalische Abbildungstechniken,
die die Eigenschaften der subduzierenden ozeanischen
Platte und deren laterale Änderungen, aber auch der
Plattengrenzfläche im Detail aufzeigen.
Durch Freisetzung von Fluiden in Tiefen von 100 bis
150 km wird der Magmatismus konvergenter Ränder ge-
trieben. Typischerweise besitzen die vulkanischen Zen-
tren einen charakteristischen Abstand von etwa 50 km
voneinander. Der Grund dafür ist unbekannt. Sowohl
Manteldiapirismus (jeder Vulkan liegt über einem Man-
teldiapir), wie lithosphärische Belastung (jeder Vulkan
stört den Aufwärtsstrom einer planaren Schmelzregion
unter dem magmatischen Bogen) sind als Gründe für
dieses Muster vorgeschlagen worden. Darüber hinaus
müssen nach jüngeren Vorstellungen Verteilung und
Fließrate von Fluiden aus der subduzierten Platte diesen
Vorgang steuern. Beide Steuergrößen sind jedoch unbe-
kannt. Mit der Erforschung der Fluide würde ein deut-
lich verbessertes Verständnis des Schmelzflusses und
der Steuerungsprozesse für den Bogenvulkanismus er-
zielt werden. Neben aktivem Vulkanismus und Erdbe-
bentätigkeit sind konvergente Kontinentränder durch
ausgeprägte Stoffaustauschprozesse charakterisiert, ver-
bunden mit großskaligen tektonischen Veränderungen
(Gebirgs- und Beckenbildung, Zuwachs und Vernich-
tung von kontinentaler Lithosphäre), die auch zur Bil-
dung von bedeutenden mineralischen Lagerstätten
21
Abb. 13: Schwerpunkte deutscher Forschungsaktivitä-ten an Kontinenträndern (onshore + offshore).
führen können. Die Steuerfaktoren für den Material-
transfer an den verschiedenen Typen von konvergenten
Kontinenträndern (akkretionäre, nichtakkretionäre und
subduktionserosive Ränder) sowie die damit assoziierten
Prozesse (Vulkanismus, Mineralisationen, Fluid-Haus-
halt, Stoffflüsse, Seismizitätsverteilung) und ihre wech-
selseitige Kopplung sind unzureichend bekannt. Auch
die tektonischen Randbedingungen für die Anlage von
Forearc- und Backarc-Becken mit Ausbildung von Koh-
lenwasserstoff-Lagerstätten sind wenig verstanden.
Ziele für die nächste Dekade:• Untersuchung der strukturellen Eigenschaften von
konvergenten Kontinenträndern und ihrer zeitlichen
Änderungen, die mit seismischen und aseismischen
Bewegungen korrelieren (hochauflösendes Abbild der
Geometrie und der petrophysikalischen Eigenschaften
in 3-D und ihrer zeitlichen Variabilität; Analyse des
Seismizitätsmusters und der Fluidfreisetzung im
Forearc; Ermittlung der rezenten und aktiven Defor-
mationsgeschichte).
• Untersuchung der lithosphärischen und asthenosphäri-
schen Struktur und Eigenschaften unter benachbarten
aktiven Vulkanen (hochauflösende seismische und
elektromagnetische 3-D-Abbilder der Struktur; Re-
konstruktion der rezenten magmatischen Entwicklung
eines Vulkansegments, sowie Erfassung der Natur der
Kruste der vorgelagerten subduzierenden Platte; Er-
mittlung der rezenten Deformationsgeschichte dieses
Bogensegments).
• Identifikation der Materialflüsse und ihrer Steuerfak-
toren an konvergenten Plattenrändern (hochaufgelöste
Abbilder der Prozesse und Eigenschaften der lithos-
phärischen Einheiten an der Plattengrenzfläche; Er-
mittlung von rezenter Deformation und Kinematik, so-
wie von Seismizität und Materialtransfer, sowie Bil-
dung von Erzlagerstätten; experimentelle Erforschung
der mechanischen Steuerfaktoren).
• Untersuchung eines repräsentativen Outer Rise zur Er-
mittlung der Hydratisierungsprozesse und der rheolo-
gischen Parameter der Lithosphäre (hochauflösendes
Abbild der seismischen Geschwindigkeiten in 3-D mit
rezenter Seismizität und ihre Korrelation mit größeren
Störungen; Mikroseismizität, Wärmefluss und boden-
nahe Schwere-, magnetische und elektrische Struktur
sowie deren Beziehung zu Störungen; Analyse von
Gesteinen, Fluidaustritten und Erzpräzipitaten).
• Entwicklung von Bilanzierungs- und Modellierungs-
verfahren des Material und Energietransfers.
Biologische Produktion und Stoffumsatz an Konti-nenträndernÜber 50 % der globalen biologischen Produktion im
Ozean findet entlang der Kontinentränder statt, konzen-
triert vor allem auf die Schelfe. Die Hauptsenken für or-
ganischen Kohlenstoff sind die angrenzenden Kontinen-
talabhänge, wo sich heutige Analoge der Muttergesteine
für Erdöl- und Erdgaslagerstätten bilden. Gleichzeitig
haben die Kontinentränder ein hohes Rohstoffpotenzial:
Während Phasen niedriger Meeresspiegel (Eiszeiten)
bildeten sich auf den Schelfen Mineralseifen (Gold, Pla-
tin, Diamanten, Chromit, Titanminerale). Gigantische
Akkumulationen von Öl und Gas werden in charakte-
ristischen Speichergesteinen der tieferen Kontinental-
ränder (Karbonate und Sandsteine) vermutet. Die öko-
nomische Relevanz der Kontinentränder ist gegenwär-
tig Anlass für die meisten Küstenstaaten der Welt, ihre
Exklusive Ökonomische Zone (EEZ) von derzeit 200
Seemeilen auf bis zu 350 Seemeilen vor die Küstenli-
nie auszudehnen.
Sedimentserien des Schelfs und tieferer Stockwerke
der Kontinentränder sind das Bindeglied zwischen Kon-
tinent und Ozean. Beide archivieren detailliert die Ände-
rungen im Stofftransfer vom Land in den Ozean und aus
der Biosphäre in die Geosphäre. Diese Transfers sind je-
doch wahrscheinlich keine Einbahnstraßen: In jüngster
Zeit wird zunehmend die Rolle der mächtigen Sedi-
mentpakete auf den Schelfen und den oberen Kontinen-
talabhängen (im Bereich der ozeanischen Sauerstoffmi-
nimumzonen) für die Nährstoffbudgets im Ozean disku-
tiert. Gasreiche Sedimente auf Schelfbereichen beein-
flussen das Milieu unter Wasser, gefährden große Kü-
sten-Ökosysteme und den unmittelbaren Küstenstreifen.
Ein deutliches Wissensdefizit besteht bei Sedimenten
der tieferen Hangbereiche, die sich aus Material konti-
nentaler Verwitterung und mariner biologischer Produk-
tion zusammensetzen. Forschungsbedarf besteht bei der
detaillierten räumlichen und zeitlichen Erfassung von
Turbiditsystemen, der Erfassung von Auslösern für Tur-
biditereignissen (zum Beispiel seismische Aktivität, Se-
dimenteintrag, Änderungen des Meeresspiegels), der
Klärung ihres Stoffbestands sowie ihr Beitrag zum KW-
Haushalt der Kontinentränder. Auch die Karbonatpro-
duktion an Kontinenthängen ist bisher noch wenig er-
forscht, ihre globale geobiologische Signifikanz kaum
bekannt. Tiefwasser-Karbonathügel reagieren auf Verän-
derungen der ozeanischen Zirkulation und abrupte Än-
derungen des Sedimentationsgeschehens. Ein Zusam-
menhang zwischen Gashydratbildung und Entstehung
der Karbonathügel wird diskutiert. Die Untersuchung
der Umweltparameter tiefer Schelfgebiete, Rampen und
Kontinenthänge wird erstmals brauchbare Modelle für
die Tiefwasser-Explorationsgeologie bereitstellen, eine
Datenquelle für die Variabilität und Dynamik der Zwi-
schenwasserzirkulation erschließen und das Potenzial
für eine bislang ungenutzte biologische Rohstoffquelle
nutzbar machen.
Ziele für die nächste Dekade: • Bilanzierung der Sedimentation und Untersuchung der
Steuerungsmechanismen für Sedimentations- und
Erosionsprozesse an Kontinenträndern (Sedimentzu-
sammensetzung, Sedimentationsraten, Paläozeanogra-
phische Proxies, Altersbestimmung);
• Bilanzierung der Rolle von Kontinenträndern in den
Nährstoffzyklen (C, N, P und Si) des Ozeans (Nähr-
stoffflüsse in das und aus dem Sediment, die Rolle der
Sauerstoffminimumzonen; Einflüsse von Veränderun-
22
gen des Meeresspiegels);
• Untersuchung von Austauschprozessen zwischen Hy-
drosphäre, Geosphäre, Biosphäre und Kryosphäre an
Kontinenthängen durch Langzeitbeobachtungen (4-D-
Vermessung von Sedimentkörpern, Signalbildung,
Wärmefluss-, Permeabilitäts-Messungen, chemische
Veränderungen an Fluid-Austritten, die Rolle und Dy-
namik von Gasakkumulationen).
Geo-Risiko und Ressourcenforschung an Kontinenträndern
Die zu erwartenden Ergebnisse innerhalb dieses The-
menschwerpunktes sollen gesellschafts- und wirtschafts-
relevante Beiträge liefern: (1) zur Minderung des Risi-
kos von Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüchen
durch Verständnis der Steuerungsprozesse, darauf be-
gründet Beratung der zuständigen Regierungsstellen so-
wie Unterstützung bei der Realisierung von Überwa-
chungs-, Frühwarn- und Schutzstrategien; (2) zur Res-
sourcenplanung/-steuerung durch Verstehen der Res-
sourcenbildungsprozesse, Entwicklung neuer Aufsu-
chungskonzepte und entsprechende Beratung von Indu-
strie und Regierungsstellen.
Erdbeben und TsunamisWeltweit konzentrieren sich die großen Schadenbe-
ben auf die konvergenten Ränder der Lithosphärenplat-
ten. So waren die 10 stärksten Erdbeben zwischen 1990
und 2000 Subduktionsbeben mit Magnituden >8. Allein
im Jahr 1999 starben dabei über 20.000 Menschen im
Zusammenhang mit Erdbeben in Kolumbien, Mexiko,
Türkei, Griechenland und Taiwan. Nach Angaben der
Münchener Rück müssen allein die durch Erdbeben in
Taiwan und der Türkei im Jahr 1999 ausgelösten ökono-
mischen Verluste auf circa 26 Milliarden US$ beziffert
werden. Selbst wenn solche starken Beben sich in großer
Tiefe ereignen, können sie noch erhebliche Flutwellen
(Tsunamis) auslösen, die verheerende Überschwemmun-
gen der Küstenbereiche zur Folge haben.
Trotz erheblicher Fortschritte, die in den vergangenen
circa 25 Jahren zum Beispiel in der Erforschung der
Herdprozesse erzielt wurden, bleiben wesentliche
Grundlagen des Erdbebendeformationsprozesses bis
heute unverstanden, wie nicht zuletzt das immer noch
ungelöste Problem der kurzfristigen Erdbebenvorhersa-
ge zeigt. Die relevanten mechanischen, petrophysikali-
schen und petrologisch-chemischen Prozesse in der Li-
thosphäre und Asthenosphäre sind in ihrer Wirkung auf
den Erdbebendeformationsprozess eng miteinander
verknüpft und können nur durch einen interdisziplinären
Forschungsansatz erfolgreich untersucht werden. Geo-
physikalische und geodätische Techniken werden gegen-
wärtig entwickelt, um die Auslösungs- und Herdprozes-
se von Beben besser abbilden zu können und ihr Poten-
zial zur Generierung von Tsunamis besser abschätzen zu
können. Insbesondere die modernen Methoden der Sa-
tellitengeodäsie und der GPS-Techniken liefern neue
Einsichten. GPS-Techniken, die wegen ihrer Landge-
bundenheit nur einen Teil der seismogenen Zone beob-
achten können, zeigen, dass der Erdbebenzyklus zeitlich
und räumlich variabel innerhalb desselben Bruchseg-
ments ist. Das Verständnis der Bruchmechanik aus geo-
physikalischen Daten, Laborexperimenten und Model-
lierungen unter Einbeziehung geodätischer Messungen
wird der Schlüssel für die Weiterentwicklung von Vor-
hersagetechnologien sein.
Obwohl Tsunamis im Vergleich zu Erdbeben relativ
selten auftreten, können einzelne Ereignisse katastro-
phale Ausmaße erreichen. So forderte die 1998 vor der
N-Küste von Papua-Neuguinea durch ein Seebeben aus-
gelöste Flutwelle über 2.100 Menschenleben und zer-
störte einen erheblichen Teil des Küstenstreifens. Soge-
nannte „langsame“ Beben, die nur geringe Erschütterung
erzeugen und wahrscheinlich nur mit GPS-Methoden
beobachtbar sind, sind ebenfalls in neuerer Zeit als wich-
tige Auslöser von Tsunamis erkannt worden. Zusätzlich
zu den durch Erdbeben ausgelösten Tsunamis, sind
große submarine Hanginstabilitäten und Rutschungen
eines Kontinenthangs im Hinblick auf die Auslösung
von Tsunamis eine Naturgefahr erster Ordnung, deren
Bedeutung erst kürzlich erkannt wurde (große prähisto-
rische Rutschungen vor Costa Rica und Nicaragua mit
modellierten Flutwellen von 16-27 m Höhe). Es besteht
die wohlbegründete Aussicht, aus der Seismik und aus
der Satellitenbathymetrie submarine Gefahrenzonen ein-
grenzen und die zugehörigen Prozesse erfassen zu kön-
nen, wie zum Beispiel die Destabilisierung von Konti-
nenthangzonen und die damit verbundene Risikoer-
höhung für Tsunamis durch das Eintauchen von Tiefsee-
kuppen in den Subduktionsbereich. Das Potenzial für
große submarine Hangrutschungen und Tsunamibildung
ist kürzlich auch für den atlantischen Kontinentrand vor
den USA gezeigt worden; historische tsunamigene Rut-
schungen sind vor dem norwegischen Rand, fossile Tsu-
namiablagerungen in Europa an den Küsten Schottlands,
Islands und Norwegens entdeckt worden.
Ziele für die nächste Dekade:• Spannungsaufbau, -umlagerung und -diffusion, seis-
mische und aseismische Deformation an Subduktions-
zonen, ihre Steuerung, Vermessung und Modellierung;
• Identifikation von messbaren Prozessen und Eigen-
schaften im Bereich des Auftretens von Subduktions-
beben und Verbesserungen in der Abschätzung der Ri-
siken als Grundlage für die Entwicklung von Monito-
ring und Frühwarntechnologien;
• Identifizierung der Steuerungsprozesse und Abschät-
zung der potenziellen Risiken von großen submarinen
Rutschungen (Identifikation und Abbildung von po-
tenziell instabilen Hangbereichen und kritischen Lo-
kationen für Monitoring; Verbesserung des Verständ-
nisses der Rutschmechanismen; Entwicklung von
Technologie für das Ozeanbodenmonitoring).
23
HochrisikovulkaneMit der Subduktion von Lithosphärenplatten an akti-
ven Kontinenträndern ist ein intensiver Vulkanismus
verknüpft. Explosive Vulkaneruptionen, die häufig mit
großen Schlammströmen und Hangrutschen verbunden
sind, gehören zu den Naturkatastrophen mit großer Ver-
nichtungskraft. Neben der Bedrohung der näheren Um-
gebung von Vulkanen beeinflussen katastrophale Gas-
und Partikelemissionen das globale Klima zumindest für
mittelfristige Zeiträume. Mindestens 400 der weltweit
mehr als 500 subaerischen Vulkane, die in historischer
Zeit aktiv waren, sind an Subduktionszonen gebunden.
Von den Subduktionszonen-Vulkanen rund um den Pazi-
fik, dem sogenannten „Ring of Fire“, sind die meisten
heute aktiv. Durchschnittlich jedes Jahr bricht mindes-
tens einer von ihnen aus. Spätestens nach dem Ausbruch
des kolumbianischen Vulkans Nevado de Ruiz im No-
vember 1985, bei dem mehr als 25.000 Menschen getö-
tet wurden, stand in der Wissenschaft nicht mehr nur das
Studium der Eruptionsprozesse im Vordergrund, sondern
zunehmend auch die Entwicklung effektiverer Überwa-
chungsmethoden zur Ausbruchsvorhersage und die Op-
timierung von Alarmierungs- und Evakuierungsvor-
schriften. Am Beispiel der Ausbrüche des Mount Pinatu-
bo auf den Philippinen zwischen 1991 und 1995 konnte
gezeigt werden, dass diese Maßnahmen sehr erfolgreich
hohe Verluste an Menschenleben verhindern konnten.
Obwohl genaue Zahlen zu wirtschaftlichen Schäden und
zum Verlust an Menschenleben als Folge von Vulkane-
ruptionen schwer anzugeben sind, gilt auch hier, dass
immer mehr Menschen in Zukunft im Einzugsgebiet von
sogenannten Hochrisiko-Vulkanen an Kontinenträndern
leben werden.
Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf darin,
die prozessrelevanten Parameter zu identifizieren und
sie für effiziente Frühwarnsysteme zu verwenden. Die
Erfolgsaussichten werden durch die bisherigen Ergeb-
nisse, die von deutschen Gruppen an Vulkanen in Ko-
lumbien beziehungsweise in Indonesien erarbeitet wor-
den sind, als sehr positiv eingeschätzt. Danach besteht
möglicherweise eine Korrelation zwischen dem vulkani-
schen Aktivitätszustand auf der einen Seite und den geo-
physikalischen und gaschemischen Parametern auf der
anderen Seite. Dieser Zusammenhang muss intensiver
untersucht werden, um ihn gesichert für ein zuverlässi-
ges Monitoring und geeignete Frühwarnsysteme einset-
zen zu können.
Ziele für die nächste Dekade:• Identifikation der physikalischen und chemische
Steuerprozesse und Signale, die Grundlage für Moni-
toringtechnologien sein können;
• Verbesserung der geophysikalischen theoretischen
Grundlagen für eine exaktere Ausbruchsvorhersage
auf der Basis probabilistischer Modelle;
• Weiterentwicklung und verbreiteter Einsatz geochemi-
scher Monitoring-Verfahren (inklusiv OnIine-Tempe-
raturmessungen) um eine den geophysikalischen Me-
thoden gleichwertigere Datendichte zu erreichen;
• Entwicklung und Einsatz einfacher und preiswerter
Monitoring-Messgeräte, die von den lokalen Über-
wachungsbehörden selbständig eingesetzt und betrie-
ben werden können;
• Remote sensing von Satellitenplattformen aus (Ober-
flächentemperaturen, Gasemanationen und Partikel-
wolken).
KüstenzonenZu den Kontinenträndern gehören die Küstenzonen
als hochdynamische terrestrisch/marine Übergangszo-
nen. Struktur, Genese und rezent wirkende Prozesse be-
stimmen zum einen die Ressourcen dieser Zone, und da-
mit die Lebensgrundlage der dort lebenden Menschen,
zum anderen die Gefährdung durch Naturkatastrophen.
Insbesondere Sturmfluten und Tsunamis als schnelle Er-
eignisse oder Meeresspiegeländerungen und vertikale
Landbewegungen als langsame Ereignisse haben hier
wegen der zunehmenden Nutzung eine ebenfalls zuneh-
mende Bedeutung. Die quantitative Bewertung von Ka-
tastrophenrisiken, die Entwicklung von Strategien für
Vorsorgemaßnahmen und von Warnsystemen sowie der
naturnahe Schutz der Küsten vor Abrasion und Überflu-
tungen (zum Beispiel Bemessung von Deichhöhen) wird
ebenso zu den Aufgaben der Geowissenschaftler im
kommenden Jahrzehnt gehören, wie die Abschätzung
der sedimentologischen und ökologischen Folgen der
Gewinnung mineralischer Rohstoffe und der Nutzung
mariner Räume als Deponien. Hier müssen wie auch bei
der Planung und Ausführung nachhaltig umweltverträg-
licher Bauwerke (Tunnel, Brücken, Förderplattformen,
Pipelines, Windkraftwerke, Hafenbau, Fahrrinnenvertie-
fung und -unterhaltung) neue Formen der Zusammenar-
beit von Geowissenschaftlern mit Ozeanographen, Öko-
logen und Ingenieuren entwickelt werden. Gemeinsam
ist in interdisziplinären Forschungsprojekten einerseits
ein vertieftes Verständnis der sich auf verschiedenen
Zeitskalen überlagernden endogenen und exogenen Pro-
zessen und anthropogenen Aktivitäten zu erarbeiten. An-
dererseits müssen neue Technologien für deren Mes-
sung, Modellierung, Prognose und gegebenenfalls Pro-
zesssteuerung entwickelt werden. Für die internationa-
le Kooperation bietet dabei zum Beispiel das Kernpro-
jekt LOICZ (Land Ocean Interaction in the Coastal
Zone) des IGBP einen inhaltlichen und organisatori-
schen Rahmen.
Ziele für die nächste Dekade:• Weiterentwicklung von Strategien für Beprobung, Be-
obachtung und Messung von küstennahem Material-
umsatz (Monitoring), Quantifizierung von Stoffflüs-
sen, Monitoring von Meeresspiegeländerungen und
Vertikalbewegungen der Landoberfläche;
• Abschätzungen von Ereignis- (Katastrophen-) wahr-
scheinlichkeiten mittels numerischer Modellierung
von Transportprozessen. Kopplung von atmosphäri-
schen, hydrodynamischen, biologischen, chemischen
und sedimentologischen Modellkomponenten und ihre
Parametrisierung für die morphodynamische Model-
lierung;
24
• Erfassung und Aufbereitung von Prozess- und Modell-
daten in 4-D-(Raum/Zeit) GeoInformations-Systemen;
• Ableitung von Szenarien der Effekte von anthropoge-
nen Eingriffen in das natürliche System des Küsten-
raums als Entscheidungshilfe für die Konzipierung
und Ausführung von Vorsorge und Schutzkonzepten.
KohlenwasserstoffeTrotz vieler Bemühungen, den Anteil fossiler Ener-
gieträger zu reduzieren, ist sicher, dass diese, insbeson-
dere Erdöl und Erdgas, noch weit in unser Jahrtausend
hinein die Weltwirtschaft wesentlich mittragen werden.
Die Exploration stößt heute weltweit in deutlich größere
Wassertiefen vor, speziell an passiven Kontinenthängen
(zum Beispiel Campos-Feld/Brasilien: 400-2.000 m; An-
gola: 400-1.500 m; Golf von Mexiko: 400-2.000 m). Das
Kohlenwasserstoffpotenzial der Kontinentränder in
mehr als 2.000 m Wassertiefe ist weitgehend ungeklärt.
Es ist zu erwarten, dass Erdöl und Erdgas aus den Tief-
wasserbereichen der Kontinentränder in Zukunft welt-
weit einen erheblichen Anteil des Energiebedarfs decken
werden. Um dafür erfolgreiche Explorations- und Exploi-
tationsstrategien zu entwickeln, bedarf es noch grundle-
gender Untersuchungen zu Prozessen und Steuerungs-
faktoren der Kohlenwasserstoffbildung und -akkumula-
tion in diesen neuen Zielgebieten.
Wesentliche Forschungsziele in Bezug auf die Koh-
lenwasserstoffgenese, -migration und -lagerstättenbil-
dung sind initiale Riftbecken und Tiefwasser-Turbidit-
systeme. Die Höffigkeit der initialen Riftbecken, die
das Aufbrechen der Kontinente begleitet haben, wird
schon jetzt hoch eingeschätzt. Hier sind Erdöl-Mutter-
gesteine, -Speichergesteine und Salzstrukturen zu er-
warten. Dort, wo die Riftbecken durch magmatisch-
vulkanische Gesteinseinheiten überlagert sind, bilden
sie sich wegen derer hohen Impedanzkontraste bei der
Erkundung mit konventionellen Verfahren schlecht ab.
Die Untersuchungen im Hinblick auf Entstehung, Ent-
wicklung, Geometrie und Kohlenwasserstoff-geneti-
sche Eigenschaften der Riftbecken unter diesen mag-
matisch-vulkanischen Serien sind eine wesentliche
Voraussetzung zur Modellierung der thermischen Reife
und Subsidenzgeschichte sowie der anschließenden
Abschätzung des Kohlenwasserstoff-Potenzials.
Tiefseesedimentfächer an Kontinenthängen ziehen
zunehmend das Interesse der Industrie als attraktive
Explorationsziele auf sich. Dennoch ist die Bedeutung
distaler Tiefwasserturbidite, ihrer Sedimentationspro-
zesse, geometrischen Strukturen, Mächtigkeiten und
Speichereigenschaften weitgehend unbekannt. Insbe-
sondere ihre Entstehungsbedingungen, Materialzusam-
mensetzungen und ihre Verbindung mit alten Flussdel-
tasystemen an den Kontinenträndern sind noch weitest-
gehend unerforscht. Hochauflösende moderne und wei-
ter zu entwickelnde Erkundungstechnologien sind not-
wendig, um die erforderlichen Beckeneigenschaften
detailliert abzubilden.
Die zunehmende Bedeutung der Tiefwassergebiete
wird auch dadurch offenbar, dass nach der 1994 in Kraft
getretenen „United Nations Convention on the Law of
the Sea“ Küstenländer die Möglichkeit besitzen, unter
bestimmten, in der UN-Konvention definierten geomor-
phologischen und geologischen Bedingungen ihre auf
200 Seemeilen begrenzte Wirtschaftszone bis auf 350
Seemeilen und damit in der Regel bis in den Tiefwasser-
bereich auszudehnen. Mit den Ergebnissen des Themen-
schwerpunktes werden wir über umfangreiche Expertise
verfügen, die der wirtschaftlichen Nutzung dieser Ge-
biete zugute kommen wird.
Ziele für die nächste Dekade:• Prozessverständnis der Ablagerung und Reifung von
Muttergesteinen, der Bildung und Migration von Koh-
lenwasserstoffen, sowie der Lagerstättendynamik im
Tiefwasserbereich von Kontinenträndern;
• Dechiffrierung der Sedimentationsgeschichte, der
Tiefwassersedimentationsprozesse und der Paläoozea-
nographie; Identifikation von Petroleumsystemen und
Entwicklung neuer Konzeptionen für den Tiefwasser-
bereich;
• Bewertung des Tiefwasser-KW-Potenzials von geody-
namisch unterschiedlich geprägten divergenten Konti-
nenträndern auf der Basis vorhandener Datensätze und
neu zu erarbeitender offshore/onshore geophysikali-
scher, geologischer und geochemischer Datensätze auf
konjugierenden Traversen sowie auf der Basis neu ent-
wickelter Prozessverständnisse;
• Entwicklung geeigneter Explorationsstrategien.
Mineralische RohstoffeInfolge der dynamischen Entwicklung und den damit
verbundenen hohen Massentransfer-Raten haben kon-
vergente Kontinentränder herausragende Bedeutung für
die Bildung von Lagerstätten mineralischer Rohstoffe.
So stammen zum Beispiel über 60 % der jährlichen
Weltproduktion von Kupfer, 15 % der von Gold, und
bedeutende Mengen von Silber, Blei, Zink, Zinn, Wolf-
ram und Molybdän aus Lagerstätten, deren Entstehung
in direktem Zusammenhang mit Prozessen im Subduk-
tionsbereich aktiver Kontinentränder steht. An Konti-
nenträndern vom akkretionären Typ können zusätzlich
allochthone Buntmetall-, Chromit-, Nickel- und Platin-
lagerstätten auftreten, die während der Neubildung
ozeanischer Kruste entstanden sind und zusammen mit
dem sedimentären Akkretionskomplex an das kontinen-
tale Festland angelagert wurden.
Auch passive Kontinentränder, die unter anderem
durch das Auftreten vulkano-sedimentärer Becken cha-
rakterisiert sind, besitzen ein hervorragendes Potenzial
für Erzlagerstätten. In diesem Umfeld treten neben
Bändereisenerzen, Schwermineralseifen, Phosphat und
Manganerzlagerstätten auch wirtschaftliche Vorkommen
von Kupfer, Blei und Zink sowie Bariumsulfat auf.
Konzeptionelle Forschungsansätze verstehen die la-
gerstättenbildende Stofftrennung als das Ergebnis einer
von der Quelle („source and motor“) über Transport-
pfade (Gradienten, Stoffflüsse, Strukturen) bis zum Ab-
satzort („sink“) reichenden Wirkungskette. Zahlreiche
25
Steuerfaktoren für die Bildung mineralischer Lagerstät-
ten (wie zum Beispiel die Eigenschaften und Zusam-
mensetzung der Kruste; Quelle, Wege, Mengen und Zu-
sammensetzung sowie Zustand der Fluide; die Rolle des
Magmatismus; Position im plattentektonischen System;
et cetera) sind in unterschiedlicher Form qualitativ be-
kannt, in ihren quantitativen Einflüssen und insbesonde-
re in ihrer Wechselwirkung aber nicht hinreichend ver-
standen. Die Lösung dieser Fragen ist jedoch Vorausset-
zung für die Bewertung des Lagerstättenpotenzials ver-
schiedener Regionen und die Entwicklung moderner
Strategien der Aufsuchung.
Ziele für die nächste Dekade:• Einsatz und Weiterentwicklung innovativer geotech-
nologischer Verfahren zur qualitativen und quantitati-
ven sowie zur räumlichen und zeitlichen Erfassung
von lagerstättenbildenden Prozessen und deren Korre-
lation mit der geodynamischen Entwicklung von akti-
ven und passiven Kontinenträndern;
• Schaffung von Grundlagen für die Ermittlung und Be-
wertung des mineralischen Rohstoff beziehungsweise
Lagerstättenpotenzials ausgewählter Regionen und
Definition neuer Zielgebiete, Strategien, Konzepte
und Methoden für die Lagerstättensuche.
Erkundungstechnologien
Innovative Methoden und Verbesserung der Auflö-
sung bei etablierten Erkundungsverfahren sind Voraus-
setzung dafür, dass die oben beschriebenen Ziele er-
reicht werden. Dies gilt für die 3-D-Erkundung von
Strukturen, die sich in menschlichen Zeiträumen nicht
verändern, und insbesondere für die in den Geowissen-
schaften gerade erst möglich werdende Analyse von in
menschlichen Zeitskalen veränderlichen Zuständen, die
ein hochauflösendes 4-D-Monitoring erforderlich ma-
chen. Dazu müssen an Kontinenträndern marine und
nicht-marine Technologien eingesetzt werden, mit be-
sonderen Herausforderungen beim Einsatz im Land-
See-Übergangsbereich.
Das Erreichen der Ziele erfordert insbesondere den
Einsatz und die Weiterentwicklung folgender Mess- und
Beprobungssysteme:
• 3-D-reflexionsseismische Systeme, tiefgeschleppte
geophysikalische Systeme und Vertikal-Streamer so-
wie Ozeanbodenkabel zur hochauflösenden Erfassung
tiefer Strukturen und von Material-Eigenschaften
• Marine und landgestützte Langzeit-Observatorien mit
Telemetrie für Dauerbeobachtungen beziehungsweise
4-D-Erfassung der Seismizität, der physikalischen,
chemischen und geobiologischen Veränderungen in
und auf der Lithosphäre
• Elektromagnetische Abbildungstechniken in Gebieten
extrem starker Leitfähigkeitskontraste
• Aktive und passive Tomographie-Verfahren inklusive
„Array“-Techniken zur hohen räumlichen Auflösung
lithosphärischer und asthenosphärischer Strukturen
• Abbildungssysteme für hochgenaue bathymetrische
Vermessung
• Marine und landgestützte Beprobungstechniken inklu-
sive Bohrtechniken zur Erfassung des stofflichen und
physikalischen Aufbaus des Untergrundes und Verifi-
kation von Modellen
• Ferngesteuerte und autonome Unterwasser-Fahrzeuge
zur Erfassung von chemischen, physikalischen und
geobiologischen Daten in der Wassersäule und vom
Meeresboden sowie zur Probennahme und visuellen
Inspektion
• Fernerkundungs-Methoden zur Erfassung von Defor-
mationen der Erdoberfläche, zur Identifikation von
Materialverlagerungen im Küstenbereich, zur Kartie-
rung von stofflichen und physikalischen Eigenschaf-
ten bis hin zur Mineralidentifikation
• Experimenttechniken für die Ermittlung von petrophy-
sikalischen Gesteinseigenschaften unter den transien-
ten Bedingungen aktiver Systeme und Entwicklung
petrotomographischer Verfahren für Interpretations-
und Monitoringtechnologien
Es ergibt sich ein Katalog der zu entwickelnden oder
den Ansprüchen entsprechend zu ertüchtigenden Mess-,
Beprobungs- und Auswerteverfahren. Erforderlich sind
geowissenschaftliche Gerätepools mit technologischen
Neuentwicklungen und marine Forschungsplattformen.
Zum Teil kann dabei auf Systeme zurückgegriffen wer-
den, die bei der Industrie, an Forschungsinstituten oder
durch die Zusammenarbeit mit anderen Forschungspro-
grammen verfügbar sind (zum Beispiel ODP/IODP und
ICDP). Innerhalb des Themenschwerpunktes „Konti-
nentränder“ sind Entwicklungsarbeiten zu leisten, insbe-
sondere auf den Gebieten hochauflösender räumlicher
Abbildungen von Strukturen und Materialeigenschaften
sowie ihrer zeitlichen Veränderungen. Besondere Bedeu-
tung kommt dabei der Entwicklung von Verfahren zu,
die den Informationsgewinn bei Akquisition und Bear-
beitung steigern, die belastbare Zusammenhänge zwi-
schen unterschiedlichen gesteinsbezogenen Parametern
herstellen und eine Simultanmodellierung (Joint Inver-
sion) ermöglichen, die eine Echtzeitauswertung großer
Datenmengen sowie die abgesicherte dynamische Mo-
dellierung unterschiedlicher Prozesse erlauben.
Zielregionen (I. Phase)
Die zur Lösung der aufgeworfenen Fragen geeigneten
Zielgebiete (siehe Abb. 13) integrieren auch laufende
und geplante nationale Aktivitäten, zum Beispiel den
Einsatz der deutschen Forschungsschiffe, Strategien des
Ocean Drilling Programme (ODP) und des International
Continental Drilling Programme (ICDP). Für die Defini-
tion der Schlüsselgebiete (key areas und key sites) gel-
ten dabei insbesondere folgende Bedingungen:
- Charakter eines Modellsystems
- Hohe Relevanz für Gefährdungs- oder Rohstofffragen
- Breit angelegter integrierter geowissenschaftlicher
26
Forschungsverbund
- Integration von marinen und landgebundenen For-
schungsarbeiten
- Regionale Bündelung der Aktivitäten deutscher For-
schungseinrichtungen
Für die erste Phase der Förderung kommen nach diesen
Kriterien zunächst die unten aufgeführten Regionen in
Betracht. Gleichzeitig ist einhergehend mit der Weiterent-
wicklung der Fragestellungen das Potenzial weiterer Re-
gionen zu evaluieren und unabhängig von der folgenden
Auflistung auf die Identifikation spezifischer Zielobjekte
hinzuarbeiten. Hierzu zählen zum Beispiel das Rote Meer
und seine Verlängerung im Golf von Aden als Typvertre-
ter für ein initiales, heute aktives Riftsystem in dem in der
Vergangenheit bereits zahlreiche deutsche Forschungs-
gruppen und die Industrie aktiv waren sowie der Südost-
indik mit ganz besonders stark ausgeprägten Phänomenen
eines initialen riftbegleitenden Magmatismus.
Schlüsselregionen: Aktive Kontinentränder(convergent margins )
Süd- und MittelamerikaDer Westrand Mittel- und Südamerikas, traditionell
durch starke deutsche Aktivität geprägt, ist als Modell-
system für die Prozesse an einem konvergenten Konti-
nentrand ausgewiesen. Dieser Kontinentrand bietet bei
einer Länge von über 7.000 km eine breite Variabilität
der Randbedingungen bei ausreichender Übersichtlich-
keit. Die Voraussetzungen zum Studium des tektoni-
schen Materialflusses, der Neotektonik, der Geomorpho-
logie, der Bildung von Mineral-Lagerstätten, des Ge-
fährdungspotenzials durch Erdbeben (Valdivia 1960 war
das weltweit stärkste registrierte Beben), Tsunamis und
Vulkane sind daher sehr günstig. Der südamerikanische
Kontinentrand stellt wegen seiner Variabilität und der
hohen Prozessgeschwindigkeiten ein natürliches Labor
von globaler Relevanz dar. Mehrere BMBF-geförderte
geophysikalische Projekte (PACOMAR, PAGANINI,
CONDOR, CINCA, ANCORP, GEOPECO), satelliten-
gestützte und neotektonische Monitoring-Experimente
(SAGA), DFG-geförderte Sonderforschungsbereiche so-
wie eine große Zahl weiterer nationaler Projekte sind be-
ziehungsweise waren auf diesen Raum konzentriert.
IndonesienDer indonesische Kontinentrand ist durch die Ausbil-
dung von Forearc und Backarc-Becken mit mächtiger
Sedimentanhäufung geprägt sowie durch unterschiedli-
che Schiefe der Subduktion, resultierend in großen Sei-
tenverschiebungen, wie der Sumatra-Störungszone. Der
Sunda-Banda-Bogen gilt als klassischer Modellfall für
die Akkretion von Sedimenten. Im backarc-Beckensys-
tem werden Kohlenwasserstoffe exploriert und exploi-
tiert. Dazwischen liegt der vulkanische Bogen mit meh-
reren Hochrisiko Vulkanen in dicht besiedelten Regio-
nen, deren Aktivitätsmerkmale zur Einrichtung metho-
disch und technisch noch zu konzipierender Frühwarn-
systeme zu dechiffrieren sind. So liegt der Krakatau als
hochgefährlicher Vulkan direkt vor Java, der am dichtes-
ten besiedelten Region Indonesiens. In dem inneren In-
selbogen dieses Kontinentalrandsystems existieren auch
wichtige Bunt- und Edelmetall-Lagerstätten; im östli-
chen Bereich (Banda-Arc) werden submarine aktive
Hydrothermalfelder vermutet. Mehrere DFG- und
BMBF-geförderte Projekte (zum Beispiel MERAPI-Pro-
jekt, GEODYSSEA-Satellitenprojekt, GIGICS, GINCO,
und anderen) laufen, beziehungsweise liefen, im indone-
sischen Raum.
Östlicher MittelmeerraumDer östliche Mittelmeerraum ist Prototyp eines ex-
trem gegliederten und tektonisch mobilen aktiven Kon-
tinentrands, mit rascher Krustendehnung im forearc wie
im backarc, kontrolliert durch das Zurückrollen der Sub-
duktionszone und durch beginnende Kontinent-Konti-
nent-Kollision. Der mechanische Zustand dieses Sys-
tems muss besser verstanden werden. Beispielsweise hat
ein Erdbeben am 20. Juli 365 nach Christus einen Tsun-
ami ausgelöst, der die Küsten von Alexandria (Ägypten)
bis Syrakus (Sizilien) verwüstet und eine ungeheure
Zahl von Opfern gefordert hat. Ein solches Ereignis
hätte in den heute touristisch extrem stark genutzten
Küstenregionen verheerende Folgen. Auch die aktiven
Vulkane Santorin (um 3500 AD eine der größten histo-
rischen Eruptionen weltweit) und Nisyros bergen ein
hohes Risiko. Ein Bohrprojekt im ICDP ist angelaufen,
ein weiteres als Komponente einer ODP/ICDP Traver-
se in Vorbereitung, zahlreiche weitere, vor allem DFG-
geförderte Projekte, konzentrieren sich auf diesen
Raum, mit starker Konzentration der Ressourcen im eu-
ropäischen Verbund.
Schlüsselregionen: Passive Kontinentränder(rifted margins)
SüdatlantikDie konjugierten Kontinentränder des Südatlantiks
umfassen einen großen Teil des Struktur- und Sediment-
inventars, das passive Ränder auszeichnet. Deutsche
Gruppen aus verschiedenen universitären und außeruni-
versitären Einrichtungen und ein DFG-Sonderfor-
schungsbereich haben hier schon umfangreiche Arbeiten
durchgeführt, deren Thematik vom mesozoischen Zer-
fall Gondwanas bis zur aktuellen Klimaforschung reicht.
Der Nordrand des Falklandplateaus und der afrikani-
sche Kontinentrand von der Elfenbeinküste bis zum Ni-
ger-Delta stellen gescherte Kontinentränder dar. Dazwi-
schen liegt ein klassischer passiver Kontinentrand mit
ausgeprägtem initialem Vulkanismus auf beiden Seiten
des Südatlantiks, dessen Sedimentinventare und sedi-
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mentbildende Prozesse aufgrund hydrographischer und
biologischer Prozesse deutliche Unterschiede aufweisen.
Unmittelbar nördlich vom Falklandplateau und am kon-
jugierten Kontinentrand auf der afrikanischen Seite so-
wie ebenso im nördlichen Bereich wird zudem kein in-
itialer Vulkanismus beobachtet. Damit bietet der Südat-
lantik die Chance, die vulkanische und die nicht-vulka-
nische Form von Kontinenträndern, Prozesse organisch-
reicher und organischarmer Sedimentation sowie mehre-
re Übergänge zwischen ihnen zu untersuchen. Dabei
müssen der nahe Tristan-da-Cunha-Hotspot und das in
der Anfangsphase nach Norden propagierende Aufbre-
chen berücksichtigt werden. Es ist möglich, dass vor Be-
ginn der eigentlichen Krustenspreizung KW-höffige Se-
dimentbecken entstanden sind. Die Untersuchung ausge-
wählter konjugierter, exakt symmetrischer Abschnitte ist
bisher noch nie durchgeführt worden. Hier sind substan-
zielle Fortschritte zum Verständnis der Prozesse und Fol-
gen des Aufbrechens von kontinentaler Lithosphäre aus
integrierten marinen und landgestützten Untersuchungen
zu erwarten.
Synergien
Innerhalb des GEOTECHNOLOGIEN-Programms
besteht eine enge Absprache mit mehreren der gestarte-
ten, beziehungsweise in Vorbereitung befindlichen Leit-
projekten. Dies sind insbesondere folgende Programme,
zu denen nebenstehende Beziehungen bestehen
• Frühwarnsysteme im Erdmanagement – „Konti-
nentränder“ leistet die Erforschung der Grundlagen für
geeignete Monitoring- und Prognoseverfahren
• Informationssysteme im Erdmanagement Methoden
der Geoinformatik sollen für Fragen von Datenmana-
gement und -analyse bis zur Datenmodellierung in den
„Kontinentrand“-Projekten genutzt werden
• Gashydrate im Geosystem die Erkundung der marinen
Gashydratvorkommen an den Kontinenträndern sind
inhaltlich und regional zum Teil mit Experimenten zu
den „Kontinenträndern“ gekoppelt
• Sedimentbecken – die zur Analyse vorgesehenen pas-
siven Kontinentränder enthalten einige der größten Se-
dimentbecken der Erde
Die Entwicklungen der hier beschriebenen Erkun-
dungstechnologien kommen anderen Themenschwer-
punkten des FuE-Programms GEOTECHNOLO-
GIEN zugute. Umgekehrt werden hier Entwicklun-
gen aus anderen Themenschwerpunkten (zum Bei-
spiel Gashydrate) genutzt. Außer zu diesen Themen
besteht bereits jetzt eine enge Verbindung zu einer
Reihe von DFG-geförderten Sonderforschungsberei-
chen (Mittel- und Südamerika, Süd- und Nordatlan-
tik, östlicher Mittelmeerraum), Bündelprogrammen
(zum Beispiel MERAPI, Südchile) und anderem In-
itiativen mit DFG- und BMBF-Förderung, die auch
vielfach den Einsatz deutscher Forschungsschiffe be-
inhalten. Schließlich ergänzt das vorliegende Pro-
gramm ähnliche Initiativen den USA (MARGINS)
und der Europa (EUROMARGINS). Zusätzlich zu
diesen steht hier insbesondere die land-see-übergrei-
fende Integration und die größere Breite von der Ri-
siko- und Ressourcenforschung bis zu der dieser zu-
grundeliegenden Prozessforschung im Vordergrund.
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Die Erdkruste ist die Existenzgrundlage und die wichtigste Ressourcenquelle der Mensch-
heit. Sie enthält fast alle Rohstoffe, Energieträger und Trinkwasservorräte. Sie dient aber
auch als Wärmequelle, Speicher und Zwischenlager oder als Deponie für Abfälle. Neben
dem Nutzen birgt die Erdkruste aber auch erhebliche Gefahren durch Erdbeben und Vulkanis-
mus. Die Erkundung und Abbildung der äußeren Hülle der Erde und die Bewertung ihres Nut-
zungs- und Risikopotenzials gehören damit zu den herausragenden Aufgaben der Geowissen-
schaften.
Die technologische Entwicklung der letzten Jahre, vor allem im Bereich der Computertechno-
logie, hat bislang ungeahnte Möglichkeiten zur Erkundung der Erdkruste eröffnet. Diese rei-
chen von der hochauflösenden räumlichen Durchleuchtung mit verschiedenen geophysikali-
schen Verfahren, die inzwischen sogar zeitliche Änderungen abbilden können, bis zu neuen
rechnergestützten Visualisierungsmöglichkeiten. Damit ist ein technologischer Standard er-
reicht, mit dem ein völlig neues Verständnis über räumliche Zusammenhänge und zeitliche
Prozesse in der oberen Erdkruste möglich ist. Dies gilt insbesondere für die dort vorhandenen
Rohstoff- und Trinkwasserressourcen. Aber auch dort, wo es um die Deponierung von Abfäl-
len, die Einlagerung von Kohlenwasserstoffen oder den Tiefbau geht, ist ein grundlegendes
Verständnis der oberen Erdkruste unentbehrlich. Wachsende Bedeutung haben in den letzten
Jahren die genaue Lokalisierung und Abbildung von geologischen Strukturen im Untergrund
gewonnen, von denen Gefahren für die Menschheit ausgehen können. Das gilt vor allem für
seismisch aktive Verwerfungen oder Magmenkammern.
Mehrere inzwischen abgeschlossene, sehr erfolgreiche nationale Programme, wie etwa das Deut-
sche Kontinentale Tiefbohrprogramm (KTB), haben zur Entwicklung und Verfügbarkeit moder-
ner Methoden von hoher Praxisrelevanz geführt. Deren zielgerichtete Weiterentwicklung unter
den neuen technologischen Randbedingungen ist eine zentrale Aufgabe der Geowissenschaften
in Deutschland. Wird sie erfolgreich umgesetzt, lässt sich wichtiges methodisches Know-how
von den Universitäten in den industriellen und öffentlichen Sektor transferieren.
29
Tomographie der Erdkruste –Von der Durchschallung zum
Echtzeitmonitoring
Die Grundlagen und Verfahren der Erkundungund Abbildung
Die Erkundung und die zugehörigen Abbil-
dungstechniken – kurz: Tomographie – be-
dienen sich zahlreicher verschiedener Metho-
den. Dazu gehören vor allem die aktive Seismologie
(insbesondere Reflexionsseismik), Potenzialverfahren
(Geomagnetik, Gravimetrie, Elektromagnetik), passive
Techniken (zum Beispiel tomographische seismologi-
sche oder geochemische Verfahren) oder Logging und
Beprobung in räumlich dichten Bohrnetzen. Sie sind ge-
eignet, Eigenschaften und Aufbau der Lithosphäre in al-
len relevanten Skalenbereichen – vom cm- bis in den
100 km-Bereich – und in allen Dimensionen – 1-D bis
4-D – zu erfassen. Alle Erkundungstechniken bedienen
sich dabei einander ähnlicher Verfahren zur Abbildung
und Evaluierung raumbezogener Daten. Die wichtigsten
Verfahren sind heute EDV-gestützte Visualisierungs-
techniken, geographische Informationssysteme, bilan-
zierte Profile und Volumina sowie verschiedene Inver-
sionsverfahren, die gesuchte Systemeigenschaften und
ihr Abbild im Raum über geometrische oder physikali-
sche Gesetzmäßigkeiten aus messbaren Daten ableiten.
Die technologische Entwicklung der letzten Jahre bei
den verschiedenen Methoden der Datenakquisition so-
wie bei ihrer durchweg EDV-gestützten Weiterbearbei-
tung, lässt für die nähere Zukunft einen weiteren ent-
scheidenden Schritt in der Entwicklung erwarten: Zur
zunehmenden Präzision der Abbildung im 3-dimensio-
nalen Raum tritt die Möglichkeit hinzu, aktive geologi-
sche Systeme zu vermessen, deren Zeitkonstanten so
klein sind, dass sie im Bereich der menschlichen Erfahr-
barkeit liegen und damit aber auch im Bereich des di-
rekten Einflusses auf den menschlichen Lebensraum.
Insbesondere schnelle Prozesse, wie zum Beispiel
Schadstoffausbreitung oder Naturkatastrophen, wie Vul-
kanausbrüche und Erdbeben, aber auch Vorgänge, wie
die kontrollierte Kohlenwasserstoffspeicherung im Un-
tergrund, können damit erheblich nutzbringender und ef-
fizienter analysiert werden. Erst dies schafft die Grund-
lage, sowohl das Nutzungspotenzial unseres Planeten
gezielter zu erforschen, als auch sein Gefährdungspoten-
zial in geologisch aktiven Regionen genauer zu überwa-
chen. Die Entwicklung und Integration der verschiede-
nen neuen methodischen Ansätze in den Abbildungsver-
fahren und ihre Anwendung für geeignete geologische
Objekte ist damit die wesentliche Herausforderung für
die nächste Zukunft.
Die massive Entwicklung aller Verfahren und ihr Ein-
satz sowohl in der Industrie wie in zahlreichen nationa-
len seismischen Programmen (zum Beispiel DEKORP)
haben zu einem erheblichen Erkenntnisfortschritt in den
letzten zwei Jahrzehnten geführt. Die ersten scharfen
dreidimensionalen Bilder der obersten Erdkruste verdan-
ken wir der Reflexionsseismik. Ihr Erfolg, vor allem bei
der Exploration auf Kohlenwasserstoff-Lagerstätten, be-
ruht auf zwei Fakten: dem nach Voruntersuchungen ge-
zielten Ansatz von Bohrungen, der das finanzielle Risi-
ko von Fehlbohrungen drastisch vermindert, und der
Modellbildung durch Extrapolation von punktuellen In-
formationen aus Bohrungen zu einem geologischen Mo-
dell des räumlichen Untergrundes. Nicht nur in Sedi-
mentbecken haben diese 2-D- und 3-D-Erkundungstech-
niken grundlegende Bedeutung gewonnen. Die in der
Folge in den 70er und 80er Jahren entstandenen nationa-
len seismischen Programme zur Erkundung des tiefen
Untergrundes jenseits der konkreten ökonomischen In-
30
Abb. 14: 3-D-reflexionsseismischer Datensatz über einen Salzstock mit unterschiedlicher Farbkodierungder Amplituden.
Themenschwerpunkt: „Tomographie der Erdkruste – Von derDurchschallung zum Echtzeitmonitoring“
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung durch den BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
teressen haben zu erheblichen Konsequenzen geführt.
Insbesondere die Vorstellungen über die Architektur der
Lithosphäre und ihre daraus abgeleitete zeitliche Ent-
wicklung, ihre vertikale Gliederung, die Geometrie von
Lagerstätten bis hin zu den Erfahrungen aus oberflä-
chennahen Einsatzmöglichkeiten haben sich zum Teil
geradezu dramatisch verändert. Zusätzlich haben sich
aus diesen Programmen zahlreiche neue Impulse für me-
thodische Entwicklungen sowohl in den Sediment-
becken wie in der kristallinen Erdkruste ergeben.
Die sich gegenwärtig rasant entwickelnden Möglich-
keiten im EDV-Bereich (Hardware sowie Software) ha-
ben in den letzten Jahren ein neues Stadium eingeleitet.
Waren die Erkundungs- und Abbildungsverfahren bis
dahin überwiegend auf die ein- oder zweidimensionale
Analyse der Erdkruste ausgerichtet, so sind die aktuellen
Verfahren in der Industrie inzwischen fast nur noch auf
die 3-D-Erfassung des gesamten Raumes ausgerichtet.
Sowohl geologische als auch finanzielle Randbedingun-
gen erschweren die Extrapolation der Methoden, die in
sedimentären Becken Anwendung finden, auf die Li-
thosphäre insgesamt. Die traditionell vorherrschenden
Langprofile in der Seismik etwa liefern im allgemeinen
zweidimensionale Schnitte durch den Untergrund, deren
geologische Interpretation nur unter stringenten geome-
trischen Voraussetzungen möglich ist. Außerdem ist die
kristalline Kruste in weiten Bereichen seismisch re-
flexionsarm beziehungsweise kleinskalig heterogen, so
dass in der sedimentären Seismik bewährte Processing-
Techniken (zum Beispiel CDP) hier nur bedingt ver-
wendbare Ergebnisse liefern. Der weltweit erste krustale
3-D-Datensatz auf dem Kontinent wurde um die KTB
gewonnen; er hat das Verständnis von Reflektivität in
der kontinentalen Kruste entscheidend gewandelt. Trotz
der Beschränkung auf 2-D haben viele nationale Pro-
gramme (unter anderem DEKORP) großartige Erfolge
bei der Übertragung der reflexionsseismischen Aufnah-
metechnik aus der Kohlenwasserstoff-Exploration auf
die Erforschung der Lithosphäre erzielt. Richtig ange-
wendet, wird die Reflexionsseismik daher auch in Zu-
kunft ein wesentliches Werkzeug der Lithosphärenfor-
schung bleiben.
Es ist aber kaum möglich, ausreichend starke Spren-
gungen zu zünden, um tiefer als 50 km in die Erde zu
schauen. Zu diesem Zwecke werden die von Erdbeben
abgestrahlten Wellen registriert. Besonders geeignet sind
die Wellen von sehr weit entfernten Beben, die durch
den gesamten Erdkörper laufen und dabei Informationen
über den tiefen Untergrund von seismischen Stationen
aufnehmen. Die Tatsache, dass Erdbebenwellen den Erd-
körper durchlaufen und somit geeignet sind, Strukturen
überall im Erdinneren zu erkennen, wurden von Ernst
von Rebeur-Paschwitz im Jahre 1889 entdeckt. Er regis-
trierte damals mit einem von ihm selbst gebauten Hori-
zontalpendel eine Bodenbewegung in Potsdam und
konnte nachweisen, dass sie von einem Erdbeben in Ja-
pan stammte. Steil von unten auf die Erdoberfläche ein-
fallende P-Wellen erzeugen an Gesteinsgrenzen unter ei-
ner seismischen Station konvertierte sekundäre Wellen
(S-Wellen), die in einigem zeitlichen Abstand dem ers-
ten Signal folgen. Diese konvertierten Wellen erlauben
es, in sehr großen Tiefen Gesteinsgrenzen zu kartieren.
Die neue Methode ist unter dem Namen „Receiver Fun-
ction“ Methode bekannt geworden. Der Durchbruch für
die neue Methode kam in den neunziger Jahren, als man
erkannte, dass diese Methode ähnliche Möglichkeiten
für den Erdmantel bietet wie die Reflexionsmethode für
die Erdkruste. Erst mit dem Einsatz mobiler Stationsnet-
ze wurde das volle Potenzial der neuen Methode sicht-
bar. Wesentliche Entwicklungsarbeiten dazu wurden am
GFZ Potsdam geleistet.
Trotz der beschränkten Auflösung und der damit ein-
hergehenden Unschärfe sind der Seismologie mit Hilfe
passiver Techniken tomographische Aufnahmen des
Erdinnern gelungen, an die vor wenigen Jahren noch
niemand zu denken wagte. Die erkennbaren Details von
Erdkruste, Mantel und Kern haben die Randbedingun-
gen für das dynamische Modell der Erde präzisiert, in-
dem sie indirekt auch Auskunft über die räumliche Ver-
teilung grundlegender physikalischer Eigenschaften, wie
zum Beispiel Temperatur und Dichte, geben. Ohne ver-
feinerte Methoden der Datenerfassung und -verarbeitung
ist das ehrgeizige Ziel der Tomographie, nämlich dreidi-
mensionale Detailbilder der Lithosphäre zu liefern, nicht
erreichbar, und seismische Arrays spielen hierbei eine
Schlüsselrolle. Andere geophysikalische Erkundungs-
verfahren, wie Potenzialverfahren (Magnetik, Gravime-
trie, Geoelektrik), liefern bei günstigem Kosteneinsatz
allerdings erheblich weniger präzise, häufig schwer in-
terpretierbare Bilder. Geologische Verfahren, wie die
räumliche Erkundung durch dichte Bohrnetze wiederum
31
Abb. 15: a) Tiefenmigrierte Receiver Functions entlangeines N/S-Profiles quer durch die Alpen. Dabei werdenseismische Diskontinuitäten durch PS-konvertierte Wel-len sichtbar. Sehr klar abgebildet wird die europäische Moho, die sich unter die adriatische Mohoschiebt. Trotz der relativ großen Wellenlängen der tele-seismischen Wellen sind noch eine Reihe von inner-krustalen Diskontinuitäten abgebildet, die gut mit den Linedrawings des reflexionsseimischen TRANSALP-Profils (b) übereinstimmen.
stoßen leicht an finanzielle Grenzen oder Grenzen der
Erkundungsschärfe in kompliziert aufgebauten geologi-
schen Strukturen. Dennoch finden auch diese Techniken
der Tomographie bei geeigneten Objekten und Fragestel-
lungen ihre Anwendung mit zum Teil ganz erheblichem
Gewicht.
Parallel dazu entwickelt sich der Bereich der Abbil-
dungsverfahren ebenfalls hin zu einer 3-D-Visualisie-
rung und 3-D-Validierung von räumlichen Modellen.
Die jüngsten Entwicklungen im Bereich leistungsfähiger
Rechner und die Entwicklung von Software zur Verar-
beitung, Visualisierung und Modellierung großer Daten-
sätze hat hier die entscheidende Voraussetzung geschaf-
fen. Grundsätzliche Einschränkungen in den Eigen-
schaften von geologischen Abbildungs- und Vorhersage-
verfahren zu Strukturen im Raum oder der Verteilung
von Gesteinen/Gesteinseigenschaften, die sich aus der
bisher vorherrschenden 2-D-Betrachtung ergaben, wer-
den damit gegenwärtig schrittweise überwunden.
Als aktuellste Komponente in dieser Entwicklung tre-
ten inzwischen erste Versuche hinzu, das zeitabhängige
Verhalten von dynamischen Systemen oder die zeitliche
Entwicklung von Strukturen zu vermessen, also eine
echte 4-D-Tomographie – in Raum und Zeit – vorneh-
men zu können. Im Oberflächenbereich sind diese Fer-
nerkundungsverfahren, wie die Vermessung von Bewe-
gungen und Deformationen der Erdkruste mit Hilfe des
satellitengestützten GPS-Systems, die Radarinterfero-
metrie und -altimetrie zur Vermessung von schnellen
Oberflächenveränderungen (zur Überwachung etwa von
Erosion oder drohenden Bergstürzen), das Monitoring
von aktiven Systemen wie Vulkanen oder erdbebenge-
fährdeten Regionen mit verschiedenen Verfahren in
Echtzeit, und so weiter. Im Tiefenbereich werden Vertei-
lungsmuster der Seismizität an aktiven Störungen oder
Vulkanen vermessen, aber auch mit Wiederholungsmes-
sungen zum Beispiel die Entwicklung oder Extraktion
von Kohlenwasserstoff-Lagerstätten, die Speicherung
von Kohlenwasserstoffen in Kavernen- und Porenspei-
chern oder die Schadstoffausbreitung in Grundwasserlei-
tern verfolgt sowie zum Beispiel die geophysikalische
Online-Vorerkundung während des Baus eines Tunnels
betrieben. Weitere Anwendungen in Systemen mit kleinen
Zeitkonstanten sind denkbar. Dementsprechend sind mo-
derne Abbildungs- oder besser Modellierungsverfahren
bereits in der Lage, die kinematische (zum Teil auch dy-
namische) Entwicklung von geologischen Systemen wie-
derzugeben und auf ihrer Basis auch quantitative Vorher-
sagen zu ihrer geometrischen Entwicklung zu treffen.
Stand der Entwicklung und Anwendung
Meist aus der Exploration von Kohlenwasserstoffen
und mineralischen Lagerstätten stammend, sind die Ver-
fahren der Tomographie inzwischen Gegenstand intensi-
ver Forschung und Entwicklung über alle Anwendungs-
bereiche bis in die Grundlagenforschung hinein. Histo-
risch entwickelten sich seit Beginn dieses Jahrhunderts
fast alle Verfahren aus den Bedürfnissen der Explora-
tions- und der Tiefbauindustrie, die exakte Erkundungs-
verfahren auf der einen Seite sowie entsprechende Inter-
pretationsverfahren und geologische Vorhersagetechni-
ken auf der anderen Seite benötigten. Die aktuellen For-
schungsaktivitäten gliedern sich in die verschiedenen
Techniken mit einem sehr unterschiedlich großen Poten-
zial in Deutschland.
Neben der Verbesserung des Auflösungsvermögens
seismischer Verfahren und dem 4-D-Monitoring zeitlich
schnell veränderlicher Prozesse ist in den letzen Jahren
die Interpretation lithologischer Parameter in das Zen-
trum der Forschung gerückt. Hierdurch wird es möglich,
die Ergebnisse unterschiedlicher geowissenschaftlicher
Disziplinen direkt und praxisnah zu verbinden und zu vi-
sualisieren. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Litho-
Tomographie, welche seismische Abbildungsverfahren
(Tomographie) direkt mit geologischer Kartierung und
laborgestützten petrologischen Verfahren verknüpft. Ab-
bildung 16 zeigt Ergebnisse der Litho-Tomographie in
Namibia, da dort durch exemplarische Aufschlussbedin-
gungen diese Methode kalibriert und verifiziert werden
konnte. Entlang eines 80 km langen seismischen Profils
wurden P- und S-Wellen registriert und entsprechende
tomographische Tiefenschnitte (Abb. 16 a,b) sowie der
daraus resultierende Tiefenschnitt des Poissonverhältnis-
ses (Abb. 16 c) bestimmt. Für jedes Volumenelement des
Untergrunds lässt sich somit ein Wert im P-Geschwin-
digkeit-Poissonverhältnis-Crossplot (vp- σ ) ableiten
(Abb. 16 d). Die hierbei auftretende „Clusterung“ ist ein
Indiz auf die Häufung lithologischer Parameter in weni-
gen Gruppen. Die Charakterisierung dieser Gruppen als
Gesteine unterschiedlicher, chemischer Zusammenset-
zung sowie unterschiedlicher Abnahme der Porosität mit
der Tiefe konnte durch geologische Kartierung, kombi-
niert mit petrophysikalischen Laboruntersuchungen, ve-
rifiziert werden (Abb.16e). Die Rückabbildung der litho-
logischen Cluster in einen Tiefenschnitt erlaubt nun die
lagetreue Interpretation lithologischer Parameter (Abb.
16 f ), wie sie bisher nur direkt an der Oberfläche mög-
lich war (Abb. 16 g).
Das hier gezeigte Verfahren ist nur ein Beispiel
vieler möglicher Verknüpfungen unterschiedlicher
Parameter und Disziplinen. Der Ansatz seismische
Methoden und magnetotellurische Verfahren zu inte-
grieren, um Struktur und Parameter des Untergrunds zu
kartieren und charakterisieren ist ein Schwerpunkt
zukünftiger Forschung.
Die Methoden der geophysikalischen Erkundung
sind traditionell stark vertreten und haben an den Uni-
versitäten und den außeruniversitären geowissenschaftli-
chen Forschungseinrichtungen (GEOMAR, GFZ, BGR)
besonders von den Programmen DEKORP, KTB und
EUROPROBE stark profitiert. Ohne Übertreibung kann
gesagt werden, dass als Erfolg davon in Deutschland
eine Expertise von besonderer Qualität in diesem Be-
reich entwickelt worden ist. Dies gilt insbesondere für
die Datenbearbeitungstechniken (Processing). Die
industrielle Forschung hat hier zunächst noch eine Vor-
32
reiterrolle gespielt – heute gilt dies nur noch bei der Da-
tenakquisition. Inzwischen ist bei der Industrie insbe-
sondere in den letzten Jahren eine deutlich rückläufige
Entwicklung zu verzeichnen, bedingt vor allem durch
Firmenschließungen, Stellenabbau und zunehmendes
„Outsourcing“ bestimmter Aufgaben, zu denen insbe-
sondere auch die Erkundung und Interpretation zählen.
Neuerdings zeichnet sich hier jedoch eine Trendwende
ab, die möglicherweise Teile des verlorengegangenen
Know-hows wiederherstellen wird. Einzelne laufende
Aktivitäten umfassen gegenwärtig etwa das unter Feder-
führung von DGMK durchgeführte Projekt GWC, das
sich mit allen Aspekten der Erkennung des Gas-/Wasser-
kontaktes beschäftigt. Die hochauflösende Rekonstruk-
tion der räumlichen Verteilung von Porosität und Durch-
lässigkeit sowie deren zeitliche Änderung, etwa durch
den Transport von Schadstoffen, kann nur durch kombi-
nierten Einsatz geophysikalischer und geochemischer
Tomographie erfolgen. Vom Forschungstentrum Jülich
wird in ähnlicher Richtung die Schadstoffausbreitung
und Sicherung des Grundwassers an einem konkreten
Versuchsfeld über zahlreiche Bohrungen und einem
ständigen geochemischen Monitoring untersucht.
Durch die jedoch insgesamt rückläufige Entwicklung
sowie durch das Ende der nationalen durch das BMBF
finanzierten geowissenschaftlichen Forschungspro-
gramme DEKORP und KTB (wie auch der Programme
„Tiefengas“ und LITASEIS) entsteht in der kontinenta-
len geowissenschaftlichen Forschung hier eine erhebli-
che Lücke.
Die in Deutschland sehr aktive marine geowissen-
schaftliche Forschung (AWI, GEOMAR, BGR und eini-
ge meist norddeutsche Universitätsinstitute) befindet
sich in diesem methodischen Kontext in einer etwas an-
deren Situation. Der kostengünstigen Erforschung des
ozeanischen Untergrundes mit geeigneten Abbildungs-
verfahren steht hier die aufwendige Sicherung der mari-
nen Forschungsplattformen gegenüber (zum Beispiel
Forschungsschiff „SONNE“), die eine Langfristver-
pflichtung darstellt. Zu nennen sind hier insbesondere
das langjährige internationale ODP-Programm und
DFG-geförderte Sonderforschungsbereiche im marinen
Bereich sowie größere BMBF-geförderte Einzelprojekte
(zum Beispiel CINCA, CONDOR, TICOSECT et ce-
tera), die immer wieder geophysikalische Abbildungs-
verfahren als Schlüsselexperimente eingesetzt haben.
Mit diesen Aktivitäten nimmt die deutsche Forschung
bisher international eine führende Rolle ein. Industrielle
Interessen in Deutschland konzentrieren sich im marinen
Raum wesentlich und mit zunehmender Tendenz auf die
Exploration von Kohlenwasserstoffen. Entsprechend
hoch ist der Entwicklungsbedarf geeigneter Aufsu-
chungsmethoden. Dennoch gerät gegenwärtig auch die-
ser Zweig unter wachsenden Druck. Die Sicherung der
in allen Fällen auf hohem Niveau laufenden Forschung
und erst recht die wegen der zunehmend größeren und
komplexeren Datenbasis notwendige methodische Wei-
terentwicklung erscheinen daher in Deutschland in allen
Bereichen gegenwärtig erheblich gefährdet.
Im Bereich der Abbildungs- und Interpretationstech-
niken ist die Entwicklung in Deutschland uneinheitlich.
So ist zwar durch einen DFG-geförderten Sonderfor-
schungsbereich in den 80er Jahren an den Universitäten
der Einsatz mathematischer Analyse- und Visualisie-
rungsverfahren vorangetrieben worden. Doch ist die
deutsche Beteiligung an der Entwicklung von geologi-
schen Evaluierungs- und Vorhersagemethoden (zum
Beispiel Beckenmodellierung, bilanzierte Profile in
2-D/3-D) erst in den letzten Jahren zunehmend in Gang
gekommen, aber erst in wenigen, meist außeruniver-
sitären, Forschungsstandorten solide verankert (FZJ,
GFZ). Anders als im angelsächsischen Raum spielt die
Industrie hier bei der Entwicklung eine sehr untergeord-
nete Rolle mit Ausnahme nur sehr weniger mittelständi-
scher Firmen (zum Beispiel IES Jülich). Der Stand ent-
spricht insgesamt noch längst nicht den quantitativen
Notwendigkeiten in der industriellen und kommunalen
Anwendung und hat noch nicht die selbstverständliche
Stellung in Industrie und Forschung, die in anderen
OECD-Ländern inzwischen üblich ist.
Insgesamt stehen damit Fähigkeiten auf hohem Niveau
in bestimmten Bereichen, deren Fortbestand gefährdet er-
scheint, neben einem noch teilweise bestehenden Defizit
in der Entwicklung in anderen Bereichen gegenüber.
33
Abb. 16: Litho-Tomographie am Beispiel eines 80 kmlangen seismischen Profils durch Namibia.
Notwendige Forschungs- und Entwicklungs-aufgaben
a) Erkundung und Auflösung von komplexen Struktu-ren und von Abläufen in dynamischen Systemen mitkleinen Zeitkonstanten Auf dem Gebiet der seismischen Abbildung haben
sich erhebliche Fortschritte im Bereich der Datenakqui-
sition (zum Beispiel „Multistreamer“-Schiffe, mobile
seismische Arrays) der Datenverarbeitung (beim seismi-
schen Processing) und der Interpretation entwickelt. So
führt zum Beispiel die Einbeziehung von Feinstrukturen
und zufallsverteilten Medien (mit Verfahren der Geosta-
tistik), von Porositäten und Durchlässigkeiten in Inver-
sion und Interpretation dazu, dass die Geowissenschaf-
ten in der Lage sind, Prozesse zeitlich und räumlich zu
beobachten, quantitativ zu beschreiben und in beiden
Richtungen der Zeitachse zu extrapolieren, das heißt so-
wohl die Vergangenheit zu rekonstruieren, als auch in
die Zukunft zu prognostizieren.
Die Vermessung zeitabhängiger Prozesse kann nur
dort erfolgreich sein, wo sich durch bekannte Verfahren
ermittelbare Messparameter verändern. Die Prozesse,
die messbare Parameter verändern, sind vor allem die
Bewegung von Fluiden (Wasser, Öl, Gas) im Gesteins-
körper, deren Wechselwirkung mit der Gesteinsmatrix
die physikalisch/felsmechanischen Eigenschaften der
Matrix beeinflusst, vor allem die Porosität, Durchlässig-
keit, Dichte und Stabilität. Daneben können schnelle De-
formationen über Dilatation oder Kompaktion des Po-
renvolumens ebenfalls physikalisch messbare Parameter
beeinflussen. Bedarf besteht daher an der Entwicklung
von Methoden zur Überwachung, quantitativen Be-
schreibung, Rekonstruktion und Vorhersage von Fluid-
bewegungen in Raum und Zeit durch integrierte 4-D-
Methoden der Geophysik, Geochemie, Strukturgeologie
und Petrologie/Petrophysik. Dies gilt sowohl für Berei-
che hoher Porosität und Durchlässigkeit (Böden, Depo-
nien, Akkretionsprismen an aktiven Kontinentalrändern,
Sedimentbecken, aktive Verwerfungen), als auch für
Umgebungen mit niedrigen Porositäten (Kristallin, De-
ponien, Erdkruste). Ebenso besteht Bedarf an der Ent-
wicklung integrierter Methoden zur Überwachung von
aktiven Verwerfungssystemen und Magmenkammern
mit dem Ziel, die Gefährdung dichtbesiedelter Regionen
durch Erdbeben und Vulkanausbrüche zu quantifizieren
und zu reduzieren. Zeitliche und räumliche Kontrolle der
assoziierten Phänomene sind wesentlich. Da Fluide auch
eine wesentliche Rolle bei der Aktivierung von Verwer-
fungen und Magmakammern spielen, ist dieser Komplex
eng mit dem erstgenannten verbunden.
Darüber hinaus sind die gleichen Aspekte entschei-
dend in der Öl- und Gasexploration, -produktion, und
-lagerung mit Klärungsbedarf zu mehreren Themen.
Diese betreffen insbesondere die zeitliche und räumliche
Erkundung und Simulation von Fließ-, Ausfällungs- und
Lösungsvorgängen von Fluiden durch den Gesteinsver-
band, vor allem durch die Reservoirgesteine (als retros-
pektive Inversion für die Beckensimulation oder als for-
ward modelling für die KW-Produktion beim Wasserein-
pressen und Dampffluten von Öllagerstätten). Dieser
Themenkreis betrifft weiterhin die Verfolgung von Lö-
sungs- oder Kristallisationsfronten und die damit ver-
bundenen Volumenänderungen durch das Gestein, die
Klärung der Migrationsgeschwindigkeiten und der
Umsatzmengen von Gasen durch Gesteine, Fragen der
Raten von Gleichgewichtseinstellungen in Lagerstätten
und Poren-/Kavernenspeichern bis hin zu geeigneten
Verhütungs-/Entsorgungsstrategien von Schadstoffen
im Boden (zum Beispiel Kohlenwasserstoffe, radioak-
tive Stoffe, Gase).
Die einzelnen Techniken, etwa zur Charakterisierung
von Reservoiren oder Speichern, sind: wiederholte
Bohrloch-Tomographie und 3-D-Reflexionsmessungen,
Überwachung der Seismizität sowie der hydraulischen
und geochemischen Parameter, „Logging“ in Bohrungen
und die räumlich dichte, wiederholte Beprobung für eine
geochemische Tomographie.
Der Forschungsbedarf in all diesen Bereichen besteht
dabei nur zum Teil in der Entwicklung einzelner Kom-
ponenten, vor allem aber in ihrer Integration beim Ein-
satz an geeigneten Untersuchungsobjekten.
So sind zum Beispiel Seismik und Magnetotellurik
(MT) beide in der Lage, Strukturen in der Erdkruste auf
Skalen von Metern bis Zehner-Kilometern abzubilden.
Da MT ein Abbild der elektrischen Leitfähigkeit liefert,
ist diese Methode sensitiver auf Porosität, Vernetzung
von Fluiden und Porengeometrie als seismische Stan-
dardtechniken. Anderseits sind seismische Methoden
besser in der Lage, die Matrix poröser Gesteine und
scharfe strukturelle Grenzen abzubilden. Aufgrund die-
ser Komplementarität geht die Entwicklung dahin, seis-
mische und MT-Daten koinzident aufzunehmen. Diese
komplementären Datensätze und Abbilder des Unter-
grundes können analog, wie für die Litho-Tomographie
gezeigt, kombiniert und gemeinsam interpretiert werden.
Hierbei kann insbesondere ausgenutzt werden, dass die
elektrische Leitfähigkeit in der Kruste über mehrere
Größenordnungen variiert.
Dieser Ansatz wurde zum Beispiel auf koinzidente
MT- und Seismik-Daten über der San Andreas Fault in
Zentralkalifornien angewandt. Leitfähigkeits-P-Ge-
schwindigkeits-Histogramme ähnlich zu Abbildung
16 d wurden benutzt um mehrere Klassen in diesem Zu-
standsraum zu identifizieren. Die Rückabbildung dieser
Gruppen in die entsprechenden Tiefenschnitte (analog
zu Abb. 16 f ) erlauben dann, geologische, tektonische
und physikalische Grenzen abzubilden, welche in den in-
dividuellen Tomographiesektionen nicht sichtbar waren.
Sowohl Leitfähigkeit als auch seismische Dämpfung
hängen zum Beispiel von der Porosität des Mediums
oder dem Grad der Aufschmelzung in Magmakammern
ab, so dass zum Beispiel durch die Verknüpfung dieser
beiden Methoden in Zukunft bessere Tiefenschnitte der
Porosität, des Aufschmelzungsgrads oder des Fluidge-
halts möglich werden. Porosität ist wiederum auch einer
der Schlüsselparameter für die Exploration von Kohlen-
wasserstoffen und geothermischen Reservoiren, beim
Monitoring von Schadstoffausbreitung und bei der Ab-
bildung aktiver Verwerfungen. Um einen solchen Me-
34
thodenkomplex zu entwickeln, ist es notwendig, an ei-
nem geeigneten geologischen Objekt wiederholte Mess-
ungen vorzunehmen, um die Methoden adaptiv zu ver-
bessern.
b) Abbildungs-, Inversions- und Interpretations-technikenNahezu alle Modellierungs- und Interpretationsver-
fahren beruhen wegen der prinzipiell unvollständigen
35
Abb. 17a: Reflexionsseismische Wiederholungsmessun-gen zur Ermittlung der Wanderung von Fluidfrontenwährend der Ölextraktion und zur Reservoirmodel-lierung (Die Oberkante des Speichers entspricht derreflektierenden Grenze in Bildmitte).
Abb. 17b: Reflexionsseismisches Abbild vom Dampfflu-ten einer Kohlenwasserstofflagerstätte über einen Zeit-raum von 31 Monaten; im Injektionsintervall zwischenden beiden gelben Linien verändern sich die petrophy-sikalischen Eigenschaften der Schichten – und damitihre Speichereigenschaften – maßgeblich während die-ses Vorgangs, wie die veränderten Amplituden und Ver-zerrungen der Reflektoren zeigen.
Datenbasis auf zwei konkurrierenden Strategien: den ap-
proximativen Inversionsmethoden (der Rückrechnung
von gemessenen Daten auf unbekannte Größen) oder auf
den trial and error-Methoden der Vorwärtsmodellierung.
Dies gilt für die Bestimmung von Eigenschaften und ih-
rer Verteilung, für die Modellierung geologischer Struk-
turen wie für die Simulation von Prozessen im Raum
und für Vorhersagen. Die einzelnen Verfahren sind in
vielen Fällen gut bekannt und zum Teil in Form markt-
gängiger Produkte verfügbar.
Datenverarbeitung bei der Modellierung allgemein,
so auch zum Beispiel bei der Beckenmodellierung, be-
steht zum einen in der Erstellung des Modells („prepro-
cessing“), in das die verschiedensten Daten integriert
werden müssen, um die Geometrie oder Architektur des
Modells zu konstruieren sowie die Eigenschaften den
einzelnen Modellelementen (Zellen) zuzuordnen. Auf
der anderen Seite müssen die in der Simulation entstan-
denen Datenmengen leicht zugänglich dargestellt wer-
den können („post processing“), um die Resultate sicht-
bar zu machen. Diese Datenmanipulationen und Grafik-
darstellungen sind in 3-D sehr viel aufwendiger und
schwieriger zu handhaben, als in den bis jetzt gängigen
2-D-Modellen. Mit der gegenwärtig rapiden Entwick-
lung von 3-D-Modellen, wie zum Beispiel in der
Beckensimulation oder Modellierung der Beckenfül-
lung, besteht ein kritischer Bedarf an Entwicklung von
Methoden zur 3-4-D-Manipulation geologischer Daten
mit spezifischen, geologisch geeigneten Datenstruktu-
ren. Auch für die Output-Seite werden verbesserte Dar-
stellungsmöglichkeiten benötigt, die es erlauben 4-D-
Datenkuben in beliebiger Weise zu visualisieren oder in
allen untergeordneten Dimensionen (Zeit und Raum) zu
zerschneiden und so darzustellen. Es gibt für beides
ebenfalls heute schon verschiedene Ansätze, die meist
kommerziell vertrieben werden.
Detaillierte Abbilder der Strukturen des Untergrundes
(zur Lagerstättensuche, -modellierung; Krustenstruktu-
ren; Geometrie aktiver Systeme wie Verwerfungen, Vul-
kane, Grundwasserspeicher et cetera) lassen sich nur
durch eine Erweiterung der Betrachtungen und Modell-
ierungen in den 3-D-Raum hinreichend genau modellie-
ren. Notwendig sind dazu einerseits noch die Entwick-
lung von Algorithmen zur Beschreibung entsprechender
Geometrien sowie andererseits erheblich größere Da-
tensätze als bisher, die, über Karten hinaus, 2-D-Profile,
Bohrungen, tektonische Daten und andere tomographi-
sche Daten in genügend großer Dichte enthalten müssen,
um hinreichend eingeschränkte und präzise Lösungen
und Aussagen zu gestatten. Validierungstechniken zum
Testen verschiedener Lösungen (zum Beispiel bilanzier-
te Profile/Volumina) spielen hier in der Industrie eine
entscheidende Rolle. Die Anwendung lässt sich unter
den komplexen mathematischen Bedingungen und we-
gen der sehr großen Datensätze nur noch EDV-gestützt
vornehmen. Erste 3-D-Validierungswerkzeuge sind seit
1994 auf dem Markt.
Ein erheblicher Entwicklungsbedarf besteht jedoch in
der Integration der Datenbasen sowie der Inversions-
und Interpretationstechniken für die Behandlung dyna-
mischer Systeme. Nur damit können für diese Systeme,
die sich zeitlich rasch ändern, Prognosen gemacht wer-
den, die zum kontrollierten Management genutzt werden
können. Dieser wichtige Schritt der Integration ist nicht
nur für die Quantifizierung in Reservoiren und Spei-
chern nötig, sondern auch im Bereich der Deponieüber-
wachung sowie der Überwachung der Gefährdung durch
Erdbeben und vulkanische Aktivität. Schlüsselbegriffe
der Integration sind dabei zum einen die Datenorganisa-
tion (GIS), die 3-D beziehungsweise 4-D-Visualisierung
komplexer und heterogener Datensätze sowie die Ent-
wicklung von Expertensystemen. Mit neuronalen Net-
zen etwa sind im Bereich der Interpretation von Bohr-
loch- und seismischen Daten bereits gute Ergebnisse er-
zielt worden, die aber auf komplexe Systemen zu über-
tragen bleiben. Zum anderen sind wegen der dennoch
grundsätzlichen Unbestimmtheiten bei inversen Model-
lierungsstrategien die oben genannte Integration mit an-
deren Datensätzen und Techniken die Strategie der Zu-
kunft (Joint inversion). Verfahren der gekoppelten Inver-
sion (zum Beispiel 3-D-Seismik + petrophysikalisches
Modell + Strukturmodell + seismische Modellierung in-
tegriert zu einem intern konsistenten Untergrundmodell)
sind eine Grundlage, um die Qualität von Vorhersagen
zur Strukturfortsetzung im Raum signifikant zu steigern
ebenso wie das Auffinden von Gesteinen/Lagerstätten
mit spezifischen Eigenschaften. In diesem Zusammen-
hang spielt die Ermittlung von petrophysikalischen Daten
von dynamischen Systemen unter nichtstationären Bedin-
gungen (aus Experimenten und Bohrlochlogging), insbe-
sondere von Parametern, die von den verschiedenen tomo-
graphischen Verfahren erfasst werden können, eine wichti-
ge Rolle (zum Beispiel Deformationsverhalten, seismische
Eigenschaften, Dichte, Leitfähigkeit, et cetera).
Zur Erzeugung von 4-D-Abbildungen von zeitabhängi-
gem Systemverhalten und für Vorhersagen sind diese
Techniken allein aber noch nicht geeignet. Der Schritt
vom Abbilden gemessener Daten zum Verstehen der ur-
sächlichen physikalischen Prozesse hat eine neue Qua-
lität. Der Weg hierzu kann letzten Endes nur über geeig-
nete dynamische Modellierungs- und Simulationstechni-
ken führen (zum Beispiel Modellierungen mit finite Ele-
mente- und finite-Differenzen-Techniken). Bisherige An-
wendungen konzentrieren sich noch fast ausschließlich
darauf, zum Beispiel Fluidbewegungen oder Deformatio-
nen von meist einfachen Körpern unter meist konstanten
Bedingungen zu modellieren. Schon hier zeigt sich, dass
zusätzliche Aspekte in die Modellierung wegen der Wech-
selbeziehungen quantitativ mit einbezogen werden kön-
nen: die thermische Entwicklung eines Körpers, der
Fluidfluss, die Beziehung Kräfte – Partikelverschiebungs-
felder, Erosion und oberflächlicher Massentransport, ani-
sotrope Materialeigenschaften und so weiter. Rein geome-
trische Verfahren sind sehr viel genauer bezüglich der
Leistung in der Abbildung realer Strukturen in anisotro-
pen Körpern. Ihre Integration mit dynamischen Modellie-
rungstechniken bei geeigneter Verfeinerung für komplexe,
anisotrope Körper erscheint als das geeignete Verfahren,
um eine Grundlage für zukünftige hochauflösende und
verlässlichere Vorhersagen herzustellen.
36
Projektvorschläge
Die Natur der dargestellten Thematik zeigt, dass es
sich bei der Tomographie um einen Komplex handelt, der
sich als grundsätzlich notwendiges Handwerkszeug in
fast allen thematischen Leitprojekten dieses Programms
als methodische Komponente, häufig sogar als das zen-
trale Werkzeug wiederfindet. Dies gilt insbesondere für
Projekte zu geologischen Objekten, in denen Fragen der
Abbildung der Struktur oder des zeitlichen Verhaltens
von besonderen Interesse sind. Dies sind zum Beispiel
das Aufsuchen und Management von Ressourcen, die Er-
kundung und Vorhersage im Tiefbau und bei der Schad-
stoffausbreitung oder die Überwachung aktiver Regionen
insbesondere an aktiven Plattengrenzen (Erdbeben, Vul-
kane, instabile Küstenregionen, et cetera).
Daneben existieren jedoch auch originäre For-
schungsnotwendigkeiten innerhalb dieses methodischen
Rahmens. Deutlich ist in den ausgeführten Darstellun-
gen, dass die zukünftige Forschung im Kontext Erkun-
dung und Abbildung besonders auf folgende zwei
Aspekte konzentriert sein muss:
• Weiterentwicklung von Techniken, die Abbildung
und Monitoring in hoher räumlicher Auflösung und
möglichst in Echtzeit erlauben; wegen der traditio-
nellen Forschungsschwerpunkte haben die seismi-
schen Verfahren – auch wegen ihres Abbildungspo-
tenzials – hier das größte Gewicht;
• Integration der zahlreichen Techniken zur Daten-
analyse, -interpretation und -darstellung mit der
Entwicklung geeigneter Strategien („Joint inver-
sion“, Expertensysteme, neuronale Netze und ähn-
liches).
Folgende Projekte werden vorgeschlagen:
1) Die Array-Technik als (dreidimensionales) Auf-zeichnungsverfahren der seismischen Tomographie ist
Kern des Beispiels für die Entwicklung von modernen
Akquisitionstechniken. Seismische Arrays als flächen-
hafte Verbundsysteme von vielen identischen Seismo-
metern werden in der Seismologie seit über 20 Jahren
eingesetzt, in linienförmiger Konfiguration gibt es sie in
der seismischen Exploration schon immer. Im Rahmen
dieses Vorschlags geht es um die Erfassung und Aus-
wertung des zweidimensionalen Wellenfeldes an der
Erdoberfläche, wobei die Entwurfskriterien der Anten-
nentheorie in vollem Umfang angewendet werden sol-
len. Hierbei sind einige hundert seismische Stationen
notwendig, die flächenhaft mit Abständen zwischen
100 m und 1000 m aufgestellt werden. In aseismischen
Gebieten, wie zum Beispiel an passiven Kontinentalrän-
dern, bieten sich teleseismische Erdbeben als Quellen
an. Von besonderem Interesse ist aber die Array-Tomo-
graphie in seismisch aktiven Gebieten, wo hohe Seismi-
zität einen Überdeckungsgrad der seismischen Strahlen
liefert, so dass sogar Migrationstechniken aus der Refle-
xionsseismik anwendbar werden können. In seismisch
aktiven Gebieten mit ortsfesten Quellen, die durch eine
„Cluster“-Analyse leicht zu ermitteln sind, erlaubt die
Arraytomographie darüberhinaus eine Zeitabhängigkeit
elastischer Parameter nachzuweisen (4-D-Tomographie)
und damit eine physikalische Basis für Frühwarnsyste-
me in Erdbeben- und Vulkangebieten zu liefern.
2) Integration von Methoden ist ein Schlüssel für die
Verbesserung von Erkundungs- wie von Abbildungs-
techniken. Seismische, geoelektrische und elektromag-
netische Methoden zum Beispiel können 3-D-Bilder des
Untergrundes liefern. Sie sind signifikant von den Ei-
genschaften wie Porosität, Fluidzusammensetzung oder
Mikrostruktur des Mediums beeinflusst. Die gemeinsa-
me Invertierung dieser Eigenschaften (Joint Inversion)
ist für alle Prozesse, an denen Fluide (Wasser, Öl, Gas)
beteiligt sind, wesentlich. Voraussetzung sind hochauflö-
sende Abbildungsverfahren, amplitudenbewahrende
seismische Migration und Inversion, Extraktion von At-
tributen (zum Beispiel „Amplitude Versus Offset“), pe-
trophysikalische und strukturgeologische Inversion so-
wie die Wiederholung von 3-D-Experimenten mit der
Integration von anderen geowissenschaftlichen Metho-
den bei der Auswertung dieser Experimente. Auch im
Bereich der Beckenmodellierung ist die Integration von
thermischer, geometrischer und dynamischer Modellie-
rung eine als notwendig erkannte Strategie für die Zu-
kunft. Für die Entwicklung geeigneter Kombinationen
von Abbildungstechniken bei aktiven Systemen sind da-
bei zusätzlich gezielte petrophysikalische Experimente
und Loggingdaten notwendig, die die bisher bestehende
Kenntnislücke bezüglich der Gesteinseigenschaften un-
ter nichtstationären Bedingungen zu schließen haben.
3) Struktur und Dynamik der europäischen Lithosphäre Die Strukturen und die Entwicklung der europäischen
Lithosphäre wurden in den vergangenen Jahrzehnten in-
tensiv im Rahmen einer Reihe nationaler und internatio-
naler Experimente studiert. Dabei sind besonders das
EGT – (European Geotraverse) – Experiment, DE-
KORP, EUROPROBE und TRANSALP zu nennen. Als
Ergebnisse wurden wesentliche neue Einblicke in die
Entstehungsgeschichte des europäischen Subkontinentes
gewonnen. Die benutzten Methoden waren hauptsäch-
lich controlled source seismische Methoden (Weit- und
Steilwinkelmethoden), deren Energiequellen nur selten
ausreichend waren, um die Ursachen der Krustendyna-
mik, die im Erdmantel liegen, ausreichend abzubilden
und damit zu verstehen. Besonders im letzten Jahrzehnt
wurden Methoden weiterentwickelt, die natürliche Ener-
giequellen (Erdbeben) nutzen, um tief in den Erdmantel
schauen zu können. Zu diesen Methoden zählt die seis-
mische Tomographie (Raum- und Oberflächenwellen),
konvertierte Wellen („Receiver Functions“) oder seismi-
sche Anisotropie (zum Beispiel SKS-Methode). Diese
Methoden erlauben es in Kooperation mit geowissen-
schaftlichen Nachbardisziplinen (Petrologie, Gravime-
trie, geodynamische Modellierung) neue Informationen
von bisher nicht erreichter Klarheit über die Dynamik
der gesamten Lithosphäre (Kollision oder Auseinander-
brechen von Lithosphärenplatten) zu erhalten. Deshalb
37
wird ein Experiment vorgeschlagen, das vor allem im
alpinen und mediterranen Raum mit seinem hohen Ge-
fährdungspotenzial die Abläufe der Lithosphären-Dyna-
mik mit Hilfe von Erdbebenbeobachtungen untersucht. In
den Vereinigten Staaten ist ein großes Projekt (USArray)
mit ähnlicher Zielsetzung für den amerikanischen Kon-
tinent gerade im Rahmen des EARTHSCOPE Projektes
genehmigt worden. Bei dem hier vorgeschlagenen Expe-
riment sollen einhundert mobile seismische Breitband-
stationen im Laufe von 10 Jahren über den geodyna-
misch besonders aktiven Teil des europäischen Konti-
nentes bewegt werden. Der Stationsabstand soll der
Komplexität des Problemes angepasst werden, also va-
riabel sein. Das Ziel ist Strukturen im oberen Erdmantel
mit etwa 10 km Genauigkeit aufzulösen. Die Daten sol-
len in Echtzeit in ein Datenzentrum übertragen und aus-
gewertet werden. Damit kann in relativ kurzer Zeit ent-
schieden werden, ob der Stationsabstand vergrößert wer-
den kann oder verkleinert werden muss, um die nötige
Auflösung zu erreichen. Die Datenübertragung in Echt-
zeit ermöglicht als zusätzlichen Nutzen eine schnelle
und genaue Lokalisierung aktueller Erdbeben und eine
schnelle Weitergabe der gewonnen Informationen an inte-
ressierte wissenschaftliche oder staatliche Stellen. Die Da-
ten existierender permanenter Breitbandstationen der ver-
schiedenen nationalen Netze sollen einbezogen werden.
4) Produktion von Kohlenwasserstoffen und derenSpeicherung in porösen Reservoiren sind Vorgänge, die
zeitlich und räumlich kontrolliert werden müssen. Ziel
ist dabei eine verbesserte Effektivität bei Gewinnung
und Ausbeutung sowie die verlust- und risikofreie Spei-
cherung von Nutzgas. Ein- und Abpumpen von Gas aus
dem Speicher ändert sowohl die physikalischen Eigen-
schaften der Speicher (Porosität, Permeabilität, Tempe-
ratur, Druck), als auch deren geochemische Charakteri-
stika. Änderung der physikalischen Parameter sind
mess- und invertierbar mit seismischer und geoelektri-
scher Tomographie, die wiederholt durchzuführen ist.
Die damit dokumentierbaren zeitlichen Veränderungen
müssen mit den geochemischen Analyseergebnissen
kompatibel sein. Felsmechanische Änderungen der Medi-
en (Stabilität) äußern sich in zu überwachender mikro-
seismischer Aktivität. Durch das schnelle Aus- und Einla-
gern von Gasmengen kommt es zu physikalischen und
chemischen Prozessen, die den Speicher gefährden kön-
nen. Bekannt sind zum Beispiel in Speichern mit salina-
rem Haftwasser Salzausfällungen in der Nähe der Son-
den, die bei Austrocknung des Speichers durch das einge-
presste Gas entstehen. Die mechanische Beanspruchung
des Speichers, hervorgerufen durch den schnellen Druck-
wechsel, wirft weitere Fragen auf.
An Vorstudien aus dem Bereich Geophysik ist das au-
genblicklich unter Federführung der DGMK durchge-
führte Projekt GWC zu nennen, das sich mit allen Aspek-
ten der Erkennung des Gas-/Wasserkontaktes beschäftigt.
Die hochauflösende Rekonstruktion der räumlichen Ver-
teilung von Porosität und Durchlässigkeit, sowie deren
zeitliche Änderung etwa durch den Transport von Schad-
stoffen kann nur durch kombinierten Einsatz geophysika-
lischer und geochemischer Tomographie erfolgen. Letzte-
re weist die Stoffe punktuell durch Beprobung nach. Ers-
tere liefert die Randbedingungen für die Strömungs- und
Verteilungsprozesse. Im Bereich der oberflächennahen
Phänomene (Überwachung von Deponien, Nachweis und
Kontrolle von Schadstoffkreisläufen und so weiter) haben
sich dabei eine Reihe neuer Methoden entwickelt: „Gro-
und Penetrating Radar“, elektrokinematische Konversi-
on und anderes mehr.
5) Schadstoffausbreitung und Sicherung des Grund-wassers stellen ein weiteres Beispiel für ein System mit
kurzer Zeitkonstante dar. An einem konkreten Objekt,
einem Versuchsfeld des FZJ in Krauthausen wird über
zahlreiche Bohrungen ein ständiges Monitoring vorge-
nommen. Ziel ist das Verständnis von Schadstofftrans-
port an der Grenze des ungesättigten Bereichs.
Das punktuelle Monitoring über Bohrungen wird er-
gänzt durch geoelektrische Tomographie und Flachseis-
mik, um die Inhomogenitäten des Systems im Unter-
grund zu bestimmen. Über weitere denkbare Erkun-
dungs- und Modellierungsverfahren ließe sich hier we-
gen der Datendichte und der zur Kalibrierung geeigneten
Randbedingungen ein exemplarisches Testobjekt ent-
wickeln, um Verfahren der Joint Inversion in diesem An-
wendungsbereich einzusetzen und zu testen.
6) Die 4-D-Tomographie zur Kartierung des Wär-meabbaus in stimulierten geothermischen Systemen(EGS, Enhanced Geothermal Systems) ist ein Meilen-
stein auf dem Weg zur systematischen Nutzung geother-
mischer Energie in Hochenthalpie Systemen. Unter Ver-
wendung einer zeitlich wiederholten Durchschallung ei-
nes geothermischen Reservoirs lässt sich ein seismisches
Abbild der Reservoirentstehung und des längerfristigen
Auskühlungsverhaltens im Anlagenbetrieb gewinnen.
Die während der Reservoirentstehung (Stimulation) ak-
tiven physikalischen Prozesse verursachen lokale Verän-
derungen der Gesteinsparameter (unter anderem Kluft-
dichte, Rissweiten, Fluidgehalt und Fluiddruck, Span-
nungszustand), die sich über seismische Parameter ab-
bilden lassen. Dabei erfordert die geringe Größenord-
nung dieser Effekte den Einsatz hochauflösender Abbil-
dungsmethoden, die zum Beispiel die relativen zeitli-
chen Veränderungen dynamischer und kinematischer
Wellenformeigenschaften erfassen. Solche Verfahren
wurden bereits erfolgreich im Rahmen des Kontinenta-
len Tiefbohrprogramms getestet, zum Beispiel in Form
einer Bestimmung der zeitlichen Veränderungen der Ge-
steinsanisotropie mittels Scherwellenaufspaltung und
können durch den mit Oberflächeninstrumenten kombi-
nierten Einsatz vertikaler Geophonketten (Crosshole To-
mographie) in eine 3-dimensionale Tomographie umge-
setzt werden. Auf diese Weise kann der Ist-Zustand eines
geothermischen Reservoirs zu Beginn des Wärmeabbaus
bestimmt werden. Während des Anlagenbetriebs führt die
lokale Wärmeentnahme im Reservoir zu weiteren Verän-
derungen der Gesteinseigenschaften (zum Beispiel Dichte,
Spannungszustand, thermisch induzierte Rissbildung), die
sich durch zeitlich wiederholte Durchschallungsmess-
38
ungen bestimmen und in eine 4-dimensionale Tomogra-
phie überführen lassen. Durch integrative thermo-hydrau-
lische Modellierung können diese Beobachtungen zu ei-
nem dynamischen Strukturmodell zusammengefasst wer-
den. Damit steht erstmals in Aussicht, die räumliche Tem-
peraturverteilung und deren zeitliche Änderung im Zuge
des Wärmeabbaus zu kartieren.
Das in den letzten Jahren aufgekommene verstärkte
Interesse an regenerativen Energieressourcen hat der
Entwicklung der Hochenthalpie-Geothermie einen gro-
ßen Aufschwung bereitet. Dieser äußert sich nicht zu-
letzt in der finanziellen Förderung nationaler (Bad
Urach, Groß-Schönebeck, Hannover, Bochum, Speyer,
Offenbach, Unterhaching) und europäischer For-
schungsprojekte (Soultz-sous-Foret, Frankreich), son-
dern auch in der wachsenden Zahl von Industriepartnern.
Entgegengesetzt dem verstärkten finanziellen Engage-
ment tut sich aber eine Kluft zwischen wirtschaftlichem
Interesse und dem zur Verwirklichung solcher Systeme
erforderlichem wissenschaftlichen Know-how auf. Ins-
besondere im Hinblick auf die bereits im Aufbau befind-
lichen Multi-Bohrlochsysteme, die auf einen systemati-
schen Wärmebergbau ausgelegt sind, ist ein detailliertes
Verständnis der raum-zeitlichen Temperaturentwicklung
unabdingbar, um das Risiko nicht-produktiver Bohrungen
zu verringern. In engem Industriekontakt kann dieses Pro-
jekt eine Kooperationsplattform schaffen, um unter Aus-
nutzung der Infrastruktur bestehender Geothermischer
Systeme das für einen wirtschaftlichen Anlagenbetrieb
notwendige wissenschaftliche Know-how zu liefern.
Vernetzung
Eine enge Bindung an mehrere der anderen Teilthe-
men dieses Rahmenprogramms besteht vor diesem Hin-
tergrund vor allem für die Themen „Kontinentränder“,
„Beckenentwicklung“, „Desasterforschung“, „Ressour-
cenforschung“ und „Geotechnik“. Querbeziehungen zu
laufenden Vorhaben sind vielfältig, wie etwa zu
DEKORP-Vorhaben (zum Beispiel ANCORP, Nordost-
deutsches Becken, TRANSALP), den anlaufenden
ICDP-Projekten (als systematische Presite Surveys),
marinen geowissenschaftlichen Forschungsprogrammen
(zum Beispiel CINCA, CONDOR, passive Ränder des
Atlantik et cetera), die alle von BMBF oder DFG geför-
dert werden beziehungsweise wurden. Das vorgeschla-
gene Programm zur Tomographie entwickelt damit ins-
gesamt geowissenschaftliche Schlüsselmethoden glei-
chermaßen für die geowissenschaftliche Forschung wie
für die industrielle Anwendung.
Der Industriebezug reicht bei diesem methodisch ori-
entierten Bereich dabei von einem direkten Interesse an
der Erzeugung eines bestimmten nutzbaren methodi-
schen Wissens bis hin zur möglichen Beteiligung an ge-
meinsamen Projekten, die diese Methoden direkt an Ob-
jekten von industriellem Interesse einsetzen (zum Bei-
spiel Monitoring von KW-Produktion und -Speichern,
Abbildung und Monitoring von Schadstoffausbreitung et
cetera). Schließlich besteht eine besondere Bedeutung
für die Praxis in der Tatsache, dass das in diesem Bereich
an universitären und außeruniversitären Einrichtungen
generierte methodische Know-how in Form neuer Ver-
fahren und speziell ausgebildeten Nachwuchses ent-
wickelt und bereitgestellt wird.
39
Sedimente sind Gemenge verschiedener Minerale und organischer Substanzen, die an der
Erdoberfläche in Wechselwirkung mit Atmosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre abgelagert
worden sind. Beispiele sind Sande, Tone, Salze und Kalkschlämme. Bei der Versenkung
in größere Erdtiefen von einigen 100 Metern bis wenigen Kilometern entstehen daraus Sedi-
mentgesteine wie Sandstein, Tonstein oder Kalkstein. Sedimentbecken sind Senkungsstrukturen
an der Erdoberfläche, die über sehr lange Zeiträume große Mengen an Sediment (meist über
einen Kilometer mächtig) aufgenommen haben. Dazu zählen – zumindest im weiteren Sinne –
auch die meisten Kontinent/Ozean-Übergänge (Kontinentränder), an denen Sedimente zum Teil
in großer Mächtigkeit auftreten.
Sedimentbecken sind im Vergleich zur Gesamtausdehnung der Erdkruste klein. Sie bergen aber
den mit Abstand größten Teil der für die Menschheit wichtigen Ressourcen. Dazu gehören in
erster Linie die fossilen Energieträger, die zu 90 % die Weltenergieversorgung sicherstellen.
Weiterhin sind sie wichtiger Standort für Deponien hochtoxischer und radioaktiver Abfälle und
werden als Speicher für Gase, Flüssigkeiten und Feststoffe benutzt. Schließlich kann aus Sedi-
mentbecken geothermische Energie gewonnen werden.
Angesichts einer auf die 10-Milliarden-Marke zustrebenden Weltbevölkerung und der raschen
Entwicklung der Volkswirtschaften in den bevölkerungsreichen Staaten Südostasiens wird der
Energieversorgung, der Rohstoffsicherung und der Deponierung toxischer und radioaktiver Ab-
fälle eine steigende Bedeutung zukommen. Eine nachhaltige Nutzung der Sedimentbecken setzt
aber ein umfassendes Verständnis der hier ablaufenden Prozesse und die Entwicklung bezie-
hungsweise Weiterentwicklung numerischer Modelle zur Simulation dieser Prozesse voraus. Das
FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN schafft dafür die notwendigen Grundlagen.
In Deutschland besteht damit die sehr gute Chance, über eine koordinierte Forschung eine starke
Position in diesem Bereich aufzubauen und zu einem Technologieexporteur in diesem Zukunfts-
markt zu werden.
41
Sedimentbecken:Die größte Ressource der Menschheit
Was sind Sedimentbecken und welche Typengibt es?
Sedimentbecken kommen in den verschiedensten
geodynamischen Positionen vor. Am markan-
testen sind die großen Riftzonen in den Konti-
nenten (Oberrheingraben, Afrikanisches Grabensystem),
in deren Zusammenhang häufig thermische Anomalien
bis hin zu vulkanischer Aktivität auftreten. Neben einer
möglichen geothermischen Nutzung besteht im Zusam-
menhang mit Vulkanismus häufig die Gefahr von Natur-
katastrophen, deren Früherkennung eine aktuelle Ziel-
stellung ist. Sedimentbecken entstehen daneben entlang
von Scherzonen wie zum Beispiel in Nordanatolien oder
am San-Andreas-Störungssystem in Kalifornien. Ob-
wohl dieser Beckentyp meist kleinräumig angelegt ist,
spielt er für die genannten Nutzungsformen doch eine
wichtige Rolle. Sedimentbecken treten auch in kompres-
siven Regimen auf, wie zum Beispiel das süddeutsche
Molassebecken, das ein hohes Nutzungspotenzial tiefer
Grundwässer aufweist. In großräumigen tektonischen
Zusammenhängen zeigt sich, dass das Verständnis der
Bildungsbedingungen von Gräben und Becken im konti-
nentalen Bereich ganz wesentlich für eine geodynami-
sche Interpretation ist. Im ostasiatischen Raum kommen
Becken sowohl im Hochland von Tibet vor als auch ent-
lang einer großen Scherzone, die von Tibet bis weit nach
Sibirien reicht. Kompression und Extension existieren
hier nebeneinander und zwar in einer Form, die durch
die klassische „ozeanische“ Plattentektonik nicht hinrei-
chend erklärt werden kann. Schließlich gibt es intrakon-
tinentale Becken oder Depressionen, deren Bildungsme-
chanismen bis heute kaum verstanden sind, die aber be-
sonders intensiv genutzt werden, wie zum Beispiel die
Zentraleuropäischen Becken.
Sedimentbecken haben gemeinsam, dass sie lange
Zeit als Depressionen aktiv sind und dadurch Sedimente
einfangen und akkumulieren. Sie stellen damit die zen-
tralen Bereiche der Erde dar, in denen erdgeschichtliche
Prozesse wie Klima- und Meeresspiegeländerungen so-
wie tektonisch bedingte Reliefänderungen dokumentiert
sind. Durch sedimentologische und sedimentpetrogra-
phische Analysen ist es häufig möglich, Aussagen über
die Herkunft der Sedimente, ihr Ablagerungsmilieu und
über Abtragungsgeschwindigkeiten im Umland der
Becken zu machen sowie Prognosen über die räumliche
Verteilung und den Zustand von Gesteinen zu erstellen.
Die besondere Bedeutung von Sedimentbecken hängt
auch mit dem hohen Anteil metastabiler Phasen sowie
mit ihrer hohen Porosität und Permeabilität zusammen.
Ersteres bewirkt ein hohes chemisches Reaktionspoten-
zial, das neben vielem anderem auch die Bildung von
Erdöl und Erdgas ermöglicht. Letzteres führt zu einem
relativ raschen Transport der Flüssigkeiten und Gase im
Porenraum, unter anderem mit der Konsequenz der Ak-
kumulation von Erdöl und Erdgas in Lagerstätten und
dem Austausch von klimarelevanten Treibhausgasen mit
der Atmosphäre.
Da Becken nur sehr oberflächennah direkt zugänglich
sind, sind die Untersuchungsmethoden seit langem inter-
disziplinär angelegt. Geophysiker, Geologen und Geoche-
miker müssen hier zusammenarbeiten. In jüngerer Zeit
kommen noch die Geodäsie und numerische Prozesssi-
mulation hinzu. Damit eröffnet sich ein Feld zur Entwick-
lung neuer Geotechnologien durch Kombination fachlich
unterschiedlicher Ansätze und Vorgehensweisen.
Wichtige Eigenschaften und Prozesse
Sedimentbecken und schon einzelne Sedimentgestei-
ne sind außerordentlich komplex aufgebaut, und eine
Vielzahl physikalischer und chemischer Prozesse spielen
sich in ihnen ab. Daher wird es auch in Zukunft nicht
möglich sein, Sedimentbecken in jedem Detail zu be-
schreiben oder gar ihre Entwicklung über Zeiträume von
Millionen von Jahren zu simulieren. Es sind jedoch eini-
ge wenige Eigenschaften und Prozesse, die für das Er-
scheinungsbild sedimentärer Becken und vor allem für
ihre ökonomische Bedeutung besonders wichtig sind.
Dazu gehören Geometrie und strukturelle Entwicklung,
die Temperaturverteilung und die Dynamik der Tempe-
raturentwicklung, die Gesteinszusammensetzung und
ihre Veränderung durch diagenetische Prozesse, insbe-
sondere die Zusammensetzung von Flüssigkeiten und
Gasen (vor allem Wasser, Erdöl, Erdgas, Kohlendioxid)
und ihr Transport durch den Porenraum der Gesteine.
Beispiele für die Wichtigkeit der Temperatur sind ei-
42
Themenschwerpunkt: „Sedimentbecken – Die größte Ressource der Menschheit“
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF
Förderstatus DFG:Schwerpunktprogramm „Dynamik sedimentärer
Systeme unter wechselnden Spannungsregimen
am Beispiel des zentraleuropäischen Beckensys-
tems“ seit 2002.
Ziel:Quantifizierung der Prozesse zur Entstehung und
Entwicklung von Sedimentbecken und Weiterent-
wicklung von Erkundungs- und Modellierungs-
technologien.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinäre Beteiligung von Universitäten
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
nerseits die thermisch gesteuerte Bildung von Erdöl und
Erdgas sowie die Entstehung von Kohlen (Inkohlungs-
Reihe: Torf-Braunkohle-Steinkohle-Anthrazit) und an-
dererseits die anorganischen Lösungs- und Fällungspro-
zesse im Porenraum von Sedimentgesteinen, wie Sand-
steinen und Karbonaten, die deren Speichereigenschaf-
ten als Reservoir für Wasser, Erdöl oder Erdgas ent-
scheidend prägen. Daher ist es von überragender Bedeu-
tung zum Verständnis von Sedimentbecken, die Tempe-
raturverteilung in ihrem heutigen Zustand und die sie
steuernden Parameter und Prozesse zu erfassen und zu
erforschen. Die Mineraloberflächen und Reaktionen an
43
Abb. 18: Internstruktur des Nordostdeutschen Beckens.
ihnen spielen dabei ebenfalls eine bedeutsame Rolle.
Ebenso wichtig ist es, die zeitliche Entwicklung der
Temperatur zu verstehen, da diese für die Bildung und
Akkumulation von Erdgas und Erdöl, für Lösungs- und
Fällungsprozesse sowie für den Transport von Flüssig-
keiten und Gasen entscheidend ist. Hierzu dienen eine
Reihe von mehr oder weniger verlässlichen Paläo-Tem-
peraturindikatoren.
Flüssigkeiten und Gase im Porenraum von Gesteinen
sind sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Während
der größte Teil des Porenraums wassergesättigt ist (und
einen sehr unterschiedlichen Wasserchemismus auf-
weist), können auch Erdöl, Erdgas, wie Methan und
Äthan, sowie anorganische Gase, wie Kohlendioxid,
Stickstoff und Schwefelwasserstoff auftreten, oder vor-
herrschen. Die Bedeutung der Ressourcen Erdöl und
Erdgas ist evident und es wird in Zukunft zur Deckung
des Bedarfs an diesen Energieträgern notwendig sein,
zur Aufsuchung und Produktion in immer größere Tiefen
und in immer entlegenere Regionen der Erde vorzudrin-
gen. Um die Bohrkosten, die heute für Explorationsboh-
rungen meist zwischen 10 und 50 Millionen Dollar lie-
gen, auf möglichst niedrigem Niveau zu halten, werden
moderne „High-Tech“-Verfahren immer wichtiger, bei-
spielsweise der Einsatz von geophysikalischen und geo-
chemischen Methoden. Dazu gehören unterschiedliche
Simulationsverfahren, die zum Beispiel die Mobilität
und Reaktivität von Erdöl und Erdgas im Porenraum von
Sedimentgesteinen nachvollziehen.
Ebenso wichtig wie die Dynamik der Erdöl- und Erd-
gasbildung und -akkumulation ist die Zusammensetzung
von Porenwässern und ihr Transport. Porenwässer sind
nicht nur Träger geothermischer Energie, sie bewirken
über Fällungs- und Lösungsreaktionen auch die „Ver-
stopfung“ und „Reinigung“ poröser Speichergesteine.
Auch die im Zusammenhang mit der Endlagerung radio-
aktiver und hochtoxischer Abfälle anhängige Frage der
Salzlaugung durch Porenwässer und der Barrierewir-
kung toniger Sedimente ist von ökologisch und ökono-
misch herausragender Bedeutung. Unter den anorgani-
schen Gasen nimmt Kohlendioxid eine wichtige Rolle
ein, zumal Verfahren zur Verbringung von anthropogen
erzeugtem CO2 in Untertage-Speicher bereits entwickelt
und getestet werden. Kohlendioxid trägt über seine rela-
tiv hohe Wasserlöslichkeit und Reaktivität zu verschie-
denen Reaktionen im Porenraum der Gesteine bei. Hier
besteht Forschungsbedarf, bevor zusätzliches anthropo-
gen erzeugtes CO2 in großer Menge in Sedimentbecken
eingebracht wird.
Stand der Entwicklung und Anwendung
Das Wissen um die Entwicklung der Sedimentbecken
hat in den vergangenen Jahrzehnten sehr zugenommen.
Trotzdem sind wichtige Fragen der Beckenanalyse,
Beckenevolution und Simulation noch ungelöst. Diese
Probleme legen Defizite in unserem grundlegenden Na-
turverständnis offen, deren Beantwortung direkt mit dem
menschlichen Streben nach Daseinsvorsorge gekoppelt
ist. In Deutschland gibt es eine Reihe von Instituten und
Institutionen, die sich mit der Dynamik und/oder Model-
lierung sedimentärer Becken beschäftigen. Dazu gehö-
ren mehrere Universitätsinstitute, die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und das Geo-
ForschungsZentrum Potsdam (GFZ).
An den deutschen Universitäten werden in erster Li-
nie sedimentologische und petrographische Aspekte der
Beckenentwicklung untersucht. Ein Beispiel ist die Uni-
versität Jena, an der kohärente, petrographische und geo-
chemische Datensätze zur Kalibration von Fluidfluss-
und Paläotemperatur-Modellierungen erstellt werden.
Die Arbeiten konzentrieren sich auf großräumige, inter-
formationale Fluidbewegungen und diagenetische Kon-
sequenzen vor allem in klastischen Speicherformatio-
nen. Die thermochronologische Bedeutung neu gebilde-
ter und datierbarer Tonminerale steht dabei im Vorder-
grund des Interesses. Regionaler Schwerpunkt sind das
Norddeutsche Becken und andere zirkumatlantische
Becken, wie zum Beispiel das AraganaBecken/Marok-
ko. Der stratigraphisch-zeitliche Schwerpunkt liegt in
Perm und Trias einerseits, und der frühen Atlantik-Öff-
nungsphase in Keuper bis Dogger andererseits.
An der RWTH Aachen wird die Entwicklung sedi-
mentärer Becken über geologische Zeiten, zum Teil im
Zusammenhang mit der Bildung und Akkumulation von
Erdöl- und Erdgaslagerstätten, untersucht. Dazu werden
verschiedene Entwicklungspfade beschritten. Zum ers-
ten wird physikalische und chemische Forschung zum
Transportverhalten von Flüssigkeiten und Gasen in ver-
schiedenen Gesteinen unter natürlichen Bedingungen
und zur Bildung und Reaktivität von Erdöl- und Erdgas-
komponenten betrieben. Die jeweiligen Ergebnisse wer-
den in die bestehende Simulations-Software integriert.
Zweitens werden die Simulationsprogramme auf ihrem
jeweils neuesten Stand getestet, indem Fallstudien für
verschiedene Sedimentbecken durchgeführt werden.
Dies geschieht sowohl in Kooperation mit der deutschen
Erdöl- und Erdgasindustrie als auch im Bereich der
Grundlagenforschung, zum Beispiel im Rahmen von
Schwerpunktprogrammen der DFG. Von besonderer Be-
deutung ist die Zusammenarbeit mit der Firma Integrier-
te Explorationssysteme Jülich (IES), durch die eine ra-
sche Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in markt-
fähige Produkte erfolgen kann. Drittens wird die struk-
turelle und sedimentäre Entwicklung von Sediment-
becken unter Nutzung und Weiterentwicklung numeri-
scher Simulationsprogramme und unter besonderer
Berücksichtigung der Salztektonik modelliert.
In der BGR Hannover wurde eine detaillierte struktu-
relle Analyse des Norddeutschen Beckens mit besonde-
rer Beachtung halokinetischer Bewegungen und von
Rifting- und Inversionsprozessen erarbeitet. Als Resultat
dieser Arbeiten wurde ein Geotektonischer Atlas von
NW-Deutschland in digitaler Form publiziert. Die regio-
nale Anbindung an den Ostteil des Norddeutschen
Beckens ist in Bearbeitung. Zahlreiche regionale Unter-
suchungen liegen zur Kohlenwasserstoff-Genese und -
Migration in Norddeutschland vor. Neben Arbeiten zur
Petrographie, Geochemie und Reife der Muttergesteine
44
und ihrer Produkte werden Beckenmodelle zur Subsi-
denz und zur Reifeentwicklung des sedimentären orga-
nischen Materials durchgeführt. Ein weiterer Schwer-
punkt liegt auf der Ermittlung des geothermischen Po-
tenzials in Deutschland. Die dabei gewonnenen Infor-
mationen bilden eine Grundlage für verschiedene lokale
Geothermieprojekte. Die Bestimmung des Poren- und
Kavernenspeicherpotenzials in Nordwest-, Nordost- und
Süddeutschland ist von großer Bedeutung für die Spei-
cherung von Erdgas, für die Deponierung von flüssigen
Abfallstoffen sowie potenziell für CO2 aus der Verbren-
nung fossiler Energierohstoffe. Wichtige internationale
Erfahrungen wurden bei der geologisch-geophysikali-
schen Analyse der Struktur- und Beckenentwicklung so-
wie der Kohlenwasserstoff-Entstehung in Kontinental-
randbecken auf beiden Seiten des Südatlantiks, im Süd-
pazifik vor Südamerika, in der Arktis und in anderen
Erdteilen gesammelt. Dabei ist die numerische Becken-
simulation ein integraler Bestandteil dieser Arbeiten.
Am GFZ Potsdam wird an der Erstellung von dreidi-
mensionalen Beckenmodellierungs-Systemen unter
Berücksichtigung der Zeit gearbeitet, wobei die Integra-
tion geologischer, geophysikalischer und chemischer
Daten und Konzepte im Vordergrund steht. Ein zentrales
Thema ist die Erfassung und Modellierung der Interak-
tion von Temperatur, Porenflüssigkeit und chemischen
Prozessen. Ein Schwerpunkt befasst sich mit der Rolle
von elektrokinetischen Effekten auf geochemische Pro-
zesse und der möglichen Nutzung dieser Effekte. Ein
weiteres Thema ist das Langzeitverhalten von Becken
und ihrer Füllung unter Berücksichtigung sedimentärer
und tektonischer Prozesse. Die Arbeiten werden in Ko-
operation mit der Erdöl- und Erdgasindustrie, Soft-
wareentwicklern (WASY, Berlin), verschiedenen Uni-
versitäten (DFG gefördert), der BGR und dem Landes-
amt für Geologie und Rohstoffe Brandenburg (LGRB),
sowie im Rahmen von nationalen und internationalen
Programmen durchgeführt, so dass grundlagenorientier-
te Forschung eng mit der Anwendung verknüpft wird.
Auch auf die Entwicklung von Sedimentbecken ge-
richtet sind die Untersuchungsprogramme ozeanogra-
phischer Institutionen wie GEOMAR und Alfred-We-
gener-Institut. Die Arbeitsziele dieser Institute liegen
allerdings vorrangig in den jüngsten marinen Ablage-
rungen und den darin dokumentierten Informationen zu
Paläoklima, Paläodynamik ozeanischer Wassermassen
und in der Interaktion Hydro-Bio-Atmosphäre. Diese
Institutionen sind bereits langjährig in Kooperation und
in internationale Forschungsprogramme eingebunden.
Gleiches gilt für das in Neugründung befindliche Insti-
tut für sedimentäre Systeme am FZ Jülich, das sich
künftig ebenfalls vor allem oberflächennahen Sedimen-
ten widmen wird.
Zwischen den oben genannten Arbeitsgruppen und
Instituten, die sich mit Dynamik und/oder Modellierung
sedimentärer Becken befassen, sollen die Kooperation
und integrierende Programme unter Einbindung der In-
dustrie gestärkt werden. Im Rahmen der in diesem Zu-
sammenhang besonders wichtigen DFG-Forschungsför-
derung über Sonderforschungsbereiche und Schwer-
punktprogramme findet Sedimentbeckenforschung und -
modellierung zunehmend Eingang. So startete im Jahre
2002 im Rahmen des FuE-Programms GEOTECHNO-
LOGIEN das neue DFG-Schwerpunktprogramm „Dyna-
mik sedimentärer Systeme unter wechselnden Span-
nungsregimen am Beispiel des zentraleuropäischen
Beckensystems“ (DFG SPP 1135).
Anwendung finden diese Forschungsarbeiten auf verschiedenen Ebenen:• in der deutschen und internationalen Erdgas- und
Erdölindustrie;
• in Firmen, die Softwareentwicklung betreiben,
speziell für den internationalen Erdöl- und Erdgas-
markt;
• in Firmen und Institutionen, die sich mit
Untertagespeichern und -deponien beschäftigen
(siehe Kapitel „Erkundung, Nutzung und Schutz
des unterirdischen Raumes“);
• in Firmen, die sich mit der Nutzung geother-
mischer Energie beschäftigen;
• in Forschung und Lehre, da die Anwendung und
Weiterentwicklung eines geo-dynamischen Pro-
zessverständnisses und von Simulationsprogram-
men heute fester Bestanteil einer anwendungsori-
entierten, geowissenschaftlichen Ausbildung sein
sollten und zu einem ganzheitlichen physikalisch
und chemisch fundierten Verständnis geologischer
Prozesse führen.
Die Erdöl- und Erdgasindustrie ist mit ihrem „Up-
stream“-Bereich (Exploration und Produktion) welt-
weit eine der umsatzstärksten Branchen überhaupt.
Die Rolle Deutschlands in diesem Marktsegment ist
seit Jahren unbefriedigend, insbesondere im Vergleich
zu den europäischen Nachbarn (zum Beispiel Nieder-
lande, Belgien, Frankreich, Italien, Österreich), die
ebenfalls über keine sehr großen nationalen Reserven
verfügen. Noch weit bedeutender ist die Erdöl- und
Erdgasindustrie in den rohstoffreichen Staaten Norwe-
gen und Großbritannien sowie in den USA, Russland
und China entwickelt. Die Erdöl- und Erdgasindustrie
wird auch in Zukunft weltweit und in Deutschland
eine Schlüsselrolle für die Energieversorgung spielen.
Durch den Einsatz moderner geowissenschaftlicher
Forschung lassen sich die Risiken, die durch die zu-
nehmend schwierigen Explorationsbedingungen auf-
treten, mindern. Insbesondere Forschung auf dem Ge-
biet der Sedimentbecken-Dynamik und -Modellierung
kann diese Entwicklung unterstützen. Umgekehrt pro-
fitiert die Forschung auf dem Gebiet der Sediment-
becken-Dynamik und -Modellierung entscheidend von
der Zusammenarbeit mit der Erdöl- und Erdgasindu-
strie, da nur sie über die notwendigen seismischen Da-
ten und Bohrungsinformationen verfügt, die für eine
Eichung der Modelle notwendig sind. Gute Beispiele
für eine derartige Zusammenarbeit sind das 1997 ab-
geschlossene Programm DEKORP 2000, in dessen
Rahmen die umfangreichen Daten der Ostdeutschen
Erdgasindustrie teilweise genutzt wurden und das
45
2002 angelaufene DFG-Schwerpunktprogramm „Dy-
namik sedimentärer Systeme“ (DFG SPP 1135).
Im Umfeld des Forschungsgebietes Beckenentwick-
lung und Beckenmodellierung gibt es einen deutlich zu-
nehmenden Bedarf an Beratung und Software-Entwick-
lung durch kleine und mittelgroße Unternehmen. Diese
decken heute zum Beispiel einen hohen Anteil des
Know-how-Bedarfs der Erdöl- und Erdgasindustrie ge-
rade im Grenzbereich Forschung/praktische Anwendung
ab. Diese Zusammenhänge gelten auch für die Bereiche
Geothermie, Deponien und Tiefenwasseranalytik.
Vernetzung
Es besteht eine enge Verknüpfung der Sediment-
beckendynamik mit geophysikalischen Programmen, so-
fern sie sich auf Sedimentbecken beziehen. Beispiele
sind das reflexionsseismische DEKORP-Profil von Rü-
gen bis zum Harz (inklusive der begleitenden geowis-
senschaftlichen Forschungsprojekte) und das reflexions-
seismische Profil über die Ostalpen (TRANSALP) mit
den südlichen und nördlichen Vorlandbecken. Weiterhin
stellen die Ergebnisse einiger wichtiger, meist BMBF-
geförderter Projekte wie „Litaseis“, „Untersuchungen
aktiver und passiver Kontinentalränder“, „Geotektoni-
scher Atlas“ und „Tiefengas“ mögliche Anknüpfungs-
punkte an künftige Aktivitäten dar. Im Bereich der For-
schungsprogramme der EU gibt es Verbindungen zu den
Forschungen auf dem Gebiet nichtnuklearer Energie. Zu
den DFG-geförderten Programmen mit engem Bezug
zur quantitativen Sedimentbeckenforschung gehören un-
ter anderem die Schwerpunktprogramme „Integrated
Ocean Drilling Program/Ocean Drilling Program“ (SPP
527) und „Internationales Kontinentales Bohrpro-
gramm“ (ICDP, SPP 1006), sofern sie Sedimentbecken
behandeln sowie das Graduiertenkolleg 273 „Einwir-
kung fluider Phasen auf Locker- und Festgestein“, Hei-
delberg. Es besteht eine enge Beziehung zu mehreren
anderen hier vorgestellten Projekten, insbesondere „To-
mographie der Erdkruste“, „Stoffkreisläufe“, „Gashy-
drate“ und „Kontinentränder“. Darüber hinaus besteht
ein enger Bezug zu dem GEOTECHNOLOGIEN-
Schwerpunkt „Erkundung, Nutzung und Schutz des un-
terirdischen Raumes“, in dessen Rahmen die CO2-Spei-
cherung im Untergrund bearbeitet werden soll. For-
schung zur Entwicklung von Sedimentbecken und die
begleitende Entwicklung numerischer Simulationstechni-
ken erfordern notwendigerweise das Zusammenwirken
verschiedener Geo-Disziplinen, wie Informatik, Mo-
dellierung, Strukturgeologie, Geochemie, Geophysik, Iso-
topengeochemie, Organische Petrographie, Meeresfor-
schung, Sedimentologie, Mineralogie und Paläontologie.
Sie hat dadurch das Potenzial, eine stärkere Integration der
Einzeldisziplinen in ein „Gesamtkonzept Geowissenschaf-
ten“ zu bewirken. Die zu erwartenden Synergieeffekte
werden durch die gemeinsame Nutzung von geochemi-
schen Labors, geophysikalischen Gerätepools, Großgerä-
ten, wie Rechenzentren, oder den möglichen Einsatz von
Forschungsschiffen und Bohranlagen noch verstärkt.
Von besonderer Bedeutung, nicht nur in Bezug auf
den wirtschaftlichen Nutzen eines Forschungspro-
gramms Sedimentbeckenentwicklung, Sedimentbe-
ckendynamik, Sedimentbeckenmodellierung, ist die
Einbindung der Industrie und ihrer jeweiligen Interes-
sen. Im Gegenzug kann erwartet werden, dass Indus-
triefirmen geeignete Daten (Seismik, Bohrungsunterla-
gen) zur Verfügung stellen, die aus Kostengründen in-
nerhalb des hier vorgeschlagenen Rahmens nicht finan-
ziert werden können.
Notwendige Forschungs- und Entwicklung-aufgaben
Es ist das Ziel der vorliegenden Konzeption, die
Prozesse der Beckenentstehung und -entwicklung zu
analysieren, quantitativ zu fassen, mit den existieren-
den Daten zu harmonisieren, die komplexen Vorgänge
vierdimensional rechnergestützt zu simulieren und
parallel dazu die bestehenden Simulationsprogramme
weiterzuentwickeln. Sedimentbecken können nur in
der Kombination geologischer, geophysikalischer und
geochemischer Methoden und Daten erkundet werden.
Ein Modell der Struktur und der Entwicklung eines
Beckens erfordert, diese Daten in konsistente Model-
lierungssysteme zu integrieren. Diese können dann
überprüfbare Prognosen zu den möglichen optimalen
Nutzungsformen erstellen. Hier besteht noch erhebli-
cher Bedarf zur Weiterentwicklung vorhandener Geo-
techniken und zur Entwicklung neuer Technologien.
Solche Schritte waren in der jüngeren Vergangenheit
zum Beispiel die Entwicklung der 3-D-Seismik als ein
wesentlicher Beitrag zur Tomographie der Erdkruste
sowie zur Entwicklung von 2-D- und 3-D-Modellie-
rungssystemen, die zunehmend die Anforderung erfül-
len, geologische und geophysikalische Daten zu inte-
grieren und eine direkte und konsistente Interpretation
zu ermöglichen. Sie stellen damit auch ein wichtiges
Werkzeug zur Erforschung der Dynamik sedimentärer
Becken dar. Gegenwärtig sind diese Verfahren und Sys-
teme wegen zu aufwändiger Prozessierung häufig noch
sehr teuer und damit auf einen kleinen Nutzerkreis be-
schränkt. Im Bereich der Entwicklung neuer geochemi-
scher und geophysikalischer Verfahren sowie der Soft-
ware-Entwicklung besteht insbesondere die Möglich-
keit, angewandte Forschung und Grundlagenforschung
mit dem Ziel eines Technologietransfers zu betreiben
sowie heute noch ungelöste globale und lokale geody-
namische Probleme zu behandeln. Dazu gehören bei-
spielsweise belastbare Prognosen über wirtschaftlich
nutzbare Gesteine und Poreninhalte im tieferen Unter-
grund.
Die einzelnen Forschungs- und Entwicklungsarbei-
ten werden hier in den vier Abschnitten „Beckengeo-
metrie und Becken- und Strukturbildungsprozesse“,
„Temperaturverteilung und ihre zeitliche Entwick-
lung“, „Transport von Flüssigkeiten und Gasen und ge-
46
koppelte chemische Prozesse“ und „Numerische Werk-
zeuge/Visualisierung/Parallelisierung“ behandelt. Nicht
mit erfasst werden hier Fragen der Wechselwirkung
zwischen Sedimentbecken und „unserer Umwelt“ (At-
mosphäre, Hydrosphäre, Böden), die zum Beispiel für
die Frage der Quellen und Senken der Treibhausgase
Methan und Kohlendioxid besonders wichtig sind.
47
Abb. 19: Dreidimensionale Modellierung des Temperaturfeldes im Nordostdeutschen Becken.
Beckengeometrie und Becken- und Struktur-Bil-dungsprozesse
(1) Entwicklung geodynamischer Konzepte zur
Beckenbildung. Eine Reihe von theoretischen
Konzepten der Beckenbildung in intrakratonen
und in Kontinentalrandbereichen stehen sich
gegenüber. Diese Konzepte sind zu prüfen, wei-
terzuentwickeln und ihre jeweiligen thermischen
Auswirkungen abzuschätzen zum grundsätzli-
chen Verstehen der Vorgänge in der Lithosphäre.
(2) Erfassung, Analyse und Modellierung struktur-
bildender Vorgänge innerhalb intrakratoner
Becken unter besonderer Berücksichtigung von
Rift-in-Rift Strukturen, Permanentschwellen,
Teilsenken, Inversions- und Salzstrukturen. Diese
sind in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Mechanismus
und ihrer Steuerung aus der Erdkruste zu analy-
sieren und durch Rückwärtsmodellierung auch in
ihrer Massenbilanz zu erfassen. Dazu sollte auch
die Bedeutung tiefreichender Störungen für den
Fluidtransport quantifiziert werden. Die Ergeb-
nisse dieses Forschungsbereichs sind von direkter
Bedeutung für die KW-Prospektion.
(3) Untersuchung von Vorlandbecken und ihren
Strukturen. Vorlandbecken, wie das süddeut-
sche Molassebecken oder das nordwestdeut-
sche Oberkarbonbecken, weisen eine ganz an-
dere polare Gesamtgeometrie und Internstruk-
turierung auf als intrakratonische Becken. Die
Mechanismen der Strukturbildung sind zu ana-
lysieren und mit Strukturmodellierungspro-
grammen zu quantifizieren.
(4) Untersuchung von Becken an passiven und akti-
ven Kontinenträndern, insbesondere der Krusten-
struktur, der Absenkungsraten und Sedimenta-
tionsvorgänge in den verschiedenen Beckenty-
pen, der Auswirkungen von Mehrfach-Rifting auf
die geothermische Entwicklung, der Bedeutung
von Seitenverschiebungen und regionalen Ab-
scherhorizonten für die Wegsamkeiten der Fluide
und den Wärmetransport. Detailuntersuchungen
des Interngefüges von Akkretionskeilen zur Be-
wertung von KW-Fallen.
In allen genannten Feldern ist man auf die Verwen-
dung verfeinerter geophysikalischer Werkzeuge zur
3-D/4-D-Tomographie des Untergrundes angewiesen.
Temperaturverteilung und ihre zeitliche Ent-wicklungDa die Temperaturverteilung und ihre Entwicklung
über geologische Zeiten wichtige Steuerungsfaktoren
der Sedimentbeckenentwicklung sind, kommt ihrer Be-
handlung besondere Bedeutung zu. Zu den wesentlichen
Aufgaben gehören:
• die systematische Erfassung der heutigen Tempe-
raturverteilung in sedimentären Becken unter be-
sonderer Berücksichtigung von Anomalien, wie
zum Beispiel Störungszonen, Beckenrändern,
Salzdomen, vulkanischen Intrusiva.
• Vergleich und Bewertung der verschiedenen Paläo-
temperatur-Indikationen (Geothermometer) und
Aufbau einer schlagkräftigen Analytik durch ge-
zielte Abstimmung und Kooperation der führenden
Institute. Ein Manko besteht zur Zeit in Deutsch-
land im Bereich der Spaltspuren-Untersuchung
und Flüssigkeitseinschluss-Untersuchung soweit
sie sich auf Sedimentbecken bezieht. Dagegen gibt
es für den Bereich der organischen Reifeparameter
in Jülich und Hannover etablierte Labors.
• Weiterführung der systematischen Untersuchun-
gen der Vitrinit-Reifung bei hohen Temperaturen
und Korrelation der verschiedenen Reifeparameter
(Vitrinitreflexion, Isotopie, Conodontenfarbe) für
den Bereich der Hochdiagenese.
Transport von Flüssigkeiten und Gasen und ge-koppelte chemische Prozesse
(1) Verbesserung der Migrationsmodelle und Einbau
verfeinerter Modelle für die Druckvorhersage
durch a) Erarbeitung von theoretischen Konzepten
zu einer alternativen Formulierung der Umset-
zung der Flussgleichungen, b) getrennte Behand-
lung der Komponenten (Wasser, Methan, Stick-
stoff, Kohlendioxid, höhermolekulare Kohlen-
wasserstoffe) mit den entsprechenden Mischungs-
und Entmischungsfunktionen, c) verfeinerte
Kompaktionskurven, speziell in geringpermea-
blen Schichten, d) Berücksichtigung des Druck-
aufbaus durch Erdgasbildung, e) Berücksichti-
gung von Adsorptionsansätzen bei den Expul-
sionsmodellen.
(2) Verknüpfung der bestehenden Modelle zur chemi-
schen Diagenese (Lösung und Fällung von Mine-
ralphasen) mit Beckensimulationsmodellen, ins-
besondere in Hinblick auf die wichtigen Speicher-
gesteine (Sandsteine). Entwicklung von Modellen
zur Vorhersage von (positiven) Porositätsanoma-
lien in großer Tiefe.
(3) Wechselwirkung zwischen Salzablagerungen und
Porenflüssigkeiten bei verschiedenen chemischen
Potenzialen, Temperaturen und Drucken, beson-
ders in Hinblick auf die abdichtenden Eigenschaf-
ten von Salz. Dieser Punkt ist sowohl für die Erd-
gas/Erdöl-Industrie als auch für die Betreiber von
Untertagedeponien von großer Bedeutung.
(4) Quantifizierung des advektiven/konvektiven Fluid-
transportes zum Beispiel über Störungen und des
gekoppelten Temperatureffektes. Es gibt Anzei-
chen dafür, dass während Phasen starker tekto-
nischer Absenkung und/oder Hebung die Fließge-
schwindigkeiten und die gekoppelten Lösungs-
und Fällungsprozesse intensiviert werden.
(5) Fluidtransfer in niedrigpermeablen Schichten, wie
Tonsteinen, in Hinblick auf ihre abdichtende
Wirkung als „Cap Rocks“ für Kohlenwasser-
48
stofflagerstätten und Deponien.
(6) Quantifizierung des Einflusses anthropogener
Maßnahmen auf den Fluidhaushalt sedimentärer
Becken und gekoppelter Fluid-Festkörper-Wech-
selwirkungen, zum Beispiel im Betrieb eines Po-
renspeichers oder einer geothermalen Anlage.
Numerische Werkzeuge/Visualisierung/Paralle-lisierung(1) Verknüpfung von Strukturmodellierungspro-
grammen, wie sie vor allem in England, Frank-
reich und den USA entwickelt und vermarktet
werden, mit Beckensimulationsprogrammen.
Erstere erlauben eine genauere paläogeometri-
sche Rekonstruktion bei Volumenerhaltung be-
ziehungsweise Massenerhaltung, allerdings ohne
Temperatursimulation und strömungsmechani-
sche Analyse. Das Zusammenführen der beiden
Programmsysteme wird einen entscheidenden
Schritt in Hinblick auf eine ganzheitliche Sedi-
mentbecken-Betrachtung darstellen.
(2) Entwicklung von 3-D-Programmen und ihre Vi-
sualisierung. Da hierbei letztlich vier Dimensionen
betrachtet werden (3 Raumdimensionen und die
Zeit), kommt insbesondere der Darstellung der Si-
mulationsergebnisse eine große Bedeutung zu.
(3) Anwendung von Parallelisierungsalgorithmen
und verteilten Prozessen auf die in der Beckensi-
mulation angewandten Gleichungen, um das pa-
rallele Abwickeln der Simulationsabläufe zu er-
möglichen. Die entsprechende Zeitersparnis um
einen Faktor 10 bis 100 ist ein entscheidender
Schritt zur besseren Nutzung der Programme. Die
Rechenzeiten betragen zur Zeit bereits zum Teil
mehrere Tage und werden bei der kommenden
Generation der 3-D-Programme ohne Parallelver-
arbeitung noch wesentlich länger sein.
(4) Entwicklung neuer Modellierungs-Software und
verstärkte Verknüpfung der Beckensimulations-
Software mit anderen Programmen, wie zum Bei-
spiel zur Interpretation der Seismik.
Regionale AspekteVoraussetzung für die Entwicklung geodynamischer
Konzepte und Modelle ist die Verfügbarkeit einer mög-
lichst großen Menge relevanter, geowissenschaftlicher
Daten. Daher bietet sich zur Bearbeitung das Norddeut-
sche Sedimentbecken als Teil der großen Zentraleu-
ropäischen Becken an, das in der Vergangenheit intensiv
geophysikalisch erkundet und abgebohrt wurde. Dieses
Becken ist sowohl hinsichtlich des Verständnisses der
Erdgas/Erdölbezogenen Fragen, als auch in Bezug auf
die Frage von Untertagedeponien von besonders großer
Bedeutung (Gorleben). Weiterhin wurde es in seinem
Ostteil sehr erfolgreich mit einem großen geophysikali-
schen Programm seismisch vermessen (DEKORP Basin
'96). Dabei ergaben sich überraschende Erkenntnisse
über den tieferen Untergrund, sowohl hinsichtlich der
Kruste/Mantel Grenze, als auch in Bezug auf die Struk-
tur des südlichen Beckenrandes. Das Norddeutsche
Becken lässt sich außerdem in eine Reihe internationaler
Forschungsprogramme integrieren.
Daneben gibt es mit dem Oberrhein- und Nieder-
rheingraben auch zwei junge, thermisch sehr interessan-
te Sedimentbecken. Ein gänzlich anderer Beckentyp ist
das nördliche Alpenvorland-Becken, das im Zuge der
Alpenorogenese entstand und ein hohes Potenzial an
nutzbarem Tiefenwasser aufweist. Ob in seinem südli-
chen, überschobenen Teil auch ein nutzbares Kohlen-
wasserstoff-Potenzial besteht, ist weitgehend unbekannt.
Viele der für die oben skizzierten Forschungs- und Ent-
wicklungsarbeiten notwendigen Daten sind für diese
Becken vorhanden, so dass sie sich als Studienobjekte
besonders anbieten. Allerdings gibt es zweifellos auch
eine Reihe von Fragen, die auch die Bearbeitung ande-
rer, zum Teil außereuropäischer Becken erfordern.
49
51
Gashydrate im Geosystem
Natürliche Gashydrate sind feste, eisähnliche Verbindungen aus Gas (zum Beispiel Met-
han, Kohlendioxid, Schwefelwasserstoff) und Wasser, die sich unter natürlichen Bedin-
gungen am Meeresboden und in den Permafrostgebieten Sibiriens und Alaskas bilden.
Die bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, dass weltweit ungefähr dop-
pelt so viel Kohlenstoff in Gashydraten gebunden ist wie in allen bekannten Lagerstätten fossiler
Brennstoffe, (Kohle, Erdöl und Erdgas) zusammen.
Da Gashydrate nur bei niedrigen Temperaturen und hohem Druck stabil sind, stehen sie in einem
sensiblem Gleichgewicht mit den natürlichen Umgebungsbedingungen. Änderungen der Druck-
und Temperaturbedingungen können sehr schnell zur Destabilisierung von Gashydraten führen.
Das fixierte Methan würde in die Atmosphäre entweichen und den Treibhauseffekt verstärken.
In der Erdgeschichte gibt es dafür verschiedene Beispiele. Seit kurzem wird sogar eines der
spektakulärsten Ereignisse der Erdgeschichte, das klimabedingte Aussterben ganzer Tier- und
Pflanzenstämme an der Grenze Perm/Trias, mit der Freisetzung von Methan aus Gashydraten
in Verbindung gebracht. In Meeresablagerungen können sich Gashydrate bevorzugt im wasser-
gefüllten Porenraum zwischen den Sedimentpartikeln bilden. Hier wirken sie wie ein Zement,
der die nur wenig verfestigten Meeresablagerungen verkittet und so zu der Stabilität der Konti-
nentalhänge beiträgt. Löst sich dieser Zement durch veränderte Druck- und Temperaturbedin-
gungen auf, könnten große Rutschmassen in die Tiefsee gleiten und große Flutwellen (Tsunami)
auslösen, mit verheerenden Folgen für die dicht besiedelten Küstenregionen.
Die Gashydratforschung liefert damit wichtige Beiträge zur Polar- und Meeresforschung sowie
zur Klima- und Umweltforschung. Deutschland war eines der ersten Länder weltweit, das ein ei-
genes Forschungsprogramm zur Untersuchung von Gashydraten initiierte. Die bisher erzielten
Ergebnisse zeigen, dass deutsche Forschergruppen inzwischen auf mehreren Gebieten
der Gashydratforschung eine internationale Spitzenstellung einnehmen. Dies schließt auch die
Entwicklung neuer Technologien, insbesondere auf den Gebieten der Sensorik, Erkundungs-,
Entnahme- und Gewinnungstechniken sowie des Anlagenbaus ein. In den kommenden Jahren
gilt es, das erworbene Know-how weiter zu entwickeln und zielgerichtet einzusetzen.
Gashydrate – ein natürliches Phänomen
Gashydrate, auch Clathrate genannt, sind natür-
lich vorkommende Feststoffe aus Wasser-
und Gasmolekülen ähnlich wie Trockeneis.
Unter bestimmten Druck- und Temperaturbedingungen
bilden die Wassermoleküle ein festes Gitter mit Hohlräu-
men (Käfige), in denen Gasmoleküle, wie Methan und
leichtere Kohlenwasserstoffe oder Kohlendioxid, aber
auch Schwefelwasserstoff, eingeschlossen sein können
(Abb. 21). Das in den Käfigverbindungen fixierte Gas-
volumen kann bei der Freisetzung unter Standardbedin-
gungen an der Erdoberfläche mehr als das 150fache des
Volumens der Gashydrate betragen.
Aufgrund ihrer ungewöhnlichen Stabilitätsbedingun-
gen, das heißt niedrige Temperaturen und erhöhte
Drucke, entziehen sich Gashydrate der direkten Beob-
achtung und Bearbeitung. Gleichwohl kommen Gashy-
drate im marinen Bereich entlang von Kontinenträndern
und in terrestrischen polaren Regionen in Verbindung
mit Permafrost vor. Seit Beginn des Ocean Drilling Pro-
gram (ODP) sind vermehrt Gashydrate aus tieferen Se-
dimentschichten der Kontinentränder geborgen worden;
neuerdings werden häufiger Gashydratvorkommen di-
rekt am Meeresboden beobachtet und beprobt. Das
Orca-Becken im Golf von Mexico, der Hydratrücken
am Cascadia-Kontinentalhang sowie ein weiteres Vor-
kommen vor Vancouver Island, der passive Kontinent-
rand vor der Mündung des Kongo sowie vor Marokko,
die Randmeere Ochotskisches Meer und Schwarzes
Meer sowie im östlichen Mittelmeer wie auch der Ha-
kon Mosby-Seamound am Hang der Barents-See sind
die bisher spektakulärsten Fundpunkte. Es ist allgemein
akzeptiert, dass sich die untere Begrenzungsfläche von
52
Abb. 20: Langzeitobservatorien („Lander“) an Deckdes FS SONNE, die im Rahmen der Projekte LOTUSund OMEGA konstruiert wurden.
Abb. 21: Käfigstruktur von Gashydraten mit Anord-nung der Wasser- und Gasmoleküle. Bei den Gasen istMethan das häufigste Molekül, aber auch andere leich-te Kohlenwasserstoffe, Kohlendioxid und Schwefelwas-serstoff können in der Struktur Platz finden.
Themenschwerpunkt: „Gashydrate im Geosystem“
Förderstatus BMBF:Förderung von 14 Einzel- und Verbundvorhaben.
Fördervolumen: circa 15 Millionen Euro für eine
erste 3-jährige Förderphase (2001-2003).
Förderstatus DFG:Förderung von Einzelvorhaben durch die DFG.
Ziel:Quantifizierung der Bedeutung von Gashydraten
im globalen Kohlenstoffkreislauf, ihrer Klima-
wirksamkeit und ihres Risikopotenzials. Entwick-
lung innovativer Technologien auf dem
Gebiet der Sensorik und des Anlagenbaus.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinäre Beteiligung von Universitäten,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
KMU.
submarinen Gashydratvorkommen in Sedimenten durch
einen deutlichen seismischen Reflektor, BSR („bottom
simulating reflector“), identifizieren lässt. Dies ist in
erster Näherung auf den extremen Dichteunterschied
zurückzuführen und damit auf die Laufzeiten und Pola-
ritäten seismischer Wellen beim Übergang von Sedi-
menten, die einen mit Gashydrat gefüllten Porenraum
aufweisen, zu Sedimenten mit freiem Gas (Methan) im
Porenraum. Im tektonisch ungestörten Sedimentverband
schneidet der BSR häufig die Schichtung und folgt dem
Verlauf des Meeresbodens. Hierbei nimmt mit zuneh-
mender Wassertiefe auch der Abstand zum Meeresboden
zu. Die Ursachen für die Ausprägung dieses seismischen
BSR-Signals sind noch nicht in allen Einzelheiten ge-
klärt. Es gibt marine Gashydratvorkommen sowohl mit als
auch ohne ausgeprägten BSR. Das zur Zeit am besten
untersuchte Gashydratvorkommen am Cascadia-Konti-
nentalhang wurde im ODP-Programm im Rahmen von
zwei Bohrkampagnen intensiv bearbeitet. Für die Pla-
nung wie den Erfolg dieser ODP- Aktivitäten waren um-
fangreiche Untersuchungen im Rahmen mehrerer Fahrt-
abschnitte des deutschen Forschungsschiffs SON-
NE (SO 109, 110, 143 und SO 148) maßgebend.
Dabei wurden nicht nur enorme Methanaustritte
aus der Zone des BSR beobachtet, die sich als Wol-
ke in der Wassersäule über dem Hydratrücken aus-
breiten, sondern auch ein Hydrat- und Karbonat-
pflaster entdeckt, das die beiden Gipfel des
Rückens großflächig überzieht. Der detaillierte Zu-
sammenhang zwischen den Befunden der seismi-
schen Identifizierung der Gashydrate und der Qua-
lität, Quantität und dem Phasenzustand der Gase
und Hydrate ist inzwischen dank intensiver For-
schungsarbeiten, vor allem von deutscher Seite, in
Ansätzen erkennbar.
Das Vorkommen von Gashydraten in Sedimen-
ten wird von einer Vielzahl von Faktoren beein-
flusst. Die Stabilität der Gashydrate ist im We-
sentlichen durch Druck, Temperatur und Zusam-
mensetzung des Gases definiert. Bei einem typi-
schen Temperaturverlauf in der Wassersäule be-
ginnt bei circa 5°C und einem Druck von 50 bar
(entsprechend einer Tiefe von ungefähr 500 m)
das Stabilitätsfeld von reinem Methanhydrat
(Abb. 22). Bei Zumischung von anderen Gasen,
besonders von Schwefelwasserstoff, vergrößert sich der
Stabilitätsbereich. Bei Zunahme des Salzgehaltes ver-
kleinert sich das Stabilitätsfeld beträchtlich. Ein circa
2%-iger Anteil an Schwefelwasserstoff in einem Misch-
hydrat aus Methan und Kohlendioxid bei gleicher Tem-
peratur bewirkt eine Erniedrigung des Drucks um circa
10 bar (entspricht circa 100 m Wassertiefe) beziehungs-
weise bei gleichem Druck eine Erhöhung der Stabilitäts-
temperatur um fast 2°C. Entsprechend bilden sich Gas-
hydrate unterschiedlicher Zusammensetzung in unter-
schiedlichen Druck- und Temperaturbereichen. Weiter-
hin sind für die Stabilitätsbereiche in Sedimenten die
„Chemie der Umgebung“, wie Zusammensetzung und
Verfügbarkeit der Porenwässer, der Sättigungszustand
von Gas und vermutlich katalytische Eigenschaften der
Wirtssedimente, sowie Porengröße und Permeabilität von
großer Bedeutung. Diese Faktoren sind dafür verantwort-
lich, dass die Existenz von Gashydraten oft an bestimm-
te Sedimenttypen gebunden ist. Häufige Wechsellage-
rungen zwischen reinen Hydraten, Sedimentklasten und
feingeschichtetem Weichsediment weisen darauf hin.
Weiße Hydratpartien dringen aderförmig in das Sedi-
ment; hierbei entsteht zusätzliches Porenvolumen, wobei
das Sedimentgefüge nicht als Einheit zementiert wird.
Viele der hier skizzierten Zusammenhänge sind noch
nicht so weit erforscht, dass Quantifizierungen und Pro-
gnosen möglich sind. Weitere Forschungsanstrengungen
sind angesichts der Bedeutung der Gashydrate für die
menschliche Gesellschaft dringend notwendig. Dabei
konzentriert sich die Relevanz einer anwendungsorien-
tierten Gashydratforschung auf drei Aspekte: Gashydra-
te als globale Klima-Modulatoren, Gashydrate als Aus-
löser von Naturkatastrophen sowie Gashydrate als lang-
fristig in Frage kommende Energieressourcen.
53
Abb. 22: Stabilitätsbeziehungen von Mischhydraten inAbhängigkeit von Druck und Temperatur auf die Be-dingungen im Ozean und im Meeresboden projiziert;Schnittpunkte zwischen Temperaturverlauf mit Stabi-litätskurve definieren die Hydrat-Stabilitäts-Zone(HSZ). Untere Begrenzung der HSZ markiert den Bo-den-simulierenden seismischen Reflektor (BSR)/Stabi-litätskurve grün = CH4-Hydrat in 555 mM (= Salzge-halt normales Meerwasser) Cl, gelb = CH4-Hydrate in2380 mM CL-Lösung (= ca. 5 x Meerwasser); blau =2-6 Mol-% H2S im CH4-Hydrat; 555 mM Salzlösung.
Ein Schlüssel zum Verständnis des Weltklimas?
Die in Sedimentbecken vorkommenden Mengen der
klimarelevanten Treibhausgase Methan und Kohlendio-
xid übertreffen die in der Atmosphäre gespeicherten
Mengen erheblich. Schätzungen gehen davon aus, dass
Gashydrate weltweit 10 x 1018 g Kohlenstoff enthalten.
Im Vergleich dazu sind etwa 5 x 1018 g Kohlenstoff in al-
len bisher bekannten Lagerstätten fossiler Brennstoffe
gebunden (Kohle, Erdöl und Erdgas) und 3,5 x 1018 g
Kohlenstoff in der lebenden und toten Biosphäre festge-
legt. Die Masse des in Hydraten gebundenen Methans
übersteigt die des Methans in der Atmosphäre um das
3.000fache. In der gegenwärtigen Klimadiskussion fin-
det Methan im Vergleich zu Kohlendioxid nur wenig Be-
achtung, obwohl sein Treibhauspotenzial das von Koh-
lendioxid um ein Mehrfaches übersteigt.
Der Anteil von Methan in der Atmosphäre war in den
letzten 200.000 Jahren eng an die Temperatur der Erde
gekoppelt, wobei Ursache und Wirkung nicht klar sind.
Es steht zu vermuten, dass eine globale Temperaturer-
höhung eine Destabilisierung großer Gashydratmengen
zur Folge haben könnte. Dieses wiederum würde enorme
Mengen Methan freisetzen, was zu einer Verstärkung
des Treibhauseffektes in der Atmosphäre führen könnte.
Umgekehrt können Langzeitbeobachtungen an Gashy-
dratvorkommen, beispielsweise an Kontinentalhängen
und in kalten Schelfmeeren und die Rekonstruktion von
Methanentgasungsvorgängen zur Aufzeichnung und
zum Verständnis von Klimaänderungen beitragen. Diese
Methode ist unter Umständen repräsentativer als Mes-
sungen in der Atmosphäre oder an Gletschereis, weil re-
gionale und lokale sowie kurzfristige Faktoren ausge-
schaltet werden.
Von besonderer Bedeutung für die Speicherung be-
ziehungsweise Freisetzung von Gashydraten sind die
zirkumarktischen Permafrostlandschaften. Mit einer
Mächtigkeit von bis zu 1.000 m ist zum Beispiel der
größte Teil Sibiriens von Permafrost bedeckt. Die in ihm
enthaltenen Gase und Gashydrate können bei einer kli-
mabedingten Zersetzung des Permafrostes freigesetzt
werden und zu einem zusätzlichen Treibhauseffekt
führen. In den flachen sibirischen Schelfgebieten, in de-
nen der kontinentale Permafrost erst seit der postglazia-
len Transgression überflutet wurde, bildet dieses gefro-
rene Gestein eine Barriere, unter der sich Gase und Gas-
hydrate sammeln. Die Kenntnis von Verbreitung, Struk-
tur und möglichem Abbau des Permafrostes und der mit
ihm verknüpften Gashydrate sowie die Prozesse, die bei
Zustandsänderungen ablaufen, sind für realistische Pro-
gnosen über die zukünftige Klimaentwicklung eine ent-
scheidende Voraussetzung.
Gashydrate als Auslöser von Naturkatastrophen
Die Zersetzung von Gashydraten zum Beispiel durch
Meeresspiegelabsenkungen oder durch Umlenkung war-
mer Meeresströmungen in Gebiete mit bisher kaltem
Bodenwasser kann die mechanische Stabilität von Kon-
tinentalhängen derart verändern, dass großflächig ge-
waltige Sedimentmassen abrutschen. Diese submarinen
Rutschungen lösen Naturkatastrophen in Form von Tsu-
nami-Wellen aus, die verheerende Auswirkungen für
küstennahe Siedlungsräume haben können. Das Ver-
ständnis der bei der Gashydratbildung und -zersetzung
in marinen Sedimenten ablaufenden mechanischen Pro-
zesse ist eine der Voraussetzungen für die Prognose der
Standsicherheit von Tiefseehängen. Entsprechende For-
schungsanstrengungen stehen jedoch erst am Anfang. Es
ist zu erwarten, dass eine Gashydratbildung auf eine Ze-
mentation des Sedimentgefüges hinausläuft und damit
zunächst eine stabilisierende Wirkung submariner Hän-
ge ausübt. Umgekehrt wird eine Zersetzung von Gashy-
draten zur Bildung von Gasbläschen im Sediment
führen, welche die mechanischen Eigenschaften durch
Herabsetzung des Reibungskoeffizienten so stark verän-
dern, dass Rutschungen ausgelöst werden. Die Quantifi-
zierung dieser Zusammenhänge und der sie kontrollie-
renden sediment-physikalischen Parameter sind beim
gegenwärtigen Kenntnisstand nicht möglich.
Ein gut dokumentiertes Beispiel einer solchen subma-
rinen Rutschung, die wahrscheinlich durch Destabilisie-
rung die von Gashydraten ausgelöst wurde, ist die Sto-
regga-Rutschmasse, die auf dem Tiefseeboden des Nord-
atlantiks eine Fläche von der Größe Schottlands bedeckt.
Ihre Herkunft in Gestalt einer gewichtigen Abrissnische
ist auf dem norwegischen Kontinentalsockel bathyme-
trisch genau vermessen. Diese gewaltige Rutschung er-
eignete sich vor circa 10.000 Jahren und die Ablagerun-
gen der dadurch ausgelösten Tsunami-Welle sind in Is-
land, Schottland und sogar noch in den Niederlanden
nachgewiesen.
Gashydrate als potenzielle Energieressource?
Unter den wesentlichen Energieträgern, weltweit und
in Deutschland, hat in den letzten Jahren Erdgas erheb-
lich an Bedeutung gewonnen. Dieser Umstand ist einer-
seits durch die Verfügbarkeit eines effizienten Pipeline-
Systems, andererseits durch die geringeren CO2-Emis-
sionen im Vergleich zu Kohle und Erdöl zu erklären. Un-
ter den Gasressourcen sind diejenigen, die an Gashydra-
te gebunden sind, nach vielen Berechnungen die größ-
ten. In der Literatur findet sich dazu: „The largest accu-
mulations on Earth of natural gas are in the form of gas-
hydrates, found mainly offshore in outer continental
margin sediments and, to a lesser extent, in polar regions
commonly associated with permafrost“. Inwieweit diese
Gashydratvorkommen kommerziell nutzbar sind, ist je-
54
doch unklar. Bisher gab es weltweit nur ein Gashydrat-
vorkommen, und zwar das Messoyakha-Feld in Nord-
westsibirien, aus dem Gase gefördert wurden. In den
letzten Jahren ist das im MacKenzie River Delta von
Nordamerika gelegene Mallik-Feld zu dem weltweit
best untersuchten Testgebiet zur Entwicklung von ent-
sprechender Fördertechnologie geworden. In dieser Erd-
gaslagerstätte liegt das Methan in mehreren Reservoir-
horizonten in hydratisierter Form vor. Ein Erschließen
der Gashydratvorkommen könnte, zumindest theore-
tisch, die Ressourcensituation für fossile Brennstoffe
deutlich verändern. Langfristig, über 50 Jahre und län-
ger, ist mit natürlichen Gashydratvorkommen als Ener-
gieressource weltweit zu rechnen. Ressourcenarme Ge-
sellschaften, wie Japan und Indien, sind bereits heute
bemüht zur Sicherstellung ihrer Energieversorgung, auf
Gashydrate zurückzugreifen und haben bereits umfang-
reiche FuE-Programme begonnen. In Japan sind im off-
shore-Bereich Forschungsbohrungen zur Erkundung ei-
ner potenziellen Förderung von Methan aus Gashydraten
gebohrt worden und entsprechende technologische Ent-
wicklungsarbeiten zur Bereitstellung von Gasförderver-
fahren sind im Gange. Das erklärte Ziel dieser Anstren-
gungen ist es, bis 2010 eine kommerzielle Förderung aus
submarinen Gashydraten zu realisieren.
Forschungsergebnisse aus dem FuE-ProgrammGEOTECHNOLOGIEN
Seit Anfang 2000 werden im Rahmen des FuE-Pro-
gramms GEOTECHNOLOGIEN in der Bundesrepublik
Deutschland 14 Forschungsvorhaben vom BMBF geför-
dert. Sieben dieser Vorhaben sind Verbundprojekte, in
denen Partnerinstitute aus mehreren Forschungsinstitu-
tionen und Universitäten zusammenarbeiten. Die Unter-
suchungen mariner Gashydrate sind auf die Verfügbar-
keit von Forschungsschiffen angewiesen. Hierbei kamen
FS Sonne und FS Meteor mehrfach zum Einsatz. Auch
ferngesteuerte Robotergeräte (ROV’s) und Tauchboote
sind in diesem Zusammenhang eingesetzt worden. Die
Bohrfahrt 204 des internationalen Tiefseebohrpro-
gramms ODP, die unter Leitung eines deutschen Co-
Scientist stand, war speziell der Untersuchung des Gas-
hydratvorkommens auf dem Cascadia-Kontinentalhang
gewidmet. Die Untersuchungen terrestrischer Gashy-
dratvorkommen in arktischen Regionen werden schwer-
punktmäßig in Kanada und in Sibirien in Kooperation
mit dortigen Forschergruppen durchgeführt. Weiterhin
basieren mehrere dieser vom BMBF geförderten For-
schungsvorhaben ganz oder teilweise auf experimentel-
len oder numerischen Simulationen zur Gashydratbil-
dung und -rückbildung sowie zur Ermittlung mikrobiell
gesteuerter Stoffumsätze. Eine wichtige Rolle bei fast al-
len dieser Forschungsvorhaben spielt die Beteiligung der
deutschen Industrie. Dies betrifft vor allem die Entwick-
lung und den Bau von Mess- und Regel-Technologie für
in situ-Messungen und Langzeitbeobachtungen. Im Fol-
genden sind ausgewählte Beispiele bisheriger Ergebnis-
se der im FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN ge-
förderten Gashydratforschung unter thematischen Ge-
sichtspunkten erläutert.
Verbesserte Verteilungsmuster von Gashydra-ten zur Abschätzung globaler Gashydratvor-kommen
Die aus der Literatur bekannten Abschätzungen der
weltweit vorhandenen Gashydratvorräte (ozeanisch und
Permafrost) schwanken in relativ weiten Grenzen: Von 1
bis 46 x 1015 m3 Methan, das in hydratisierter Form vor-
liegt, wobei die meisten Autoren einen Wert von 21 x
1015 m3 favorisieren. Diese Abschätzungen beruhen zu-
meist auf einer weltweiten Extrapolation der Verhältnis-
se an einigen wenigen Lokalitäten, wo die Zusammen-
hänge zwischen dem Auftreten des BSR und der Kon-
zentration an Gashydraten im Sediment relativ gut do-
kumentiert sind, auf alle Tiefseebereiche, die im Stabi-
litätsfeld der Gashydrate liegen. Diese vereinfachte Vor-
gehensweise ist jedoch – wie Abbildung 22 beispielhaft
zeigt – mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Das
Stabilitätsintervall für marine Gashydrate ist in erhebli-
55Abb. 23: Die Forschungsbohrung Mallik in Nordkanadauntersuchte Gashydrate im Kontinentalen Permafrost.
chem Maße von den P-T-Bedingungen, der Salinität des
Porenwassers und dem Vorhandensein weiterer hydrat-
bildender niedrigmolekularer Komponenten, wie Schwe-
felwasserstoff und Kohlendioxid abhängig. Vor allem
aber sind die geophysikalischen Signale für das Auftre-
ten von Gashydraten in marinen Sedimenten, erhöhte
Schallfortpflanzungsgeschwindigkeit hydratzementier-
ter Sedimente und der BSR bisher nur qualitativ aus-
wertbar. Erhebliche Forschritte in der Entwicklung neu-
er geophysikalischer Messtechnologie einerseits wie der
Auswerteverfahren andererseits im Rahmen der Vorha-
ben INGGAS (GEOMAR, Kiel) und DEGAS (BGR,
Hannover) geben Anlass zu der berechtigten Hoffnung,
dass die Quantifizierung von Gashydratvorkommen ma-
riner Sedimente mit höchstauflösenden reflektionsseis-
mischen Verfahren deutlich verbessert werden kann.
Die Erforschung terrestrischer Gashydratvorkom-
men unter Permafrostbedingungen ist durch Untersu-
chungen des GFZ Potsdam im Rahmen eines interna-
tionalen Konsortiums (Geological Survey of Canada,
Japan National Oil Company, Department of Energy,
USA, und United States Geological Survey) mit Feld-
kampagnen im Bereich des Mallik Gasfeldes, NW Ter-
ritories/Kanada, Laboruntersuchungen und Simula-
tionsrechnungen wesentlich vorangekommen. Dabei
wurden aufgrund seismischer Messungen tomographi-
sche Schnitte durch die Gashydratzone im Umfeld ei-
ner Forschungsbohrung gelegt und Messparameter für
die Kalibrierung von Bohrlochmessungen gewonnen.
Erstmalig konnten detaillierte Daten sowohl des natür-
lichen Temperaturfeldes eines Gashydratvorkommens,
als auch des in situ-Verhaltens von Methanhydrat bei
Temperaturerhöhung im Feldmaßstab gewonnen wer-
den. Erste Ergebnisse aus molekularen organisch-geo-
chemischen Untersuchungen deuten auf lebende mikro-
bielle Gemeinschaften in der tiefen Gashydratzone der
Mallik-Forschungsbohrung hin.
Welche Bedeutung hat das Methanhydrat imglobalen Kohlenstoffkreislauf?
Zur Beurteilung dieser Fragestellung insbesondere
der Rolle des Methans als Klimafaktor, sind neben der
Ermittlung der globalen Gashydratvorräte noch erhebli-
che Erkenntnislücken zu grundlegenden biogeochemi-
schen und mikrobiologischen Prozessen zum Methan-
Umsatz und zu relevanten Stoffflüssen zu schließen. Das
im Methan gespeicherte Hydrat entstammt größtenteils
der mikrobiellen Zersetzung organischen Materials (Fer-
mentation), sowie der CO2-Reduktion durch methanoge-
ne Mikroorganismen. Untersuchungen des Max Planck
Instituts für Marine Mikrobiologie und seiner Koopera-
tionspartner (Projekt MUMM) zeigen, dass ähnliche
Archaebakerien aber auch für die effiziente Zersetzung
des aus Hydraten entweichenden Methans unter anaero-
ben Bedingungen verantwortlich sind. Diese leben in en-
ger Vergesellschaftung mit sulfat-reduzierenden Bakteri-
en (Abb. 24). Einige dieser Schlüsselorganismen wurden
kürzlich identifiziert, die einen effizienten Filter im und
auf dem Sediment für entweichendes Methan darstellen.
Ihre Biodiversität, Funktion und Wechselwirkung mit
Gashydraten und der Geosphäre wird derzeit mit moder-
nen molekularen Methoden untersucht. Die anaeroben
Methanoxidierer tragen wesentlich zur Treibhausgasbi-
lanz der Erde bei. Sie oxidieren das Treibhausgas Met-
han zu Kohlendioxid, das gleichzeitig als Kalziumkar-
bonat ausgefällt und permanent am Meeresboden ge-
56
Abb. 24: Riffe aus Mikroorganismen in anoxischemBodenwasser des Schwarzen Meeres.
Oben: Ein Dünnschnitt des Riffs wurde für die Epiflu-oreszenz-Mikroskopie doppelt gefärbt: MethanotropheArchaebakterien in Rot; sulfatreduzierende Bakterienin Grün. Der weiße Balken entspricht einem fünfzig-stel Millimeter.
Unten: Ein Blick aus dem Tauchboot JAGO auf dasvon Gasblasen umströmte Bakterienriff. Einige derRiffstrukturen sind 4 m hoch und 1 m breit. Sie beste-hen fast ausschließlich aus methanfressenden Mikroor-ganismen, sowie aus durch den Methanumsatz ausge-fälltem Kalk.
speichert wird. Die anaerobe Methanoxidation stellt ver-
mutlich
einen der ursprünglichsten Stoffwechsel in den ersten
zwei Milliarden Jahren der Geschichte des Lebens auf
der Erde dar, als es noch kaum Sauerstoff, dafür aber
mehr Methan in Atmosphäre und Hydrosphäre gab.
In dem größten anoxischen Meeresbecken der Erde,
dem Schwarzen Meer, wurden kürzlich im Rahmen der
Projekte GHOSTDABS (Universität Hamburg) und
MUMM ausgedehnte Riffe gefunden, die von dichten
Matten aus methanoxidierenden Archaebakterien und
ihren sulfat-reduzierenden Partnern gebildet werden
(Abb. 24). Diese Entdeckung ist von grundsätzlicher Be-
deutung für unser Verständnis der frühen Perioden der
Erdgeschichte und die Entstehung der Biosphäre. Die
riffbildende, methanotrophe Symbiose aus Archaea und
Bakterien ist der erste lebende Beweis dafür, dass orga-
nische Materie im Geosystem der Erde auch ohne Sauer-
stoff und pflanzliche Biomasse entstehen und fossil ab-
gelagert werden konnte. Noch ist die biologische Funk-
tion der Symbiose sowie die Biochemie der anaeroben
Methanoxidation ein großes Rätsel.
Es ist bekannt, dass Gashydrate in marinen Sedimen-
ten meist in Form von Linsen, Adern und Lagen unter-
schiedlicher Dicke in sehr inhomogener Verteilung vor-
liegen. Um eine Quantifizierung der Gashydrate zu er-
reichen, muss dieses Gefüge bekannt sein und dessen
Ursachen verstanden werden. Im Rahmen des Verbund-
Projekts OMEGA (GEOMAR, Kiel und Partner) gelang
es jetzt weltweit erstmals die dreidimensionale Vertei-
lung und Quantifizierung von Gashydraten in der Sedi-
mentmatrix zu ermitteln und durch Tomographie
(CAT´scan) unter in situ-Bedingungen bildhaft darzu-
stellen (Abb. 25). Überraschend war dabei die beobach-
tete Koexistenz von freiem Methan und Methanhydrat
im natürlichen Sediment innerhalb des Stabilitätsfeldes
der Gashydrate. Voraussetzung für die Durchführung
dieses Experimentes war die erfolgreiche Entwicklung
eines Autoklavmulticorers an der TU Berlin, mit der
Gashydrate unter in situ stabilisierten Druck- und Tem-
peraturbedingungen entnommen und untersucht werden
können. Die gleiche Technologie in leicht adaptierter
Weise wurde ebenfalls erfolgreich bei der Tiefseeboh-
rung im ODP Leg 204 am Hydratrücken vor Oregon
(USA) eingesetzt. Auch hier konnte die Koexistenz von
freiem Gas und Gashydrat innerhalb des Stabilitätsfeldes
nachgewiesen werden. Die Auswirkungen dieses Befun-
des sind ebenso weitreichend wie die Ursachen zu Spe-
kulationen Anlass geben. Das Vorkommen von freiem
Gas innerhalb des Stabilitätsfeldes könnte auf einen
Mangel an Wasser zurückzuführen sein oder auch auf
den Einfluss von Lösungsgenossen auf die Stabilität. Die
Implikationen dieses Befundes betreffen vor allem die
physikalischen Eigenschaften der Hydrate im natürli-
chen Sedimentverband, wie zum Beispiel die Schallaus-
breitung und die Wärmeleitfähigkeit.
Im Rahmen des Verbundprojektes LOTUS (GEO-
MAR, Kiel und Partner) wurden zwei neue Langzeitob-
servatorien entwickelt und auf dem Gashydratrücken am
Cascadia-Kontinentalhang erfolgreich eingesetzt. Sie er-
lauben die Quantifizierung von Gas- und Fluidflüssen
aus Gashydrat-führendem Sediment und die Messung
biogeochemischer Stoff-Umsatzraten auf Zeitskalen, die
ihrer Kinetik entsprechen. Einmalig ist hierbei die
Erhaltung des natürlichen Strömungsfeldes sowie der
Sauerstoffkonzentration innerhalb der Messkammern.
Dies ermöglicht eine exakte Simulation des natürlichen
Zustandes. Anhand von radiogenen Isotopenverteilun-
gen an Gashydratkarbonaten und Chemohermen konnte
gezeigt werden, dass diese Archive das Alter, die Le-
bensdauer und die Umgebungstemperatur der Fluid- und
Gasaustrittsstellen aufzeichnen. Das Alter einiger Che-
mohermkarbonate entspricht den Perioden mit den gla-
zialen Niedrigständen des globalen Meeresspiegels. An-
hand der dort gewonnenen Messdaten ergaben numeri-
sche Modellierungen, dass die bakterielle anaerobe
Methanoxidation mit einer Rate von 870 µmol cm-2 a-1
den wichtigsten biogeochemischen Prozess in diesen Se-
dimenten darstellt. Ein erheblicher Anteil (14 %) des da-
bei produzierten Biokarbonats wird den Fluiden durch
die Ausfällung von authigenem Karbonat entzogen. Die-
se Karbonatausfällungsrate ermöglicht den Aufbau einer
1 Meter mächtigen Karbonatlage über den Zeitraum von
circa 20.000 Jahre.
Mehrere Länder, unter anderem die USA, Japan, VR
China und Indien haben Gashydratforschungsprogram-
me begonnen mit dem Hauptziel, Mittel und Wege zu
finden, Gashydrate als Energieressource wirtschaftlich
zu nutzen. Dieser Aspekt steht im Rahmen des FuE-Pro-
gramms GEOTECHNOLOGIEN nicht im Vordergrund
der Forschung. Das primäre Ziel ist vielmehr die Erfor-
schung der Klimawirksamkeit der Gashydrate, ihr Bei-
trag zur Kohlenstoffbilanz und ihre Rolle als modulie-
render Speicher des Treibhausgases Methan. Die Ermitt-
lung des Gefahrenpotenzials, das durch Gashydratdesta-
57Abb. 25: Verteilung von Gashydraten in Sedimentma-trix. CT-Aufnahme an unveränderten Gashydratproben.
bilisierung ausgelöste submarine Rutschungen und mög-
licherweise verheerende Flutwellen nach sich ziehen, ist
ein weiteres Hauptziel der Forschung innerhalb des Pro-
gramms. Voraussetzung zur Beantwortung dieser Pro-
blemstellungen sind zuverlässige Kenntnisse über die
weltweite Verbreitung von marinen und terrestrischen
Gashydraten, genauere Erkenntnisse über die physicoche-
mischen Bedingungen der Gashydratbildung und -zer-
setzung sowie die Quantifizierung von Stoffflüssen und
Umsatzraten aller relevanten mikrobiologischen und
biogeochemischen Prozesse unter in situ Bedingungen.
Gashydrate als potenzielle Gefahrenquelle
Das Verständnis der ablaufenden mechanischen Pro-
zesse in marinen Sedimenten während der Gashydratbil-
dung und -rückbildung ist eine wesentliche Grundlage
für die Prognose der Standsicherheit von Tiefseehängen
und Meeresböden wie auch von offshore-Anlagen. Im
Rahmen des Verbundprojekts GASSTAB (TU Berlin,
Universität Kiel) wurde einerseits eine bodenmechani-
sche Versuchsanlage entwickelt, mit deren Hilfe es erst-
mals möglich ist, die Spannungsreaktionen als Folge der
Bildung und Zersetzung von Gashydraten in Sedimenten
unter natürlichen marinen Randbedingungen messtech-
nisch zu erfassen. Andererseits wurden anhand dieser
Messdaten die im Sediment ablaufenden Spannungspro-
zesse in ihrer Dynamik numerisch simuliert und festge-
stellt, dass selbst Böschungen mit sehr geringen Nei-
gungswinkeln kollabieren können zum Beispiel aus-
gelöst durch Erdbeben.
Regionale Aspekte
Die Stabilitätsbedingungen für die Bildung von Gas-
hydraten – unter der Voraussetzung eines entsprechen-
den Methanangebots – sind auf den Ozeanböden ( > 500
m Wassertiefe) und in arktischen Regionen in Zusam-
menhang mit Permafrostbedingungen gegeben. Daher
war es sinnvoll, die Gashydratforschung sowohl im ter-
restrischen als auch im marinen Bereich anzusiedeln. Als
wichtigstes kontinentales Untersuchungsgebiet wurde
das Mallik-Gashydratvorkommen im Bereich des
MacKenzie-River Deltas ausgewählt, das im Rahmen
des oben erläuterten Projektes des GFZ Potsdam unter-
sucht wird. Im Rahmen von Ausfahrten des FS SONNE
und FS METEOR wurden marine Gashydratvorkommen
am Cascadia-Kontinentalhang (Projekte OMEGA und
LOTUS, GEOMAR, Kiel sowie MUMM, MPI Bremen),
im Schwarzen Meer (Projekte GHOSTDABS, Univer-
sität Hamburg und Partner sowie OMEGA), im Nordat-
lantik (Haakon Mosbey Schlammvulkan durch AWI
Bremerhaven und Partner), im Golf von Mexico und im
Guaymas Becken vor Niederkalifornien (Projekt
MUMM, MPI Bremen und Partner) sowie am passiven
Kontinentalhang vor der Mündung des Kongo (Projekt
CONGO, Universität Bremen und GEOMAR, Kiel) un-
tersucht. Im letztgenannten Gebiet wurden drei große
Pockmark-Strukturen mit einem breiten Spektrum geo-
physikalischer Methoden (Mehrkanal 3-D-Seismik,
OBS-Tomographie, Deep Tow Seismik, Side Scan Sonar
und Geothermik) vermessen und räumliche Abbildungen
für Fluid- und Gasaufstiegswege erhalten und Gashy-
dratvorkommen nachgewiesen. Einige dieser Aufstiegs-
bahnen scheinen in Zusammenhang zu stehen mit Kom-
pressions- und Dehnungsprozessen in der unmittelbaren
Umgebung von Diapirstrukturen der Salztektonik im
Untergrund.
Struktur und Eigenschaften der Gashydrate
Die physikalischen und thermodynamischen Eigen-
schaften von Gashydraten als Funktion der P-T-x Bedin-
gungen sind bisher nur unzureichend bekannt. Diese
Kenntnisse sind aber in vielfacher Hinsicht von elemen-
tarer Bedeutung zum Beispiel für die korrekte Interpre-
tation seismischer Messungen. Durch Laborexperimente
zur Synthese von Gashydraten und Vermessung ihrer
physikalischen und kristallographischen Eigenschaften
sowie durch numerische Simulationen wurden im Rah-
men des FuE-Programms GEOTECHNOLOGIEN be-
reits bedeutende Fortschritte erzielt .
Untersuchungen an der Universität Göttingen mittels
der Feldelektronen-Mikroskopie konnten weltweit erst-
mals dokumentieren, dass Gashydrate auch auf submi-
kroskopischer Skala eine poröse Struktur aufweisen
(Abb. 26). Eine schwammartige Mikrostruktur von Me-
thanhydrat mit Porendurchmessern von einigen 100 nm
wurde bei synthetischen wie auch bei natürlichen Gashy-
draten gefunden. Dies ist unter anderem von Bedeutung
58
Abb. 26: Aufnahme mit einem Kryo-Feldemissions-Ra-ster-Elektronenmikroskop, das die schwammartige Mi-krostruktur von synthetischem Methanhydrat zeigt.
für den seismischen Nachweis von Gashydraten und be-
einflusst die Kinetik der Zersetzung von Gashydraten im
Falle einer thermodynamischen Destabilisierung. An
der Universität Kiel wurden die kollektiven Gitter-
schwingungen von synthetischem Methanhydrat mit
Hilfe von inelastischer Röntgenstreuung gemessen und
die Schallgeschwindigkeit bestimmt.
Am GFZ Potsdam wurde ein Experimentierstand er-
richtet , mit dem naturidentische Methanhydrate (sI-Typ)
sowohl in reiner massiver Form als auch in sedimentärer
Matrix reproduzierbar hergestellt werden können. Eben-
so gelang die Bestimmung gesteinsphysikalischer Para-
meter wie zum Beispiel elektrische Leitfähigkeit und seis-
mische Geschwindigkeit an hydratführenden Sedimenten.
Außerdem konnte erstmalig experimentell gezeigt wer-
den, dass sich bei der Bildung von Mischhydraten das
Verhältnis der Gase in den Clathraten signifikant von dem
in der freien Gasphase unterscheidet, wobei Gase mit bes-
serer Wasserlöslichkeit bevorzugt in der Hydratphase an-
gereichert werden. Dieses bisher theoretisch geforderte
Verhalten sollte die Kenntnis natürlich vorkommender
Stabilitätsfelder von Gashydraten deutlich erweitern.
Ergebnisse und Ausblick
Aus den bisherigen Ergebnissen fast aller Projekte
wird deutlich, dass die Forschungsinitiative „Gashydra-
te im Geosystem“ langfristig angelegt war. Deshalb ist
es umso bemerkenswerter, wie groß die Anzahl der in-
novativen und herausragenden Ergebnisse ist, die schon
jetzt vorgelegt werden konnten. Das Forschungsthema
bietet einen weiten Raum für neue Erkenntnisse. Der Er-
folg bestätigt die Weitsicht der ursprünglich eingerichte-
ten Initiative im Rahmen des FuE-Programms GEO-
TECHNOLOGIEN.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass durch techno-
logische Neuentwicklungen und Expeditionen in neue
Gebiete die wissenschaftlich bemerkenswertesten Erfol-
ge erzielt wurden. Im Einzelnen handelt es sich dabei
unter anderem, um die Entwicklung von Technologien,
die es erlauben, Gashydrate nicht nur unversehrt vom
Meeresgrund zu bergen, sondern sie auch unter druck-
und temperaturerhaltenden Bedingungen zu studieren.
Auch die mikrobiologischen und bio-geochemischen
Ergebnisse der Untersuchungen zur anaeroben Oxida-
tion von Methan genießen weltweite Anerkennung.
Der Einsatz der Autoklav-Technologie zur Auf-
klärung der Gashydrat-Gefüge und zur Visualisierung
des Hydrat-Sediment-Wasser-Gas Verbandes in natürli-
cher Umgebung wird für mehrere Jahre die Spitzenstel-
lung der Arbeitsgruppen sicher stellen. Hierbei darf nicht
unterschätzt werden, dass durch die internationalen Er-
folge ein Wettlauf entstanden ist, der nur durch adäqua-
te Finanzierung erhalten werden kann. Schon jetzt sind
Anzeichen erkennbar, dass andere Gruppen schnell und
aggressiv den Vorsprung aufholen.
Ähnlich stellt sich die Situation für die mikrobiologi-
schen und bio-geochemischen Ergebnisse dar. Diese
haben international eine beachtliche Aufmerksamkeit
gefunden, so dass auch hier der Vorsprung gehalten
werden muss. Anders als bei der Autoklav-Technologie,
welche gezielt auf die Erforschung von Gashydraten ab-
gestimmt ist, betreffen die mikrobiologischen und bio-
geochemischen Ergebnisse sowohl den Stoffumsatz des
Methans wie auch allgemeine mikrobiologische Unter-
suchungen von AOM-Konsortien.
Zu einer zweiten Gruppe an herausragenden Ergeb-
nissen die auf der Entwicklung neuer Technologien be-
ruhen, gehören die Untersuchungen zum Mikrogefüge
von Gashydraten im Feldelektronenmikroskop. Die Er-
folge bei der Synthetisierung von Methanhydraten in un-
terschiedlichster Umgebung (Verband Sediment-Was-
ser-Gas; multiple Bildungsparameter oder Einfluss des
Hydrats auf die bodenmechanischen Eigenschaften)
gehören hierher, wie auch die jetzt anlaufenden Untersu-
chungen zum Hydratverhalten in Druckkammern.
Ohne Zweifel lassen sich diese Ergebnisse ebenfalls
am internationalen Stand messen und nehmen dort eine
Spitzenstellung ein, allerdings gibt es weltweit zahlrei-
che Arbeitsgruppen, die sich mit diesen Fragen befassen
oder befasst haben. Die Innovation und die grundlagen-
bezogenen Erkenntnisse zu dem Themenbereich dieser
Gruppe entstammen ohne Ausnahme den Fragestel-
lungen wie sie aus den Expeditionen entstanden sind und
der Befassung mit der natürlichen Umwelt formuliert
wurden. Hieraus ergibt sich zwangsläufig, dass Expedi-
tionen und Felduntersuchungen der wissenschaftlichen
Erkenntnis den stärksten Schub verleihen.
Aus den formulierten Forschungszielen für die Zu-
kunft, ist erkennbar, dass sich die auf Gashydrate fokus-
sierten Untersuchungen stark ausweiten. Sie zielen im
Grunde auf die Bedeutung des globalen Methankreis-
laufes ab. Fragen zu Bilanzen und Kreisläufen und deren
Behandlung im globalen Rahmen sind wissenschaftlich
immer von höchster Priorität aber in der Durchführbar-
keit oft schwer zu realisieren. Solange diese als Fern-
ziele nicht aus den Augen verloren werden, sind die
weniger umfassenden und mehr auf das überschaubare
Ziel gerichteten Untersuchungen immer vorzuziehen.
Eine Synthese die sich mit den großen Fragestellungen
beschäftigt kommt zwangsläufig.
Zu einem Ausblick in die Zukunft gehören auch
Überlegungen ob und wie gesellschaftliche Fragen, In-
teressensbereiche und internationale Beziehungen durch
die Forschung berührt werden. Die Gashydratforschung
bietet hier reichlich Anknüpfungspunkte. Folgende Ge-
sichtspunkte sollten zukünftig beachtet werden:
• Gesellschaftsrelevanz
• Klima und Umwelt
• Nutzung
• Autoklav-Technologie; Energieressource
• Gentechnik der AOM-Konsortien
• Wirtschaftlich-Technische Zusammenarbeit (WTZ)
• Gemeinsame Projekte: V.R. China, Japan, Indien,
Indonesien, Kanada und USA.
59
61
Stoffkreisläufe, ihre Charakterisierung und die Quantifizierung von Reservoiren und Stoff-
umsetzungen waren in der Vergangenheit Thema nationaler und internationaler For-
schungsprogramme. Themenschwerpunkte lagen in der Zusammensetzung der Atmosphäre
oder der Waldschadensforschung, wobei zumeist die Quantifizierung des anthropogenen Ein-
trags umweltrelevanter Stoffe in die rezenten Ökosysteme im Vordergrund stand. Eine solche
Beschreibung des Istzustandes griff selten auf die Erkenntnisse der geowissenschaftlichen For-
schung zurück, obwohl viele der heutigen Elementkreisläufe bereits stark durch anthropogene
Beeinflussungen verändert worden sind. Eine konkrete Bilanzierung dieses anthropogenen Bei-
trags kann nur auf der Basis einer Quantifizierung der geogenen Stoffkreisläufe für die erdge-
schichtliche Vergangenheit erfolgen.
Aufbauend auf den Ergebnissen bisheriger Untersuchungen zur anthropogenen Beeinflussung
unserer heutigen Umwelt soll im Forschungsvorhaben „Stoffkreisläufe: Bindeglied zwischen
Geosphäre und Biosphäre“ eine Quantifizierung des anthropogenen Beitrags erfolgen, um so ein
umfassendes Verständnis über die Funktionsweise ausgewählter Stoffkreisläufe zu erreichen. Be-
reits vorliegende Daten sollen integriert werden und mit neu gewonnenen Erkenntnissen in eine
zeitlich und räumlich umfassende Interpretation münden. Die hierzu erforderlichen Informatio-
nen gehen weit über die reinen Gehaltsangaben von Stoffen in den unterschiedlichen Reservoiren
hinaus. Vielmehr geht es um das Verständnis der Stoffumsetzungen und die Quantifizierung von
Stoffflüssen. Nur ein verbessertes Gesamtverständnis der Prozesse erlaubt es, die natürlichen
und anthropogenen Anteile innerhalb der Stoffkreisläufe zu erkennen. Darauf aufbauend können
dann sinnvolle und belastbare Konzepte zur zukünftigen Ressourcennutzung und Entwicklung
der Umweltbedingungen erarbeitet werden.
Stoffkreisläufe: Bindeglied zwischenGeosphäre und Biosphäre
Stoffkreisläufe als Spiegel des Systems Erde
Zentral für unser Verständnis der Entwicklungs-
geschichte unserer Erde, ihrer heutigen Funk-
tionsweise und möglicher Projektionen in die
Zukunft ist eine ganzheitliche Betrachtung des Systems
Erde unter Berücksichtigung aller Kompartimente: der
Atmosphäre, der Hydrosphäre, der Biosphäre, der Pe-
dosphäre und der Lithosphäre. Die Erkenntnis, dass nur
ein multidisziplinärer Ansatz mit dem Ziel der Charakte-
risierung und Quantifizierung zentraler Prozesse inner-
halb des gesamten Systems Erde dieses Verständnis er-
möglicht, ist mittlerweile in der geowissenschaftlichen
Fachwelt verankert. Umfassenden Eingang in das tägli-
che Leben, die Ausbildung künftiger Generationen oder
die Gestaltung politischer Entscheidungen hat sie jedoch
noch nicht gefunden.
Eingebettet in fundamentale geowissenschaftliche
Vorstellungen wie Plattentektonik und Recycling geo-
tektonischer Provinzen und ihrer Gesteine ist das Kon-
zept des geochemischen Kreislaufs. Das Bild des Stoff-
kreislaufs (Abb. 27 A) nimmt eine Schlüsselrolle im Ver-
ständnis des Systems Erde ein und reflektiert zugleich
dessen Dynamik.
Zentrale Elemente des geochemischen Kreislaufs sind
Reservoire und Transferfunktionen zwischen diesen.
Der Begriff des Reservoirs abstrahiert die Tatsache, dass
trotz eines dynamischen Systems alle Stoffe an verschie-
denen Positionen innerhalb ihres Kreislaufs unterschied-
lich lange verweilen. Als Beispiel sei erwähnt, dass Was-
serdampf in der Atmosphäre eine durchschnittli-
che Verweildauer von Tagen hat, während das ge-
samte Wasservolumen der Weltmeere innerhalb
von etwa 1.000 Jahren einmal durchmischt wird.
Damit verknüpft ist auch die Tatsache, dass Reser-
voire ganz unterschiedliche Größen haben können
und sich in allen Kompartimenten der Erde finden.
Der Begriff der Transferfunktion fasst alle physi-
kalischen, chemischen oder biologisch gesteuerten
Prozesse zusammen, die für den Transport eines
Stoffes von einem Reservoir ins nächste verant-
wortlich sind.
Geochemische Kreisläufe sind prinzipiell
elementspezifisch und werden durch Art und Men-
ge von Reservoiren und den dazwischen liegenden
Transferreaktionen charakterisiert. Innerhalb der
Reservoire können die Elemente in verschiedenen
Zustandsformen, in fester, flüssiger oder gasför-
miger Form, aber auch in verschiedenen Bin-
dungsformen als anorganische oder organische
Verbindungen vorliegen. Der Stofftransport zwi-
schen den Reservoiren, die Transferreaktionen,
sind zumeist mit einer Änderung der Bindungsfor-
men verknüpft.
Zwei weitere wichtige Erkenntnisse sind für
das Verständnis von Stoffkreisläufen entschei-
dend. Stoffkreisläufe funktionieren auf unter-
schiedlichen Zeitskalen, wobei vor allem die Art
der Transferfunktionen, aber auch die betrachteten
Reservoire von Bedeutung sind. Hieraus ergibt
sich zugleich eine gewisse Hierarchie der Kreis-
läufe. Im geowissenschaftlichen Kontext wird der
heutige Zustand als kurzzeitiger Stoffkreislauf
dem Langzeitkreislauf entlang der geologischen
Zeitachse gegenüber gestellt. Wichtiger noch ist die Tat-
sache, dass Stoffkreisläufe zwar einerseits elementspezi-
fisch sind, andererseits aber nicht isoliert betrachtet wer-
62
Abb. 27: Stoffkreisläufe, ihre Reservoire und Verknüp-fungen: A) geogen, B) anthropogen.
A
B
Themenschwerpunkt: „Stoffkreisläufe: Bindeglied zwischen Geosphäre und Biosphäre“
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
den können. Geochemische Kreisläufe sind häufig eng
miteinander verknüpft. Dieses ist besonders deutlich bei
biologisch gesteuerten Redoxreaktionen, in denen re-
duktive Prozesse, beispielsweise innerhalb eines Sedi-
mentes, häufig mit der Oxidation organischer Materie
verbunden sind. Gleichzeitig muss klar sein, dass sich
dadurch auch Wechselwirkungen zwischen geochemi-
schen Kreisläufen ergeben, die prinzipiell auf unter-
schiedlichen Zeitskalen operieren. Als Beispiel können
heute ablaufende biologische Redoxreaktionen verstan-
den werden, die auf anorganische oder organische Stof-
fe aus der Aufarbeitung geologischer Gesteinsformatio-
nen zurückgreifen.
Die Komplexität von Stoffkreisläufen innerhalb und
zwischen den diversen Kompartimenten bedingt die ge-
naue qualitative und quantitative Kenntnis der Reser-
voirgrößen und Stoffumsätze während der zahlreichen
möglichen Transferreaktionen. Diese Kenntnisse sind
häufig eher lückenhaft, was die Tiefe möglicher Inter-
pretationen entsprechend herabsetzt. Eingang finden un-
sere Erkenntnisse in modellhafte Vorstellungen über die
Funktionsweise einzelner oder besser verknüpfter Ele-
mentkreisläufe. Für einen Stoffkreislauf ermöglichen
diese die Identifizierung der steuernden Parameter und
erlauben unter Umständen eine Prognose zukünftiger
Entwicklungen.
Nach mehr als 4 Milliarden Jahren der natürlichen
Entwicklung von Stoffkreisläufen auf der Erde wird eine
Reihe von diesen zunehmend durch den Menschen be-
einflusst (Abb. 27 B). Spätestens seit der industriellen
Revolution hat dieser Einfluss eine Dimension ange-
nommen, die in vielen Fällen den natürlichen Änderun-
gen zumindest einzelner Elementkreisläufe vergleichbar
ist oder diese gar übersteigt. Die anthropogene Beein-
flussung von Stoffkreisläufen (Anthroposphäre) ergibt
sich durch die Entnahme und Nutzung natürlicher Roh-
stoffe. Unter Einsatz von Energie (häufig nicht erneuer-
bare natürliche Ressourcen) werden Rohstoffe abgebaut.
Bei der Aufbereitung anfallende feste, flüssige oder gas-
förmige Abfallstoffe werden wieder in die Geosphäre
eingebracht. Nur ein relativ geringer Teil der vom Men-
schen erzeugten Abfallstoffe wird derzeit wiederverwer-
tet. Der Weg von der Durchlaufwirtschaft zur Kreislauf-
wirtschaft ist weit.
Im Rahmen der gängigen Entsorgungspraxis gelan-
gen gasförmige Stoffe in der Regel direkt oder über Fil-
ter in die Atmosphäre, während flüssige Abfälle (zum
Beispiel häusliche und industrielle Abwässer) nach Rei-
nigung zumeist in die Hydrosphäre abgegeben werden.
Auf diese Weise gelangt ein Großteil der in die Atmo-
und Hydrosphäre emittierten Stoffe irgendwann wieder
in die Böden oder wird in den Sedimenten von Fließge-
wässern oder des Meeres abgelagert. Die Entsorgung
fester Abfallstoffe erfolgt je nach ihrem Gefährdungspo-
tenzial mehr oder weniger aufwändig durch Einlagerung
in oberirdischen oder untertägigen Deponien. Hier ver-
bleiben die Stoffe je nach Deponiestandort und Verwah-
rungskonzept unterschiedlich lange, bis hin zu geologi-
schen Zeiträumen. Dabei muss allerdings berücksichtigt
werden, dass auch Deponieraum ein nur in begrenztem
Maße verfügbares und damit kostbares Gut ist. Daher ist
die genaue Kenntnis über das Verhalten von Schadstof-
fen unter diversen Umweltbedingungen wichtig, um ent-
sprechend sinnvolle und nachhaltige Verwahrungskon-
zepte zu entwickeln.
Der überwiegende Anteil anthropogener Schadstoff-
einträge erfolgt diffus in die Geosphäre. Dabei kann es
lokal zu Schadstoffanreicherungen kommen, welche die
natürlichen Gleichgewichte und Stoffflüsse empfindlich
stören. Unerlässlich sind hier qualitative und quantitati-
ve Kenntnisse über natürlichen Abbau oder Rückhalte-
vermögen einzelner Reservoire und Kompartimente.
Neben den lokal begrenzten Beeinflussungen gibt es
aber auch anthropogene Einflüsse im globalen Maßstab.
Im Rahmen des Projektes „Stoffkreisläufe: Bin-
deglied zwischen Geosphäre und Biosphäre“ sollen
schwerpunktmäßig biologisch relevante Stoffkreisläufe
untersucht werden: Kohlenstoff, Schwefel, Stickstoff
und Phosphor. Diese Elemente werden vom Menschen
in signifikanten Mengen in Umlauf gebracht und beein-
flussen teilweise entscheidend die natürlichen Stoff-
kreisläufe. Ziel ist es, die Stoffumsetzungen dieser Ele-
mente in Geosphäre, Pedosphäre, Biosphäre, Hydros-
phäre und Atmosphäre sowie an deren Schnittstellen
(Grenzflächen) qualitativ und quantitativ darzustellen.
Hierbei müssen auch die Wechselwirkungen der Stoff-
kreisläufe untereinander berücksichtigt werden. Durch
das Verständnis der Funktionsweise natürlicher Stoff-
kreisläufe in geologischen Zeiträumen können anschlie-
ßend die Auswirkungen anthropogener Einflüsse auf
diese Stoffkreisläufe quantifiziert und deren Gefähr-
dungspotenziale abgeleitet werden. Die dabei erarbeite-
ten Kenntnisse können zu wissenschaftlich tragfähigen
Entscheidungen über die wirtschaftliche Nutzung von
Ressourcen beziehungsweise den nachhaltigen Schutz
oder gegebenenfalls erforderliche Sanierungsmaßnah-
men gefährdeter Ökosysteme führen.
Stand der Entwicklung und Anwendung
Der generellen Erkenntnis über die Existenz von
Stoffkreisläufen und der qualitativen Charakterisierung
von Reservoiren und Transferreaktionen steht ein nur
unzureichendes Verständnis über die Bedeutung der ein-
zelnen Reservoire und Stoffumsetzungen sowie der
Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Stoff-
kreisläufen gegenüber. Globale Bilanzierungen über Re-
servoirgrößen, durchschnittliche Stoffkonzentrationen
und die Höhe von Stoffumsetzungen der verschiedenen
Prozesse innerhalb der Kreisläufe basieren häufig auf
sehr generalisierenden Einstufungen und allzu lücken-
haften Datenbanken. Ein zentrales Problem liegt häufig
darin, dass gewonnene Erkenntnisse über Teilbereiche
oder einzelne Prozesse in Ermangelung entsprechender
Daten auf den globalen Maßstab übertragen werden.
Dieses betrifft sowohl den natürlichen geogenen Stoff-
kreislauf als auch die Bedeutung des anthropogenen Ein-
trags und die sich daraus ergebenden Folgereaktionen.
Die zunehmende anthropogene Beeinflussung der
63
Ökosysteme führt zu einer verstärkten Veränderung der
Stoffhaushalte der einzelnen Kompartimente: der At-
mosphäre, der Hydrosphäre, der Biosphäre und der Pe-
dosphäre. Eine entsprechende Veränderung der Lithos-
phäre erfolgt mit einer zeitlichen Verzögerung. Nur lang-
sam werden die Veränderungen in der Bedeutung einzel-
ner Reservoire, vor allem aber veränderter Transferreak-
tionen identifiziert und die sich neu einstellenden Stoff-
flüsse quantifiziert. Hier sind es schwerpunktmäßig die
terrestrischen Ökosysteme, die der direkten anthropoge-
nen Beeinflussung ausgesetzt sind. Gleichzeitig herr-
schen hier die größten Defizite im Kenntnisstand, wo-
raus sich der vielleicht dringlichste Forschungsbedarf er-
gibt. Für eine langfristige Neukonzeption unserer Res-
sourcennutzung unter gleichzeitiger Sicherung der Um-
weltbedingungen ist die Charakterisierung und Quantifi-
zierung anthropogener Einträge in die geogenen Stoff-
kreisläufe erforderlich. Dabei darf es nicht primär um
die Identifizierung potenzieller Schadstoffemittenten,
sondern vor allem um eine gemeinsame, konstruktive
Bewältigung zukünftiger Umweltproblematiken gehen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis,
dass nur ein multidisziplinär ausgerichteter Forschungs-
ansatz zum Erfolg führen wird. Nur so kann ein neues
Grundverständnis über den Stoffhaushalt der Erde er-
wachsen, aus welchen tragfähige, mittel- und lang-
fristige Konzepte über die Nutzung natürlicher Res-
sourcen und den Schutz der Umwelt entwickelt wer-
den können.
Programmziele
Die erfolgreiche Erforschung von Stoffkreisläufen,
ihren Reservoirgrößen und Transferreaktionen, sowie
existierender Wechselwirkungen mit anderen Element-
kreisläufen, setzt einen multidisziplinären Ansatz vor-
aus. Dieser schließt die klassischen geowissenschaftli-
chen Disziplinen ein, geht aber in vielen Fragestellungen
auch darüber hinaus. Insbesondere im Hinblick auf die
Notwendigkeit, den Anteil der anthropogenen Beeinflus-
sung zu quantifizieren, ist jedoch der Blick in die geolo-
gische Vergangenheit unerlässlich, da der Istzustand vie-
ler Elementkreisläufe bereits heute in deutlichem Maße
anthropogen verändert ist.
Die Lösung der im Folgenden definierten For-
schungsansätze setzt das gemeinsame Engagement uni-
versitärer und außeruniversitärer Forschungseinrichtun-
gen voraus. Eine Einbindung der Industrie ist für eine
Reihe der nachfolgend genannten Themen möglich und
erwünscht.
Zentrales Anliegen des Forschungskonzeptes „Stoff-
kreisläufe“ ist es, die Elemente in den Mittelpunkt der
künftigen geowissenschaftlichen Forschung zu rücken,
welche die Wechselwirkung zwischen geogen und an-
thropogen sowie zwischen Geo- und Biosphäre verkör-
pern: Kohlenstoff, Schwefel, Stickstoff und Phosphor.
Von manchen auch als „Bioelemente“ bezeichnet, sind
diese Stoffkreisläufe und ihre anthropogene Beeinflus-
sung vor dem Hintergrund der erdgeschichtlichen Ent-
wicklung durch Defizite in der qualitativen und quanti-
tativen Erfassung von Reservoirgrößen und Stoffflüssen
gekennzeichnet. Hieraus ergibt sich der aktuelle For-
schungsbedarf.
Notwendige Forschungs- und Entwicklungs-aufgaben
Ziel des vorliegenden Projektvorschlages ist die Cha-
rakterisierung und Quantifizierung der Stoffkreisläufe
von Kohlenstoff, Schwefel, Stickstoff und Phosphor. Im
Vordergrund des Interesses steht die anthropogene Ver-
änderung der Kreisläufe, die vor allem – aber nicht aus-
schließlich – auf die terrestrischen Ökosysteme (Fluss-
und Seesysteme, Böden, Wälder) direkten Einfluss
nimmt. Für eine Quantifizierung des anthropogenen An-
teils am heutigen (rezenten) Stoffkreislauf ist eine Revi-
sion der existierenden Daten zu den geogenen Kreisläu-
fen erforderlich.
Untersuchungen von Stoffkonzentrationen und -um-
setzungen im klassischen geowissenschaftlichen Sinne
waren in der Vergangenheit weitgehend auf Betrachtun-
gen von Einzelaspekten in der Lithosphäre und Hydro-
sphäre beschränkt. Eine ganzheitliche Erfassung von
Stoffkreisläufen sowohl im marinen als auch im terres-
trischen Bereich erfordert aber in verstärktem Maße die
Bewertung von Interaktionen dieser Systeme mit der At-
mosphäre und der Biosphäre. Dies gilt vor allem dann,
wenn der anthropogene Einfluss auf geogene Stoffum-
setzungen quantifiziert werden soll.
Grundlage für die Erfassung von Stoffverteilungen ist
die Bestimmung von Stoffgehalten und den jeweils vor-
liegenden Bindungsformen in der Luft, in Böden und Se-
dimenten, im Wasser und im Gestein. Für eine Reihe von
Einzelaspekten existieren qualitative und quantitative
Daten in den Geowissenschaften und sachverwandten
Disziplinen. Diese Kenntnisse gilt es zusammenzuführ-
en, zu aktualisieren und zu ergänzen. Ziel ist eine solide
Datenbasis zur Quantifizierung der einzelnen Reservoire
innerhalb der Stoffkreisläufe.
Neben der Quantifizierung der Reservoire ist für eine
Bewertung der anthropogenen Beeinflussung geogener
Stoffkreisläufe die qualitative und quantitative Kenntnis
von Stoffumsetzungen, sowohl Reservoir-intern als auch
durch Transferreaktionen zwischen den Reservoiren von
entscheidender Bedeutung. Erst ein fundiertes Prozess-
verständnis ermöglicht es, Entscheidungen über nach-
haltige Nutzung von Rohstoffen und das daraus er-
wachsende Gefährdungspotenzial für unsere Ökosyste-
me zu formulieren. Dabei ist es entscheidend, relevante
Prozesse auf allen Maßstäben zu betrachten. Die detail-
lierte Erfassung dieser Prozesse und insbesondere der
Reaktivität der einzelnen Verbindungen dieser Elemente
in Abhängigkeit von Raum und Zeit macht parallele For-
schungsansätze vom Labormaßstab bis zum Feldversuch
erforderlich. Zusätzlich ist ein zeitliches Monitoring an
ausgewählten repräsentativen, sowohl natürlichen als
auch anthropogen beeinflussten Standorten unerlässlich.
Mit dem hier dargestellten Forschungsvorhaben sol-
64
len die fehlenden Informationen ergänzt und eine darauf
aufbauende zusammenfassende Interpretation im Sinne
eines Gesamtverständnisses der Stoffkreisläufe auf der
Erde erreicht werden. Zur differenzierten Betrachtung
der häufig gleichzeitig wirksamen, teilweise gegenläufi-
gen Prozesse steht den modernen Geowissenschaften
eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden zur Verfü-
gung. Diese gehen über die reine Quantifizierung von
Stoffinhalten hinaus und fördern das Prozessverständnis.
Nur der gemeinsame Einsatz der Untersuchungsmetho-
den, die von sedimentologischen über chemische und
isotopengeochemische Verfahren bis zur Modellierung
reichen, erlaubt die qualitative und quantitative Erfas-
sung von Stoffumsetzungen. Als Untersuchungsobjekte
bietet sich eine Reihe von Systemen und Archiven an,
die den terrestrischen und den marinen Bereich umfas-
sen und verknüpfen. Gleichzeitig ist der Vergleich der
Erkenntnisse aus rezenten Prozessen mit denen für die
geologische Vergangenheit für eine realistische Quanti-
fizierung der Bedeutung anthropogener Einflüsse auf die
Stoffkreisläufe unerlässlich.
Die im Folgenden definierten Forschungsansätze zu
den Stoffkreisläufen des Kohlenstoffs, des Schwefels,
des Stickstoffs und des Phosphors ergeben sich aus der
gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftspoli-
tischen Diskussion über die Zukunftssicherung von Kli-
ma und Umwelt. Zahlreiche Anknüpfungspunkte exis-
tieren für den Standort Deutschland. Eine Bilanzierung
globaler Stoffkreisläufe mit dem Ziel, Entscheidungshil-
fen für eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen
Ressourcen abzuleiten, müssen jedoch diesem globalen
Ansatz genügen, und damit über den direkten Bezug
zum eigenen Standort hinausgehen.
KohlenstoffSteigende CO
2-Konzentrationen in der Atmosphäre
als Folge der Verbrennung fossiler Energieträger und der
Abholzung der Wälder (ein Anstieg von circa 280 auf
360 ppm im Zuge der industriellen Revolution der ver-
gangenen zwei Jahrhunderte) und die möglichen Folgen
für das globale Klima sind in den vergangenen Jahren in
den Vordergrund der wissenschaftlichen, vor allem aber
der gesellschaftspolitischen Diskussion gerückt. Unsere
subjektive Wahrnehmung über eine Zunahme von Na-
turkatastrophen auf der Erde in der jüngsten Vergangen-
heit hat die Frage nach den möglichen Ursachen für Kli-
maänderungen in der Bevölkerung allgegenwärtig ge-
macht. Die Geowissenschaften können und müssen sich
dieser Frage entsprechend widmen.
Die gegenwärtige Diskussion über die Korrelation
existierender Datensätze zur globalen Temperaturent-
wicklung als ein Spiegel der klimatischen Entwicklung
und solchen zur zeitlichen Entwicklung der atmosphäri-
schen CO2-Konzentration behandelt dabei vordringlich
die Frage nach einem möglichen kausalen Zusammen-
hang. Die Betrachtung von Datensätzen unterschiedli-
cher Reservoire und Zeitskalen (zum Beispiel histori-
sche Aufzeichnungen, Eiskerndaten, die Klimaentwick-
lung der letzten 500 Millionen Jahre) mündet derzeit in
der Frage, ob die atmosphärische CO2-Entwicklung als
Grund oder Folge der Temperaturentwicklung anzuse-
hen ist. Unbestritten ist dabei die Wirkung des CO2 als
sogenanntes Treibhausgas im Hinblick auf eine Verstär-
kung der Erwärmung. Kontrovers diskutiert wird jedoch,
inwieweit der beobachtete CO2-Anstieg gerade in den di-
rekten historischen Aufzeichnungen der vergangenen
zwei Jahrhunderte und die zeitliche Korrelation mit der
industriellen Revolution zwingend den Rückschluss auf
einen kausalen Zusammenhang zulässt.
Im Hinblick auf die geführte Diskussion über kausale
Zusammenhänge zwischen dem CO2-Haushalt der At-
mosphäre, unserer derzeitigen Klimasituation und der
prognostizierten Klimaentwicklung ist jedoch nicht nur
der CO2-Anstieg von großem Interesse, sondern auch die
Tatsache, dass zwischen der Summe der globalen natür-
lichen und anthropogenen CO2-Emissionen und den
möglichen natürlichen Senken für atmosphärisches CO2
ein Ungleichgewicht existiert (Tab. 2).
65
Tab. 2: Bilanz des jährlichen atmosphärischen CO2 -Umsatzes.
Quelle/Senke für atmosphärisches CO2
QuellenEintrag aus der Verbrennung fossiler Energieträger
Eintrag aus Waldrodung und Landnutzung
Natürlicher Eintrag aus Respiration
Summe
SenkenAtmosphärisches CO2-Reservoir
Aufnahme durch Meerwasser
Natürliche Aufnahme durch Photosynthese
Summe
Netto-Ungleichgewicht
(1015 g C/Jahr)
6,3
1,6
110
3,2
1,7
111
(1015 g C/Jahr)
117,9
115,9
2,0
Deutlich wird, dass als prinzipielle Senke das Meer-
wasser den gesteigerten anthropogenen Beitrag zum at-
mosphärischen CO2 nicht kompensieren kann. Als wei-
tere Senke werden derzeit die Waldökosysteme und die
Interaktion der terrestrischen Biosphäre mit dem atmos-
phärischen CO2 favorisiert. Hier gilt es, eine solide Da-
tenbasis für Reservoirgrößen und mögliche Stoffflüsse
zu schaffen. Vor allem die Frage einer möglicherweise
gesteigerten Photosyntheserate durch erhöhte CO 2-Kon-
zentrationen in der Atmosphäre gilt es zu ergründen.
Eine Quantifizierung dieser alternativen CO 2-Senken
(und möglicher weiterer Senken) ist ein vordringliches
Forschungsziel zur Verwirklichung eines gesicherten At-
mosphärenmodells bezüglich des CO2-Haushaltes.
Eine Betrachtung des heutigen atmosphärischen CO2-
Budgets wird vielfach aus der Sicht der anthropogenen
Beeinflussung durchgeführt. Hier gilt es, Datenarchive
für die erdgeschichtliche Vergangenheit heranzuziehen,
um eine klare Abgrenzung der natürlichen, geogenen
von den anthropogenen Stoffflüssen zu erreichen. Für
eine solche differenzierte Betrachtung und letztendliche
Bilanzierung der einzelnen Reservoire und Transferreak-
tionen stehen zum Beispiel isotopengeochemische Un-
tersuchungsmethoden zur Verfügung. Existierende Da-
tensätze für atmosphärisches CO2 sowie die verschiede-
nen anderen terrestrischen und marinen Kohlenstoffre-
servoire gilt es zusammenzuführen und zu ergänzen, um
zu einer differenzierten, global gültigen Bilanzierung zu
gelangen. Eine solche Bilanzierung ist nicht nur von
wissenschaftlichem, sondern vorallem auch von gesell-
schaftspolitischem Interesse.
SchwefelSchwefel gehört zu den am häufigsten vorkommen-
den Elementen in der Erdkruste und spielt eine wichtige
Rolle für Mensch und Umwelt. Natürliche Vorkommen
(teilweise als nutzbare Lagerstätten) finden sich in der
Lithosphäre, der Pedosphäre, der Biosphäre, der Hydro-
sphäre und der Atmosphäre. Anthropogene Schwefelein-
träge führen zur Beeinträchtigung der Umwelt, speziell
der Atmosphäre und der Hydrosphäre.
Schwefel kommt in einer Vielzahl von Oxidationsstu-
fen sowohl in fester, flüssiger als auch gasförmiger Pha-
se vor. Lithogener Schwefel liegt in oxidierter Form vor
allem in sulfathaltigen Salinargesteinen vor. Reduzierter
Schwefel ist überwiegend sulfidisch in magmatischen,
metamorphen und vor allem sedimentären Gesteinen
weit verbreitet. Das größte Reservoir gelösten Schwefels
bildet das Meerwassersulfat. Quellen für atmosphäri-
schen Schwefel sind einerseits vulkanogenes SO 2 und
H2S sowie andererseits DMS (Dimethylsulfid) und Sul-
fat-Aerosole mariner Herkunft. Zudem werden auch
durch die terrestrische Biosphäre eine Reihe anorgani-
scher und organischer gasförmiger Schwefelverbindun-
gen freigesetzt. Atmosphärischer Schwefel wird gegebe-
nenfalls zu Sulfat oxidiert und durch nasse oder trocke-
ne Deposition wieder den terrestrischen und marinen
Ökosystemen zugeführt. In den terrestrischen Ökosyste-
men wird der eingetragene Schwefel entweder festge-
legt, oder über die Fließgewässer ins Meer transportiert.
Der Schwefelkreislauf ist einer der vom Menschen
am stärksten beeinflussten Stoffkreisläufe. Die Bedeu-
tung anthropogener Schwefelemissionen (zum Beispiel
Verbrennung fossiler Energieträger, Nutzung natürlicher
Ressourcen wie Erzabbau) ist mit denen aus natürlichen
Quellen vergleichbar. Im globalen Maßstab existiert da-
bei ein regionales Ungleichgewicht zwischen den eta-
blierten Industrieländern, in welchen Maßnahmen zur
Reduktion anthropogener Schwefelemissionen effektiv
umgesetzt werden und den heranwachsenden Industrie-
nationen, in denen derzeit eine anthropogene Belastung
der Umwelt durch ungehinderte Schwefelemissionen
(noch) existiert.
Über die Verfügbarkeit von Schwefel in den unter-
schiedlichen Bindungsarten für die verschiedenen natür-
lichen Reservoire liegen nur unzureichende Kenntnisse
vor. Gleiches gilt für die system-internen Schwefelum-
setzungen. Beides, Reservoire und Prozesse, sind quali-
tativ recht gut charakterisiert; eine detaillierte Quantifi-
zierung auch im Sinne einer global repräsentativen Mas-
senbilanz steht noch aus. Thematisch fokussierte For-
schungsaktivitäten der letzten Jahre (zum Beispiel Wald-
schadensforschung) bieten für einzelne Reservoire je-
doch entsprechende Datensätze.
Als vordringlich wird neben einer aktuellen Bilanzie-
rung der anthropogenen Schwefeleinträge vor allem die
Charakterisierung und Bilanzierung der natürlich ablau-
fenden Umsetzungsprozesse in Hydrosphäre, Pedosphä-
re und Lithosphäre angesehen, die zu einer parziellen
Kompensation, zumindest aber zu einer Zwischenspei-
cherung der anthropogenen Einträge führen können.
Eine Quantifizierung dieser geogenen „Neutralisierung“ermöglicht damit eine Abschätzung des Gefährdungspo-
tenzials beispielsweise für Grundwässer durch fortlau-
fende anthropogene Beiträge. Zu betrachten sind vor al-
lem wieder die terrestrischen Reservoire, welche durch
die räumlich direkte anthropogene Beeinflussung ent-
sprechenden Änderungen unterworfen sind.
Für die system-internen Schwefelumsetzungen sind
neben der Adsorption beziehungsweise Desorption von
Sulfat und der Immobilisierung beziehungsweise Mi-
neralisation von organischem Schwefel vor allem –
häufig mikrobiell gesteuerte – Redoxprozesse von Be-
deutung. Derartige Redoxreaktionen repräsentieren
wichtige, quantitativ allerdings bisher nur unzurei-
chend bekannte, Steuerungsparameter für den globalen
Schwefelkreislauf.
Dieser ist durch eine Reihe solcher geogener Prozes-
se sehr eng mit anderen Elementkreisläufen (zum Bei-
spiel Kohlenstoff, Sauerstoff) verbunden. Eine detaillier-
te Charakterisierung und Quantifizierung der verschie-
denen natürlichen Schwefelreservoire und der sie ver-
bindenden Umsetzungsprozesse ermöglicht eine inte-
grierte Interpretation dieser Kreisläufe und trägt somit
entscheidend zum Gesamtverständnis des Systems Erde
bei. Erst dadurch ergibt sich die Möglichkeit auch einer
differenzierten Betrachtung der anthropogenen Beein-
flussung des Schwefelkreislaufs.
Der Mensch nutzt vor allem Sulfide (Erzabbau), Sul-
fate (zum Beispiel Gips und Anhydrit) und fossile Ener-
66
gieträger, die ebenfalls Schwefel in unterschiedlichen
Bindungsformen enthalten. Bei der Nutzung entsteht
Schwefeldioxid, welches über die Atmosphäre durch die
atmogene Deposition (Stichwort saurer Regen) der
Bio-, Pedo-, Hydro- und Geosphäre wieder zugeführt
wird. Die Verwendung moderner Abgasreinigungsver-
fahren in den meisten Industrieländern führt heute zu ei-
ner effektiven Reduktion solcher Schwefelemissionen.
Das Problem ist jedoch nicht beseitigt, sondern regional
nur verlagert. Aufstrebende künftige Industrieregionen
sind derzeit noch durch eine weitestgehend ungefilterte
Abgabe von Schwefeldioxid in die Atmosphäre gekenn-
zeichnet.
Bei der Gewinnung sulfidischer Erze, aber auch beim
Abbau von Braun- und Steinkohle, werden aus den Hal-
den und Kippen in erheblichem Umfang Sulfidminerale
in Kontakt mit Luftsauerstoff der Atmosphäre und damit
zur Verwitterung gebracht. Dabei gelangen in großem
Umfang Schwefelsäure, gelöstes Eisen und eine Reihe
anderer Metalle durch Mobilisierungsprozesse im sauren
Milieu in das Sicker- und Grundwasser. Bisherige natio-
nale und internationale Forschungsansätze zu diesem
Thema, das unter dem Stichwort „acid mine drainage“bekannt ist, liefern bereits qualitative und quantitative
Datensätze. Sie gilt es zu ergänzen, um entsprechende
allgemein gültige Sanierungs- oder gar Vermeidungs-
konzepte zu entwickeln. Die Tatsache der allmählichen
regionalen Verlagerung auch dieses Problems in die auf-
strebenden Industrieregionen der Erde darf nicht über
den existierenden Forschungsbedarf hinwegtäuschen.
Die Charakterisierung des anthropogenen Schwefelein-
trags, vor allem aber die Quantifizierung der existenten
natürlichen „Heilungsmöglichkeiten“, steht in direktem
und sehr aktuellem Bezug zur Umwelt und damit letzt-
endlich unserer eigenen Lebensqualität.
Nährstoffe (Stickstoff und Phosphor)Führte die industrielle Revolution unter Ausbeutung
natürlicher metallischer Ressourcen und nicht erneuer-
barer Energien zu einer nachhaltigen Beeinflussung der
67
Abb. 28: Geogener und anthropogener Stoffkreislaufdes Schwefels (stark vereinfacht). Schwefelverbindun-gen werden durch verschiedene geochemische und bio-logische Prozesse gebildet. Geogener und anthropoge-ner Schwefelstoffkreislauf überlagern sich zum Beispielbei der SO2 -Emission. Der geogene Kreislauf schließtsich über die biogene und chemische Sedimentation.
Elementkreisläufe von Kohlenstoff und Schwefel, so
sind es Landnutzung, Ackerbau und Viehwirtschaft, die
für eine anthropogene Veränderung der Stoffkreisläufe
von Stickstoff und Phosphor verantwortlich sind. Im
Kontext natürlich ablaufender Prozesse sind diese Ele-
mente als Nährstoffe zu betrachten, deren Verfügbarkeit
lokal/regional biologisches Wachstum steuert, global
aber auch Einfluss auf die Biodiversität haben kann. Der
Druck einer wachsenden Weltbevölkerung resultiert je-
doch durch den vermehrten Einsatz dieser Nährstoffe zur
Steigerung landwirtschaftlicher Erträge gleichzeitig in
einer Beeinflussung der Atmosphäre, Hydrosphäre und
Pedosphäre von substanziellem Ausmaß.
Der globale Stickstoffkreislauf wird seit Beginn des
massiven Einsatzes Ammonium-haltigen Kunstdüngers
entscheidend durch menschliche Aktivitäten gesteuert.
Auswirkungen zeigen sich sowohl lokal (beispielsweise
in Änderungen der Pflanzenassoziationen auf Grün-
flächen) als auch regional (Zunahme der Ammonium-
konzentration im Niederschlag) und global (Zunahme
der Konzentration des Treibhausgases N2O in der At-
mosphäre).
Im Gegensatz zur hinreichend genauen Kenntnis der
Reservoirgrößen im Stickstoffkreislauf ist das Wissen
um die Größe der einzelnen Stoffflüsse ungenügend. So
variieren die Abschätzungen sowohl für die prä-anthro-
pogen bedeutenden Flüsse (zum Beispiel biologische
N2-Fixierung) als auch für die heutigen Stoffflüsse (zum
Beispiel N2O-Freisetzung) um Größenordnungen. Dies
ist vor allem auf eine bislang unzureichende, meist nicht
repräsentative Datenbasis zurückzuführen.
Problematischer ist ein existierendes Defizit im Pro-
zessverständnis, insbesondere auf verschiedenen Zeit-
skalen. Gerade die Änderungen, die durch die wechseln-
de Landnutzung sowie die Temperaturänderung in den
letzten 100 Jahren hervorgerufen worden sind, entziehen
sich bislang der Prozessbeschreibung. Dabei fällt beson-
ders die Betrachtung von Stickstoff-Teilreservoiren mit
verschiedener Verweilzeit – zum Beispiel Pflanzen und
Böden –und die dadurch variablen Stoffflüsse auch auf
überregionaler Ebene (zum Beispiel Nährstoffexport)
ins Gewicht.
Beispielsweise zeigen Daten europäischer Flüsse für
die Neunziger Jahre unveränderte Konzentrationen für
Nitrat und den Gesamtgehalt an oxidiertem Stickstoff,
während Ammoniumgehalte innerhalb des Beobach-
tungszeitraumes sinken. Dennoch liegen diese Gehalte
noch deutlich oberhalb natürlicher Hintergrundwerte.
Auch existiert ein klarer Gradient zwischen Flusssyste-
men niedriger und hoher Breiten. Gleichzeitig zeigen Bi-
lanzierungen von Ein- und Austrägen in Flusssystemen,
dass teilweise weniger als 30 % des anthropogen einge-
tragenen Stickstoffs mit den Flüssen ins Meer exportiert
wird, während die verbleibenden 70 % umgesetzt oder in
Böden zwischengespeichert werden. Nur eine genaue
Kenntnis der Nährstoffexporte aus terrestrischen Reser-
voiren über die Flüsse ins Meer ermöglicht jedoch eine
verlässliche Prognose über mögliche Wechselwirkungen
mit den randmarinen Ökosystemen. Qualitative Kennt-
nisse dieser Art existieren nur für ausgewählte Wasser-
einzugsgebiete. Schließlich scheinen Unterschiede in
der prinzipiellen Bindungsform gelösten Stickstoffs in
den Flusssystemen zu existieren, vorwiegend als Nitrat
auf der anthropogen beeinflussten Nordhemisphäre oder
als gelöste organische Stickstoffkomponenten in den
natürlichen Waldökosystemen gemäßigter südlicher
Breiten. Spiegelt diese Beobachtung zwingend den an-
thropogenen Einfluss wider?
Problematisch ist bislang auch die Abschätzung der
Stoffflüsse für den von Menschen unbeeinflussten Stick-
stoffkreislauf. Dies beruht zum einen auf einer ungenü-
genden Kenntnis der Organismen, welche die prinzipiel-
len Transferreaktionen innerhalb des Stickstoffkreislaufs
steuern. So wurden die Abschätzungen der biologischen
N2-Fixierung im Ozean nach Neubeschreibung plankto-
nischer Kleinstlebewesen in den letzten zehn Jahren um
50-100 % erhöht. Zum anderen ist unklar, welche Band-
breite natürlicher Variabilität auf längeren Zeitskalen
(vor allem glazial bis heute) entwickelt war und welche
Bedeutung einzelne Prozesse für diese Änderung hatten.
Neben einem offensichtlichen Forschungsbedarf im
Hinblick auf unser Verständnis und die Quantifizierung
von Transferreaktionen im Stickstoffkreislauf sind vor
allem die Wechselwirkungen mit dem Kohlenstoff-, dem
Phosphor-, und dem Schwefel-Kreislauf bislang meist
nur qualitativ gefasst. So wird die Emission von NH4
+
in
mittleren Breiten nach atmosphärischem Transport in die
höheren Breiten als ein wesentlicher Steuerungsfaktor
der erhöhten CO2- Aufnahme in nordeurasischen Wald-
ökosystemen durch diese Art der N-Düngung bewertet.
Das Zusammenspiel mit dem Phosporkreislauf zeigt sich
deutlich in der Steuerung der Primärproduzenten-Asso-
ziation in randmarinen Ökosystemen in Abhängigkeit
vom verfügbaren N:P-Angebot (beispielsweise in der
Ostsee). Ein Zusammenhang zwischen Stickstoff- und
Schwefelkreislauf stellt die Bildung von NH 4SO in der
Atmosphäre dar, was sowohl die chemische Zusammen-
setzung des Niederschlags als auch die Wolkenbildung
maßgeblich mit steuert.
Auch für den Phosphorkreislauf begann das massive
Eingreifen des Menschen mit der Verwendung von Phos-
phat-Kunstdünger. Die Auswirkungen dieser verstärkten
Ausbringung pflanzenverfügbaren Phosphats auf Öko-
systeme an Land ist in den letzten 25 Jahren gründlich
untersucht worden. Gerade die teils katastrophalen Fol-
gen für Seeökosysteme hatten eine systematische Erfor-
schung der Prozesse zu Folge. Nachfolgend wurden in
den letzten 15 Jahren zumindest in den meisten Ländern
Nordeuropas erfolgreich Konzepte verwirklicht, die dif-
fusen Phosphoreinträge (aus der Landwirtschaft aber
auch den kommunalen Abwässern) in Ökosysteme zu
vermindern.
Aber auch für Nordeuropa besteht offenkundig noch
erhöhter Forschungsbedarf. So wird das in den letzten 50
Jahren in den randmarinen Sedimenten abgelagerte
Phosphat durch Änderungen der Produktivität und damit
der Redoxverhältnisse an der Sediment/Wasser-Grenz-
fläche in einigen Regionen wieder freigesetzt. Die ge-
nauen Mechanismen der Bindung und Freisetzung, auch
die dadurch hervorgerufenen Stoffflüsse, müssen für
68
eine Vielzahl von Regionen noch bestimmt werden, um
sinnvolle Konzepte zum Ökosystemmanagement ent-
wickeln zu können. Gerade hier zeigt sich die enge Ver-
knüpfung von Phosphor- und Stickstoffkreislauf. Über
die variablen Verhältnisse der Nährstoffe N:P wird ent-
scheidend mit bestimmt, welche Änderungen sich in der
Nahrungskette ergeben und ob sich möglicherweise Or-
ganismen in Randmeeren weiter ausbreiten, die toxische
Verbindungen produzieren und als schädliches Algen-
massenauftreten auch wirtschaftlich bedeutende Schä-
den verursachen.
Für beide Stoffkreisläufe – Stickstoff und Phosphor –
ist der Einbezug von GIS-gestützten Datenbanken für
eine repräsentative und quantitative Erfassung der Stoff-
flüsse anzustreben. Daneben ist eine genauere Auf-
klärung von Prozessen – sowohl von Seiten der beteilig-
ten Organismen als auch von der oft in Böden/Sedimen-
ten ablaufenden Redoxprozesse – anzustreben. Notwen-
dig für die Quantifizierung von Stoffflüssen ist der dif-
ferenzierte Einsatz unterschiedlichster Methoden (Mi-
krobiologie, Geochemie, Isotopenanalytik). Unter Ein-
beziehung eines soliden Prozessverständnisses ermögli-
chen modellgestützte Bilanzierungen schließlich die
Entwicklung tragfähiger Konzepte zum Ökosystemma-
nagement auf globalem Maßstab. 69
Alle Prozesse, welche die oberflächennahen Bereiche der festen Erde, die Hydrosphäreund die Atmosphäre betreffen, laufen unter Beteiligung der Biosphäre ab. Auch derMensch lebt von und mit der Biosphäre. Daher ist die Kenntnis der Prozesse und der
Dynamik der Biosphäre essenziell, wenn es darum geht, das System Erde zu verstehen undRessourcen der Geo-, Hydro- und Atmosphäre zu nutzen.
Das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN begreift die Erde als „Messinstrument“ für die mitder Umwelt verbundenen Prozesse, in deren natürliche Veränderlichkeit der Mensch eingreift.Für die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen ist die qualitative und quantitative Unterschei-dung von natürlichen und anthropogen bedingten Veränderungen von grundsätzlicher Bedeu-tung. Umwelt- und Klimaänderungen zeigen kurzfristige Schwankungen und langfristige Trends.Deren Ablauf, Schnelligkeit und Folgen sind in erdgeschichtlichen Dokumenten überliefert. Invielen Fällen kann der Ablauf von Prozessen in der geologischen Vergangenheit in „Echtzeit“gemessen werden. Die erdgeschichtliche Entwicklung der Biosphäre gibt uns ein Maß für Eigen-schaften, Raten und Schwankungsbreiten der Prozesse, die die Evolution von kleinsten Mikro-ben bis zum Menschen kontrollieren, und erlaubt es, die Einflüsse der Biosphäre auf die globaleUmwelt zu bestimmen.
Biologische und paläobiologische Daten erweitern die Aussagen über Struktur und Dynamik desgekoppelten Systems „Erde – Leben“ in der Vergangenheit und heute. Vergleiche der heutigenSituation mit der erdgeschichtlichen Entwicklung liefern den notwendigen Rahmen, um die Sen-sibilität des Systems Erde-Leben gegenüber Änderungen der Atmosphäre, Geosphäre und Bios-phäre zu verstehen und um mögliche Konsequenzen von Änderungen in den Ökosystemen fürdie Menschheit zu identifizieren. Die Vergleiche ermöglichen eine Beurteilung der in der geolo-gischen Zeit schwankenden Wechselwirkungen zwischen Bio-, Geo- und Atmosphäre. Hierbeimuss beachtet werden, dass sich die heutige Erde in einem speziellen Zustand befindet, derdurch niedrigen Meeresspiegel, Vereisung der beiden Polkappen und durch eine starke thermo-haline Zirkulation der Ozeane charakterisiert ist.
71
Das gekoppelte System Erde – Leben: Dynamik der Biosphäre und Steuerung der
globalen Umwelt
72
Das gekoppelte System Erde – Leben: Dynamik der Biosphäre und Steuerung der globalen Umwelt
Die Geschichte der Biosphäre und des Lebens
ist durch Diskontinuitäten gekennzeichnet,
die sich in auffallenden Änderungen in der
Vielfalt der Organismen (Biodiversität) dokumentieren.
Diese Änderungen waren in der Erdgeschichte mit evo-
lutiven Innovationen, der Besiedlung neuer Lebensräu-
me und „Massensterben“ verbunden. Wir erleben heute
eine Biodiversitätskrise, die nach Ansicht mancher Wis-
senschaftler in Intensität und Schnelligkeit nahe an
große Massensterben der geologischen Vergangenheit
herankommt oder diese möglicherweise bereits übertrifft
(Regenwälder und Riffe als die augenfälligsten Ökosy-
steme stellvertretend für andere Lebensräume). Viele
Massensterben der geologischen Vergangenheit werden
als Ausdruck der Unmöglichkeit einer Anpassung an
dramatische Umweltveränderungen gedeutet, die durch
erdgebundene oder/und extraterrestrische Ursachen be-
dingt waren (Klimaänderungen, Vulkanismus, Revolu-
tionen im Zirkulationssystem der Weltmeere, Meteori-
teneinschläge).
BiodiversitätBiodiversität lässt sich auf taxonomischer, molekular-
biologischer, ökologischer und auch gruppendynami-
scher Ebene erfassen. Voraussetzung für eine moderne
Biodiversitätsforschung sind eine Neubewertung der pa-
läontologischen Datenbasis, die Einbindung dieser Da-
tenbasis in ein Konzept, in welchem die Zusammenhän-
ge zwischen Evolution und Umwelt in klarer Weise be-
rücksichtigt werden und gezielte Untersuchungen über
den prognostischen Aussagewert von Biodiversitätsän-
derungen. Biodiversitätsforschung muss das zukünftige
Ziel sowohl von bestehenden, als auch von zu schaffen-
den Forschungsinstituten sein, deren Aufgabe die Unter-
suchung der Entwicklung der Biosphäre ist.
Obwohl die heutige und auch die fossile Artenvielfalt
nur teilweise in auswertbarer Weise untersucht ist, lie-
fern Biodiversitätsdaten wichtige Hinweise auf die
Wechselbeziehungen zwischen Bio- und Geosphäre. Die
heutige Diversität zeigt deutliche und zum Teil dramati-
sche Veränderungen. Pro Jahr verschwinden mehr als
1.000 Arten. Die Zahl scheint exponenziell zu steigen.
Eine differenzierte Beurteilung dieser von anthropo-
genen Einflüssen überlagerten Erscheinung ist nur in
Kenntnis der historischen Entwicklung der Diversitäts-
muster möglich. Wie Beispiele aus der Erdgeschichte
zeigen, werden Artensterben und Artenentstehung durch
ökologische Stresssituationen begünstigt. Größere quan-
titative Einschnitte in die Paläodiversität liefern Hinwei-
se auf verstärkte Umweltkontrollen. Für die heutige Bio-
diversitätskrise werden geogene und anthropogene Fak-
toren verantwortlich gemacht, die in enger Wechselbe-
ziehung mit Klimaveränderungen stehen. Die Entwick-
lung von Biodiversität und Ökosystemen in der geologi-
schen Zeit ermöglicht die kritische Beurteilung von
natürlichen, nicht-anthropogen beeinflussten Stoffflüs-
sen in den heutigen Ozeanen und an Land. Für die Beur-
teilung aktueller Biodiversitätsveränderungen sind ins-
besondere diejenigen regionalen oder globalen Verände-
rungen in der Formenvielfalt der terrestrischen und ma-
rinen Organismen von Interesse, die durch Wechsel in
der ozeanischen Zirkulation und damit verbundenen
Klimaänderungen kontrolliert wurden. Geschwindigkeit
und Auswirkungen derartiger Wechsel lassen sich auf-
grund von Paläo-Daten rekonstruieren. Für die im FuE-
Programm GEOTECHNOLOGIEN angestrebten Fort-
schritte in der Kenntnis der das System Erde steuernden
Prozesse sind auf Paläo-Daten aufgebaute Modellvor-
stellungen von grundsätzlicher Bedeutung.
Eine kritische Diskussion von Paläodiversitätsdaten
trägt wesentlich zur Beantwortung der Frage nach der
Funktionalität der Formenvielfalt und damit nach ihrer
Bedeutung für die Stabilität von Ökosystemen bei. Lo-
kale, regionale und globale Änderungen der Paläobiodi-
versität im marinen und terrestrischen Bereich gestatten
Aussagen über das Regenerationspotenzial der Organis-
menvielfalt nach natürlichen oder anthropogenen Ein-
griffen. Beispiele liefern hier Riffe und Regenwälder
oder Wattgebiete. Neuere Daten deuten etwa darauf hin,
dass die recoverytime nach größeren Artensterben 3 bis
5 Millionen Jahre umfasst und zwar weitgehend unab-
hängig vom Ökosystemtyp.
Geobiologische Steuerung des Systems ErdeDas System Erde wird wechselseitig durch die
Dynamik biologischer und physikalisch-chemischer
Prozesse kontrolliert. Diese gekoppelte Kontrolle be-
gann mit der Entstehung komplexer organischer Mo-
leküle vor etwa 4 Milliarden Jahren und prägte nachhal-
tig die Entwicklung der Geo-Biosphäre. Seit dieser Zeit
haben Stoffwechselprozesse der Organismen das System
Erde gesteuert. Die jeweils vorhandenen Lebensräume
werden durch diese physiologischen Prozesse andauernd
verändert. Dies bedingt die Evolution und steuert da-
durch die Dynamik der Biosphäre und die Entwicklung
von Ökosystemen.
Themenschwerpunkt: „Das gekoppelte System Erde – Leben: Dynamik der Biosphäre und Steuerung derglobalen Umwelt“.
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
74
Beispiele sind die Entwicklung einer frühen methan-
reichen Atmosphäre durch anaerobe Stoffwechselpro-
zesse, die Sauerstoffentwicklung durch beginnende Pho-
tosynthese, Organo-/Biomineralisation, Veränderung der
Ozeanwasserchemie (Erniedrigung der Alkalinität, Kal-
ziumentgiftung), und die Bildung von Karbonatgestei-
nen (Riff-Evolution). Möglicherweise induziert der bio-
gen verursachte Übergang von einer methanreichen zu
einer sauerstoffreichen Atmosphäre im Präkambrium die
Bildung einer mehr oder weniger vollständig vereisten
„snowball earth“. Die Entwicklung der Landpflanzen
verändert den Kohlenstoffkreislauf, kontrolliert die kon-
tinentale Verwitterung, den lang- und kurzzeitigen Ab-
lauf des terrestrischen Sedimentationsgeschehens und
hat Auswirkungen auf die Stärke des terrigenen Eintrags
in das Meer. Auch das Klimasystem wird durch Orga-
nismen vielfältig beeinflusst. Physiologische Prozesse
steuern die Kreisläufe der wichtigsten Treibhausgase
(H2O, CO2, CH4), die Vegetation beeinflusst den Strah-
lungs- und Impulsaustausch mit der Atmosphäre.
Schließlich führen Degradationsprodukte der Organis-
men zu großen organischen Lagerstätten (Kohlenwas-
serstoffe, Kohle, Gashydrate).
Viele Organismen bilden mineralische Hartteile, die
geochemische Proxy-Daten für bestimmte und in der
Zeit wechselnde Umweltbedingungen darstellen. Als
Biomarker beziehungsweise Chemofossilien erhaltene
organische Moleküle gestatten Aussagen über die Ent-
wicklung von Stoffkreisläufen, evolutiven Veränderun-
gen und Diversitätsmustern. Die Fähigkeit der Biomine-
ralisation führt zur Bildung von Skelettkonstruktionen,
welche das Wechselspiel von Umwelt, Anpassung und
Funktion/Bauplan widerspiegeln.
Evolutive Prozesse und Umweltänderungen laufen in
verschiedenen Zeit- und Raum-Skalen ab, die alle Berei-
che vom Giga- bis Nano-Bereich umfassen. Diese Ska-
len beinhalten orbitale und solare Kontrollen (zum Bei-
spiel tidal bundles, Sonnenflecken, Milankovitch-Zy-
klen, diurnale und saisonale Zyklen) und geodynamisch
gesteuerte Prozesse (Wilson-Zyklus, Sedimentbecken-
Entwicklung, Icehouse/Greenhouse-Wechsel, Sandberg-
Zyklus, lang- und kurzfristige Änderungen ozeanischer
Parameter [Meeresspiegel, Zirkulationsmuster, zum Bei-
spiel El Nino]). Derzeit werden die für die Messung der
verschiedenen Skalen einsetzbaren Methoden (zum Bei-
spiel Sclero- und Dendrochronologie, hochauflösende
Biostratigraphie, quantitative Paläoökologie) verfeinert
und ausgebaut.
Umgekehrt verändert die Biosphäre in vielfältiger
Weise physikalische und chemische Faktoren der Um-
welt. Beispiele für biologische Rückkopplungen auf dem
Festland sind der Einfluss der Vegetation auf den Sauer-
stoff- und Kohlenstoffkreislauf, auf die Bodenbildung
und auf die Art und Intensität der Erosion. Wechsel in
der Biomineralisation planktischer und benthischer Or-
ganismen und in deren photosynthetisierender Fähigkeit
haben den CO2/HCO3/CO3-Haushalt der Meere und den
CO2-Gehalt der Atmosphäre maßgeblich beeinflusst.
Produktivität und Verteilung mariner Organismen, ins-
besondere des Plankton, steuern nachhaltig die Sedi-
mentbildung in ozeanischen Becken. Von grundsätzli-
cher Bedeutung für die Lagerstättenprospektion ist die in
der geologischen Zeit wechselnde Akkumulation organi-
scher Substanz und die damit verbundene unterschiedli-
che Möglichkeit der Bildung von
Kohlenwasserstoff–Muttergesteinen.
Einschnitte in der Paläobiodiversität, Strukturverän-
derungen von fossil überlieferten Ökoystemen in der
Erdgeschichte (Beispiele: Riffe, Plankton-Benthos-Ver-
gesellschaftung, Waldökosysteme) sowie evolutive In-
novationen dokumentieren die Auswirkungen von Ände-
rungen der Paläoumwelt auf den Aufbau der Biosphäre.
Biogene Sedimente (die heute als Coccolithen- und For-
aminiferenschlämme der Tiefsee etwa 40 % der Lithos-
phärenoberfläche bedecken) sind Ausdruck der maßgeb-
lichen Steuerung des Systems Erde durch die Evolution
der Biosphäre. Dem Meeresboden kommt dabei eine
entscheidende Rolle zu, da von ihm aus zahlreiche Kon-
trollen der Umwelt ausgehen. Die in den Paläo-Daten
überlieferte Veränderung des ozeanischen Planktons ge-
stattet Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen
Klima, ozeanischen Zirkulationsmustern und Ökosys-
tem-Veränderungen im Flach- und Tiefmeer.
Die oben skizzierten Beziehungen zwischen Erde und
Leben sind in mehreren, im FuE-Programm GEOTECH-
NOLOGIEN formulierten Schlüsselthemen von Bedeu-
tung. Die Erklärung der Entstehung und Geschichte von
Sedimentbecken zum Beispiel erfordert (insbesondere
bei Karbonatgesteinen), klare Vorstellungen über die
biologische Kontrolle der Sedimentation. Da biologisch
bedingte Stoffkreisläufe Langzeitprozesse beinhalten, ist
die Erweiterung der auf die Gegenwart und die jüngste
Vergangenheit ausgerichteten Untersuchungen auf die
erdgeschichtliche Vergangenheit dringend erforderlich.
Diese Erweiterung muss über die relativ kurze Zeit des
Holozäns und Pleistozäns hinausgehen, um die in der
Geschichte des Systems Erde – Leben auftretende Band-
breite der Interaktionen zwischen Bio- und Geosphäre
zu verstehen. Dies hat praktische Auswirkungen für die
Ressourcen-Exploration und die Nutzung von Rohstof-
fen (zum Beispiel Kohlenwasserstoffen, sedimentären
Erzen, Salzen, Steinen und Erden). Von besonderer Be-
deutung ist der „Blick zurück“ in die Erdgeschichte bei
Fragen über Art, Ausmaß und Geschwindigkeit von
natürlichen Klimavariationen. Hier müssen die Ergeb-
nisse der zur Abschätzung der zukünftigen Klima-Ent-
wicklung durchgeführten Modellierungen mit den „rea-
len Verhältnissen“ verglichen werden, wie sie aus
Paläo-Proxy-Daten abzuleiten sind (Validierung der
Klimamodelle).
„Geobiologie“ ist eine neben der Geochemie und der
Geophysik stehende und mit diesen verflochtene
Kerndisziplin der Erdwissenschaften. Das Konzept der
Geobiologie geht von den wechselseitigen Beziehungen
zwischen Organismen und Umwelt im Kontext der
Erdgeschichte aus. Geobiologie ist kein Synonym von
Paläontologie und geht in Zielsetzung, Methodik und
Bandbreite über die traditionelle Paläontologie hinaus.
Ziel ist das Verständnis der Interaktionen von biologi-
schen und geologischen Prozessen im System Erde.
75
Forschungsgegenstand ist die Wechselwirkung der
Biosphäre mit anderen Subsystemen durch die gesamte
Erdgeschichte. Von besonderer Bedeutung sind Unter-
suchungen über die Evolution physiologischer Prozesse
(zum Beispiel Organo/Biomineralisation), über evoluti-
ve und andere Bio-Events (zum Beispiel Anpassung,
Aussterben und Regeneration der Organismen), über die
Art der Beteiligung von Organismen bei bio-geochemi-
schen Kreisläufen und bei der biogenen Gesteinsbil-
dung, über die Zusammenhänge von paläoökologischen
Mustern und (durch geochemische und geologische
Proxy-Daten widergespiegelte) Umwelt- und Lebens-
raumbedingungen, sowie über die Reaktionen von
Ökosystemen auf Umweltänderungen. Der geo-biologi-
sche Forschungsansatz geht vom Postulat aus, dass
physiologische Prozesse der Organismen steuernd in die
bio-geochemischen Stoffkreisläufe eingreifen und
dadurch geologische Prozesse erheblich beeinflussen –
und nicht umgekehrt. Man kann diese Vorgänge als
geophysiologische Prozesse auffassen, die Einblicke in
Stoffumsätze zulassen, welche unter normalen thermo-
dynamischen Bedingungen nicht ablaufen würden. Die
Produkte dieser geophysiologischen Vorgänge sind eine
Vielzahl von Fluiden und unterschiedlichen Mineralen,
welche Gesteine auf- und abbauen, sowie deren quali-
tativen und quantitativen Bestand kontrollieren.
Gekoppelte biologische und geologische Prozesse
sind möglicherweise nicht nur auf das System Erde be-
schränkt, wie die von amerikanischen Kollegen mit den
Namen „Astrobiologie“ und „Exobiologie“ verbundene
derzeitige Diskussion über den Mars zeigt.
In der Geobiologie steht die Untersuchung der Hin-
tergründe für auffallende Organismen-Wechsel in ausge-
wählten Intervallen der Erdgeschichte im Vordergrund.
Sie behandelt die biologisch/geologischen Wechselwir-
kungen und Prozesse, die als zentrale Faktoren die bioti-
sche Evolution ermöglichten und die Biodiversität steu-
ern. Die neue Betrachtungsweise bedingt eine enge in-
terdisziplinäre und integrierte Zusammenarbeit zwi-
schen Paläontologie, (Paläo-)Biologie, Geochemie und
Geobiochemie und den weiteren geowissenschaftlichen
Disziplinen. Geobiologie erfordert interdisziplinäres Ar-
beiten und kann somit innovativ in die tradierten Denk-
strukturen eingreifen.
Die Paläontologie repräsentiert die biologische Kom-
ponente der Geowissenschaften und die erdgeschichtli-
che Seite der Biowissenschaften. Insbesondere in
Deutschland irrtümlicherweise noch immer als „deskrip-
tive Wissenschaft“ betrachtet, ist das Selbstverständnis
der modernen Paläobiologie durch prozessorientierte
Forschung ausgezeichnet; diese macht die „effects of
past global change on life“ in möglichst engen erdge-
schichtlichen Zeitscheiben verständlich und erklärt die
(auch die heutige Lebewelt steuernden) Beziehungen
zwischen Evolution und Umwelt.
Erdsystemmanagement für die Gegenwart und Zu-
kunft erfordert die Berücksichtigung der natürlichen
Veränderungen von Geo- und Biosphäre in der Vergan-
genheit. Die Untersuchung dieser Veränderungen ist ein
wesentlicher Aspekt nahezu aller Forschungsinitiativen,
die sich im internationalen und nationalen Rahmen in
jüngster Zeit mit der Evolution des Systems Erde be-
schäftigen: diese Ziele erfordern innovative Forschungs-
ansätze (wie sie zum Beispiel durch das Geobiologie-
Konzept angeregt werden), sowie ein neues Manage-
ment der paläontologischen Datenbasis unter Berück-
sichtigung der Biodiversitäts- und Ökosystemforschung.
Zusätzlich müssen eine enge Zusammenarbeit und Ver-
flechtung mit biologischen Disziplinen (Molekularbiolo-
gie, Evolutionsbiologie, Mikrobiologie, Ökologie, Mor-
phologie, Systematik), geologischen Disziplinen (insbe-
sondere Sedimentologie, Geochemie, Faziesanalyse und
Paläogeographie) und ozeanisch-atmosphärischen Wis-
senschaften (Ozeanographie, Klimaforschung) erfolgen.
Dabei wird künftig der Kopplung von Klimamodellen
mit Biom- beziehungsweise Vegetationsmodellen eine
besondere Bedeutung zukommen.
Moderne Paläontologie ist Paläo-Umweltforschung.
Paläo-Daten (insbesondere paläo-ozeanographische und
paläoklimatische Daten) sind unerlässlich für eine wis-
senschaftlich untermauerte Prognostik von denkbaren
Umweltveränderungen.
Paläo-Umweltforschung
Heute und früherDer „Blick zurück in die Erdgeschichte“ ist aus ver-
schiedenen Gründen erforderlich: Die letzten 200.000
Jahre sind als erdgeschichtlicher Abschnitt viel zu kurz
und nicht repräsentativ, um daraus Überlegungen über
die möglichen Ursachen für den heutigen Wechsel in
Ökosystemen abzuleiten. Die heutige Icehouse-Welt ist
nur für einen Teil der Zeit des Phanerozoikums reprä-
sentativ (Abb. 29). Prozessmodellierungen, die auf ein
tieferes Verständnis von Klima und Umwelt abzielen,
werden an der Rezentsituation geeicht und parametri-
siert. Die Modelle können dementsprechend nur re-
zentähnliche Situationen behandeln oder voraussagen.
Auch Überlegungen über aktuelle Klimaänderungen
erfordern die Berücksichtigung von Paläo-Daten. Erst
dadurch können kurzfristige Klima-Variabilität, natür-
liche längerzeitige Klimaschwankungen und Klima-
Trends auseinandergehalten werden. Die Berücksichti-
gung paläo-biologischer Daten ermöglicht in Verbin-
dung mit einer verbesserten Zeitmessung eine präzise-
re Abschätzung der Geschwindigkeit signifikanter Um-
weltänderungen.
Eine historische Betrachtungsweise ist notwendig,
um die Auswirkung, von in der Gegenwart beobachtba-
ren Entwicklungen (Meeresspiegelschwankungen, Ein-
schnitte in der Biodiversität und in Ökosystemen), fun-
dierter beurteilen zu können. Eine historische Betrach-
tungsweise ist aber auch notwendig, um zu einem neuen
Verständnis von Ressourcen zu gelangen, deren Bildung
durch Evolution und geobiologische Prozesse gesteuert
wurde. Beispiele hierfür sind die in der geologischen
Zeit unterschiedliche Verteilung von Erdölmuttergestei-
nen und Sulfidlagerstätten oder der Wechsel in Vertei-
lung und Häufigkeit von Phosphaten und Karbonatge-
steinen. Der „Blick zurück“ erleichtert die Diskussion
heutiger Extrembiotope (Abb. 30), wie sie in der flachen
und tiefen Biosphäre auftreten (Beispiele: Polare Meere,
Tiefsee-Leben im Bereich kalter und warmer hydrother-
maler Quellen, Mikroben in der Erdkruste). Der Ver-
gleich rezenter extremophiler Organismen mit präkam-
brischen Fossilien wird von wesentlicher Bedeutung für
die Diskussion über die Entstehung des Lebens und über
die Frühzeit des Systems Erde sein.
Stoffwechselprozesse und UmweltveränderungenDie Entwicklung des Systems Erde wird seit Beginn
der organischen Evolution nachhaltig durch Stoffwech-
selprozesse beeinflusst. Im Prinzip lassen sich in der
zeitlichen Entwicklung des Systems Erde vier physiolo-
gisch gesteuerte Ereignisse erkennen (Abb. 30):
1. Physiologische Prozesse laufen seit mindestens
3.8 Milliarden Jahren, vermutlich schon seit 4 Mil-
liarden Jahren ab. Belegt sind diese Prozesse durch
spezifische C-Isotopen-Signale und durch fossile
Reste in den 3.8 Milliarden Jahre alten Isua-Ge-
steinen von Grönland. Der Beginn des C-Stoff-
wechsels führte zu einer spezifischen, von Orga-
nismen abhängigen Fraktionierung. Die meisten
physiologischen Vorgänge liefen vermutlich unter
anaeroben und heißhydrothermalen Bedingungen
ab, belegt durch 16sRNA-Analysen an Eubacterien
und Archaea, deren älteste Formen nur durch an-
aerobe thermophile Taxa vertreten sind. Es ist
wahrscheinlich, dass dieser ursprüngliche Zustand
durch die tiefen Zonen der heutigen Biosphäre re-
präsentiert wird („Deep Biosphere“-Hypothese).
2. Die Entwicklung von Photosynthese-Systemen
(Chlorophyll und andere Pigmente, Membransta-
pel-Thylakoide) in verschiedenen Bakterien vor
über 3 Milliarden Jahren führte zur Freisetzung
von Sauerstoff und damit verbunden zu einer tief-
greifenden Umgestaltung des Systems Erde. Der
Aufbau einer O2-Atmosphäre veränderte die bio-
chemischen und geochemischen Prozesse der „Fla-
chen Biosphäre“ (Erdoberfläche/Böden, Hydros-
phäre, Atmosphäre) nachhaltig. O2-Stress führte
zur Bildung von komplexen mikrobiellen Gemein-
schaften innerhalb einer Zelle (Endosymbionten-
Theorie) und damit zur Bildung der Eucaryonten-
76
Abb. 30: Zonen der Biosphäre. Leben hat sich in der„Flachen Biosphäre“ und in der „Tiefen Biosphäre“entwickelt. Eine besondere Herausforderung der kom-menden Jahre wird die durch Tiefbohrungen und anhydrothermalen Austrittsstellen in der Tiefsee zugäng-liche Untersuchung der „Deep Biosphere“ sein. Die andie tiefe Biosphäre angepassten Organismen zeigen,wie die frühe biologische Evolution des Systems Erdeablief und in welcher Weise Mikroorganismen zur Bil-dung von Lagerstätten beitragen.
Zelle und schließlich zu multizellularen Systemen.
Wichtige Belege für diesen Umschwung sind die
BIFs (Banded Iron Formation) sowie die verstärk-
te Bildung von kieseligen und karbonatischen
Mikrobialithen/Stromatolithen.
3. Als drittes Ereignis ist die an der Wende Präkam-
brium/Kambrium auftretende gesteuerte Biomi-
neralisation zu nennen. Bedingt durch einen toxi-
schen Supersaturationsindex für Ca im aquati-
schen Milieu kam es zur Entwicklung von spezi-
fischen Ca 2+-bindenden Makromolekülen. Die
Organismen waren gezwungen, Ca-Entgiftungs-
strategien zu entwickeln, die den Ca-Stoffwech-
sel der Eucaryonten steuern konnten. Hierzu
gehören zum Beispiel die Matrizen-Moleküle, die
in der Lage sind, Biomineralisate zu initiieren
und deren Wachstum zu kontrollieren. Erst durch
diesen Prozess wird die Bildung komplexer orga-
nisch gesteuerter Systeme möglich, welche die
Einnischung von Organismen und Organismenge-
meinschaften und die Differenzierung von Öko-
systemen ermöglichten.
4. Die Eroberung des Festlandes durch Pflanzen im
Silur und Devon charakterisiert das vierte Ereignis,
das sich durch die Entwicklung von Lignin (Festi-
gung) und Cutin beziehungsweise verwandten
Stoffen (Reduktion des Wasserverlustes) auszeich-
net. Mit der Entstehung terrestrischer Ökosysteme
wird das System Erde in allen seinen oberflächen-
nahen Prozessen grundlegend revolutioniert, mit
drastischen Konsequenzen für den Strahlungs-
haushalt, den Kohlenstoff-, Wasser- und Gesteins-
kreislauf.
Das neue Bild der erdgeschichtlichen Entwicklung
der Stoffwechselprozesse wird in der Zukunft einen we-
sentlichen Einfluss auf die Vorstellungen über die in den
oberen Bereichen der Lithosphäre ablaufenden geologi-
schen, geochemischen und bio-geochemischen Prozesse
haben. Bereits heute sind biogeochemisch und mikrobi-
ell kontrollierte Prozesse bis in eine Tiefe von 5 km
nachgewiesen. Die Untersuchung der „Tiefen Biosphä-
re“ (sowohl in Tiefbohrungen als auch in ozeanischen
Tiefseegräben und Gebieten mit CH4- und H2S-Austrit-
ten am Meeresboden) stellt daher eine faszinierende
Herausforderung sowohl für die Grundlagenforschung
als auch für die anwendungsorientierte Forschung (zum
Beispiel Bildung von Sulfiderzlagerstätten) dar.
Die Bedeutung des erdgeschichtlichen Zeitfaktorsfür das Verständnis der GegenwartIn Geo-Bio-Daten sind Angaben über Dauer, Schnel-
ligkeit und Zeitpunkt heutiger und in der Erdgeschichte
abgelaufener Prozesse gespeichert. Für die Beurteilung
von kurz-, mittel- und langfristigen Veränderungen
(Evolution, Lebensräume, Lebensbedingungen) ist eine
möglichst genaue, hochauflösende Datierung und Unter-
teilung der Zeit notwendig (Abb. 31). Dies gilt auch für
den Vergleich von Vorgängen, die sich innerhalb der
„shallow time“ (< 200.000 Jahre) und in der
„deep time“ der Erdgeschichte abgespielt
haben.
Die klassischen, auf der zeitlichen Abfol-
ge von Fossilien basierenden Methoden der
Biostratigraphie haben heute – insbesondere
auf dem Gebiet der Mikropaläontologie –
einen hohen Auflösungsgrad erreicht, der
teilweise im Bereich von < 100.000 Jahren
liegt (Abb. 31). Dies gilt insbesondere für
Abschnitte des Paläozoikums (Conodon-
ten) und für die im Rahmen des Ocean-
Drilling-Program mikropaläontologisch
untersuchten Zeitbereiche der Kreide und
des Känozoikums. Für diese Zeitabschnitte
liegen global einsetzbare Biochronologien
vor, die für eine „gemeinsame Sprache“ für
die Kalibrierung anderer stratigraphischer
Methoden essenziell sind. Biostratigraphie
und Biochronologie können jedoch nur so
gut sein, wie die paläontologischen Basis-
daten. Hier ist eine deutliche Stärkung
taxonomisch-systematischer Grundlagen-
forschung notwendig.
Die Auflösung der geologischen Zeit lässt
sich durch die Verflechtung biostratigraphi-
scher Methoden mit Sequenzstratigraphie
und Magnetostratigraphie verfeinern und verbessern,
wie die neuen Entwicklungen im Bereich der „resource
77
Abb. 31: Beispiel aus der Tabelle der pelagischen Biochronologie.
exploration stratigraphy“ deutlich zeigen. Aus geoche-
mischen, mineralogischen und paläontologischen Pro-
xies abgeleitete Zyklenstratigraphie (orbital tuning) ge-
stattet bis zurück in das Miozän die Auflösung des
40.000- 42.000 Milankovitch-Jahresrhythmus. Die Auf-
lösung des 100.000 Jahre-Rhythmus ist bis in das Eozän
relativ gut möglich und abschnittsweise für das gesamte
Phanerozoikum. Sklero- und Dendrochronologie erlau-
ben zeitliche Auflösungen bis in den Jahres-, Jahreszei-
ten- und Monatsbereich und damit den Zugang zu ex-
trem hochfrequenten Umweltvariationen.
Relevanz von Paläo-Daten für das Verständnis vonGegenwart und ZukunftDie Relevanz von paläontologischen Daten für das
Verständnis und Management des Systems Erde zeigt
sich insbesondere in folgenden Themen-Kreisen:
• Unterscheidung von natürlichen und anthropogenen
Umweltänderungen;
• Beurteilung von Stoffflüssen, Ozeanographie und
Klimaentwicklung;
• Einfluss mariner und terrestrischer Organismen auf
Lagerstätten- und Sedimentbildung (Entstehung von
Kohlenwasserstoff- und Kohlelagerstätten, Bildung
biogener Sedimente);
• Validierung von (Klima-, Biom-)Modellen.
Nachfolgend werden einige der oben genannten
Punkte kurz diskutiert.
Beurteilung von marinen Stoffflüssen, Ozeano-graphie und KlimaentwicklungDer Boden des Weltmeeres, seine Struktur, Zusam-
mensetzung und Geschichte, sowie die ihn beeinflussen-
den Stoffflüsse spiegeln das Ergebnis der exogenen und
endogenen Dynamik des Planeten Erde wider. Der Mee-
resboden, als die größte und am einheitlichsten aufge-
baute geologische Provinz, enthält in seinen Ablagerun-
gen das beste Archiv für eine Dokumentation von Aus-
maß und Raten globaler Umweltänderungen. Durch die
Auswertung dieser Archive liefert die marine Geowis-
senschaft einen essentiellen Beitrag zur Bewertung des
Ist-Zustandes der Erde und zugleich zu einer voraus-
schauenden Umweltforschung.
An der Wasser/Sediment-Grenzfläche werden gelöste
Substanzen aus dem Sediment in das Bodenwasser
zurückgeführt. Dieser Stofffluss bestimmt wesentlich
die Konzentration und die Verteilung von Nährstoffen
und Kohlenstoffspezies im Tiefenwasser des Welt-
ozeans. Auch die Rückführung anthropogen eingebrach-
ter Substanzen wird an dieser Grenzfläche kontrolliert.
Biologische und geochemische Stoffflüsse können durch
in situ-Methoden am Meeresboden gemessen und in
prognosefähigen Transport-Reaktions-Modellen quanti-
tativ beschrieben werden.
Chemische Elemente werden im globalen Stoffkreis-
lauf „Mantel-Ozeanboden-Meerwasser-Atmosphäre“ in
einer Vielzahl verschiedener Reservoire zwischenge-
speichert. Der Stoffaustausch zwischen den Reservoiren
wird hierbei gepuffert. Die Effektivität der Pufferung ist
Rahmenbedingungen und Prozessen unterworfen, deren
78Abb. 32: Faunen, die sich in extremen Bioten ent-wickelt haben (hier Muscheln, sogenannte „Vent-Fau-nen“, die in der Nähe von hydrothermalen Quellen amMeeresboden vorkommen).
79
Rückkopplungsmuster und deren Änderungen in der
Zeit bisher nur ansatzweise bekannt sind. Die Erstellung
von Bilanzen wird dadurch erschwert, dass Akkumulati-
on und Freisetzung von relevanten Stoffen sehr unter-
schiedliche Zeiträume benötigen.
Der geologische Ablauf von Stoffflüssen ist im Sedi-
ment überliefert und lässt sich aus fossil dokumentierten
Näherungswerten für unterschiedliche Umweltparame-
ter (Proxies) ableiten, die mit Hilfe von physikalisch-
chemischen und biologisch-paläontologischen Messme-
thoden erfasst werden. Da diese Signale in der Regel die
Wirkung mehrerer Umweltparameter beinhalten, ist eine
schlüssige Interpretation der Signale meist nur durch
eine hohe Zahl von unabhängigen Proxy-Datenserien
möglich. Die Überprüfung und die Neuentwicklung von
marinen und terrestrischen Proxies ist ein wesentliches
Ziel zukünftiger Umwelt- und Paläoumweltforschung.
Die Produktivität der Ozeane unterliegt klimatisch
kontrollierten, natürlichen Variationen. Produktivität
und deren Variationsmuster werden in der Gegenwart in
vielen Meeresgebieten durch vermehrten Eintrag von C,
N, P und Si anthropogen erhöht. Für die Abschätzung
der Belastbarkeit des Systems Ozean und der möglichen
Risiken ist die Abgrenzung der anthropogen bedingten
Veränderungen von der natürlichen – und letztlich nur
im geologischen Befund überlieferten – Variabilität von
grundsätzlicher Bedeutung. Paläontologische Daten
werden hierbei auch in der Zukunft eine wesentliche
Rolle spielen, da sie die unmittelbare Antwort der Orga-
nismen auf Änderungen der natürlichen Umweltfaktoren
widerspiegeln.
Einfluss mariner Organismen auf Atmosphäre,Hydrosphäre und KryosphäreMarine Organismen spielen im atmosphärisch-ozea-
nischen CO2-Haushalt eine essenzielle Rolle, da Ände-
rungen der Produktivität in der Deckschicht der Ozeane
den CO2-Gehalt der Atmosphäre in wenigen Jahrhunder-
ten verändern können. Das Ausmaß dieser klimarelevan-
ten Veränderungen wird im wesentlichen durch zwei
Prozesse gesteuert – die „Biologische Pumpe“ und die
„Alkalinitätspumpe“: oberflächennahe Produktivität
führt über die Fixierung von Kohlenstoff und dessen Tie-
fentransfer zur CO2-Untersättigung der Oberflächenwäs-
ser und zieht damit eine Aufnahme von atmosphäri-
schem CO2 nach sich. Dieser Prozess bedingt im
Tiefenwasser einen zusätzlichen CO2-Anstieg durch Oxida-
tion von organischem Kohlenstoff. Die Kompensierung
führt über die Lösung von biogenem Karbonat zum Anstieg
der Alkalinität im Ozean und gleichzeitig zu einer weiteren
Reduzierung des atmosphärischen CO2-Gehaltes. Schwan-
kungen in der Nährstoffzufuhr bestimmen hierbei insbeson-
dere die Änderungen in der ozeanischen Produktivität. Hier-
bei steuert das Verhältnis von organischem Kohlenstoff und
Karbonat-Transfer in die Tiefsee die Veränderungen der
ozeanischen Alkalinität. Alle diese Prozesse werden zusätz-
lich durch Meeresspiegelschwankungen und Änderungen
der ozeanischen Zirkulationsmuster beeinflusst.
Zur Bewertung und Abschätzung natürlicher und anthro-
pogen verursachter CO2- und Klimaschwankungen sind in
der marinen Biosphäre folgende Themenkreise von beson-
derem Interesse: (1) Schwankungen im Nährstoffpool:
Zufuhrraten von produktivitätslimitierenden Nährstoffen
(Phosphate, Nitrate, Silikate, Eisen et cetera), Änderun-
gen in der ozeanischen Zirkulation; (2) Schwankungen
in der Karbonatproduktion (Korallenriffe, karbonatscha-
lige Mikroorganismen); (3) Meeresspiegelschwankun-
gen, Erosion am Kontinentalschelf und die damit ver-
bundenen Auswirkungen auf Riffentwicklung und
Nährstoffangebot; (4) Quantifizierung des Kohlen-
stoff/Karbonat-Transfers in die Tiefsee.
Reaktion von Ökosystemen auf UmweltänderungenÖkosysteme reagieren auf Umweltveränderungen in
verschiedenen Skalen:
• Schnelle Reaktion, verbunden mit physiologischen
und modifikatorischen Reaktionen der Organismen,
die sich auch fossil fassen lassen (zum Beispiel Ver-
änderungen der Spaltöffnungsdichte bei Pflanzen
als Folge der CO2-Erhöhung mit Konsequenzen für
Wasserhaushalt und Biomasseproduktion).
• Mittelschnelle Reaktion, gekennzeichnet durch
Umstrukturierung von Ökosystemen, Wanderun-
gen, Veränderungen von Stoffkreisläufen, Nah-
rungsketten et cetera, zum Teil Artensterben.
• Langsame Reaktion, verbunden mit evolutiven
Veränderungen, Artensterben und Regenerierung.
Paläodaten ermöglichen die Untersuchung folgenderFragen:
• Dynamik von Ökosystemen: moderne Ökosysteme
sind keine statischen Gebilde, sondern in dynamische
Entwicklungsprozesse einbezogen. Stabilität und An-
fälligkeit unserer heutigen Ökosysteme kann durch
zeitlich skalierbare Fallstudien aus der Erdgeschichte
beurteilt werden. In zunehmendem Maße sind bereits
Auflösungen bis in Zeitbereiche von Jahren und sogar
Tagen möglich. Diese Fallstudien zeigen eindringlich,
dass die Geschwindigkeit von Umweltänderungen
vielfach von größerer Bedeutung als die Art der Än-
derung ist.
• Besonders sensitive und damit als Monitore von
Umweltänderungen nutzbare Ökosysteme: moderne
Riffe formen natürliche Küstenschutzwälle, die
Küsten in einer Ausdehnung von Zehntausenden
von Kilometern vor Abtragung schützen. Lage und
Struktur der Riffe sind, wie etwa in der Karibik
oder im australischen Barriere-Riff, von der Posi-
tion älterer Riffsysteme abhängig. Die modernen
Riffe sind stark gefährdet, sowohl durch globale
Umweltänderungen als auch durch die direkte Ein-
wirkung des Menschen. Schätzungen über den
Umfang der in ihrer Struktur bereits nachhaltig
veränderten Riffe schwanken zwischen 40 und
60 %. Bedenkt man die Bedeutung von Riffen für
die Fischereiindustrie und den Tourismus, so wird
klar, dass dieses Riffsterben Auswirkungen auf die
Ernährungs- und Arbeitsplatzsituation von Millio-
80
nen von Menschen haben muss. Außerdem werden
mit den Rifforganismen bedeutende, für die Anti-
biotikaforschung grundsätzlich wichtige pharma-
zeutische Ressourcen, zerstört. Eine Abschätzung
der Auswirkungen natürlicher Ursachen und der
Wachstumsdynamik moderner Riffe erfordert die
Kenntnis der in der Vergangenheit wirksam gewe-
senen Umweltfaktoren. Das Verständnis von El
Nino-Auswirkungen und von zukünftigen Meeres-
spiegelschwankungen wird durch die in subfossi-
len und fossilen Riffen enthaltenen Aufzeichnun-
gen über Schwankungen physikalisch-chemischer
Rahmenbedingungen wesentlich unterstützt.
• Notwendige Grundlagenuntersuchungen beinhal-
ten folgende Fragenkreise: Wie drückt sich Anpas-
sungsnotwendigkeit durch konstruktionsmorpho-
logisch erklärbare Merkmale aus? Was ist für Or-
ganismen machbar beziehungsweise nicht mach-
bar? Wie reagieren einzelne Arten und Arten-Asso-
ziationen auf ökologische Extremsituationen? Wel-
che Rolle spielen Mikroben beim Aufbau der „Fla-
chen“ und „Tiefen“ Biosphäre und bei geobiologi-
schen Prozessen? In welcher Weise hat sich die Be-
deutung von Mikroben für die Bildung von sedi-
mentären Lagerstätten und authigenen Mineralen
im Laufe der Erdgeschichte geändert?
Entwicklungsbedarf und Perspektiven
Eine erfolgreiche, international konkurrenzfähige
Entwicklung der deutschen geobiologischen und paläo-
biologischen Forschung erfordert (1) den effizienten
Aufbau von Paläo-Datenbanken, (2) die Entwicklung
geobiologischer online Beobachtungssysteme, (3) die
Entwicklung und Verbesserung physikalisch-chemischer
Untersuchungsmethoden einschließlich des Einsatzes
von Forschungsbohrungen und (4) den Aufbau einer
durch Paläo-Daten gestützten, prognostisch orientierten
Erdsystem-Modellierung, die relevante Biosphärenkom-
ponenten (einschließlich des Menschen) integriert und
heutige wie zukünftige Änderungen des Systems Erde in
sinnvoller Weise abbildet.
Management von Paläo-DatenbankenDer Wert der aus paläobiologischen Daten abgeleite-
ten Aussagen über die Entwicklung des Lebens und über
die gekoppelten Beziehungen Erde – Leben hängt in ho-
hem Maß von der Informationskraft der Fossilien ab.
Diese wiederum wird durch taphonomische Kriterien
negativ oder positiv kontrolliert. Aussagen über phylo-
genetische Zusammenhänge zwischen rezenten und fos-
silen Organismen, über den Lebensraum und die Kon-
trollen der Paläo-Umwelt sowie über den Wechsel von
Ökosystemen in der Erdgeschichte müssen sich daher in
der Zukunft in hohem Maß an Fossilfunden orientieren,
die durch ungewöhnlich gute Erhaltung spezifische In-
formationen ermöglichen und ein „Fenster in die Erdge-
schichte“ darstellen. Konservat-Fossillagerstätten von
Burgess bis Messel bieten hier ausgezeichnete Beispiele.
Datenaufbereitung und DatenbankenObwohl bisher nur ein geringer Prozentsatz der fossi-
len (und rezenten) Organismen beschrieben wurde, ist
die deskriptiv orientierte Paläontologie in den letzten
zwanzig Jahren zugunsten prozess- und musterorientier-
ter Untersuchungen stark in den Hintergrund getreten.
Gründe für dieses Zurücktreten sind a) Unsicherheiten in
taxonomischen und systematischen Konzepten, b)
Schwierigkeiten in der Überschaubarkeit der großen
Zahl beschriebener Taxa, c) aufsehenerregende Erfolge
der interpretativen Paläontologie in verschiedenen Ge-
bieten der Paläobiologie und d) das mangelnde Ver-
ständnis für die Notwendigkeit taxonomisch-systemati-
scher Forschung bei geowissenschaftlichen Kollegen.
Die Evaluierung und Aufbereitung vorhandener taxo-
nomischer Daten und neue, auf modernen biologischen
Konzepten fußende taxonomisch-systematische Unter-
suchungen bilden jedoch eine wesentliche Voraussetzung
für nahezu alle prozessorientierten Arbeiten. Dies gilt ins-
besondere a) für die Erfassung der Paläobiodiversität und
den aus dieser abgeleiteten Beziehungen zwischen Evolu-
tion und physikalisch-chemischen Änderungen im System
Erde, b) für die Erkennung paläobiogeographischer Mus-
ter, c) für die Beurteilung phylogenetischer Modelle, und
d) für die Auswertung paläontologischer Daten im Rah-
men einer hochauflösenden Biostratigraphie.
Die Information über das paläontologische Datenmate-
rial ist in weit verstreuten Publikationen und in den Samm-
lungen großer Museen enthalten, die als Bezugssysteme
unerlässliche primäre Datenbanken darstellen. Die Weiter-
entwicklung und Aktualisierung dieser erdgeschichtlichen
Archive stellt ein zentrales Anliegen der paläontologischen
Forschungsinstitute und Museen (wie zum Beispiel
Senckenberg/Frankfurt) dar.
Elektronische Medien (www, Netzwerke) können we-
sentlich dazu beitragen, publizierte Information zu bün-
deln und in Datenbanken allgemein zugänglich zu ma-
chen. Bereits bestehende Netzwerke (Ocean Drilling Stra-
tigraphic Network, ODP-Datenbanken Bremen/Kiel,
PANGAEA Bremen) müssen verstärkt und rasch ausge-
baut werden. Die Datenbanken sollten nicht nur taxonomi-
sche Daten enthalten, sondern auch Angaben über mor-
phologische Merkmale, ökologische und biogeographi-
sche Verteilungsmuster, sowie biostratigraphische Reich-
weiten. Taxonomische Daten müssen in einem „benutzer-
freundlichen Format“ zugänglich gemacht werden, das
eine rasche Auswertung der Daten gestattet. Hierzu gehört
auch die Darstellung des Materials in Bildern. Paläontolo-
gische Datenbanken sollten mit Daten aus der Industrie
vernetzt werden, um auf die, für die Lagerstättenexplora-
tion erforderlichen, biostratigraphischen Informationen zu-
greifen zu können.
Grundsätzlich ist festzustellen: Der rasche Aufbau von
modernen, miteinander vernetzten Paläo-Datenbanken ist
für die geo- und biowissenschaftliche Auswertung der erd-
geschichtlichen Archive in Richtung einer Paläo-Umwelt-
und Klimaforschung von essenzieller Bedeutung. Dieser
Aufbau erfordert gezielte Planungen hinsichtlich Metho-
dik und Fragestellungen im internationalen und natio-
nalen Rahmen.
81
Geobiologische BeobachtungssystemeAlle Ökosysteme unterliegen einem dynamischen
Wandel, von dem jeweils nur wenige Einzelzustände er-
fasst werden. Die stichprobenartige, geowissenschaftli-
che Beprobungs- und Beobachtungsweise muss durch
kontinuierliche, den gesamten Kreislauf der saisonalen
Variabilität umfassende Verfahren ergänzt werden. Erste
Schritte im terrestrischen Milieu sind erfolgreich, für das
marine Milieu kommt man hier aber an technologische
Grenzen, die es zu überwinden gilt. Dies wird besonders
am Beispiel des gerade aufblühenden Forschungsfeldes
der Erkundung biologischer Ressourcen am Konti-
nentrand deutlich.
Kontinentränder vermitteln zwischen Tiefsee und
Schelf und sind prozessual mit beiden ozeanischen Be-
reichen verknüpft. Diese Informationen sind in fossili-
sierbaren Hinterlassenschaften benthischer Ökosyste-
me am Kontinenthang gespeichert. Um diese Prozess-
kopplungen erfassen und verstehen zu können, sind
kontinuierliche geobiologische Beobachtungssysteme
erforderlich. In jüngster Zeit gilt hier das besondere In-
teresse den Tiefwasserkorallenriffen, die am europäi-
schen Kontinentrand die Flanken karbonatreicher
Mounds stabilisieren.
Die Bedeutung dieser rezenten, lebenden Karbonat-
strukturen wird dadurch unterstrichen, dass ein entspre-
chender „Rifftypus“ in der Erdgeschichte weit verbreitet
ist und namhafte Kohlenwasserstoffspeicher gebildet
hat. Diese Mud Mound-Strukturen lassen sich mit kei-
nem Flachwasser-Riff heutiger Ausbildung vergleichen.
In letzter Zeit sind weitere Tiefwasser-Mounds mit Ko-
rallenriffen außerhalb des europäischen Kontinentran-
des, etwa vor Westafrika und Südost-Brasilien im Rah-
men von Rohstoffkonsulting und Erkundungen nachge-
wiesen worden. Damit zeichnet sich bereits jetzt die glo-
bale geobiologische Signifikanz dieser bislang nur aus
der Erdgeschichte bekannten Mud Mounds ab.
Verbesserte UntersuchungsmethodenEine Verbesserung der Paläodaten-Basis ist durch
den verstärkten Einsatz moderner Technologie möglich:
molekulare Strukturanalyse, verbesserte geochemische
Analytik zur Etablierung neuer Proxies, Röntgenmetho-
den, dreidimensionale numerische Untersuchung (3-D-
Scanning und Bildverarbeitung), Spektroskopie, Com-
putertomographie, gentechnische Untersuchungen, Un-
tersuchung und numerische Behandlung von Innenstruk-
turen (Kernspin-Tomographie), Verstärkung aktuo-
paläontologischer Studien (Auswirkung von Umweltein-
flüssen auf Hartteile), Weiterentwicklung von biometri-
schen Methoden und von biologisch untermauerten Mo-
dellierungsansätzen für die Geoökosystemforschung.
Erdsystem-ModellierungModellierungen sind von grundsätzlicher Bedeutung,
wenn der System-Erde-Ansatz auf die erdgeschichtliche
Vergangenheit angewandt und prognostisch genutzt wer-
den soll. Nachdem zunehmend die zentrale Rolle der
Biosphäre für die Dynamik des Planeten Erde erkannt
wird, müssen modellierende Forschungsansätze auch
alle relevanten geobiologischen und paläobiologischen
Prozesse integrieren. Wesentlich ist dabei eine enge und
iterative Kopplung zwischen Bereitstellung von Proxy-
Daten und Modellierung. Modellierungen ermöglichen:
• die quantitative Umsetzung und Überprüfung von
zunächst qualitativen Vorstellungen über Prozess-
abläufe und Prozesskopplungen,
• den Zugang zu Parametern, die über Proxies allein
nicht erschlossen werden können,
• die Ableitung von Prognosen beziehungsweise Re-
trognosen im Hinblick auf die modellierten Pro-
zesskopplungen.
Demgegenüber liefern Proxy-Daten:
• die Grunddaten für quantitative Modellierungen
sowie
• Möglichkeiten zur Validierung und Parametrisie-
rung der Modelle.
Dabei gilt grundsätzlich: solange Modelle nicht in der
Lage sind, frühere erdgeschichtliche Zustände annä-
hernd adäquat abzubilden, können sie nicht für Prog-
nosen von zukünftigen, von der heutigen Situation ab-
weichenden Zuständen genutzt werden. Somit liefern
auf Geodaten basierende Modellierungen von Paläoum-
welt-Szenarien den entscheidenden Test für die Rea-
litätsnähe prozessorientierter Modelle.
Modellierungen spielen insbesondere bei der Analyse
von Stoffkreisläufen, des Klimas sowie der Ökosystem-
und Biom-Dynamik eine wichtige Rolle. Stoffkreislauf,
Klima- und Ozean-Modelle haben einen hohen wissen-
schaftlichen Stand erreicht und werden zum Teil auch
am Deutschen Klimarechenzentrum (DKRZ) in Ham-
burg operationell für Benutzergruppen zur Verfügung
gestellt. Bestehende Klima- und Atmosphäre-Ozean-Zir-
kulationsmodelle bieten die große Chance, mögliche
Paläo-Umwelt-Szenarien für ausgewählte Zeitscheiben
zu simulieren und diese an der realen geologischen
Überlieferung durch Paläodaten zu testen. Diese Vorge-
hensweise gestattet es, die Erde als Messinstrument zu
betrachten und Geoprozesse in „Echtzeit“ zu erfassen.
Ein Hauptproblem liegt darin, dass die Komponenten
die die Biosphäre betreffen, in den Modellen noch unbe-
friedigend abgebildet werden. So ist zum Beispiel in allen
großen Klimamodellen die für den Wasser- und Kohlen-
stoffkreislauf eminent wichtige Interaktion Vegetation-
Klima noch nicht ausreichend berücksichtigt. Dies ist im
wesentlichen dadurch bedingt, dass quantitativ fassbares
Grundlagenwissen, das auch den geologischen Zeitfaktor
berücksichtigt, noch fehlt. Diskrepanzen zwischen Paläo-
daten („hard data“) und General-Circulation-Modellie-
rung (GCM) („soft data“) sind zum Beispiel für alle Gre-
enhouse-Klimate vom Jura bis ins Neogen offensichtlich.
Im Vergleich zu den Stoffkreislauf-, Klima- und
Ozeanmodellen stehen Ökosystem- und Biom-Modellie-
rungen noch am Anfang. Dies hängt damit zusammen,
dass die umweltabhängigen Veränderungen von Ökosys-
temen und Biomen, soweit sie Langzeitprozesse betref-
82
fen, in der Gegenwart kaum erfasst werden können und
in den Geowissenschaften bisher zu wenig Beachtung
fanden. Grundsätzlich sind für die kommenden Jahre
folgende Ziele anzustreben:
• Eine intensive Anwendung bestehender Modelle
auf Paläoumwelt-Szenarien – nicht zuletzt, um be-
stehende Modelle in ihrem prognostischen Wert zu
testen.
• Validierung der prognostischen Modelle durch in
situ Langzeit-(online) Beobachtung.
• Eine bessere Kenntnis der Biosphären-Dynamik,
um neue Modelle für die Kopplung von Geo-,
Atmo- und Biosphäre zu entwickeln.
• Zukunftsträchtig erscheint die Modellierung von in
der Natur verwirklichten Biokonstruktionen, um
die Umsetzung effektiver biologischer Mechanis-
men in direkte technische Anwendungen (Bionik)
zu erleichtern.
Forschungsaufgaben und Projekte
Nachfolgend wird zwischen „vorrangigen For-
schungsthemen“ und „Projektvorschlägen“ unterschie-
den. Vorrangige Forschungsthemen sind Themen, die für
das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN von beson-
derer Bedeutung sind.
Vorrangige Forschungsthemen
MolekularpaläontologieInnovativ und von besonderer Bedeutung ist der Ein-
satz molekularbiologischer und genetischer Methoden bei
der Untersuchung von Fossilien (DNA-Analyse, Ami-
nosäurensequenzen, immuno-histologische Methoden,
Absorptionsspektroskopie). Aktuelle Beispiele sind die
Untersuchung nicht-mariner Gastropoden, mariner und
terrestrischer Eucaryonten, von Foraminiferen, Porifera,
Mikroorganismen und Pflanzen. Diese Techniken eröff-
nen neue Möglichkeiten, die Verwandtschaftsbeziehun-
gen zwischen Organismen und ihre Anpassung an eine
sich in der Erdgeschichte ändernde Umwelt zu verstehen.
Mikroben und mikrobielle Kontrolle der Lebens-räume und der SedimentbildungBakterien haben wesentlich vielfältigere Wege der
Stoffwechselabläufe entwickelt als Eucaryonta und Me-
tazoa. Sie sind fähig, in normalen wie extremen Bioto-
pen zu leben und haben vielfältige und über lange
Zeiträume sehr erfolgreiche Symbiosen entwickelt. Sie
hinterlassen durch ihre Stoffwechselvorgänge minerali-
sche Präzipitate oder werden selbst als Biomarker (che-
mische Fossilien) überliefert. Das Potenzial, das Mikro-
ben der Paläontologie und der Sedimentforschung bieten,
wird zur Zeit noch völlig unterschätzt. Vorrangige
Forschungsziele im Kontext des FuE-Programms GEO-
TECHNOLOGIEN sollten daher die Auswertung fossiler
Mikroben beziehungsweise Chemofossilien als Proxies
für markante Umweltänderungen und als Indikatoren für
die Evolution der „Tiefen“ und „Flachen“ Biosphäre sein.
Ferner muss der bakteriell gesteuerte Stoffkreislauf in die
Massenbilanzen des Systems Erde Eingang finden. Es gilt
herauszuarbeiten, welchen Anteil der bakteriell gesteuerte
Stoffkreislauf an der Klimadynamik besitzt.
Extrem-Biota und Extrem-BiotopeOrganismen, die an extrem kalte Lebensbedingungen
angepasst sind (Polar-Biota), oder an heiße Vent-Systeme
der Tiefsee angepasste Faunen, sowie die Bakterienfloren
der oberen Lithosphäre (obere 1.000 bis 2.000 Meter und
tiefer) zeigen, in welcher Weise die Evolution abgelaufen
sein kann und welche Bandbreite die Biosphäre heute und
in der Vergangenheit aufweist. Zudem sind Extrem-Bioto-
pe sehr sensitiv gegenüber Umweltveränderungen und
von großem Interesse für die Suche nach „biologischen
Ressourcen“. Aufgrund der aktuellen Gefährdung muss
hier der Erforschung der polaren Geoökosysteme beson-
dere Bedeutung beigemessen werden.
ProjekteDie nachfolgend skizzierten drei Projekte stellen eine
Perspektive für die zukünftige Erforschung der Bios-
phären-Entwicklung dar. Es handelt sich um Projekte, die
derzeit in paläontologischen und geologischen Arbeits-
gruppen in Deutschland und im internationalen Rahmen
intensiv diskutiert werden. Sie sollen innerhalb der nächs-
ten zehn Jahre im Rahmen von nationalen und internatio-
nalen Forschungsvorhaben verwirklicht werden.
Geobiologie der Ökosysteme des Systems Erde: Geo-physiologische Prozesse der „Flachen“ und „Tiefen“Biosphäre und deren Einfluss auf die Organismenent-stehung, Diversifizierung und RegenerationBei rezenten und fossilen Extrembiotopen handelt es
sich um marine oder lakustrine Milieus, die in ihrer
räumlichen Ausdehnung meist fleckenhaft entwickelt
sind und mindestens einen, von den Normalbedingungen
abweichenden steuernden Parameter aufweisen. Hierbei
ist zwischen Extrembiotopen der Oberflächen-Biosphäre
(Hypersaline Milieus – Messin Event, Zechstein et cetera;
Soda-Seen – Soda Ozean; Polare Eis-Environments) und
der tiefen Biosphäre zu unterscheiden. In diesen Lebens-
räumen wird die Interaktion von gekoppelten biologi-
schen und geologischen Prozessen besonders deutlich.
Von besonderem Interesse ist die „deep biosphere“,
die unterhalb der Bodenzone beginnt und bis an die Gren-
ze des vitalphysiologischen Fensters (VPF) geht. Die
Tiefenlage des VPF ist abhängig vom geothermischen
Gradienten. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand sind
aktive Organismen bis in eine Tiefe von 5-6 km und bis
zu einer Temperaturobergrenze von etwa 113°C vorhan-
den. Die geplante Untersuchung der tiefen Biosphäre
geht von zwei Thesen aus:
These 1Die „Tiefe“ Biosphäre repräsentiert einen frühen prä-
kambrischen Zustand und ermöglicht somit Einblicke in
die frühe Evolution. Die physiologische Aktivität der
Mikroben hinterlässt Spuren und steuert Mineralneubil-
dungen, Fluide und Erzlagerstätten. In verschiedenen
Tiefenstockwerken gibt es unterschiedliche mikrobielle
Organismengemeinschaften, welche die Biosphäre in
unterschiedlicher Weise kontrollieren (Daten aus Tief-
bohrungen im Kristallin, zum Beispiel Deep Gas Pro-
ject, Tunnel von Äspö, KTB).
These 2Die Tiefe Biosphäre kommt an bestimmten Stellen
des Meeresbodens in Form von Ventilen (Hot Vents,
Cold Seeps) an die Oberfläche. Für die Ansiedlung von
Benthos sind diese Ventile eine zentrale Ursache. Sie lie-
fern Nährstoffe, aktive organische Verbindungen, sowie
Organismen et cetera. Die in Skandinavien durchgeführ-
ten- Tiefengas-Projekte basieren auf dieser These.
Ventile finden sich:
• in Tiefseegräben (Nährstoffzufuhr durch langsa-
mes Einsickern aus der TBSP),
• in Cold Seeps (Kohlenwasserstoff-Quellen, die zur
Bildung von Mud Mounds beitragen können; Gas-
hydrate beziehungsweise Methanclathrate),
• in H2S-Milieus und in kalten und hydrothermalen
Zonen (Mud Mound-Bildung, „Erzriffe“) sowie
• in Atollen (endothermal upwelling) und bei Geysiren.
Paläobiologie (Stoffflüsse und Biodiversität) alsSteuerungsfaktor des Systems Erde im Känozoikum.Die gegenwärtige Klimadebatte macht es notwendig,
sich nicht nur intensiver den Prozessen und Massenbilan-
zen der Jetztzeit, sondern vermehrt auch denjenigen Ab-
schnitten der Erdgeschichte zu widmen, die von unserer
heutigen Situation deutlich abweichen. Dies sind nicht nur
die letzten Vereisungsstadien und Zwischeneiszeiten, son-
dern vor allem frühere Warmzeiten wie das Eozän.
Ziel des Projekts ist es festzustellen, welche Stoffum-
sätze und welche Stofftransportprozesse bestimmte Er-
scheinungsformen der Biosphäre bedingen und in welcher
Weise die Biosphäre die Umwelt kontrolliert. Haben die
großen Braunkohlenanhäufungen im Eozän den CO2-
Level herabgesetzt und somit die im Oligozän nachge-
wiesene Abkühlung verursacht? Im Vergleich mit der Ge-
genwart liegen in extremen Warmzeiten wie im Eozän
sehr stark abweichende ozeanische Verhältnisse vor. Kann
unter diesen Umständen die thermohaline Wasserzirkula-
tion im Ozean noch funktionieren? Was bedeutet dies für
das Plankton und speziell für das Phytoplankton?
Ursachen und Muster natürlicher Ökosystem-DynamikNahezu alle Eingriffe des Menschen in seine Umwelt
betreffen unmittelbar oder mittelbar die Biosphäre. Dies
gilt für Veränderungen der Atmosphären-Zusammenset-
zung, des Klimas, der Gewässerchemie und der Land-
und Gewässernutzung (Verbauung, Waldrodung, terrest-
rische und marine Rohstoffnutzung, Überfischung,
Landwirtschaft). Obgleich die anthropogene Gefähr-
dung der Biosphäre grundsätzlich erkannt ist, besteht
Unklarheit über die konkreten Konsequenzen der
menschlichen Aktivitäten. Insbesondere bleibt unver-
standen, wie Biomasse, Struktur, Vielfalt und Verbrei-
tung der verschiedenen Ökosysteme auf Veränderungen
von Umweltparametern reagieren. Einige der in diesem
Zusammenhang relevanten Fragen lassen sich am besten
durch einen geowissenschaftlichen und geobiologischen
Forschungsansatz klären, da sie Prozesse und Prozess-
kopplungen betreffen, die auf kurzen und langen Zeit-
skalen (deutlich mehr als 10 Jahre) ablaufen und letzte-
re durch einen allein gegenwartsbezogenen Ansatz nicht
erfasst werden können.
In einem interdisziplinären Verbundprojekt sollen in
terrestrischen und marinen Ökosystemen folgende Fra-
gen untersucht werden:
• Wie verhalten sich unterschiedliche Ökosysteme
unter weitgehend stabilen Umweltbedingungen?
Hierbei ist zu klären, ob tatsächlich „Klimax-Ge-
sellschaften“ existieren, ob autozyklische Verände-
rungen eine Rolle spielen und welche Faktoren (Di-
versität, Klimazonierung) dafür wesentlich sind.
• Wie und wie schnell reagieren verschiedene Ökosy-
steme auf Veränderungen der Umweltparameter?
Die relevanten Reaktionsmuster von Ökosystemen
betreffen dabei insbesondere die Biomasse, morpho-
logisch-physiologische Modifikationen (bei Wald-
Ökosystemen zum Beispiel Veränderungen des leaf
area index oder Stoma-Dichten als Proxy für die Wa-
ter Use Efficiency), ferner Wanderungsbewegungen
von Organismen, sowie genetische und evolutive
Veränderungen. Als maßgeblicher Umweltparame-
ter darf nicht nur das Klima angesehen werden, son-
dern auch Nährstoffe und Sauerstoff- beziehungs-
weise Kohlendioxid-Konzentrationen.
• Welches sind die gegenüber Umwelt- und Klima-
veränderungen besonders sensitiven Ökosysteme
und welche Ursachen liegen dieser Sensitivität zu-
grunde? Hier müssen tropische mit polaren Ökosy-
stemen, Wälder mit Savannen, Steppen und Gras-
länder, Watt- mit Schelfbereichen, Riffe mit offen
marinen Bereichen und Kontinentalränder mit
Tiefseearealen verglichen werden.
Diese Fragen sollen in verschiedenen Zeitscheiben
des Phanerozoikums, bevorzugt im Meso- und Känozoi-
kum, untersucht werden. Oberstes Ziel ist ein besseres
Verständnis der Kopplung der Biosphäre mit den ande-
ren Komponenten des Systems Erde als Grundlage für
die Entwicklung nachhaltiger Umweltmanagement-
Konzepte.
83
Alle geotechnischen Maßnahmen auf, über und unter der Erde sind mit Großeinsätzen von
Personal, Maschinen und Kapital verbunden und haben bedeutende Auswirkungen auf
Umwelt, Wirtschaft und Politik. Die vorausschauende Einschätzung von Umwelt-Aus-
wirkungen neuer technischer Erfindungen und Entwicklungen ist deshalb notwendig, um Vorsor-
ge vor späteren Umweltschäden oder kostenträchtigen Fehlinvestitionen zu treffen. Die zuneh-
mende Nutzung des Untergrundes als Lieferant für Bodenschätze, Wasser und Energie sowie als
möglicher Speicher für rückholbare oder auch nicht-rückholbare Güter erfordert ein einheitliches
Schutzkonzept.
Für die Erkundung, die Nutzung und den Schutz des unterirdischen Raumes werden geowissen-
schaftliche und geotechnische Methoden in allen Zeitskalen benötigt: Minuten, Stunden, Tage
und Monate während der Bauphase, Jahre bis Jahrzehnte in der Betriebsphase und gegebenen-
falls Jahrhunderte bis Jahrtausende, zum Beispiel für die Sicherheit von Deponien toxischer
Abfallstoffe in der Nachbetriebsphase. Die Entwicklung von bau- und betriebsbegleitenden
Messtechniken und Auswerteverfahren für Qualitätssicherung und langzeitige Qualitätskontrolle
der unterirdischen Anlagen in Boden und Fels sind eine geowissenschaftliche Aufgabe hoher
Priorität, die nur gemeinsam mit den Ingenieurwissenschaften interdisziplinär definiert und bear-
beitet werden kann.
Eine Nichtbeachtung der kausalen Zusammenhänge zwischen den geologischen Gegebenheiten
und den bautechnischen Maßnahmen verstieße gegen die anerkannten Regeln der Geotechnik
und könnte gravierende wirtschaftliche Schäden nach sich ziehen. So ist zum Beispiel bei der
Herstellung von Tunneln in den meisten Fällen die Bauphase besonders kritisch und muß durch
entsprechende Messprogramme sorgfältig begleitet werden, während bei Bohrungen zur Förde-
rung von Erdöl und Erdgas die Stabilität des Gebirges für die Dauer der Produktionsphase gesi-
chert werden muss. Bei untertägigen Speicher-, Deponie- und Kraftwerkskavernen schließlich
hat die langzeitige Dichtigkeit und damit die Sicherheit für die Umwelt in der Betriebs- und
Nachbetriebsphase fundamentale Bedeutung.
85
Erkundung, Nutzung und Schutz desunterirdischen Raumes
In die Tiefe gehen – Der Untergrund als Ver-kehrs- und Wirtschaftsraum
Jede Sekunde wird in Deutschland eine Fläche von
15 m2 für neue Siedlungsprojekte und Verkehrsmaß-
nahmen beansprucht. Mehr als 10 % der Gesamt-
fläche Deutschlands sind bereits als „bebaute Flächen“ausgewiesen. Dies entspricht zusammengenommen in
etwa einem Gebiet von der Größe der Bundesländer
Thüringen, Schleswig-Holstein, Saarland, Berlin, Ham-
burg und Bremen. Die zunehmende Nutzung freier Flä-
chen und die Zerschneidung der Landschaft erfolgt je-
doch in immer höherem Maße auf Kosten der Natur und
der Lebensbedingungen von Tieren und Pflanzen. Für
den Menschen bedeutet der zunehmende Landschafts-
verbrauch die Verringerung kostbarer Erholungsräume
und eine erhöhte Lärmbelastung. In der Nachhaltigkeits-
strategie für Deutschland wird daher der Erhaltung von
Freiflächen eine hohe Priorität zugemessen.
Stadtentwickler und Verkehrsplaner werden in Zu-
kunft somit vermehrt den Untergrund nutzen. Nur so
lässt sich über der Erde kostbarer Platz für Mensch und
Natur erhalten. Die Deutsche Bahn AG will beispiels-
weise bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts eine Reihe von
Großstadtbahnhöfen mit ihren weitverzweigten Gleis-
anlagen unter die Erde verlegen. Bauprojekte im tiefe-
ren Untergrund sind bisher jedoch mit erheblichen
technischen und finanziellen Risiken verbunden. Insbe-
sondere unzureichende Kenntnisse über die Beschaf-
fenheit des Baugrundes verursachen immer wieder
enorme Mehrkosten.
Um unkalkulierbare Kostensteigerungen zu vermei-
den, sind verbesserte Methoden zur Baugrunderkundung
notwendig. Durch die Entwicklung neuer Technologien
auf diesem Gebiet könnten Kosten und Risiken zukünf-
tiger Baumaßnahmen vermindert und die internationale
Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in diesen
Bereichen nachhaltig gestärkt werden.
Auch als Speicherraum und umweltfreundliche Ener-
gieressource gewinnt der Untergrund weiter an Bedeu-
tung. Aus Norddeutschland liegen umfangreiche Erfah-
rungen im Bau unterirdischer Kavernen zur Bevorratung
von Erdgas vor. Solche Speicher, einige groß genug um
den Eiffelturm aufzunehmen, gleichen die starken jahres-
zeitlichen Schwankungen im Energieverbrauch aus und
dienen als nationale Energiereserve. Versuche in Norwe-
gen zeigen sogar, dass eine langfristige Einlagerung des
Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) im tieferen Unter-
grund technisch realisierbar ist. Seit 1996 werden hier
jährlich 1 Million t CO2 in den Untergrund der Nordsee
verpresst. Das Abtrennen von Kohlendioxid aus Indu-
strieabgasen und dessen Deponierung im Untergrund
86
Abb. 33: Gleisanlagen werden zu attraktiven Erho-lungsflächen (Computersimulation für den FrankfurterHauptbahnhof).
Themenschwerpunkt: „Erkundung, Nutzung und Schutz des unterir-dischen Raumes“.
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
wird inzwischen weltweit als ein entscheidender Bei-
trag zur Reduktion der klimaschädlichen Treibhausga-
se angesehen.
Noch liegen die Kosten jedoch jenseits einer ökono-
misch sinnvollen Anwendung. Wissenschaft und Indus-
trie haben daher damit begonnen, neue Technologien
zu entwickeln, um dieses Verfahren im Sinne unserer
Umwelt wirtschaftlich zu machen. Auch in Deutsch-
land existiert an diesem hochinnovativen Forschungs-
feld ein vitales Interesse von Industrie, Wissenschaft
und Gesellschaft.
Gleiches gilt für die intelligente Nutzung regenerati-
ver Energien aus dem Untergrund als Beitrag zur CO2-
Reduzierung. Sowohl im nationalen wie auch im eu-
ropäischen Verbund werden prototypische Projekte mit
dem Ziel gefördert, Prozesswärme und/oder elektrischen
Strom mittels Erdwärme zu erzeugen.
Die volkswirtschaftliche, gesellschaftliche und um-
weltpolitische Bedeutung des unterirdischen Raumes ist
somit erheblich. Eine sichere und ökonomisch vertretbare
Nutzung erfordert jedoch einen fachübergreifenden wis-
senschaftlichen Ansatz. Nur so lassen sich bestehende Ri-
siken und überschneidende Nutzerinteressen verantwor-
tungsvoll definieren und Lösungskonzepte erarbeiten.
Das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN bietet
aufgrund seiner interdisziplinären und ressortübergrei-
fenden Ausrichtung den Rahmen, diesen speziellen An-
forderungen gerecht zu werden. In dem Themenschwer-
punkt „Erkundung, Nutzung und Schutz des unterirdi-
schen Raumes“ sollen sich die Forschungsanstrengun-
gen zunächst auf folgende Kernthemen konzentrieren:
• Entwicklung neuer Erkundungs- und Überwachungs-
technologien für den Untergrund
• Unterirdische Speicherung von Treibhausgasen
Entwicklung neuer Erkundungs- und Über-wachungstechnologien für den Untergrund
Das Bauen im Untergrund ist auch heute noch mit er-
heblichen finanziellen und technischen Risiken verbun-
den. Jüngste Beispiele sind die ICE-Neubaustrecken
Köln-Rhein/Main und München-Ingolstadt-Nürnberg, die
um rund 1 Milliarde Euro teurer werden als ursprünglich
geplant. Andere Baumaßnahmen zeigen ähnliche Trends
wie zum Beispiel die Großbaustellen und Tunnelprojekte
in Berlin. Das Baugrundrisiko liegt im allgemeinen beim
Bauherrn, und das ist in vielen Fällen die Öffentliche
Hand. Neue Technologien für eine sichere und zuverlässi-
ge Erkundung des Baugrundes könnten Risiken minimie-
ren, die Baukosten senken und der Bauwirtschaft im In-
teresse qualifizierter Arbeitsplätze neue Impulse geben.
87
Abb. 34: Die unterirdische Speicherung von CO2 könn-te ein entscheidender Beitrag zur Reduktion von Treib-hausgasemissionen sein.
Abb. 35: Noch Zukunftsvision: Unterirdische Logstiksysteme für eine schnelle und zuverlässige Verteilung von Gütern in Ballungsgebieten.
Die Innovationsbereitschaft und -fähigkeit der deut-
schen Bauindustrie ist im internationalen Vergleich
deutlich unterentwickelt. Nur 0,1 bis 0,4 % des Umsat-
zes werden für Forschung und Entwicklung aufge-
wandt. Im Vergleich: Die japanische Bauindustrie wen-
det mehr als 1 % ihres Umsatzes für Forschung und
Entwicklung (FuE) auf.
Trotzdem besitzt die deutsche Bauindustrie in tech-
nisch und planerisch anspruchsvollen Bereichen eine
weltweit führende Position. Bestes Beispiel ist der Spe-
zialtunnelbau. Um diese Spitzenstellung zu erhalten ist
es erforderlich, Forschung und Entwicklung zu intensi-
vieren und bestehende FuE-Tätigkeiten zu bündeln. Die
Chance Deutschlands besteht hier im Anbieten hochwer-
tiger Technologien für Projekte, die überwiegend im
Ausland liegen und die ohne moderne Technik nicht rea-
lisierbar sind. Nur so können deutsche Unternehmen auf
dem heute engen Baumarkt gegen die Konkurrenz aus
Übersee aber auch dem europäischen Ausland wettbe-
werbsfähig bleiben und Arbeitsplätze sichern.
Die Bauverfahren und die Kosten für große Bauwer-
ke im Untergrund werden wesentlich von der geologi-
schen Situation vor Ort bestimmt. Die Bandbreite der
Untergrundformationen reicht von Torf und Schlick bis
zu massivem Fels. Entsprechend vielfältig sind die bau-
technischen Eigenschaften und geotechnologischen
Maßnahmen. Die Erkundung des Untergrundes ist des-
halb ein wichtiger Faktor bei der exakten Planung und
Durchführung von Bauvorhaben.
Nur mit verbesserten Methoden lassen sich die Unter-
grundeigenschaften genauer erkennen, die Bauverfahren
treffender bestimmen und damit Kostenerhöhungen ein-
schränken.
Im Rahmen von Verbundvorhaben zwischen Unter-
nehmen der Bauwirtschaft und wissenschaftlichen Ein-
richtungen sollen daher FuE-Projekte zu folgenden The-
menschwerpunkten in Angriff genommen werden:
• Neu- und Weiterentwicklung von Vorauserkun-
dungssystemen, die in den laufenden Baubetrieb
integriert werden
Die Verfahren müssen robust, zuverlässig und hoch-
auflösend sein. Die Ergebnisse müssen vor Ort online
ausgewertet, visualisiert und interpretiert werden. Be-
sonders erfolgversprechend sind hier seismische Verfah-
ren, die eine genügend große Eindringtiefe und die er-
forderliche Auflösung bieten. Auf Tunnelbohrmaschinen
88
Abb. 36: Eine mangelhafte Baugrunderkundung oderfehlende Sicherheitsmaßnahmen können fatale Folgen haben. Beim U-Bahn-Bau in München tat sich 1994überraschend die Erde auf und riss mehrere Menschen in den Tod.
Abb. 37: Noch ist die deutsche Bohrtechnik weltweitführend.
während des Vortriebs eingesetzt, können mit ihrer Hilfe
kritische Veränderungen des Gesteins rechtzeitig erkannt
oder gefährliche Kollisionen vermieden werden.
• Entwicklung neuer Sicherheitskonzepte und Sicher-
heitstechnologien.
Dies betrifft im Verkehrstunnelbau insbesondere den
Brandschutz, aber auch automatische Systeme zur Stör-
falldetektion. Darüber hinaus ist die Weiterentwicklung
von Verschiebungs-, Dehnungs-, Druck- und Tempera-
tursensoren notwendig, die eine automatisierte Überwa-
chung vor und nach der Bauphase, sowie im laufenden
Betrieb ermöglichen.
• Bessere Verfahren zur Stabilisierung des Baugrundes
und zur Abdichtung der unterirdischen Hohlraumbau-
ten gegen eindringendes Grundwasser.
Gerade im innerstädtischen Bereich, wo Setzungen
oder gar der Einsturz der Oberfläche zu großen Schäden
führen können, sind stabile Baugrundverhältnisse von
großer Bedeutung. Im Tunnelbau besteht dringender Be-
darf an neuen Mess- und Injektionstechniken zur Bewäl-
tigung des Wassers in den verschiedenen Untergrund-
verhältnissen und geologischen Störungszonen.
Unterirdische Speicherung von Treibhausgasen
Eine der ganz großen Herausforderungen der Zukunft
ist die im Protokoll von Kyoto vereinbarte Reduktion
der klimaschädlichen Treibhausgase.
Deutschland ist hiernach bis spätestens 2012 zu einer
Verminderung seiner Treibhausgasemissionen um 21 %
unter das Niveau von 1990 verpflichtet. Bis 2005 sind
hierzu nachweisbare Fortschritte vorzulegen. Bei den
CO2-Emissionen hat sich Deutschland sogar zu einer Re-
duktion um 25 % bis zum Jahr 2005 bekannt und dies als
ein nationales Klimaschutzziel festgelegt.
Da Kohle, Erdöl und Erdgas auch auf absehbare Zeit
unverzichtbarer Bestandteil unserer Energieversorgung
bleiben, werden derzeit weltweit alle Möglichkeiten zur
Reduktion anthropogener Klimagas-Emissionen ausge-
lotet. Eine Schlüsseltechnologie ist für viele Wissen-
schaftler das Abtrennen von Kohlendioxid aus Industrie-
abgasen und seine langfristige Lagerung im Untergrund.
89
Abb. 38: Bohrmaschine mit Weitblick: Künstlich er-zeugte seismische Wellen tasten den Untergund auf un-erwartete Hindernisse ab.
Abb. 39: Tunnelsicherheit – ein hochaktuelles Thema.
In Deutschland ließe sich mit einer effizienteren Ener-
gieausnutzung, der Förderung regenerativer Energien und
der Entwicklung emissionsarmer Motortechniken bis
2005 eine CO2-Minderung von 18-20 % erreichen. Das
entspricht einer Menge von etwa 180-200 Millionen Ton-
nen CO2 (Quelle: Umweltbundesamt, 2000).
Das Abtrennen von Kohlendioxid aus Industriegasen
und seine unterirdische Deponierung könnte somit ande-
re Technologien zur Schließung der noch verbleibeden
Deckungslücke sinnvoll ergänzen.
In Deutschland existieren nach ersten Untersuchun-
gen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh-
stoffe (BGR) Speichermöglichkeiten für CO2 in ausge-
förderten Gasfeldern, in tiefen Aquiferen und in derzeit
nicht abbaubaren tiefliegenden Kohleflözen.
Eine nationale Initiative, die bestehende Forschungs-
und Entwicklungsarbeiten bündelt und neue Vorhaben
initiiert, steht jedoch noch aus. Das FuE-Programm
GEOTECHNOLOGIEN bietet mit dem Themenschwer-
punkt „Erkundung, Nutzung und Schutz des unterirdi-
schen Raumes“ hierzu eine ausgezeichnete Plattform.
Insbesondere sollen Wirtschaftsunternehmen unterstützt
werden, die Forschung und Entwicklung für notwendige
technologische Innovationen in Zusammenarbeit mit
wissenschaftlichen Einrichtungen in Angriff zu nehmen.
Notwendige Forschungsthemen sind:
• Ermittlung von Speicherkapazitäten geeigneter Ge-
steinsformationen unter Berücksichtigung der Be-
triebs- und Langzeitsicherheit.
• Entwicklung numerischer Modelle zur Prognose der
Ausbreitung von CO2 im Untergrund und zur Ab-
schätzung möglicher Gefährdungen von Grund- und
Meerwasser.
• Wie wirken sich Bohrungen auf die Durchlässigkeit
abdeckender Gesteinsschichten aus?
• Reaktionskinetik zwischen Speichergestein und inji-
ziertem Kohlendioxid.
• Neu- und Weiterentwicklung von Technologien, mit
denen eine verlässliche Überwachung der Ausbrei-
tung des Gases im Untergrund möglich wird. Hier
bieten sich insbesondere geophysikalische und geo-
chemische Verfahren an, die in Kontrollbohrungen
und an der Oberfläche eingesetzt werden.
• Ermittlung der petrologischen und mechanischen
Eigenschaften von Speichergesteinen und Deck-
schichten unter originären Druck- und Temperatur-
bedingungen.
• Feldexperimente und Injektionstests, um die in La-
borexperimenten und thermodynamischen Modell-
rechnungen ermittelten Ergebnisse zu überprüfen
(Demonstrationsvorhaben).
Mit den hier vorgeschlagenen Forschungsthemen
könnten nicht nur neue Impulse zur Stärkung der Wettbe-
werbsfähigkeit und zum Erhalt von Arbeitsplätzen gege-
ben werden. Die FuE-Arbeiten könnten auch einen wich-
tigen Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung liefern.
90
Abb. 40: CO2-Emissionsquellen in Deutschland –große Mengen des schädlichen Treibhausgaseskönnten vor Ort abgetrennt und deponiert werden.
91
Abb. 41: Neue Technologien machen es möglich:Gefährliche Treibhausgase könnten im Untergrunddeponiert werden.
Die erdoberflächennahen Regionen der Erde beinhalten mehrere Hundertmillionen
Quadratkilometer Mineraloberflächen, auf denen unter anderem eine Vielzahl chemi-
scher Reaktionen stattfinden. Umweltrelevante Prozesse werden direkt von den physika-
lisch-chemischen Eigenschaften dieser Oberflächen gesteuert. So wird zum Beispiel die Mobi-
lität von Schwermetallen im Grundwasser durch den Einbau und damit die Fixierung von Spu-
renelementen bei der Kristallisation von Mineralen aus wässrigen Lösungen kontrolliert. Bei der
Untersuchung dieser Prozesse müssen sowohl gleichgewichtsthermodynamische, als auch kineti-
sche Aspekte berücksichtigt werden. Darüber hinaus werden bei vielen geotechnischen Anwen-
dungen oberflächenspezifische Reaktionen eingesetzt, um bei Kristallisationsprozessen durch
Zugabe geeigneter Additive die Kristallmorphologie zu kontrollieren, die Keimbildung zu unter-
binden und damit die Kristallisationskinetik zu hemmen (zum Beispiel bei der Hydratation von
Bohrlochzementen oder der Bildung schwerlöslicher Niederschläge bei der Erdölförderung).
Die Wechselwirkung von Mineralen mit ihrer Umgebung findet an deren Grenzfläche statt, das
heißt sie ist auf wenige Atomlagen lokalisiert. Dabei ist zu beachten, dass die atomare Struktur ,
sowie die physikalischen und elektronischen Eigenschaften der Oberfläche sehr verschieden von
denen des Inneren der Minerale sein können. Zusätzlich können strukturelle Defekte sowie die
Mikrotopographie (atomare Stufen) in einer inhomogenen Verteilung der Oberflächenreaktivität
resultieren. Daher wird das Verständnis der fundamentalen Prozesse auf Mineraloberflächen im
atomaren Maßstab ein Verständnis globaler Wechselwirkungen innerhalb geochemischer Stoff-
kreisläufe ermöglichen.
Dies wird zuverlässige Vorhersagen eines dynamischen Systems wie dem der Erde auf der
Basis von numerischen Modellen ermöglichen. Darüber hinaus kann bei Kenntnis der reak-
tionsbestimmenden Wechselwirkungsparameter zwischen Mineral und Umgebung die For-
schung und Entwicklung geotechnisch verwendeter organischer und anorganischer Additive
unter den Gesichtspunkten der Prozessoptimierung und Umweltverträglichkeit verbessert wer-
den. Nur durch die direkte Beobachtung der Reaktionsmechanismen im atomaren Maßstab
und deren Modellierung können viele globale Prozesse im Hinblick auf ein Erdmanagement
verstanden und vorausgesagt werden.
93
Mineraloberflächen:Von atomaren Prozessen zur Geotechnik
Die Reaktivität von Mineraloberflächen
Zahlreiche Prozesse in der Natur, aber auch bei
technischen Anwendungen, werden durch Reak-
tionen an der Grenzfläche zwischen
einem Mineral und dessen lokaler Umgebung
kontrolliert. Letztlich bestimmen Grenzflächen-
reaktionen an Mineraloberflächen die Lebens-
bedingungen in unserer Umwelt. Kristallisati-
ons- und Auflösungsprozesse im wässrigen
Milieu bei relativ niedrigen Temperaturen spie-
len dabei eine entscheidende Rolle.
• Die geochemische Verteilung vieler Elemen-
te und Verbindungen wird durch Kristallisa-
tions- und Auflösungsprozesse gesteuert. So
kontrolliert zum Beispiel die Ausfällung von
CaCO3 (Calcit) in den Ozeanen den globalen
CO2-Haushalt und damit die langfristige Ent-
wicklung der Atmosphäre. Die Kristallisation
schwerlöslicher Präzipitate (Kesselstein, zum
Beispiel BaSO4, Baryt) stellt ein großes tech-
nisches Problem bei der sekundären Off-
shore-Erdölförderung dar, welches mit enor-
men Produktionsverlusten verknüpft ist. Die
Mobilisierung und der Transport von Spuren-
elementen im Grundwasser wird durch Anla-
gerungsprozesse an Mineraloberflächen kon-
trolliert. Dabei ist häufig nicht bekannt,
durch welchen Mechanismus bestimmte Spu-
renelemente gebunden werden (Adsorption,
Ionenaustausch, Ausfällung). So ist zum Bei-
spiel die Bindung von Cadmium an Calcit über
die Bildung eines idealen (Ca,Cd)CO3 Misch-
kristalls grundsätzlich von der Bindung von
Nickel an Quarz durch Adsorption zu unter-
scheiden. Ein quantitatives Verständnis des
reaktiven Transports in porösen Medien ist
für die Modellierung von Fluid/Gestein-
Wechselwirkungen besonders wichtig.
• Die Wechselwirkung organischer Moleküle
mit Mineraloberflächen kontrolliert viele bio-
geochemische Prozesse. Pflanzen synthetisie-
ren in ihrem Wurzelbereich hochspezifische
Komplexbildner, um gezielt Nährstoffe aus Mineral-
oberflächen in Böden herauszulösen. Vergleichbare
Mechanismen nutzt man bei der Beseitigung schwer-
löslicher Niederschläge (Kesselstein) bei industriellen
Anwendungen, bei der synthetische Komplexbildner
zum Einsatz kommen. Darüber hinaus werden organi-
sche Additive bei vielen industriellen Kristallisations-
prozessen eingesetzt, um die Kinetik und Mechanis-
men des Kristallwachstums zu kontrollieren (zum Bei-
spiel Erstarrungsverzögerer bei Zementen, Mikrostruk-
tur von Gipsbaustoffen, Abb. 42).
• Die Auflösung von Sulfidmineralen in Erz- und
Braunkohlelagerstätten und die damit verbundene
Freisetzung saurer Abflüsse (acid mine drainage)
stellt ein erhebliches Umweltrisiko dar. Der Auflö-
sungsmechanismus wird dabei von Redoxreaktionen
begleitet. Die lokale elektronische Zustandsdichte an
den halbleitenden Sulfidmineraloberflächen ist je-
doch nur unzureichend bekannt. Eine zuverlässige
Vorhersage der zu erwartenden Umweltreaktionen in
94
Abb. 42 a,b: Mikrostruktur von Gipsbaustoffen: (a) Gips aus Be-taHalbhydrat ohne Zusatzmittel, (b) mit 0,1 Mol-% Citronsäureals Verzögerer (Bildbreite jeweils 45 Mikron).
Themenschwerpunkt: „Mineraloberflächen: Von atomaren Prozes-sen zur Geotechnik“.
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
der näheren Umgebung derartiger Lagerstätten ist
dringend erforderlich.
Heterogene Reaktionen an der Fluid/MineralGrenz-
fläche sind im allgemeinen sehr komplex. Meist können
die Beiträge einzelner Mechanismen aus einfachen ma-
kroskopischen Laborexperimenten oder Untersuchungen
an natürlichen Systemen nicht entschlüsselt werden, da
mehrere Mechanismen simultan ablaufen. Da verschie-
dene Reaktionstypen räumlich getrennt ablaufen, das
heißt im mikroskopischen Maßstab an unterschiedlichen
Reaktionsplätzen an der Oberfläche, müssen die indivi-
duellen Reaktionsmechanismen auf atomarem Maßstab
untersucht werden, um die Komplexität der Gesamtreak-
tion zu verstehen.
Ansätze zur Erforschung heterogener Prozessean Mineraloberflächen
Da die sehr spezifischen Eigenschaften von Mine-
raloberflächen die vielfältigen Prozesse an Grenzflächen
beeinflussen, wie zum Beispiel Verwitterung, Kristall-
wachstum und -auflösung, Adsorption und Fällung so-
wie katalytische und Redoxreaktionen, ist es von ent-
scheidender Bedeutung, Mineraloberflächen mit spezifi-
schen Methoden zu charakterisieren. Es
müssen also gezielt die Mikrotopogra-
phie, die chemische Zusammensetzung,
sowie die atomare und elektronische
Struktur weniger oberflächennaher
Atomlagen untersucht werden.
So können zum Beispiel Kristalli-
sation und Auflösungsreaktionen von
Mineralen in wässrigen Lösungen in
ein umfangreiches Netzwerk theoreti-
scher Betrachtungen eingebunden
werden, die auf dem Kossel-Modell
für Kristalloberflächen beruhen (circa
1920), oder auf dem BCF-Modell für
Spiralwachstum (circa 1950) und dem
birth & spread Modell für heterogene
Keimbildung (circa 1950, vgl. Abb. 43)
basieren. Häufig sind die individuel-
len mikroskopischen Mechanismen
sowie deren Beitrag zur Gesamtreak-
tionsrate nur indirekt zugänglich und
werden aus makroskopischen Experi-
menten abgeleitet. Obwohl makrosko-
pische Experimente wichtige Informa-
tionen zur Gleichgewichtsthermody-
namik und Reaktionskinetik liefern,
haben indirekte Rückschlüsse, zum
Beispiel von Reaktionskinetiken auf individuelle Reak-
tionsmechanismen, häufig zu zweifelhaften oder gar
falschen Ergebnissen geführt. Erst die Untersuchung der
individuellen Mechanismen im atomaren und molekula-
ren Maßstab ermöglicht die Charakterisierung der Ober-
flächenreaktivität und letztlich eine zuverlässige quanti-
tative Modellierung heterogener Reaktionen.
In den Geowissenschaften wurden bereits zahlreiche
Projekte und Themen im Zusammenhang mit der Reak-
tivität von Mineraloberflächen bearbeitet, obwohl dies
nur selten explizit zum Ausdruck kommt. Dabei wurden
verschiedene Messtechniken eingesetzt, von denen hier
lediglich zwei beispielhaft genannt sein sollen:
• Die Transmissionselektronenmikroskopie (TEM) und
weitere in den Geowissenschaften bereits etablierte
Methoden (zum Beispiel Kathodoluminiszenz) haben
bereits zahlreiche neue Erkenntnisse über die Wech-
selwirkung von Mineralen mit ihrer Umgebung gelie-
fert. Die Untersuchung von Wachstumszonarbau von
Mineralen mittels hochauflösender TEM ermöglicht
die Untersuchung der kinetischen Bedingungen
während des Kristallwachstums und damit des Ein-
baus verschiedener Spurenelemente an der Mineral/
Fluid-Grenzfläche. Ferner hat sich in jüngster Ver-
gangenheit gezeigt, dass Verwitterungsprozesse über
interne Grenzflächen verlaufen. Moderne TEM-Un-
tersuchungen haben diese bisher wenig beachteten
Reaktionen aufgezeigt und so darauf hingewiesen,
dass der Begriff der reaktiven Oberfläche, der erheb-
lich von der geometrischen Oberfläche abweichen
kann, neu überdacht werden muss.
• Makroskopische Experimente in einem einfachen Re-
aktor (zum Beispiel Mixed Flow Reactor) zur Simu-
95
Abb. 43: Baryt (001) Oberfläche in übersättigterLösung. Man erkennt molekulare Stufen mit einerHöhe von 0,35 nm, was einer BaSO4 Schicht in derBarytstruktur entspricht. Das Wachstum einer Spiralesowie die Bildung 2-dimensionaler Keime kann in situbeobachtet werden.
lation geochemischer Prozesse (Adsorption, Kristalli-
sation, Auflösung) sind für das Verständnis natürli-
cher Prozesse unumgänglich, da die Komplexität der-
artiger Prozesse an natürlichen Proben nicht kontrolliert
werden kann. Sie können als Bindeglied zwischen mi-
kroskopischen Untersu-
chungen und Beobach-
tungen an natürlichen Sy-
stemen angesehen wer-
den. Dabei ist der Einsatz
moderner instrumenteller
Analytik unumgänglich
(zum Beispiel ICP -MS,
HPLC). Allerdings sind
die Interpretationsmög-
lichkeiten dieser Ergeb-
nisse im Hinblick auf die
Reaktionsmechanismen
zum Teil eingeschränkt,
obwohl sie wertvolle In-
formationen liefern. Le-
diglich oberflächensensi-
tive Messmethoden kön-
nen die benötigten Daten
heterogener Reaktionen
liefern. Die Untersu-
chung von Festkörper-
oberflächen wird in der
Physik/Chemie bereits
seit mehr als 15 Jahren
erfolgreich durchgeführt.
Sie wurde durch wichtige technologische Fortschritte
erst ermöglicht. Zahlreiche oberflächensensitive Mes-
smethoden wurden dabei insbesondere in jüngerer
Vergangenheit entwickelt. Diese Messtechniken wer-
den neuerdings auch an geowissenschaftlich relevan-
ten Proben im Hinblick auf die atomare Struktur, die
chemische Zusammensetzung und die Oberflächen-
morphologie/Mikrotopographie eingesetzt, wobei
sich die folgenden Untersuchungsmethoden als be-
sonders geeignet erwiesen haben:
• Beugungsexperimente mit niederenergetischen Elek-
tronen (LEED) und Röntgenstrahlung an Oberflächen-
atomen erlauben eine routinemäßige Untersuchung
der periodischen Struktur von Festkörperoberflächen.
Die atomare Struktur von Mineraloberflächen kann
von der Volumenstruktur signifikant abweichen.
Neben einfachen Relaxationserscheinungen, können
die Atome/Moleküle an einer Mineraloberfläche ihre
laterale Position verändern und eine Überstruktur aus-
bilden. Die strukturellen Informationen liefern wich-
tige Parameter für zum Beispiel Computersimulatio-
nen zur Reaktivität von Mineraloberflächen.
• Für die Untersuchung der chemischen Zusammenset-
zung und der Oxidationszustände von Mineralober-
flächen wurden bereits Röntgenphotoemissions- und
Augerelektronenspektroskopie (XPS/AES), Röntgen-
absorptionsspektroskopie (zum Beispiel XANES/
EXAFS), sowie verschiedene Ionentechniken (zum
Beispiel TOF-SIMS) sehr erfolgreich eingesetzt. Die
Kenntnis, dass sich zum Beispiel viele Silikate inkon-
gruent auflösen und eine an bestimmten Elementen
verarmte Oberflächenzone im Nanometerbereich aus-
bilden, wurde vor allem durch die XPS Untersuchun-
gen bestätigt. XANES/EXAFS Experimente haben
wichtige Informationen über den Adsorptionsmecha-
nismus vieler Spurenelemente an Mineraloberflächen
geliefert und somit die Modellierung reaktiver Trans-
portprozesse in porösen Medien ermöglicht.
• Die Entwicklung der Rastersondenmikroskopie (Ras-
tertunnelmikroskopie: RTM; englisch: Scanning
Tunneling Microscopy: STM und Rasterkraftmikro-
skopie: RKM; englisch: Atomic Force Microscopy:
AFM), für die Mitte der 80er Jahre der Physiknobel-
preis vergeben wurde, hat auch in den Geowissen-
schaften neue Einblicke in die atomaren/molekularen
Prozesse an Mineraloberflächen bei Fluid/Mineral-
Wechselwirkungen ermöglicht. Erstmals konnte die
Morphologie/Mikrotopographie von Mineralober-
flächen an Luft und in wässrigen Lösungen im ato-
maren Maßstab untersucht werden (44, 45). Darüber
hinaus konnten Kristallisations- und Auflösungspro-
zesse in situ, das heißt in wässrigen Lösungen, direkt
96 Abb. 44: Computersimulation zur Bildung 2-dimensio-naler Keime auf einer Baryt (001) Oberfläche. Diefächerartige Form der Wachstumsinsel stimmt außer-ordentlich gut mit beobachteten Wachstumsinseln über-ein. (siehe AFM Aufnahme in vorheriger Abb.). Somitkann die atomare Struktur von Wachstumsinseln ent-schlüsselt werden.
beobachtet werden. Die Dynamik des Wachstums ato-
marer Stufen, die Bildung zweidimensionaler Keime,
sowie die Ausbildung von Wachstumsspiralen konnte
mit molekularer Auflösung beobachtet werden. Da-
durch konnte der Beitrag einzelner Kristallisations-
mechanismen zur Gesamtrate als Funktion der Über-
sättigung erstmals bestimmt werden. Viele Ober-
flächenreaktionen verlaufen nicht homogen verteilt
auf einer Mineraloberfläche ab, sondern sind an be-
stimmten Oberflächenpositionen lokalisiert (struktu-
relle Defekte, atomare Stufen), wodurch die reaktive
Oberfläche signifikant kleiner ist als die geometrische
Oberfläche, wie sie mit Standardverfahren (BET-Ver-
fahren) ermittelt wird. Meist ist es nicht möglich, die
reaktive Oberfläche aus makroskopischen Experi-
menten zu bestimmen. Die Rastersondenmikroskopie
ermöglicht es, Grenzflächenreaktionen direkt zu be-
obachten und somit die reaktive Oberfläche zu cha-
rakterisieren.
• Erhebliche Fortschritte in der Computertechnologie
ermöglichen Simulationen heterogener Grenzflächen-
reaktionen (molecular modeling, ab-initio-Berech-
nungen). Dadurch können fundamentale Reaktions-
mechanismen an Mineraloberflächen aufgeklärt wer-
den, die der direkten Messung häufig nicht zugäng-
lich sind (zum Beispiel bei Redoxreaktionen, Schwer-
metalladsorption). Darüber hinaus liefern derartige
Simulationen wichtige Informationen bei der Inter-
pretation experimenteller Daten (zum Beispiel STM-
Aufnahmen, Abb. 45). Die Anlagerung organischer
Moleküle an Mineraloberflächen kann inzwischen
sehr zuverlässig simuliert werden, wodurch neue An-
sätze zum Verständnis dieser Wechselwirkungen ver-
folgt werden können (Abb. 43). Einerseits eröffnet
sich dadurch die Möglichkeit, das Verhalten organi-
scher Substanzen (zum Beispiel Huminsäuren) in Bö-
den besser zu verstehen und andererseits bietet sich
die Möglichkeit, gezielt Moleküle mit hochspezifi-
schen Eigenschaften für industrielle Applikationen zu
entwickeln. In diesem Zusammenhang sind auch neue
computergestützte Visualisierungstechniken zu nen-
nen, die die Verarbeitung hochdimensionaler Daten
(Raum-Zeit-Reaktionskoordinaten) im Zusammen-
hang mit heterogenen Reaktionen ermöglichen.
Ein fundiertes Verständnis heterogener Reaktionen
an Mineraloberflächen setzt voraus, dass eine fachüber-
greifende Zusammenarbeit verschiedener Arbeitsrich-
tungen realisiert wird. Dabei lassen sich sowohl anwen-
dungsorientierte Fragestellungen aus den Bereichen
Umweltmineralogie und industrieller Applikation als
auch fundamentale Gesichtspunkte aus dem Bereich
Geochemie und Kristallwachstum integrieren.
Entwicklungsstand und praktische Umsetzung
Das wissenschaftliche Interesse und der industrielle
Bedarf an Grundlagenforschung zur Reaktivität von
Festkörperoberflächen hatten in den letzten 20 Jahren ra-
pide zugenommen. Dennoch steckt die geowissenschaft-
liche Forschung in Deutschland auf diesem Gebiet im
internationalen Vergleich erst in ihren Anfängen, obwohl
deutsche Arbeitsgruppen in Physik und Chemie weltweit
führend bei der Untersuchung von Festkörperober-
flächen sind. In jüngster Vergangenheit lässt sich jedoch
eine Trendwende erkennen. So hat der SFB 1574
„Wechselwirkungen“ an geologischen Grenzflächen in
Göttingen einen wichtigen Impuls im Hinblick auf die
Etablierung der Untersuchung von Grenzflächenproble-
men innerhalb der Geowissenschaften gegeben. Die
Untersuchung heterogener Reaktionen auf Mineralober-
flächen im atomaren Maßstab würde einen dazu kom-
plementären Forschungsansatz darstellen.
Meist sind heterogene Reaktionen an Mineralober-
flächen in natürlichen Systemen äußerst komplex und
erfordern einen interdisziplinären Ansatz. Die Untersu-
chung von Grenzflächenreaktionen stellt daher innerhalb
der Geowissenschaften, aber auch darüber hinaus, eine
große Herausforderung dar, die es erfordert, verschiede-
ne Fachrichtungen auf ein Schwerpunktthema zu fokus-
sieren. Die Voraussetzung dafür sind in Deutschland
sehr günstig. Mehrere Wissenschaftlergruppen arbeiten
bereits an Projekten oder Themen, die im Zusammen-
hang mit Reaktionen an Mineraloberflächen stehen,
jedoch fehlt zur Zeit noch eine fachübergreifende Ab-
stimmung. Grundsätzlich scheint die Bildung eines
durch die DFG geförderten Schwerpunktprogramms zur
Reaktivität von Mineraloberflächen geeignet, einen For-
schungsstand in Deutschland zu etablieren, der auf
diesem Gebiet auch im internationalen Vergleich eine
führende Rolle spielen kann.
Forschungs- und Entwicklungsaufgaben
Die Kenntnis heterogener Reaktionen an Mineral-
oberflächen ist für ein Verständnis zahlreicher Prozesse
in unserer Umwelt erforderlich. Folgende Projekte kön-
nen mittelfristig wichtige Informationen über die
Wechselwirkung von Mineraloberflächen mit ihrer loka-
len Umgebung sowie die Auswirkungen für unsere Um-
weltbedingung liefern:
Kristallisation und AuflösungMinerale wachsen aus wässriger Lösung bevorzugt
durch die Anlagerung von lokalen Ionen oder Molekülen
an sogenannte Halbkristalllagen, die entlang atomarer
und molekularer Stufen auftreten. Die Bildung atomarer
Stufen erfolgt generell über zwei Mechanismen: (1) Der
Austritt einer Schraubenversetzung an einer Mineral-
97
oberfläche stellt eine kontinuierliche Quelle atomarer
Stufen bereit. (2) Die Bildung zweidimensionaler Keime
stellt ebenfalls atomare Stufen auf einer Kristallober-
fläche zur Verfügung. Allerdings kommt dieser Mecha-
nismus erst bei höherer Übersättigung zum Tragen. Die
Auflösung von Mineralen erfolgt ebenfalls bevorzugt an
atomaren und molekularen Stufen. Die Bildung dieser
Stufen erfolgt über die Ausbildung von Ätzgruben. In
beiden Fällen, Wachstum wie Auflösung, sind die
Beiträge der individuellen Reaktionsmechanismen als
Funktion der Über- oder Untersättigung nicht bekannt.
Direkte Abbildungsmethoden ermöglichen die in
situ-Beobachtung von Kristallisations- und Auflösungs-
prozessen im atomaren Maßstab. Der Beitrag individuel-
ler Mechanismen (Monolagenwachstum, Spiralwachs-
tum, Keimbildung) in wässriger Lösung als Funktion der
Über- oder Untersättigung kann direkt ermittelt werden.
Dadurch lassen sich fundamentale Erkenntnis zum Kris-
tallwachstum gewinnen, die sowohl für die geochemi-
sche Grundlagenforschung, als auch für die angewandte
Mineralogie benötigt werden. Die Untersuchung von
Kristallisations- und Auflösungsprozessen kann durch
numerische Modelle erheblich unterstützt werden. Mo-
leküldynamische Simulationsmethoden ermöglichen es,
heutzutage die Anlagerung von Kristallbausteinen (Io-
nen, Moleküle) quantitativ zu simulieren. Obwohl viele
Computermodelle lediglich auf empirischen Kraftfel-
dern beruhen, bestätigen sie zum Teil mikroskopische
Beobachtungen an Mineraloberflächen sehr gut.
Die mikroskopischen Untersuchungen müssen durch
makroskopische Laborexperimente, sowie Beobachtun-
gen in der Natur begleitet werden. Letztlich kann das In-
einandergreifen experimenteller Ansätze und theoreti-
scher Berechnungen im Zusammenhang mit der Kristal-
lisation und Auflösung in wässriger Lösung einen erheb-
lichen Synergieeffekt erzielen, um die fundamentalen
Reaktionsmechanismen aufzuklären, die als Basis für
die Bearbeitung komplexerer Systeme anzusehen sind.
Während die hohe lokale Auflösung von STM und
AFM Hinweise auf die Art und Kinetik ablaufender Re-
aktionen ergeben, erlaubt die Computersimulation Rück-
schlüsse auf die Änderungen der atomaren und elektro-
nischen Struktur während der Reaktionen sowie der Auf-
lösungs- und Wachstumsprozesse. Mit der Fähigkeit zur
modellhaften Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten die-
ser Prozesse ist es möglich, Voraussagen darüber zu tref-
fen, welche dieser Prozesse in welchem Maße unter be-
stimmten äußeren Bedingungen zu erwarten sind.
Im Gegensatz zu den mehr phänomenologisch orien-
tierten Forschungsansätzen makroskopischer Versuche
in der Vergangenheit, wie zum Beispiel Batchexperi-
menten, sollen zukünftige Forschungsprojekte mittels
direkter submikroskopischer Beobachtungen und Com-
putersimulationen dazu dienen, Kristallisations- und
Auflösungsprozesse systematisch zu charakterisieren.
Dabei wird der Einfluss der chemischen Zusammenset-
zung bei gleicher Struktur (zum Beispiel bei der isoty-
pen Reihe BaSO4, PbSO4 und SrSO4) ebenso untersucht
werden müssen, wie der Einfluss von äußeren Parame-
tern wie pH- und Eh-Wert, Ionenzusammensetzung der
Lösung oder Temperatur. Dadurch würde es erstmals
möglich, eine grundlegende Systematik der Reaktions-
mechanismen zu erstellen. Somit würde es erheblich
leichter, Wachstums- und Auflösungsreaktionen bei in-
dustriellen Anwendungen (zum Beispiel bei Verwitte-
rungsprozessen an Bauwerken und Denkmälern), bei
medizinisch relevanten Prozessen (zum Beispiel Zer-
setzungsprozesse an Zähnen) oder bei umweltrelevanten
Phänomenen wie zum Beispiel Auslaugungsprozesse
durch sauren Regen zu kontrollieren.
SpurenelementeinbauNach der Untersuchung von Kristallisationsprozessen
in einfachen Systemen ergibt sich zwangsläufig die Be-
trachtung komplexer Systeme, bei denen der übersättig-
ten wässrigen Lösung Fremdionen zugegeben werden.
Der Einbau von Spurenelementen in das Kristallgitter
während der Kristallisation aus wässriger Lösung beein-
flusst das geochemische Verhalten vieler Schwermetalle
im Grundwasser sowie die Wachstumsmorphologie vie-
ler Minerale. Der Einbaumechanismus ist jedoch selbst
für einfache Systeme, wie zum Beispiel Calcit, nicht be-
kannt. Für die Bestimmung von Verteilungskoeffizienten
wird häufig ein thermodynamisches Gleichgewicht
zwischen Mineral und Umgebung vorausgesetzt.
Die Ausbildung eines Sektorzonarbaus während des
Kristallwachstums zeigt aber zweifelsfrei an, dass der
Einbau von Spurenelementen meist kinetisch kontrol-
liert ist. Wenige Untersuchungen ergeben eindeutig, dass
der Verteilungskoeffizient von der Kristallisationsrate
abhängt. Im Falle eines idealen Mischkristalls, wie zum
Beispiel bei Einbau von Cadmium während der Bildung
von (Ca,Cd)CO3, sind die Löslichkeitsprodukte der
CaCO3 – CdCO3 Endglieder um mehrere Größenord-
nungen verschieden. Daher muss bei der Kristallisation
eines Mischkristalls neben der Solidus – Solutus Gleich-
gewichtsbeziehung auch die Wachstumskinetik berück-
sichtigt werden.
Die Entstehung von oszillierendem Zonarbau bei
Mineralen, die aus wässriger Phase gebildet wurden, ist
bis heute nicht eindeutig geklärt. Einerseits sprechen
Untersuchungen an natürlichen Proben für temporäre
Variationen in der chemischen Zusammensetzung der
Fluide, aus denen das betreffende Mineral entstanden
ist. Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass
beim Wachstum eines idealen Mischkristalls unter dif-
fusionskontrollierten Bedingungen sich ein oszillieren-
der Zonarbau ausbildet, der über eine lokale Selbstorga-
nisation der chemischen Zusammensetzung der fluiden
Phase im Kontakt mit der wachsenden Mineralober-
fläche kontrolliert wird.
In beiden Fällen, Sektorzonarbau und oszillierender
Zonarbau, sind die Einbaumechanismen an der Mineral/
Fluid Grenzfläche für die Fremdionen im atomaren
Maßstab weitgehend unbekannt. Die Untersuchung na-
türlicher sowie unter definierten thermodynamischen
Bedingungen synthetisch hergestellter Proben mittels
hochauflösender Techniken, wie zum Beispiel TEM,
TOF-SIMS, PIXE, kann einen vertiefenden Einblick in
die Einbaumechanismen verschiedener Spurenelemente
98
ermöglichen. Die Kombination mit theoretischen Be-
rechnungen hat bereits wesentlich zum Verständnis von
Verteilungskoeffizienten in silikatischen Systemen bei-
getragen. Letztlich wird ein quantitatives Verständnis
der geochemischen Verteilung vieler Spurenelemente
sowie die zeitliche Entwicklung von Spurenelement-
stoffkreisläufen ermöglicht werden.
Auch im Falle des Spurenelementeinbaus sind die
grundlegenden Kenntnisse, die durch den Einsatz ober-
flächensensitiver und lokal und energetisch hochauflö-
sender Methoden (STM/AFM, XPS, UPS, AES) gewon-
nen werden, von wichtiger praktischer Bedeutung über
geologische Anwendungen hinaus, wie beim Schwerme-
talleinbau in Knochen oder der Schwermetallaufnahme
von Flusssedimenten. Umfangreiche Studien werden
hierzu nötig sein, die sowohl Experimente mit unter-
schiedlichsten Lösungen und Mineraloberflächen ein-
schließen, zum Beispiel unter Benutzung einer Flüssig-
keitszelle im AFM, als auch Untersuchungen im Ul-
trahochvakuum. UHV Systeme erlauben es, die Struk-
tur, Topographie und chemische Zusammensetzung der
Oberflächen zu bestimmen, andererseits wird es mög-
lich, die Probe wohldefinierten Expositionsbeding-
ungen auszusetzen.
Organische Inhibitoren und KomplexbildnerIn erdoberflächennahen natürlichen Systemen wird die
Wechselwirkung von Mineralen mit ihrer Umgebung zum
Teil durch organische Moleküle kontrolliert. In Böden fin-
den sich zahlreiche organische Verbindungen wie zum Bei-
spiel Carboxyl-, Amino- und Huminsäuren, sowie makro-
molekulare Verbindungen wie Polysaccharide und Protei-
ne, die die Kristallisation und Auflösung von Mineralen
kontrollieren. Mikroskopische Untersuchungen von Kris-
tallisations- und Auflösungsprozessen an Mineralober-
flächen in Kombination mit makroskopischen Experimen-
ten können die Frage nach den Wechselwirkungsmecha-
nismen bestimmter funktioneller Gruppen der organischen
Moleküle mit bestimmten Oberflächenpositionen der anor-
ganischen Mineraloberflächen aufklären helfen.
Organische Phosphonsäuren (zum Beispiel HEDP,
NTMP) und Carbonsäuren (zum Beispiel Weinsäure, Zi-
tronensäure, Malonsäure) werden bei der Kontrolle des
Kristallwachstums in CaSO4-gebundenen Baustoffen und
Zementen eingesetzt, um bestimmte Materialeigenschaften
(Abbindezeit, Fließeigenschaften) zu erzielen. Organismen
kontrollieren den Aufbau anorganischer Skelette über ver-
gleichbare Mechanismen (zum Beispiel Matrizen-Theorie
beim Aufbau karbonatischer Skelette).
Die organischen Additive beeinflussen die Wachstums-
und Keimbildungskinetik und somit die makroskopische
Kristallmorphologie. Die mikroskopischen Wechselwir-
kungen zwischen den funktionellen Gruppen der Additive
und den reaktiven Plätzen auf bestimmten kristallographen
Flächen als Funktion des pH-Werts sind weitgehend unbe-
kannt. Ein allgemein akzeptiertes Modell nimmt an, dass
die Additive an den reaktiven Wachstumszentren adsorbiert
werden und so das weitere Wachstum behindern. Neueste
mikroskopische Untersuchungen bestätigen diese Hypo-
these, wobei jedoch spezifische Wechselwirkungen zwi-
schen Additivmolekülen und bestimmten reaktiven
Plätzen identifiziert werden konnten. Diese Informatio-
nen sind aus makroskopischen Untersuchungen nicht
zu entschlüsseln. Bei der Auflösung von Mineralen in
natürlichen Systemen spielen organische Moleküle
eine Schlüsselrolle. Es wäre daher wichtig, die Rolle
verschiedener natürlicher (zum Beispiel Oxalsäure
oder Huminsären) und künstlicher organischer Kom-
plexbildner zu verstehen und wie sie mit Mineralober-
flächen reagieren. Dies würde viel zum Verständnis der
Bodenbildung/-degeneration und des Einflusses beitra-
gen, den die durch Menschen erzeugten chemischen
Verbindungen auf den Stoffkreislauf haben.
Bei der Beseitigung schwerlöslicher Präzipitate (Kessel-
stein) werden häufig spezifische synthetische Komplex-
bildner eingesetzt (zum Beispiel EDTA, DTPA), die die
Auflösungkinetik signifikant beschleunigen. Makrosko-
pische Laborexperimente weisen darauf hin, dass viele
organische Moleküle einen Komplex mit Kationen an
der Mineraloberfläche bilden und deren Bindungen mit
den benachbarten Anionen schächen und so eine be-
schleunigte Auflösung ermöglichen. Mikroskopische
Untersuchungen können hier einen wesentlichen Beitrag
zum Verständnis der Auflösungsmechanismen liefern,
insbesondere in Kombination mit Computersimulationen.
Letztlich kann die Kenntnis der fundamentalen Wechsel-
wirkungsparameter für die Entwicklung leistungsfähiger
Additive verwendet werden.
RedoxreaktionenRedoxreaktionen auf Mineraloberflächen sind ein
weiteres Beispiel, wie die lokale atomare und elektroni-
sche Struktur sich auf geologische und umweltrelevante
Prozesse auswirken kann. So hängt die Bildung saurer
Abflüsse von Sulfiderzlagerstätten eng mit der Fähigkeit
von Sulfiden zusammen, in ihrer jeweiligen Umgebung
oxidiert zu werden. Diese Oxidierbarkeit ist wiederum
stark abhängig vom jeweiligen Mineral und seiner Mi-
krostruktur. So konnte mit Hilfe von STM-Experimenten
und quantenmechanischen Berechnungen gezeigt wer-
den, wie die Oxidation von Bleiglanz die lokale Elektro-
nendichte um den Ort der Oxidation verarmt. Dabei ist
die Oxidation als solche jedoch im Verhältnis zu zum
Beispiel Pyrit relativ langsam, da der Spindichteübertrag
vom Sauerstoff zur Bleiglanzoberfläche erschwert ist.
Ab-initio Berechnungen haben ergeben, dass dieses
Hindernis bei Anwesenheit von Fe(III) in Lösung we-
sentlich leichter überwunden werden kann. Mit ähn-
lichen Methoden konnte gezeigt werden, dass die Oxi-
dation von Pyrrhotin nur an den Ecken von Terrassen an
der Oberfläche des Minerals stattfinden kann, wo Eisen
exponiert ist, während der Rest der Oberfläche durch
Schwefel terminiert ist. Ein weiteres Beispiel ist die
Ausfällung von Manganoxiden auf Eisenoxid- und Feld-
spatoberflächen, die zum Beispiel bei der Trinkwasserge-
winnung eine wichtige Rolle spielen kann. AFM-Expe-
rimente belegen, dass diese Ausfällung immer an atoma-
ren Stufen beginnt und etwas schneller auf Goethit ist als
auf Hämatit und um mehrere Größenordnungen schnel-
ler als auf Albit. Dieser Zusammenhang und eine quan-
99
tenmechanische Behandlung des Elektronentransports in
diesen drei Mineralen lassen darauf schließen, dass der
Elektronenübertrag von Mn(II) (das in der Regel zu
Mn (IV) oxidiert wird) auf den Sauerstoff in der Lösung
durch eisenhaltige halbleitende Minerale wie Goethit er-
leichtert wird. Die Berechnungen erklären auch, welche
Elektronenzustände an der Adsorption/Oxidation betei-
ligt sind. Die genaue Untersuchung eines solchen Elek-
tronentransferprozesses erleichtert das Verständnis
natürlicher Fällungsprozesse und fördert die Suche nach
idealen Mineralen zur Verwendung als Filtermedien bei
der Trinkwasserreinigung.
Metalladsorption auf MineraloberflächenUm den Prozess der Entfernung unerwünschter
Schwermetalle aus Wässern und Lösungen, aber auch die
Anreicherung zu fördernder Edelmetalle zu verstehen, ist
es hilfreich, einen genaueren Einblick in die Bindungsver-
hältnisse zwischen Metall und Mineral zu gewinnen. So
erlaubt die Verbindung von strukturabbildenden Techni-
ken (STM, AFM), von Methoden, die den elektronischen
Bindungszustand beschreiben (UPS, hochauflösendes
XPS) und von ab-initio Berechnungen die Bindungsstärke
und -energie, die Struktur der Adsorbate (zum Beispiel In-
seln gegen Schichten), die Adsorptionsbedingungen (zum
Beispiel Redoxpotenzial) oder die Rolle der beteiligten
chemischen Verbindungen, wie zum Beispiel die Bildung
von metallischen Polysulfiden, zu charakterisieren.
Mit diesen Informationen zum elektronischen und
Bindungscharakter verschiedener Metalle bei unter-
schiedlichen Depositionsbedingungen auf den verschie-
denartigsten Mineraloberflächen wird nicht nur das Ver-
ständnis der Bildung mikroskopischer Anlagerungen er-
leichtert, sondern es ergeben sich unter Umständen auch
neue Wege für die Gewinnung von Erzen, die nur in dis-
perser Form auftreten und die zur Zeit noch mittels um-
weltfeindlicher Komplexbildner (in der Regel Cyanid) ge-
wonnen werden.
Mineraloberflächen und biologische SystemeDer Einfluss biologischer Systeme auf anorganische
Minerale und Gesteine im Hinblick auf deren Verwitte-
rung sowie die Rückkopplung auf die Entwicklung biolo-
gischer Gemeinschaften durch das Vorhandensein be-
stimmter Minerale und dem damit verbundenen Ablauf
spezifischer Reaktionen findet seit wenigen Jahren zuneh-
mend Beachtung. Bakterien in Böden neigen dazu, sich an
Mineraloberflächen anzulagern und über Stoffwechsel-
produkte in Form organischer Säuren die Auflösungskine-
tik vieler Minerale signifikant zu beschleunigen. Es gibt
zahlreiche Hinweise darauf, dass die geochemische Ver-
teilung vieler Elemente in erdoberflächennaher Regionen
der Erdkruste durch biologische Prozesse kontrolliert
wird und diese somit die Lebensbedingungen in unserer
Umwelt direkt beeinflussen. Darüber hinaus treten direk-
te Wechselwirkungen zwischen Mineraloberflächen und
dem menschlichen Körper nach dem Einatmen minerali-
scher Stäube auf (zum Beispiel Asbest, Quarz).
Das Langzeitverhalten inhalierter Mineralstäube und
seine Auswirkungen auf den menschlichen Körper wur-
den bisher lediglich bezüglich der pathogenen Effekte un-
tersucht. Die biochemischen Mechanismen der molekula-
ren Wechselwirkungen zwischen Lungengewebe und Mi-
neraloberflächen sowie die Rückkopplung der Reaktions-
produkte auf den Zellstoffwechsel sind nur unzureichend
untersucht. Oberflächensensitive Messmethoden werden
hier eine Lücke schließlich helfen.
100
Abb. 45: Experimentelle (links) und berechnete(rechts) STM-Aufnahme einer oxidierten Galenit-Ober-fläche. Die Berechnungen zeigen, dass helle Punkte imexperimentellen Bild an Schwefelpositionen lokalisiertsind. Oxidierte Stellen werden dunkel (A), da gebunde-ner Sauerstoff (im linken Bild modelliert als eine senk-rechte Reihe von O-Atomen) Elektronen bindet. Dage-gen erscheint um die Oxidationsstelle (B) das Bild hel-ler, da Elektronen dort weniger stark gebunden sind.
101
Frühwarnsystemeim Erdmanagement
Über 4 Millionen Menschen haben im 20. Jahrhundert bei weltweit mehr als 50.000
Naturkatastrophen ihr Leben verloren. Die ökonomischen Verluste belaufen sich gegen-
wärtig auf 60 Milliarden US$ jährlich mit deutlich steigender Tendenz. Nicht nur die
Länder der Dritten Welt sind betroffen, sondern mit wachsender Häufigkeit und Stärke auch die
Industrienationen. Das Hochwasser in Ostdeutschland, im August 2002, forderte beispielsweise
mehr als 20 Tote und verursachte einen volkswirtschaftlichen Schaden von circa 20 Milliarden
Euro. Damit kam es in Deutschland nach dem Oder-Hochwasser im Sommer 1997 (volkswirt-
schaftlicher Schaden in Höhe von circa 330 Millionen Euro) innerhalb von nur wenigen Jahren
zu zwei katastrophalen Hochwasserereignissen.
Vorsorge ist heute gefragt gegen alle Arten natürlicher Bedrohung; insbesondere gegen Erdbe-
ben, Vulkanausbrüche, Hangrutschungen, Starkwinde und Hochwasser, aber auch gegen langsam
ablaufende Vorgänge, wie zum Beispiel lang anhaltende Dürreperioden. Das Wort „Naturkata-
strophe“ macht deutlich, dass die Rolle des Menschen als Mitverursacher vielfach unterschätzt
oder gar übersehen wird. Erst die Wechselwirkung von Extremereignis und menschlicher Gesell-
schaft bestimmt, ob eine Katastrophe eintritt oder verhütet werden kann.
In Kenntnis der steigenden Verletzbarkeit unserer Gesellschaft und der damit verbundenen dras-
tischen Zunahme von Naturkatastrophen hatten die Vereinten Nationen die neunziger Jahre zur
Dekade der Katastrophenvorbeugung (International Decade for Natural Desaster Reduction, ID-
NDR) erklärt. Diese Dekade, die 1999 zu Ende ging, eröffnete die Möglichkeit, international,
interkulturell und interdisziplinär die Kenntnisse auf dem Gebiet der Katastrophenvorbeugung
zu bündeln. Eines der Ergebnisse der IDNDR war die Identifizierung von Frühwarnsystemen als
fundamentales Werkzeug zur Schadensminderung.
Trotz erheblicher Fortschritte bestehen jedoch in der Entwicklung und Anwendung von Früh-
warnsystemen noch erhebliche Forschungsdefizite. Zukünftige Forschungs- und Entwicklungs-
vorhaben zielen daher auf die Stärkung von Frühwarnkapazitäten durch Verbesserung wissen-
schaftlicher Grundlagen, Entwicklung neuer Technologien und prototypische Implementierung
von Frühwarnsystemen. Durch den Erkenntnisgewinn und den Aus- und Aufbau von derartigen
Systemen sollen die Verluste durch Naturkatastrophen (einschließlich anthropogenen verstärkter
Ereignisse) signifikant reduziert werden.
Definition und Bedeutung
Ein Frühwarnsystem ist ein komplexes System,
das nicht nur Informationen über eine zu er-
wartende Gefährdung liefert, sondern auch die
Auswirkungen quantifiziert, so dass effektive Schritte
zur Reduzierung des Risikos auf internationaler, natio-
naler und lokaler Ebene eingeleitet werden können. Es
besteht aus vier integrierten Komponenten:
• Ein Warnsystem dient der Überwachung von Ge-
fährdungen und der Vorhersage von Gefährdungs-
parametern.
• Eine Risikoprognose erlaubt die Identifizierung
von gesellschaftlichen Gruppen und von Sektoren
der gesellschaftlichen Infrastruktur, die besonders
vulnerabel sind.
• Eine Strategie, die die Gesellschaft auf Katastro-
phen vorbereitet, liefert die Basis dafür, dass Maß-
nahmen zur Schadensminderung akzeptiert werden
und realisierbar sind.
• Ein Kommunikationssystem liefert Informationen
an eine vorbereitete Gesellschaft.
Forschung und Entwicklungsbedarf für Früh-warnsysteme
Frühwarnsysteme sind relevant für alle Arten von Na-
turkatastrophen wie zum Beispiel geologische Desaster
(Erdbeben, Vulkanausbrüche, Massenbewegungen) oder
hydrometeorologische Desaster (Sturm, Hochwasser,
Dürre). Sie bestehen aus einer viergliedrigen Kette: Mo-
nitoring – Vorhersage/Prognose – Warnung – Aktion.
Dabei muss zwischen kurz- und längerfristigen Aspek-
ten unterschieden werden. Kurzfristige Vorhersagen und
Warnungen (zum Beispiel bei Sturm und Hochwasser)
können mit schnellem Handeln signifikant zur Reduzie-
rung von Opfern, physischen und psychischen Schäden
führen, während langfristig angelegte Vorhersagen/Pro-
102Warnsystem zur Risikoprognose Vorbereitung der Kommunikations-
Überwachung/ Vulnerabilität Gesellschaft, Bei- system für die
Vorhersage der trag zur Schadens- vorbereitete
Gefährdungen minderung Gesellschaft
Monitoringsysteme
Quantitative Modelle
Quantifizierung und Be-
rücksichtigung von Un-
sicherheiten
Prognose sozioökono-
mischer Auswirkungen,
Vulnerabitität komplexer
gesellschaftlicher Systeme
Informationssysteme
Politisch-administrative
Rahmenbedingungen, lo-
kales Risikoverständnis
institutionelle Kapazität
Tab. 3: Die definierten sechs Schwerpunkte tragendabei unterschiedlich zur Entwicklung dieser Kompo-nenten bei. Die grau unterlegten Felder in der Tabelleweisen auf Beiträge hin, die ein jeweiliger Forschungs-schwerpunkt zu einer der vier Komponenten einesFrühwarnsystems beiträgt.
Themenschwerpunkt: „Frühwarnsysteme im Erdmanagement“.
Förderstatus BMBF:Zur Zeit keine Förderung des BMBF.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
gnosen eher geeignet sind, die Vorsorgepotenziale von
gefährdeten Gesellschaften zu verbessern und ein nach-
haltiges Katastrophenmanagement aufzubauen. Früh-
warnsysteme können globalen, regionalen oder lokalen
Charakter haben. Forschungs- und Entwicklungsbedarf
besteht – unabhängig von der Art der betrachteten Natur-
gefahr – insbesondere bei folgenden Themen:
Entwicklung und Verbesserung von Monitoring Systemen:Eine effektive und effiziente Frühwarnung gründet
sich auch auf die Fähigkeit, umfangreiche, zuverlässige
und rechtzeitige Informationen zu sammeln. Eine neue
Generation von Monitoring Systemen eröffnen Möglich-
keiten für eine deutlich bessere, frühere und schnellere
Wahrnehmung von signifikanten Veränderungen.
In zunehmendem Maße erweisen sich Methoden der
Fernerkundung als wertvolles Mittel für die Frühwar-
nung. Mit ihrer Hilfe lassen sich flächenhaft großräumi-
ge Aussagen über den Zustand von Atmosphäre und Erd-
oberfläche machen und somit Hinweise auf bevorste-
hende extreme Naturereignisse (zum Beispiel Verände-
rung der Krustendeformation bei Vulkanen als mögli-
ches Vorläuferphänomen für einen Ausbruch) oder Ein-
gabedaten für Vorhersagemodelle (zum Beispiel satelli-
tengestützte Ableitung von großräumigen Datensätzen
von Wetterparametern zur Vorhersage der Zugbahn von
tropischen Wirbelstürmen) ableiten. Die Entwicklung
und Anpassung von neuen Messmethoden und automati-
schen Sensorsystemen ist zur Verbesserung von Früh-
warnsystemen dringend erforderlich. Ebenso besteht
großer Bedarf an automatischen Alarmsystemen, die
Signale von Feldstationen sammeln, analysieren und bei
Überschreitung von definierten Schwellenwerten einen
Alarm auslösen.
Fragen zur optimalen Messnetzdichte, zur Kombina-
tion von verschiedenen Monitoring-Verfahren und zur
gegenseitigen Ergänzung von Messdaten und Modellen
zur Beschreibung physikalischer Prozesse stehen im
Vordergrund. Neben der Entwicklung und Implementie-
rung von permanenten integrierten Monitoring-Syste-
men besteht auch ein erheblicher Bedarf an mobilen,
kostengünstigen und schnell einsetzbaren Systemen.
Entwicklung und Kalibrierung quantitativer phy-sikalischer Modelle unter Einbeziehung wissens-basierter Komponenten:Die größten Fortschritte im Bereich Frühwarnung
wurden in den vergangenen 30 Jahren ausschließlich
durch verbesserte Monitoring-Systeme erzielt. Die Fort-
schritte im Bereich der Simulationsmodelle zur quantita-
tiven Beschreibung der zugrundeliegenden physikali-
schen Prozesse sind dagegen deutlich weniger ausge-
prägt. Hier bedarf es grundlegender Verbesserungen, um
den Anforderungen an Frühwarnsysteme gerecht zu wer-
den. Gerade in der Kopplung von gemessenen Daten und
der numerischen Simulation liegt ein großes Entwick-
lungspotenzial. Im Gegensatz zur heutigen Praxis, die
eine hohe Instrumentalisierung vorsieht, könnten bei ge-
schickter Verknüpfung von numerischer Simulation und
wenigen, gezielten und hochauflösende Messungen die
Kosten derartiger Monitoring-Systeme deutlich gesenkt,
die Leistungsfähigkeit in der Frühwarnung aber gleich-
zeitig signifikant gesteigert werden. Des weiteren er-
möglicht es die Modellierung von Prozesskomponenten,
die mathematisch nicht vollständig exakt beschrieben
werden können. Solche hybriden Simulations- und Pro-
gnosemodelle ermöglichen zum Beispiel die Nutzung
unscharfer beziehungsweise lückenhafter Daten.
Quantifizierung der Unsicherheit von Vorher-sagen/Prognosen und Berücksichtigung dieserUnsicherheit in entscheidungsunterstützenden Systemen:Jede Vorhersage/Prognose ist von Haus aus mit Un-
sicherheiten verbunden. Diese Unsicherheiten sind umso
größer, je früher die Vorhersage/Prognose erfolgt. Sehr
frühe Vorhersagen/Prognosen erlauben längere Warn- und
Reaktionszeiten, allerdings um den Preis einer verminder-
ten Zuverlässigkeit. Es ist also eine Abwägung zwischen
der Güte der Vorhersage/Prognose und der Warnzeit not-
wendig. Die Frage der Unsicherheit ist auch mit dem
möglichen Schadensausmaß verknüpft. Warnungen vor
großen Schadensereignissen, die einschneidende Maß-
nahmen zur Schadensreduktion verlangen, erfordern eine
zuverlässigere Vorhersage/Prognose als Warnungen vor
Ereignissen mit vergleichsweise kleinen Schäden.
Heutige Frühwarnsysteme machen kaum Aussagen
zur Zuverlässigkeit ihrer Vorhersagen/Prognosen. Neben
naturwissenschaftlichen-technischen Aspekten (Zuver-
lässigkeit von Messdaten und Modellen, Fehlerfort-
pflanzung bei kaskadierten und/oder parallelen Modell-
komponenten, Methoden zur Bereitstellung von Konfi-
denzintervallen und so weiter) ist auch von Bedeutung,
wie Unsicherheitsangaben von den betroffenen Akteuren
verarbeitet und in ihren Entscheidungen berücksichtigt
werden können.
Vorhersagen/Prognosen von sozioökonomischenAuswirkungen extremer Ereignisse:Die Wirksamkeit eines Frühwarnsystems muss über
den Nutzen für die Betroffenen bewertet werden. Dieser
zeigt sich darin, ob und in welchem Maße durch die
Warnung Schäden und Verluste verhindert werden.
Frühwarnsysteme sollten in verstärktem Maße ihre Vor-
hersagen/Prognosen auf den Bereich der Auswirkungen
auf Menschen, Umwelt und Sachkapital (Gebäude, In-
frastruktur und so weiter) ausweiten. Der Schritt von der
Vorhersage/Prognose der Gefährdung zur Vorhersage/
Prognose des Risikos ist eine kritische Herausforderung
für Frühwarnsysteme.
In bestimmten Situationen (zum Beispiel bei der
Hochwasserwarnung für ein größeres Flussgebiet) könn-
ten solche Ansätze die Basis für neue Schutzstrategien in
Echtzeit darstellen. Mit Hilfe von sozialen, ökologischen
und ökonomischen Daten und Modellen zur Ermittlung
der Auswirkungen könnten die erwarteten Schäden für
103
verschiedene Schutzmaßnahmen vorhergesagt werden.
Es würde im Prinzip möglich sein, diejenigen Maßnah-
men mit den geringsten Schäden beziehungsweise dem
größten Nutzen zu ergreifen. Eine solche Vorgehenswei-
se stellt eine neue Qualität dar, da Abwehrmaßnahmen
nicht lange vor dem möglichen Ereignis nach festgeleg-
ten Regeln oder spontan ergriffen werden müssen. Viel-
mehr erfolgt die Auswahl der Maßnahmen aufgrund ei-
ner Risikominimierung, die während des Anlaufens des
Ereignisses – in Echtzeit – durchgeführt wird und auf
dem Einsatz integrierter Modellen (Integration von na-
turwissenschaftlich-technischen und sozioökonomi-
schen Modellen) basiert.
Entwicklung geeigneter Informationssysteme fürFrühwarnsysteme unter besonderer Berücksichti-gung der technischen und semantischen Interope-rabilität von Teilsystemen:Die Entwicklung geeigneter fachbezogener Informa-
tionssysteme ist eine wesentliche Aufgabe zur Erstellung
einer integrierten Frühwarnkette. Besondere Berück-
sichtigung erfordert hierbei der Aufbau und Einsatz von
Systemarchitekturen, die eine technische und semanti-
sche Interoperabilität der einzelnen Teilsysteme (kompo-
nentenbasierte GIS-Technologie) ermöglichen. Informa-
tionssysteme zur Bearbeitung katastrophenrelevanter
Daten sind für alle vier Phasen der Frühwarnkette von
grundlegender Bedeutung. Da Katastrophen stets einen
konkreten raum-zeitlichen Bezug besitzen, müssen sol-
che Daten als dynamische Geodaten mit absoluter und
relativer Lage im Raum in verschiedenen Skalen (lokal,
regional und global) behandelt werden. Dafür stellt die
GIS-Technologie geeignete Methoden und Systeme zur
Verfügung. GIS-basierten Fachinformationssystemen
kommt in mehrfacher Hinsicht eine integrierende Auf-
gabe für die gesamte Frühwarnkette zu:
• Verbindung von naturwissenschaftlichen und so-
zioökonomischen Fachdaten über ihren gemeinsa-
men Raumbezug,
• Verknüpfung geometrisch-topologischer Daten
• Gemeinsame Nutzung von Geobasisdaten
• Kopplung von GIS-Techniken mit Kommunika-
tionstechniken.
Bei der Entwicklung GIS-gestützter Informationssys-teme sind insbesondere folgende Aspekte von Be-deutung:• Nutzung verteilter Infrastrukturen von Geodaten in
lokalen und regionalen Intranets wie auch im glo-
balen Internet einschließlich der Unterstützung mo-
biler Endgeräte mit bidirektionalem Datenaus-
tausch,
• Gewährleistung der technischen und semantischen
Interoperabilität zwischen GIS-Komponenten (zum
Beispiel OGC konform) und Modellkomponenten
(zum Beispiel HLA konform),
• Berücksichtigung maßstabsübergreifender Analysen
und „genesteter“ Modellierungen (up and down-
scaling),
• Innovative Visualisierungsmethoden (zum Beispiel
raum-zeitliche temporale, non-temporale Anima-
tionen und interaktive Visualisierungen) zur effizi-
enteren Informationsvermittlung und Entschei-
dungsunterstützung für die unterschiedlichen Nut-
zergruppen innerhalb der Frühwarnkette.
• Beschreibung, Verwaltung und Integration von
Qualitätsmaßen (ISO-Standards) zur Bewertung
der Eingangsdaten und der Modellresultate.
Der eigentliche innovative Ansatz besteht in der Inte-
gration sehr unterschiedlicher und komplexer Werkzeu-
ge (Datenerfassung, Datenanalyse, Informationsübertra-
gung, Visualisierung, Simulation, Animation, Entschei-
dungsunterstützung), so dass die benötigten Informatio-
nen rechtzeitig und zuverlässig in geeigneter Weise zur
Verfügung stehen. Durch eine erhöhte Benutzerfreund-
lichkeit von computergestützten Systemen können
Katastrophenmanagern im Katastrophenfall Methoden
zugänglich gemacht werden, die bisher nur von wissen-
schaftlichen Fachleuten angewendet werden konnten.
Dazu trägt für den mobilen Einsatz die Entwicklung von
robusten Benutzerschnittstellen bei.
Prototypische Implementierung von Frühwarn-systemen unter Einbeziehung von Industrie, ope-rationellen Warndiensten und gefährdeter Bevöl-kerung:Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu Frühwarn-
systemen sollen mit dem Ziel der Entwicklung von Pro-
totypen angegangen werden, die anschließend von
interessierten Unternehmen zu marktfähigen Produkten
weiterentwickelt werden sollen. Die entwickelten wissen-
schaftlichen Methoden sollen anhand eines oder mehrerer
Fallbeispiele implementiert und getestet werden.
Vorhandene und neue Technologien von Frühwarn-
systemen (integriertes Monitoring, zum Beispiel Kombi-
nation von Messungen in Beobachtungsnetzen am Bo-
den mit erdorientierten Satellitenverfahren, Simulation
der physikalischen Prozesse und ihrer Auswirkungen auf
Mensch und Umwelt, Kommunikationssysteme, Echt-
zeit-Anbindung an integrierte Informationssysteme und
so weiter) müssen für den operativen Einsatz verknüpft
werden. Während einzelne Segmente eines solchen
Frühwarnsystems zum Teil gut entwickelt sind, besteht
Bedarf an der geeigneten Kombination dieser Segmente
für eine integrierte Frühwarntechnologie. Zum Beispiel
könnte die bestehende Frühwarnung des Luftverkehrs
vor Kamtschatka und Alaska auf eine weltweite, be-
darfsorientierte Basis ausgebaut und via Satelliten-Ver-
bindung mobil abrufbar werden.
Weiterhin erfordert die Implementierung die Integra-
tion der Arbeiten in ein systematisches Rahmenkonzept
unter Beteiligung der betroffenen Akteure und Berück-
sichtigung der spezifischen Randbedingungen. Kosten
und Nutzen von Frühwarnsystemen sind fallspezifisch
zu erfassen und mit anderen Schutzmaßnahmen zu ver-
gleichen, Methoden zur Bewertung von Frühwarnsyste-
men sind zu entwickeln und Strategien zur effektiven
Umsetzung der Warnungen zu erarbeiten.
104
Zusätzlich zu den wissenschaftlich-technischen Anforde-rungen an Frühwarnsysteme sind für deren Effizienzzwei Punkte hervorzuheben:
• Die integrative und interdisziplinäre Betrachtung
der Frühwarnung als Kette die vom Monitoring bis
zur Reaktion reicht.
• Die Vorhersagen müssen verstärkt auf die Risiken
abheben und dürfen nicht bei der quantitativen Be-
schreibung der Gefährdungen stehen bleiben.
Gesellschaftsbezogene Themen der Früh-warnung
Gesellschaftliche Vulnerabilität ist im Zusammen-
hang mit der Konzeption von Frühwarnsystemen ein
wichtiges eigenständiges Forschungsfeld. Als prioritäre
Forschungsfelder können die folgenden drei Themen
identifiziert werden:
Regionale Relevanz und kulturspezifische Orien-tierungWeltweit sind 96 % aller Katastrophenopfer in Ent-
wicklungsländern zu beklagen, weil hier die Verwundbar-
keit gegenüber Naturereignissen am größten ist und be-
stimmte Desastertypen (Dürren, Überschwemmungen, et
cetera) anthropogen noch verstärkt werden. In diesen Re-
gionen bestehen nur begrenzte technische und organisato-
rische Möglichkeiten einer Frühwarnung. Deshalb kommt
der Entwicklung von Frühwarnsystemen, die an die spe-
ziellen Bedingungen von Entwicklungsländern und ihrer
Menschen angepasst sind, eine besondere Bedeutung zu.
Primäres Forschungsziel sollte hierbei aus den genannten
Gründen nicht die technologische Optimierung, sondern
die Effizienzsteigerung von Frühwarnsystemen sein, unter
anderem auch durch die höhere Akzeptanz durch die Be-
troffenen. Hieraus ergibt sich ein spezieller Forschungs-
bedarf hinsichtlich der Anpassung und Umsetzbarkeit
vorhandener beziehungsweise noch zu erarbeitender
Frühwarnsysteme in Entwicklungsländern, wobei insbe-
sondere auch die kulturspezifischen und gesellschaftli-
chen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen sind.
Vulnerabilität im Zusammenhang mit Desasternunterschiedlichen VerlaufstypsBei der Erfassung des sich verändernden situations-
abhängigen Grades der Vulnerabilität von Menschen
und der Entwicklung und Evaluierung von Möglichkei-
ten der Desasterfrühwarnung sind folgende Typen von
Desastern unterschiedlichen Verlaufs zu unterscheiden:
• langfristige Trends mit der Tendenz zu wachsendem
Risiko („schleichende Katastrophe“), wie im Falle
der Desertifikation
• zyklisch-saisonale Ereignisse und Prozesse, wie un-
ter Berücksichtigung der potenziellen Nutzer Hoch-
wasser und Dürren
• kurzfristige Schockereignisse, wie unter Berück-
sichtigung der potenziellen Nutzer Erdbeben.
Wichtige Parameter der Klassifizierung sind sowohl
Frequenz und Magnitude des Ereignisses als auch die
gesellschaftliche Schadenswirkung.
Analyse des Verhaltens Betroffener in unter-schiedlichen Desaster-Prozessphasen, Erarbeitungund Evaluierung von Desaster-Präventionsvor-schlägenDesaster können als Prozesse verstanden werden, de-
nen bestimmte Entwicklungen vorausgehen (Prä-De-
saster) und nachfolgen (Post-Desaster). Das sozialwis-
senschaftliche Interesse richtet sich hierbei auf das Ver-
halten der Betroffenen vor, während und nach dem De-
saster, auf ihre Fähigkeit zur Anpassung (Adaptation Ca-
pacity), zur Bewältigung (Coping Capacity) und zur Er-
holung (Recovery Capacity) in Bezug auf das desaströse
Ereignis. Frühwarnung benötigt ein System rasch abruf-
barer Information über gesellschaftliche Vulnerabilität.
Sie ist primär in der Prä-Desaster Phase zu berücksichti-
gen, aber auch während des Ereignisses selbst und in der
Post-Desaster Phase relevant. Konkrete Fragestellungen
der sozialwissenschaftlichen Desaster-Präventionsfor-
schung richten sich dabei auf folgende Punkte:
• Identifikation struktureller Schwächen der Präven-
tion innerhalb unterschiedlicher Gesellschaften
• Erfassung politisch-administrativer Rahmenbedin-
gungen und sich daraus ergebender Potenziale be-
ziehungsweise Defizite für eine Frühwarnung
• Analyse des lokalen Risikoverständnisses: Wahr-
nehmung von und Umgang mit Risiken
• Analyse indigenen Wissens als Grundlage zu erar-
beitender sozioökonomischer und soziokultureller
Indikatoren
• Evaluation der Effektivität von endogener und exo-
gener Desasterbewältigung
• Analyse der institutionellen Kapazität von „disaster
mitigation“ in Gesellschaften
• Abschätzung der Wiederholungswahrscheinlich-
keit von Desasterereignissen
• Erfassung, Analyse und Prognose von Folgekon-
flikten nach Desaster und Recovery-Maßnahmen
(unter Berücksichtigung der potenziellen Nutzer
Umsiedlung)
• Bewertung der Rentabilität von Desaster-Präventi-
onsmaßnahmen
• Analyse von „best practices“ unter Entwicklungs-
bedingungen: Positivkriterien der Erfolgsbeispiele
• Überlegungen zu Alternativen von/zur Prävention
105
Desaster-spezifische Forschungsthemen
Geologische Desaster: ErdbebenDie Möglichkeit der Vorhersage von Erdbeben im Sin-
ne einer exakten Angabe von Ort, Zeit und Stärke eines
Erdbebens ist bisher nicht gegeben. Die heute existieren-
den wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen
Möglichkeiten reichen aber aus, um Frühwarnsysteme zu
erproben, die für einzelne Regionen einen erheblich ver-
besserten Schutz vor den Auswirkungen von Erdbeben
versprechen (Risikominderung). Kern des Systems ist ein
vollautomatisch arbeitendes Seismometernetz, das den
Eintritt eines Erdbebens unmittelbar vor Ort mit minima-
ler Zeitverzögerung detektiert und quantifiziert, sowie
ein Kommunikationssystem, das die Minuten bis Sekun-
den zwischen dem Eintritt des Erdbebens (in einiger Ent-
fernung von einem Ballungszentrum oder einer Mega-
stadt) und dem Eintreffen der zerstörerischen Ober-
flächenwellen am Ballungszentrum nutzt, um dort Alarm
auszulösen beziehungsweise „Shut Down“-Systeme zu
aktivieren.
Darüber hinaus wird Erdbeben Frühwarnung als Be-
reitstellung von Informationen bezüglich der Gefähr-
dung und des Risikos durch Erdbeben als Grundlage für
Vorsorge, Schutz und Rettungsmaßnahmen verstanden.
Dies erfordert als langfristige Komponenten die Angabe
probabilistischer Gefährdungsaussagen und einer darauf
basierenden Prognose von Schäden unter Einbeziehung
lokaler Standorteffekte. Unmittelbar vor einem Beben
(10 bis 60 Sekunden) können die oben skizzierten auto-
matischen Abschaltungen auf der Grundlage von ver-
lässlichen Warnungen erfolgen. Die schnelle (near real-
time) Bereitstellung von Informationen über aufgetrete-
ne Bodenerschütterungen (ShakeMaps) und eingetretene
Schäden (Schadensprojektion) dienen sowohl einem ef-
fizienten Katastrophenmanagement mit optimalem Ein-
satz von Rettungsressourcen, als auch einer schnellen
Abschätzung der Empfindlichkeit gegenüber Nachbe-
ben. Es können in diesem Zusammenhang 8 Themen mit
erheblichem Forschungsbedarf identifiziert
werden:
• Integrierte seismische Gefährdungsab-
schätzung
• Zuverlässige und schnelle Methoden zur
Quantifizierung von lokalen Verstär-
kungseffekten
• Quantifizierung der Vulnerabilität von
Risikoregionen
• Quantifizierung von Risiken
• Prognose von Nachbeben
• Monitoring mit Echtzeit-Informations-
systemen
• Erdbeben Informationssysteme
• Schwachstellenanalyse von Systemen
Die größte Herausforderung liegt in der Entwicklung
eines integrierten Frühwarnsystems bis zur Anwen-
dungsreife, das Module aus der gesamten Erdbeben-
Wirkungskette zusammenführt, auf unterschiedlich
strukturierte Regionen übertragbar ist und sowohl Mög-
lichkeiten permanenter als auch mobiler Nutzung bietet.
Ein auf diese Fragestellungen ausgerichtetes For-
schungsprogramm muss daher sinnvoller Weise vier Stu-
fen berücksichtigen,
• die Entwicklung einzelner Frühwarnmodule
• die Erprobung der Module unter verschiedenen Be-
dingungen
• die Integration der Module zu einem System und
• die Erprobung des Gesamtsystems.
Geologische Desaster: VulkaneAnders als bei Erdbeben ist es in der Vergangenheit
schon mehrfach gelungen, Vulkanausbrüche kurzfristig
auf Grundlage von empirischen Beobachtungen vorher-
zusagen. Möglich war dies im Besonderen für Vulkane
mit langen Ruhephasen von Jahrzehnten bis Jahrhunder-
ten. Für aktive Vulkane mit Ereignisintervallen von we-
nigen Jahren ist die Vorhersage schwieriger; sie setzt ein
genaues Verständnis der Mechanismen und physikali-
106
Abb. 46: Zerstörte Infrastruktur nach dem Erdbebenvon Kobe/Japan 1995.
Abb. 47: Der Ausbruchs des Ätnas 1669 (Die Repro-duktion einer Freske in der Kathedrale von Cataniazeigt den Hauptkrater neben Nicolosi).
schen Prozesse voraus. Hierzu sind Langzeituntersu-
chungen über viele Eruptionen nötig. Leichter lässt sich
das Gefährdungspotenzial bestimmen. Die Gefährdung
und damit verbunden das Risiko an Vulkanen geht direkt
hervor aus den Eruptionsprodukten (pyroklastische Strö-
me, Druckwellen, Gaswolken, Steinschläge, Schlamm-
lawinen und Ascheregen), indirekt durch zeitlich verzö-
gerte Lahars und Flankenstürze. Der Grad der Gefähr-
dung lässt sich ableiten aus der Eruptionshistorie, der
Morphologie und Flankensteilheit sowie aus Daten über
dynamische, physikalische und chemische Prozesse ei-
nes Vulkans. Hat ein Ausbruch bereits stattgefunden, so
ist es wichtig, die Art und Größe der Eruption, sowie die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit und Ausbreitungsrich-
tung der Schaden verursachenden vulkanischen Phä-
nomene frühzeitig zu erkennen, um die Bevölkerung
rechtzeitig warnen zu können. Die Forschungsplanung
im Bereich Frühwarnsystem Vulkanologie muss deshalb
4 unterschiedliche Stadien in der Entwicklung von vi-
rulenten Vulkansystemen berücksichtigen, die jeweils
spezifische Forschungsansätze beziehungsweise unter-
schiedliche Kombinationen von Forschungsmethoden
erfordern.
• Latente Gefährdungs-Langzeitprognose
• Aktivierungsstadium-Prozessverständnis
• Ereignisstadium-Simulationssoftware, Messsysteme
• Langfristige posteruptive Auswirkungen-Nachsor-
gestrategie
Geologische Desaster: MassenbewegungenEine Frühwarnung von Massenbewegungen ist bisher
nahezu ungelöst. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass
Massenbewegungen in sehr unterschiedlichen Prozess-
typen auftreten (Fallen, Kippen, Gleiten, Driften, Fließen
und in Kombination) und grundsätzlich zwischen dem
erstmaligen Auftreten und der Reaktivierung einer vormals
bewegten Masse unterschieden werden muss. Weiterhin
muss unterschieden werden, ob sich die Konzeption einer
Frühwarnung auf eine einzelne rezent aktive oder inaktive
Rutschmasse bezieht, oder im prognostischen Sinne für
darüber hinaus gehende Raumskalen gedacht ist. Die
Grundlage bildet bei beiden Ansätzen die Gefahrenidenti-
fikation und -analyse.
Die Gefahrenidentifikation und -analyse individueller
Massenbewegungen ist ein unverzichtbares Instrument der
Entwicklung von Gefahrenzonenplänen. Dadurch werden
Grundlagen, sowohl für aktive technische, wie auch passive
vorbeugende Schutzmaßnahmen geschaffen. Die Analyse
beinhaltet die Erfassung des Typs der Massenbewegung, das
Volumen und die Form, sowie vor allem die Bewegungsge-
schwindigkeit und Dynamik der sich bewegenden Masse.
Weiterhin ist durch die Analyse beabsichtigt, Prognosen für
die mögliche Entwicklung der Phänomene zu erarbeiten.
Von entscheidender Bedeutung bei diesen Analysemodellen
ist die Kenntnis der dispositiven, auslösenden und bewe-
gungskontrollierenden Faktoren der Massenbewegungen,
die oftmals nur über anspruchsvolle Mess- und Überwa-
chungsinstrumente ermittelt werden können. Besonders für
langsam kriechende Massen sind lange Messzeitreihen er-
forderlich. Die hohe Bedeutung des Hangwassers für den
Bewegungsablauf und ihre Berücksichtigung bei der Gefah-
renidentifikation und -analyse von Rutschungen wird her-
vorgehoben. Als auslösende Faktoren sind besonders Erdbe-
ben, Niederschläge als intensive Starkereignisse und/oder
lang andauernde Feuchteperioden, fluviale Unterschneidun-
gen, Vulkanausbrüche sowie anthropogene Beeinflussungen
zu nennen. Ein weiterer Aspekt der Bedeutung von Massen-
bewegungen liegt in ihrem Potenzial (zum Beispiel bei Mur-
gängen und Schuttströmen), Hangsedimente in die Vorfluter
zu transportieren, die zu Sedimentbelastungen oder gar
Flussabdämmungen führen können.
Eine Frühwarnstrategie für Massenbewegungen bein-
haltet die Bereitstellung von Informationen über gefähr-
dete Objekte und Regionen sowie über das zu erwarten-
den Risiko. Diese Information bildet die Grundlage ei-
nes integrierten Risikomanagements. Gefahr, Vulnerabi-
lität und Risiko sind in höchstem Maße vom Massenbe-
wegungstyp und dessen Aktivitätsgrad abhängig, so dass
eine differenzierte Strategie der Vorsorge sowie der
Schutz- und Rettungsmaßnahmen erforderlich sind.
Der Forschungsbedarf liegt in folgenden Themen-feldern:• Gefahrenidentifikation und -analyse individueller
Massenbewegungen und deren räumlichen Auftre-
tens mit Hilfe qualitativer, semi-quantitativer und
prozessbasierter Modellierung
• Potenziale von Monitoringsystemen für die Akti-
vität von Massenbewegungen
• Identifikation von prozessspezifischen Risikoele-
menten und ihre Vulnerabilität
• Methoden der Risikoanalyse und -bewertung und
präventives Risikomanagement
• Optimierung von Frühwarnsystemen für Massenbe-
wegungen
• Kopplung von Frühwarnsystemen
Hydrometeorologische DesasterHydrologische und meteorologische Extremereignis-
se treten auf sehr unterschiedlichen räumlichen und zeit-
lichen Skalen auf. Während Dürren subkontinentale
Ausdehnungen bei einer Dauer von Monaten bis Jahren
107
Abb. 48: Hangrutschung in einem Armenviertel vonVenezuela 1999.
erreichen, können Hagelereignisse auf wenige Quadrat-
kilometer und wenige Minuten beschränkt sein. Die
Qualität der Vorhersagen und der mögliche Vorhersage-
zeitraum werden stark durch die Skalen der Wetterereig-
nisse bestimmt. Während atmosphärische Prozesse auf
der synoptischen Skala (Zyklone, Antizyklone im Be-
reich der Polarfronten) heute mit gutem Erfolg über ei-
nige Tage vorhergesagt werden können, gibt es auf den
längeren Zeitskalen (Mittelfristvorhersagen bis zwei
Wochen, Jahreszeitenvorhersagen) und in der Mesoska-
la (Gewitter, Tornados) weiterhin großen Forschungsbe-
darf. Hier stößt man auf Grund der nichtlinearen Eigen-
schaften atmosphärischer Prozesse an die Grenzen der
Vorhersagbarkeit der Phänomene. Frühwarnsysteme
sind häufig ein effektives Werkzeug zur Vermeidung be-
ziehungsweise Reduzierung von (menschlichen und ma-
teriellen) Verlusten. Beispielsweise forderte eine Sturm-
flut 1970 in Bangladesh bei fehlender Vorwarnung
300.000 Menschenleben. Bei einem vergleichbaren Er-
eignis 1997 konnten sich viele Menschen aufgrund einer
Warnung in die mittlerweile errichteten Notunterkünfte
retten, so dass nur circa 3000 Todesfälle zu beklagen wa-
ren. Daten von 25 Hochwasserereignissen in Europa und
den USA (Talsperrenbrüche und Sturzfluten) zeigen,
dass sich bei einer Warnzeit größer als 1,5 Stunden To-
desfälle praktisch vermeiden lassen. Abschätzungen des
ökonomischen Nutzens von hydrometeorologischen
Warnsystemen gehen davon aus, dass der ökonomische
Nutzen (das heißt verhinderter Schaden) ein Vielfaches
der Kosten für Einrichtung und Betrieb übersteigt.
Für die verschiedenen hydrologischen und meteoro-
logischen Desastertypen gilt, dass trotz vielfältiger Akti-
vitäten ein Mangel an operativen Systemen besteht.
Schwerpunkt der Arbeiten sollte deshalb die (prototypi-
sche) Entwicklung von Frühwarnsystemen sein, die die
gesamte Kette vom Monitoring bis zum Management
umfassen.
Extreme Wetterereignisse• Entwicklung von Ensemble-Vorhersagen
• Vorhersagen extremer Wetterereignisse mittels boden-
und satellitengebundenen Beobachtungssystemen
Hochwasser• Fernerkundungstechnologien zur Ableitung hoch-
wasserrelevanter Größen
• hochauflösende Niederschlagsmessung
• Vorhersage des Niederschlags
• Parametrisierung der Abflussbereitschaft des Ein-
zugsgebietes
• Schadensabschätzung in Echtzeit
• Zuverlässigkeit von Warnungen und Umgang mit
Unsicherheiten
• Ableitung von Schutzstrategien in Echtzeit
• Wirksamkeit von Frühwarnsystemen
SturmflutenEs ist davon auszugehen, dass Sturmfluten und damit
die Bedrohung der Küstenregionen in Zukunft zuneh-
men werden. Aktuelle Simulationen von unterschiedli-
chen Klimaszenarien mit gekoppelten Klimamodellen
sagen stärkere Stürme, damit verbunden höheren See-
gang und einen steigenden Meeresspiegel infolge einer
Erwärmung der ozeanischen Deckschicht voraus.
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, in der Zukunft
neue leistungsfähigere Frühwarnsysteme aufzubauen, die
nicht nur so frühzeitig wie möglich warnen, sondern auch
dynamisch an die Situation angepasste Gegenmaßnahmen
ermöglichen. Derartige Frühwarnsysteme müssen aus ei-
ner Vielzahl von Komponenten bestehen, wobei sowohl
für einige Bereiche der Modellierung als auch auf dem
Gebiet der Messsysteme noch großer Entwicklungsbedarf
besteht. Bei den Modellen ist einmal eine Verbesserung
der meteorologischen Regionalvorhersagen dringend er-
forderlich. Zum anderen müssen die derzeitigen Sturm-
flutmodelle entscheidend verbessert werden. Insbesonde-
re müssen in den Sturmflutmodellen die Wechselwirkun-
gen mit der Topographie (Morphodynamik) und dem Ein-
fluss des Seegangs auf die Wasserstände realistischer be-
schrieben werden. Bezüglich der Messsysteme muss ein
Netzwerk von Monitoringstationen auch außerhalb der
Küstenzonen aufgebaut werden, welches eine Online-Ver-
108
Abb. 49: Sturmschäden durch den Winterorkan „Lothar“ 1999.
Abb. 50: Hochwasserkatastrophe in Dresden im August 2002.
fügbarkeit der Monitoringdaten gewährleistet.
In einer zweiten Stufe müssen die Frühwarnsysteme
um eine Reaktionskomponente erweitert werden. Diese
soll die Einleitung dynamisch an die jeweilige Situation
angepasster Gegenmaßnahmen ermöglichen. Die hierfür
notwendigen Modelle müssen dann neben den physika-
lischen Rahmenbedingungen zusätzlich die sozialen,
ökonomischen und politischen Entscheidungswege und
Strukturen berücksichtigen.
WeltraumwetterDie erhöhte und stark variable Strahlungs- und Teil-
chenstromaktivität während eines Sonnenfleckenmaxi-
mums führt in einer hoch technisierten Umwelt zu bedeu-
tenden Schäden. Bei einzelnen Ereignissen sind Schäden
im Bereich von mehreren hundert Millionen Dollar aufge-
treten. Gefahren durch Weltraumwetter sind:
• Stark erhöhte Strahlungsbelastung zum Beispiel bei
Piloten, Vielfliegern und Astronauten
• Satellitenausfälle durch elektrische Aufladung
• Satellitenabstürze durch ausgedehnte Atmosphäre
bei hoher solarer und magnetischer Aktivität
• Ausfall von elektronischen Einrichtungen
• Störungen des Funkverkehrs
• Induzierte Ströme in langen Überlandleitungen oder
Pipelines
Dafür sind einerseits die Strahlungs- und Teilchen-
ströme direkt, andererseits das stark schwankende Mag-
netfeld der Erde bei einem magnetischen Sturm indirekt
verantwortlich. Da diese Stürme durch Wechselwirkung
solarer Teilchenströme mit der hohen Atmosphäre her-
vorgerufen werden und daher erst 2-3 Tage nach dem so-
laren Ereignis auftreten, besteht die Möglichkeit, durch
ein effizientes Frühwarnsystem Schäden durch Magnet-
stürme zu minimieren.
Ein geeignetes Frühwarnsystem muss eine kombi-
nierte Beobachtung der solaren und magnetischen Akti-
vität, vom Satelliten und vom Boden aus beinhalten.
Parallel dazu ist eine Simulation der Wechselwirkungen
zwischen solaren Strahlungs- und Teilchenflüssen, der
Magnetosphäre der Erde und der Ionosphäre notwendig.
Für ein Pilotprojekt kann man auf existierende Anlagen
und Observatorien zurückgreifen. Zur Abdeckung des
Raumsegments eignen sich besonders die Messungen
des Satelliten CHAMP, aus denen die wichtigsten Para-
meter der oberen Atmosphäre abgeleitet werden können.
Feuer (Vegetationsbrände)Je nach Zustand der Vegetation, der Wetterbedingun-
gen und der Einbettung eines Ökosystems in die Kultur-
landschaft beziehungsweise der wirtschaftlichen Nutz-
barkeit der Vegetation können unkontrollierte Feuer
(Wildfeuer) Intensitäten und Ausmaße annehmen, die
hohe wirtschaftliche Schäden anrichten, Auswirkungen
auf die öffentliche Gesundheit haben (Rauchbelastung)
oder sekundäre Schadenereignisse (Hangrutsch, Erosion,
Fluten) auslösen. In Hinblick auf die Verknappung natür-
licher Waldressourcen beziehungsweise der Bedrohung
der Funktion von Vegetationssystemen durch multiplen
Stress (erhöhter Landnutzungsdruck, extreme Klimaer-
eignisse, industrielle Emissionen), auch in Hinblick auf
regionale bis globale Klimaveränderungen, ist eine Er-
höhung der Vulnerabilität der Vegetation beziehungswei-
se der Gesellschaft gegenüber unkontrollierten Feuern zu
verzeichnen beziehungsweise abzusehen. Die Emission
klimawirksamer Spurengase aus Vegetationsverbrennung
verschafft dem Phänomen Feuer einen zusätzlichen Stel-
lenwert in seiner Beurteilung als Umweltfaktor.
Da der größte Teil kritischer Feuerereignisse durch
den Menschen ausgelöst wird, spielen für das Auftreten
beziehungsweise die Vorhersagbarkeit des Auftretens
von Wildfeuern sozioökonomische, kulturelle und auch
politische Parameter eine Rolle. Die kritischen Räume
liegen in den Entwicklungsländern, die über beschränk-
te oder keine Kapazitäten in der Feuervorhersage verfü-
gen, und in den wenig erschlossenen Naturräumen Eura-
siens (Russische Föderation), Nordamerikas oder Step-
pen und Savannengebiete mit geringer Dichte an Infra-
strukturen.
Zu den wichtigsten Defizitbereichen auf dem Gebietder Frühwarnung von Vegetationsbränden gehören:• Mangel an Flächendeckung von Feuer-Monitoring
und Frühwarnsystemen (weltweit)
• Keine Förderung der Entwicklung beziehungsweise
kein Betrieb angewandter Einrichtungen an der
Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Praxis (fire
management), Politik, Verwaltung, Betroffene, ins-
besondere auf globaler Ebene
• Teilweise noch unbekannte Entscheidungskriterien
beziehungsweise decision-support systems, die er-
lauben, eine Aussage über den Feuer-Impakt und
damit über die zu ergreifenden Maßnahmen zu ma-
chen (zum Beispiel die Alternativen „brennen las-
sen“ oder „unter Kontrolle bringen“).
• Defizite in der technischen Weiterentwicklung, ins-
besondere auf dem Gebiet der Fernerkundung (hier
in Deutschland: Begleitforschung des DLR Kleinsa-
telliten BIRD beziehungsweise des geplanten
Feuer-Sensors FOCUS auf ISS).
109
Abb. 51: Mögliche Auswirkungen durch das „Weltraumwetter“.
Mit dem Aufbau eines Systems zur systematischen
Überwachung von Feuer und den Umwelt- und Gesell-
schaftsfaktoren, die das Vorkommen beziehungsweise
die Anwendung von Feuer und dessen Auswirkungen
bestimmen, wird Neuland an einer Schnittstelle zwi-
schen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und der
Anwendung beziehungsweise Politikentwicklung be-
treten. Erforderlich ist, dass ein globales Frühwar-
nungs- und Monitoring-Produkt zügig und realistisch
aufgebaut wird.
110
Geodaten sind ein wesentlicher Teil des in der modernen Informations- und Kommunikati-
onsgesellschaft vorhandenen Wissens. Sie werden auf allen Ebenen des öffentlichen
Lebens genutzt und sind vielfach Grundlage des planerischen Handelns. Ihre Verfügbar-
keit ist maßgebliche Voraussetzung für Standort- und Investitionsentscheidungen. Geoinforma-
tionen bilden damit ein Wirtschaftsgut ersten Ranges und können wesentlich zum ökonomischen
Wachstum beitragen. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Entschließung vom 15. Februar
2001 daher die „Gewinnung, Verarbeitung, Verbreitung und Nutzung von Geoinformationen“als ein „zentrales Element der modernen Informationsgesellschaft“ bezeichnet.
Gegenwärtig ist ein effizienter Umgang mit Geoinformationen in Deutschland jedoch nur einge-
schränkt, oder mit erheblichen Kostenaufwand möglich. Wesentliche Ursachen hierfür sind der
Mangel an einheitlichen Datenstrukturen, Formaten und Spezifikationen, sowie veraltete Infor-
mationstechnologien. Zur Leistungssteigerung des Geoinformationswesens sind daher nicht nur
eine verbesserte Koordinierung und die Optimierung administrativer und technisch organisatori-
scher Abläufe notwendig. Ein zentraler Bestandteil der Bemühungen, die Nutzung von Geoinfor-
mationen zu stärken, ist der Bereich Forschung und Entwicklung. Das FuE-Programm GEO-
TECHNOLOGIEN mit seinen grundlagen- und anwendungsorientierten Themenfeldern bietet
dafür ein geeignetes wissenschaftliches und technologisches Potenzial.
Die Geoinformationstechnologie als Querschnittstechnologie kann durch geeignete Informa-
tions- und Kommunikations-Infrastrukturen helfen, die wissenschaftlichen und technischen
Potenziale verfügbar zu machen und zu dokumentieren. Sie schafft innovative Netzwerke inner-
halb der Wissenschaft, aber auch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Nur so ist der Zugang
zu aktuellen Ergebnissen von Forschung und Entwicklung und zu Markt-, Produkt- und Wirt-
schaftsdaten gewährleistet. Grundlagenwissen und innovative Basistechnologien lassen sich
somit in perspektivreichen Anwendungsfeldern und zum volkswirtschaftlichen Nutzen umsetzen.
111
Informationssystemeim Erdmanagement
Die offene Geodaten-Infrastruktur
Wie selbstverständlich nutzen wir Infra-struk-
turen als Bestandteil unseres alltägli-chen
Lebens. Infrastrukturen versorgen uns mit
Wasser, Transportmitteln, Telekommunikation oder mit
Elektrizität. Hinter allen Beispielen verbergen sich kom-
plexe, hochorganisierte Technologien, die von Menschen
betrieben werden, die diese Infrastruktur gemäß getroffener
Vereinbarungen, Regeln und Rechtsvorschriften betreiben.
Der Aufbau von Geodaten-Infrastrukturen ist ein aktuel-
les Thema, dem in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu-
nehmend Bedeutung zugemessen wird. Geoinformationen
sind Informationen mit einem definierten Raumbezug und
basieren auf Erdbeobachtungsdaten (Fernerkundung, Satel-
litendaten), Umweltdaten, topographischen oder themati-
schen Karten, sowie Daten über physikalische und chemi-
sche Zustände der Geo-, Hydro-, Kryo- und Atmosphäre.
Bei circa 80 % aller Entscheidungen im öffentlichen
und privatwirtschaftlichen Leben sind raumbezogene In-
formationen, also Geodaten, wesentlich. Der Aufbau, die
Verwaltung und Nutzung von Geoinformationen, sowie
die damit verbundenen Dienstleistungen, haben bereits
heute eine große wirtschaftliche Bedeutung. So liegt der
Umsatz der Geoinformationswirtschaft in Deutschland
angeblich bei circa 100 Millionen Euro; das Marktpoten-
zial aber wird auf fast 7 Milliarden Euro geschätzt. Damit
gehört das Geoinforationswesen in Deutschland in Zu-
kunft zu den wichtigsten Anbietern innovativer Arbeits-
plätze. Einschlägige Studien gehen davon aus, dass auch
auf europäischer Ebene große Wachstumschancen gege-
ben sind. In den USA sehen die Prognosen noch optimi-
stischer aus. Allein durch den Einsatz von GPS-Technolo-
gie wurden dort, in den vorangegangenen Jahren circa
100.000 Arbeitsplätze geschaffen.
Der Aufbau von Geodaten-Infrastrukturen spiegelt
sich in einer Vielzahl von Aktivitäten wider, die auf inter-
nationaler, europäischer aber auch auf nationaler Ebene
ablaufen. Gegenstand sind vorrangig geographische Da-
ten, die Geobasisdaten, welche zum Beispiel Topogra-
phie, digitale Geländemodelle, oder Katasterdaten umfas-
sen. Ein wichtiges Signal setzt zum Beispiel das EU-Pro-
jekt GEIXS (Geological Electronic Information Exchange
System), das von den europäischen Geologischen Dien-
sten initiiert wurde. Hier geht es darum, die geowissen-
schaftlichen Daten in einer Geodaten-Infrastruktur ver-
fügbar zu machen. Die im folgenden vorgeschlagenen
Projekte „Visual Earth“ und das „Virtual Crust Lab“ grei-
fen diesen Trend auf und sind als Beiträge der Geowis-
senschaften zur entstehenden globalen Geodaten-Infra-
struktur zu sehen.
Vom Arbeitsplatz eines modernen Wissenschaftlers
betrachtet, präsentiert sich die angestrebte Infrastruktur
nicht wie ein Verbund verteilter Systeme, sondern wie ein
einziges (virtuelles) Informationssystem, das ihm einen
unmittelbaren Zugriff auf relevante Informationen über
Projekte, beteiligte Organisationen oder verfügbare Daten
ermöglicht. Auch die zur Auswertung und Visualisierung
von Daten notwendigen Softwaretools können, wenn sie
nicht auf dem lokalen System vorhanden sind, über die In-
frastruktur angesprochen und genutzt werden. Das Arbei-
ten mit der Geodaten-Infrastruktur kann aus Sicht des
Nutzers ohne Wissen um die exakte Lokation der bereit-
gestellten Dienste und Datenbestände erfolgen. Lediglich
bei der Nutzung von Informationen und Dienstleistungen,
für die besondere Zugriffsregelungen gelten, wird diese
virtuelle Transparenz durchbrochen. Am Arbeitsplatz des
Wissenschaftlers sind alle relevanten Funktionen zum
Auffinden und zur Nutzung von Geodaten vorhanden.
Geodaten kommen aus der „Netzwerk-Steckdose“.
Der Aufbau und die gezielte Entwicklung von Infra-
strukturen sind ein komplexes Problem, das durch eine
Vielzahl von Faktoren gesteuert und beeinflusst wird:
• Technologische Entwicklung in Hinblick auf Leis-
tungsfähigkeit von Computern und Netzwerken
• Software-Werkzeuge zum Aufbau und zur Nutzung
der Geodaten-Infrastruktur
• Standards zur Repräsentation und zum Austausch
von Daten, aber auch für die Struktur der Daten-Do-
kumentation
• „Policies“ zur Definition strategischer Ziele und Rah-
menbedingungen, zum Beispiel Regeln, Richtlinien
und Gesetze zum zielgerichteten Aufbau und Betrieb
der Infrastruktur
• Rechtsfragen, wie Copyright von Daten, Haftung bei
mangelhaften Daten
• Qualität und Dokumentation der Geodaten, sowie
• Datenangebot und -nachfrage
112
Themenschwerpunkt: „Informationssysteme im Erdmanagement“.
Förderstatus BMBF:Förderung von sechs Verbundvorhaben. Förder-
volumen: Circa 4 Millionen Euro für eine
3-jährige Förderphase (2002-2004).
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
Ziel:Schaffung der wissenschaftlichen und technologi-
schen Grundlagen für eine effizientere Nutzung
großer heterogener Datenbestände. Sicherstellung
ihrer langfristigen Verfügbarkeit in Wissenschaft,
Wirtschaft und Verwaltung.
Beteiligte Institutionen:Interdisziplinäre Beteiligung von Universitäten,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
KMUs.
Umsetzung: Kompetenznetz Geoinformatik
Für das FuE-Programm GEOTECHNOLOGIEN
wird vorgeschlagen, den Aufbau einer Geodaten-Infra-
struktur durch ein wissenschaftliches, projektorientier-
tes Dienstleistungsangebot umzusetzen. Dieses Ange-
bot umfasst ein breites Spektrum von Diensten, wie
zum Beispiel das Netzwerk- und Massendatenmanage-
ment, die Erfassung und Verwaltung von Projektdaten,
der Entwurf und die Implementierung von Software-
Umgebungen zur Modellierung und Simulation, aber
auch das Informationsmanagement, welches die Ge-
staltung und Optimierung von Informationsflüssen
zum Ziel hat. Bei der inhaltlichen Breite des Pro-
grammkonzepts sind erhebliche Herausforderungen an
die Geoinformatik zu erwarten, die ohne Verzögerung
der wissenschaftlichen Projektarbeit in Software-Sys-
teme umgesetzt werden müssen.
Als Träger dieses Dienstleistungsangebots fungiert
ein Kompetenznetz Geoinformatik. Das Kompetenz-
Netz schafft die organisatorischen Rahmenbedingun-
gen zum Aufbau einer offenen geowissenschaftlichen
Informations-Infrastruktur. Folgende Aufgabenberei-
che lassen sich unterscheiden:
• die Unterstützung der einzelnen Projekte bei der Kon-
zeption und dem Aufbau von projektspezifischen In-
formationssystemen,
• die massive Entwicklung von innovativen Systemlö-
sungen (zum Beispiel Visual Earth, Virtual Crust
Lab) und
• der Transfer von Innovationen in marktfähige Pro-
dukte.
Die Bearbeitung dieser Aufgaben im Rahmen von
Projekten spielt eine entscheidende konzeptionelle Rol-
le. Um die Aufgaben erfolgreich umzusetzen, organisiert
sich das Kompetenznetz in zwei Gruppen, das Consul-
ting- und das Software-Team:
• Das Consulting-Team berät Projektteilnehmer und
übernimmt das Management von Projekten zum Aufbau
der Geodaten-Infrastruktur. Daneben müssen Richtlinien
und Empfehlungen für den Aufbau von Datenbeständen,
aber auch die Verteilung und Nutzung von Geodaten
ausgearbeitet werden, die mit nationalen, europäischen
und internationalen Entwicklungen abzustimmen sind.
Es ist ein rechtlicher Rahmen zur Sicherung des Copy-
rights und zum Schutz vor Missbrauch speziell für wis-
senschaftliche Geodaten zu schaffen. Darüber hinaus
sind in der wissenschaftlichen Welt Rahmenbedingun-
gen zu schaffen, damit die Publikation von Daten sich
gegenüber den klassischen Publikationsformen, wie zum
Beispiel Zeitschriftenartikeln, etablieren kann.
Eine weitere Aufgabe des Consulting-Teams ist die
Organisation des Innovationstransfers. Prototypische
Softwarelösungen mit einem hohen Marktpotenzial sol-
len im Rahmen dieses Prozesses in marktfähige Produk-
te umgesetzt werden.
• Das Software-Team ist Know-how-Träger auf dem
Gebiet Entwicklung, Erprobung und Einführung von
Software-Komponenten zum Aufbau von Geodaten-In-
frastrukturen. Zentrale Themen sind die Wiederverwen-
dung von Software und Modelle der Softwareentwick-
lung. So können die Voraussetzung geschaffen werden,
qualitativ hochwertige Software in einem definierbaren,
günstigen Kostenrahmen mit einer akzeptablen Ge-
schwindigkeit zu entwickeln.
113
Abb. 52: Beispiel für innovative Systemlösung.
Eine wichtige Aufgabe des Software-Teams ist der
Aufbau und Betrieb einer projektinternen Infrastruktur,
die auf der Basis von Internet-Technologien allen Teil-
nehmern des geplanten Programms als Informations-und
Kommunikationsplattform zur Verfügung steht. Sie bie-
tet den Teilnehmern Werkzeuge und Dienste für die
Gruppenarbeit, die gegenseitige Information und die
Verwaltung von Projekt-Dokumentationen.
Das Kompetenznetz ist eine virtuelle Organisation, die
sich dynamisch an die Anforderungen anpasst. Neben we-
nigen zentralen Mitarbeitern besteht das Kompetenznetz
aus einem dynamischen, dezentralen Mitarbeiterpool, der
über die projektinterne Infrastruktur bei der Lösung spezi-
eller Projektaufgaben vernetzt zusammenarbeitet. Hier
sind übergreifende Netzwerke zwischen GEOTECHNO-
LOGIEN-Projekten und Hochschulen, Ämtern, For-
schungseinrichtungen und Firmen anzustreben.
Die Aufgaben des Kompetenz-Zentrums liegen in der
Planung und Durchführung von Integrations- und FuE-
Projekten:
Im Rahmen von Integrations-Projekten werden wis-
senschaftliche Projekte beim Aufbau eines projektinter-
nen Daten- und Informations-Managements unterstützt.
Im Zentrum stehen Systeme zur Erfassung und Visuali-
sierung von Daten (Labor- oder Bohrungsinformations-
systeme), aber auch der Aufbau von Clearinghouse-Sys-
temen, die einen vollständigen Überblick über das Pro-
jekt, seinen Ablauf sowie eine Dokumentation der Da-
tenbestände enthalten. Die Systeme werden in erster Li-
nie aus vorhandenen, standardisierten Software-Kompo-
nenten zusammengestellt. Auch die Aufbereitung und
Dokumentation wichtiger Altdatenbestände in eine
nachnutzbare Form, sowie die Integration und Harmoni-
sierung wichtiger externer Datenbestände wird im Rah-
men von Integrations-Projekten durchgeführt. Die da-
durch verursachten Kosten können allerdings erhebliche
Ausmaße erreichen.
In neuen Einsatzfeldern, die nicht mit Standard-Soft-
ware abgedeckt werden können, sind prototypische Soft-
ware-Module im Rahmen von Forschungs- und Ent-
wicklungs-Projekten (FuE) zu entwickeln. Dazu werden
den Anforderungen entsprechende Teams zusammenge-
stellt, die eine rasche Umsetzung sicherstellen. Lösun-
gen können dann in der praktischen Anwendung erprobt
und validiert werden. Im Fall einer positiven Bewertung
des Marktpotenzials kann der Prototyp in ein marktfähi-
ges Produkt überführt werden.
Perspektiven
Der heutige Einsatz von Informationstechnologie ist
allerdings noch durch organisatorische und technische
Hemmnisse gekennzeichnet. Die Erfassung von Daten
ist vor allem durch den Einsatz computergestützter
Messgeräte sehr weit fortgeschritten und enorme Men-
gen von Daten werden produziert. Im Vergleich dazu
spielt die Integration und Nutzung der Daten über die
Grenzen der Disziplinen und Organisationen hinweg ge-
genwärtig noch eine untergeordnete Rolle. In vielen Fäl-
len scheitert die Wieder- und Weiterverwendung der Da-
ten daran, dass ihre Existenz den potenziellen lnteres-
senten und Anwendern nicht bekannt ist, weil die Daten
in einer Vielzahl isolierter Einzelsysteme gespeichert
sind. Datenbestände bleiben ungenutzt, da nur ein klei-
ner Kreis von Spezialisten Kenntnis von ihrer Existenz
hat. Im technischen Bereich behindern inkompatible
Ansätze der Speicherung und Verwaltung die Nutzung
von Geodaten. Obwohl prinzipiell verfügbar, können
die Daten vielfach nicht genutzt werden, weil techni-
sche Fragen des Austausches beziehungsweise der Ver-
arbeitung von Daten in Fremdsystemen nicht gelöst
sind. Auch die Preispolitik und Fragen von Nutzungs-
und Urheberechten haben einen wesentlichen Einfluss
auf die Entwicklung.
Diese Hemmnisse erschweren die Zusammenarbeit
im wissenschaftlichen Bereich, aber besonders auch den
Transfer von Informationen und Daten zwischen Wis-
senschaft, Wirtschaft und Behörden. Sie erschweren den
Aufbau von Infrastrukturen zur Kommunikation und
zum Austausch von Informationen, die für Planungen
und Entscheidungen im Geo- und Umweltmanagement
notwendig sind.
Forschungsprojekte
Visual Earth Das Management des vorhandenen Geo-Wissens und
seine Verfügbarkeit für andere Problemstellungen ma-
chen ein neues, umfassendes multimediales System zum
Transfer und zur Nutzung erforderlich. Das System er-
möglicht Experten, Politikern und Bürgern eine umfas-
sende Information und stellt die vielfältigen Beiträge der
Geowissenschaften und ihre Relevanz dar. Es geht dabei
um die Entwicklung eines strukturierten Informations-
und Wissensangebots, das unter besonderer Berücksich-
tigung didaktischer und methodischer Gesichtspunkte
aufbereitet werden muss. Die Ausrichtung auf selbstor-
ganisiertes Lernen ist besonders dazu geeignet, den Wis-
senstransfer und damit Innovationsprozesse zu unterstüt-
zen. Erstrebenswert erscheint auch die Beteiligung beim
Aufbau einer virtuellen Hochschule mit einem speziel-
len Ausbildungs- und Trainingsprogramm.
Zur Darstellung des Wissens über die Erde ist ein
System besonders geeignet, nämlich ein Modell der Erde
selbst. In diesem Bezugssystem wird das gegenwärtige
Wissen von Prozessen in der Geo-, Hydro-, Atmo- und
Biosphäre zusammengefasst und in einer multimedialen,
visuellen Form dargestellt. Wesentliches Merkmal des
„Visual Earth“-Systems ist die Möglichkeit, von der glo-
balen Betrachtung des Systems Erde auf submikroskopi-
sche Bereiche zu zoomen.
Die Basis des „Visual Earth“-Systems bildet ein Netz
von sogenannten Clearinghouse-Systemen (= Handels-
plätze für Daten im Internet), Datenbanken und eine
elektronische Bibliothek. Clearinghouse-Systeme unter-
stützen speziell das Auffinden von Informationen und
114
stellen sich einem Kernproblem der Informationsgesell-
schaft, nämlich der Vermittlung von relevanten Informa-
tionen. Clearinghouse-Systeme nutzen dazu die Be-
schreibung und Dokumentation der im System verfüg-
baren Daten, die in strukturierter Form als Metadaten
vorliegen.
Die Daten des „Visual Earth“-Systems sind in verteil-
ten Datenbanken gespeichert. Die elektronische Biblio-
thek ist ein Verbund von Bibliotheken über das Internet.
Die virtuelle Bibliothek „Geowissenschaften“ ermög-
licht den Wissenschaftlern einen umfassenden Überblick
über Artikel, Zeitschriften und Bücher sowie einen effi-
zienten Zugang zur „grauen“ und schwer beschaffbaren
Literatur. Dazu gehören wissenschaftlich-technische Re-
ports, Dissertationen, Habilitationen und ausgewählte
Diplomarbeiten sowie Vorträge und Vorlesungsskripte.
Wichtiger Dienst einer virtuellen Bibliothek ist die elek-
tronische Lieferung von Dokumenten.
Darüber hinaus ist die Schaffung eines themenüber-
greifenden Internetportals zu geowissenschaftlichen Da-
ten notwendig. Hierunter sollten sich gewisse Absichten,
die auch im Themenschwerpunkt Informationssysteme
schon beinhaltet waren, jedoch nicht zur Förderung ka-
men, aufgegriffen werden. Gedacht ist an ein den heuti-
gen Standards und Technologien entsprechendes Portal,
über das auf die großen geowissenschaftlichen Daten-
banken via Metainformation zugegriffen werden kann.
Hierdurch sollen der weltweiten wissenschaftlichen
Community die Daten verfügbar gemacht werden, um
disziplinenübergreifend Forschungen zu ermöglichen.
Virtual Crust LabDas „Virtual Crust Lab“ ist ein Projekt mit dem Ziel,
ein offenes System zur Modellierung und Simulation
von geowissenschaftlichen Prozessen und Strukturen
aufzubauen. Die Problemstellungen in Wissenschaft und
Forschung, Technik und Gesellschaft verlangen nach
immer umfassenderen und genaueren Modellbildungen
für komplexe Systeme und Problemlösungen. In Verbin-
dung mit der Modellierung und den Innovationen der In-
formationstechnologie entwickelt sich die Computersi-
mulation zur Darstellung dynamischer Vorgänge immer
mehr zu einem wichtigen Standbein der wissenschaftli-
chen Arbeit.
In der Industrie sind der computergestützte Entwurf
und die Simulation ein unverzichtbares Verfahren der
Produktentwicklung und des unternehmerischen Pla-
nens. Komplette Modelle von Automobilen werden in
CAD-Systemen entworfen, auf einem virtuellen Fließ-
band zusammengebaut und in ihrem aerodynamischen
und mechanischen Verhalten getestet, bevor die eigentli-
che Fabrikation beginnt.
Die Modellierung/Simulation hat in den Geowissen-
schaften mittlerweile eine vergleichbare Bedeutung:
Viele geowissenschaftlich relevante Strukturen und Pro-
zesse können nicht im Experiment untersucht werden.
Sie entziehen sich einer direkten Untersuchung durch
ihre Unzugänglichkeit, die räumlichen Dimensionen
oder eine extreme zeitliche Dauer. Durch diese Situation
ist die Bedeutung von Modellierung und Simulation we-
sentlich größer als zum Beispiel in anderen Wissen-
schaften wie der Physik und der Chemie. Modellierung
und Simulation werden immer stärker zu einem zentra-
len Werkzeug der Geowissenschaften.
Das „Virtual Crust Lab“ ist eine offene Systemumge-
bung zur Modellierung und Simulation von geowissen-
schaftlichen Problemstellungen. Der Modellierungspro-
zess kann in einem virtuellen 3-D-Raum, zum Beispiel
einem ausgewählten Krustensegment, ablaufen. Die
Wissenschaftler können sich innerhalb des virtuellen
Raums bewegen. Nach der Darstellung von Bohrlöchern
werden Schritt für Schritt Ergebnisse und für die Pro-
blemstellung relevante Untersuchungsverfahren einge-
blendet und bewertet. Die Lage und Eigenschaft eines
seismischen Reflektors und der Schnittbereich mit dem
dreidimensional dargestellten Bohrloch können anhand
der Bohrlochmessungen und der geologischen Detail-
aufnahme direkt untersucht werden. Auf diese Weise
kann iterativ das Raummodell eines Objektes konstruiert
werden, das dann zur Simulation von Prozessen genutzt
wird. „Virtual Crust Lab“ dokumentiert den Ablauf und
die Einzelschritte des Modellierungsprozesses in Form
eines Workflow-Diagramms. Schritte zurück oder zum
Ausgangspunkt sind möglich, so dass alternative Wege
beschritten werden können. Ein weiteres Einsatzbeispiel
mit einer ganz anderen Zeitauflösung und Skalierung ist
zum Beispiel die Simulation von Fluidsystemen, die eine
große Bedeutung für Pedologie, Hydrologie, Klimatolo-
gie, Ökonomie und Ökologie besitzt.
Die Ergebnisse von prognostischen Simulationen kön-
nen mit Daten validiert werden, die zum Beispiel von sa-
telliten- oder bodengestützten Umwelt-Monitoringsyste-
men registriert wurden. Auf diese Weise können Rück-
kopplungsmechanismen etabliert werden, die ihrerseits
wieder in die Modellierung und Simulation einfließen.
115
Für eine objektive Beurteilung des derzeitigen Klimageschehens und der zu erwartenden
Entwicklung ist es wichtig, die natürlichen Klimavariationen vor dem Hintergrund
menschlicher Einwirkungen und ihrer Folgen zu erkennen. So ist der Nordatlantik als
Klimamaschine und Warmwasserheizung speziell für Europa von außerordentlicher Bedeutung.
Auch das Auftreten des El-Niño-Phänomens mit seinen Einflüssen auf die Bildung von Wirbel-
stürmen und die Monsunverstärkung oder -abschwächung sind spektakuläre kurzzeitige Ereig-
nisse im Bewusstsein der Menschheit, die auf die hohe Variabilität und Sensitivität des Klima-
systems hinweisen. Hierzu gehören auch die Beobachtungen von Meeresspiegelanstieg und der
Verstärkungseffekt der Vegetation auf die Feuchtigkeitsbildung.
Verschiedene Modelle führen zu der Annahme, dass eine anthropogene Zunahme der Treibhaus-
gase seit einigen Jahrzehnten einen verstärkten Einfluss auf das Klima ausübt. Dies äußert sich
möglicherweise in der beobachteten Zunahme von klimatischen Naturkatastrophen, wie Über-
schwemmungen, Stürmen, Unwettern, Dürren, Hitze- und Kälteperioden sowie ihren unmittelba-
ren Folgen (Deichbrüche, Sturzfluten, Bergrutsche) und mittelbaren Folgen (volkswirtschaftliche
Schäden).
Die moderne Industriegesellschaft führt ein Großexperiment im Klimasystem der Erde durch.
Der Ausgang dieses Experimentes ist ungewiss, deshalb sind eingehende Vorsorgeuntersuchun-
gen zu den Änderungen im Lang- (> 10.000 Jahre), Mittel- (10.000 bis 100 Jahre) und Kurzzeit-
klima (< 100 Jahre) in Zeit und Raum notwendig.
Klimaforschung bildet deshalb eine gesellschaftlich relevante und unabdingbare Vorsorge (unter
Einschluss aller Datenarchive und Messwerte bis hin zur Modellbildung) zur Erkennung der
Wirkungsweise des Klimasystems, um das notwendige Handlungswissen zu erhalten. Es ist die
Frage der möglichen ökologischen Selbstgefährdung unserer Gesellschaft zu beantworten.
117
Globale Klimaänderungen –Ursachen und Auswirkungen
Stand der Forschung
Es ist mittlerweile unbestritten, dass natürliche
zyklische Klimavariationen existieren. Dazu
zählen kurzfristige El Niño- und Sonnen-
fleckenzyklen, der mittelfristige 1500 Jahres Dans-
gaard-Oeschger Zyklus, langfristige, durch orbitale
Parameter der Erde gesteuerte Milankovich-Zyklen
und ultralangfristige Variationen, die mit der Koevolu-
tion von Litho- und Biosphäre einhergehen. Der Über-
gang von einem Zustand des Klimasystems in einen
anderen kann extrem kurzfristig sein und in wenigen
Jahren bis Jahrzehnten erfolgen.
Die natürliche Entwicklung des Klimas über erdge-
schichtliche Perioden kann in mehrere zyklische Phasen
gegliedert werden. Das sogenannte „Treibhaus“-Klima-
system, zum Beispiel in der Kreidezeit vor 100 Millio-
nen Jahren, umfasste Phasen, in denen es keine polaren
Vereisungen, sondern höhere globale Mitteltemperatu-
ren und hohe atmosphärische CO2-Konzentrationen gab.
Dem steht das „Eishaus“-Klimasystem mit polaren oder
bipolaren Vereisungen, niedrigen globalen Temperaturen
und CO2-Gehalten gegenüber, wie es speziell seit etwa
2,7 Millionen Jahren, dem Beginn des insgesamt
circa 50 Kaltzeiten umfassenden Eiszeitalters, vor-
herrscht. Diese ultralangen Schwankungen sind nicht li-
near, das heißt, schon kleine Änderungen im System
können große Wirkungen zur Folge haben. Ursache die-
ser Wechsel ist vermutlich die Isolation der Pole vom
ozeanischen Wärmeaustauschsystem, eine Folge der
plattentektonischen Kontinentalverschiebung. Tekto-
nisch verursachte Gebirgsbildung wird zusätzlich für
Klimaschwankungen verantwortlich gemacht, wie zum
Beispiel die Hebung von Tibet, da sie die globalen at-
mosphärischen und ozeanischen Zirkulationsmuster ver-
ändern kann; ebenso die Öffnung und Schließung von
Meeresstraßen, wie zum Beispiel die Schließung der
Straße von Panama vor circa 4,5 Millionen Jahren.
Der „Eishaus“-Zustand – wir leben heute in einer nur
knapp über 10.000 Jahre dauernden Warmphase (Inter-
glazial) des Eiszeitalters – wird zur Zeit am besten ver-
standen, stellt jedoch im erdgeschichtlichen Rahmen
eine Ausnahmesituation dar. Charakteristisch ist die
langfristige Periodizität von Kalt- und Warmzeiten. Erst
der Nachweis von Orbitalzyklen an Sauerstoffisotopen-
kurven von marinen Sedimenten und Eiskernprofilen er-
brachte den grundlegenden Beweis für die schon vorher
vermutete Steuerung dieser Kalt- und Warmzeiten durch
die Erdbahnparameter. Vor- und Nacheileffekte im Be-
118
Abb. 53: Globale Klimazonen.
Themenschwerpunkt: „Globale Klimaänderungen – Ursachen und Auswirkungen.“
Förderstatus BMBF:Förderung von 12 Vorhaben unter dem Dach
von DEKLIM.
Förderstatus DFG:Zur Zeit keine Förderung durch die DFG.
Ziel:Rekonstruktion des Paläoklimas.
Beteiligte Institutionen:Universitäten und außeruniversitäre Forschungs-
einrichtungen.
reich der Milankovich-Frequenzen lassen Rückschlüsse
auf die Funktionsweise des Klimasystems zu. Der Wech-
sel von der letzten Vereisungsphase zur gegenwärtigen
Warmzeit ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen,
da er innerhalb von 3.000 Jahren mit mehreren Fluktua-
tionen zwischen warm und kalt stattfand. Der Übergang
zwischen den einzelnen Phasen erfolgte innerhalb weni-
ger Dekaden.
Mittelfristige periodische Schwankungen wurden vor
allem für den letzten Glazialzyklus seit circa 50.000 Jah-
ren in marinen Ablagerungen und den Archiven der Eis-
kerne nachgewiesen. Ihre Hauptperiodizität wird heute
mit 1.500 Jahren angegeben. Da diese Frequenz zu kurz
für geologische und zu lang für atmosphärische Prozes-
se ist, wird sie auf Veränderungen der thermohalinen
ozeanischen Zirkulation, vor allem durch Schmelz- be-
ziehungsweise Süßwasserzufuhr in Folge von Eisberg-
ausbrüchen, zurückgeführt. Die Übergänge dauerten
auch hier nur wenige Dekaden.
Den mittel- und langfristigen Periodizitäten sind zu-
sätzlich noch kurzfristige Klimaschwankungen überla-
gert, deren Periodizitäten unter anderem den Schwan-
kungen der Sonnenfleckenaktivität oder anderen astro-
nomischen Einflüssen entsprechen. Diese Variationen
sind aus zeitlich hoch auflösenden geologischen und
biologischen Archiven (Eiskerne, Sedimente mit Jahres-
schichtung, Bäume, Korallen, Höhlensinter) sowie aus
historischen Archiven bekannt. El Niño-Periodizitäten,
die eine Art Aufschaukelungsprozeß widerspiegeln, be-
wegen sich im Bereich von 3 bis 6 Jahren. Zusätzlich
treten episodische vulkanische Aktivitäten hinzu, wie
zum Beispiel der Ausbruch des Pinatubo, die das Klima
über Zeitspannen von wenigen Jahren beeinflussen kön-
nen. Sowohl klimatische Extremereignisse als auch
kurz- und mittelfristige Klimaschwankungen hatten gra-
vierende Auswirkungen auf die Kultur – und Mensch-
heitsgeschichte während der letzten Jahrtausende.
Statistische Untersuchungen auf Grundlage meteoro-
logischer Messdaten zeigen, dass das anthropogene Kli-
masignal, insbesondere der Treibhauseffekt, eine we-
sentliche Rolle in der zukünftigen Klimaentwicklung der
Erde spielt. Die Aussagen dieser statistischen Analysen
werden untermauert durch die Ergebnisse, die mit physi-
kalischen Klimamodellen erzielt worden sind. Da aber
die natürliche Variabilität des Klimasystems auf allen
Zeitskalen vorhanden und bislang nur unzureichend ver-
standen ist, müssen die Modellergebnisse als Trendaus-
sage für die Zukunft mit großer Vorsicht interpretiert
werden. Es ist daher notwendig, unsere Verständnis-
lücken hinsichtlich der natürlichen Klimavariabilität
auf den speziell für den Menschen relevanten dekadi-
schen bis subdekadischen Zeitskalen zu schliessen.
Dies erfordert eine präzise Rekonstruktion der großen
ozeanatmosphären Oszillationen während der letzten
Jahrtausende.
EiskerneDas wohl bedeutsamste Ergebnis der Eiskernfor-
schung der letzten Jahre war der Nachweis aus Grön-
landbohrungen, dass Klimaschwankungen außerordent-
lich schnell ablaufen können (Änderungen der Jahres-
mitteltemperatur über Grönland von etwa 10°C inner-
halb von 20 Jahren bei gleichzeitiger Änderung der
Staubbelastung der Atmosphäre). Ferner zeigen die Am-
plituden, daß der mittlere Temperaturunterschied in der
Nordhemisphäre zwischen Glazial und Interglazial etwa
doppelt so groß war, wie bislang angenommen. Diese
zunächst im grönländischen Eis beobachteten „Dans-
gaard-Oeschger“ Ereignisse sowie die rapiden und
großen Klimavariationen während des Überangs Glazi-
al-Holozän sind mittlerweile global nachgewiesen, unter
anderem als massive Variabilität im hydrologischen
Kreislauf der Tropen und Subtropen.
Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, deren
Beantwortung für die Prognose künftiger Klimaentwick-
lungen von entscheidender Bedeutung ist und helfen
kann, den anthropogenen Einfluss auf das Klima zu
quantifizieren:
• Was bewirkte ursächlich die rapiden Klimawechsel
während des Glazials (zum Beispiel Dansgaard-
Oeschger Zyklen)? Wo und wodurch werden
schnelle Klimaänderungen ausgelöst und wie wer-
den sie amplifiziert?
• Wie sind die Nord- und Südhemisphäre gekoppelt?
Welche Rolle spielen die Tropen?
• Sind sie Besonderheiten des letzten glazialen Zy-
klus oder gab es sie auch in früheren Kaltzeiten?
• Verlaufen die Wechsel zwischen Kalt- und Warm-
zeiten immer in derselben Weise oder gibt es Un-
terschiede?
• Ist das relativ stabile Klima der letzten 10.000 Jahre
die Ausnahme oder die Regel für eine Warmzeit?
Die Eiskernarchive liefern einzigartige Datensätze
zur Zusammensetzung der Atmosphäre, der Klimavaria-
bilität und der langzeitlichen Wechselwirkung zwischen
Klima und Eismassen. Ein neues Arbeitsfeld der
Eiskernanalyse hat sich in den marinen und terrestri-
schen Permafrostregionen eröffnet. Hier steht die Ent-
wicklung noch am Anfang.
Für die Eiskernanalyse stehen eine Vielzahl von gut
eingeführten Methoden zur Verfügung, die routinemäßig
eingesetzt werden. In den letzten Jahren wurde ein we-
sentlicher Teil der in den Archiven gespeicherten und für
die Erfassung von Klimaänderungen relevanten Parame-
ter zuverlässig gemessen. Allerdings sind nur die anor-
ganischen Spurenstoffe im Eis analysiert worden,
während wichtige Isotopenverhältnisse wie δ 13C am
CO2, sowie die organischen Verbindungen oder auch mi-
krobielle Einschlüsse aus Gründen unzureichender Ana-
lysetechniken weitgehend unbearbeitet sind. Hier ergibt
sich ein weitreichendes Feld für zukünftige Arbeiten mit
noch zu entwickelnden Methoden.
MeeressedimenteDie Sedimente des Meeresbodens bilden die zeitlich
längsten kontinuierlichen Archive des Paläoklimas und
spiegeln im wesentlichen die Verhältnisse im ozeani-
schen Umfeld wieder. Damit bilden sie ein Fundament
der Paläoklimaforschung, weil sie neben den kurz- und
119
mittelfristigen auch die langfristigen Veränderungen in
ihrer regionalen Ausprägung gespeichert haben. Sie ent-
halten Informationen über die Änderungen der gesamten
marinen Umwelt mit ihren Auswirkungen auf die mari-
ne Biosphäre. Ihre Untersuchung erlaubt daher die Re-
konstruktion der Auswirkungen sich ändernder Klimate
auf die Ozeane sowie die Veränderungen der räumlichen
Verteilung von Wassermassen beziehungsweise der Zir-
kulationssysteme in den Ozeanen.
Die Analysenmethoden zur Messung der Proxydaten
sind gut etabliert, jedoch besteht noch erheblicher For-
schungsbedarf für die Ableitung von echten Klimapara-
metern aus diesen Proxies. So sind Fragen der Fixierung
der Klimasignale im Sediment und deren mögliche Ver-
änderung durch Bioturbation oder Diagenese bis hin zur
quantitativen Bestimmung der Temperatursignale aus
Verhältnissen stabiler Isotope in Resten mariner Orga-
nismen nur durch ein breites Spektrum grundlegender
und neu zu entwickelnder biologischer, biogeochemi-
scher und physikalischer Methoden zu klären.
Die gute Korrelation der im Nordatlantik gefundenen
Lagen von Material, das durch Eisberge transportiert
wurde (Heinrich Events), mit Proxyparametern für Än-
derungen der Oberflächenwassertemperaturen und den
in Grönland gefundenen Dansgaard-Oeschger Zyklen
zeigt klar die Leistungsfähigkeit, aber auch die Grenzen
des Multiparameterproxy-Ansatzes zur Klimarekon-
struktion aus Meeressedimenten. Es ist noch nicht mög-
lich, die Temperaturproxies so genau zu bestimmen, dass
eindeutig geklärt werden könnte, ob das Einsetzen der
verstärkten Kalbung von Eisbergen ursächlich für eine
einsetzende Temperaturänderung ist, oder ob eine Tem-
peraturänderung ein verstärktes Kalben nach sich zieht.
Zur Beantwortung dieser Fragen muss die absolute Al-
tersdatierung verbessert werden.
Daher sind laminierte Sedimentabfolgen im flachma-
rinen Umfeld wie im Cariaco- und Santa Barbara-
Becken ideale Archive, um die Variabilität der großen
ozean-atmosphären Oszillationen (zum Beispiel ENSO)
auf der dekadischen bis intra-anuellen Zeitskala
während der letzten Jahrtausende zu analysieren. Die
präzise Datierbarkeit dieser Sedimentabfolgen und die
mögliche hohe zeitliche Auflösung haben ein neues Feld
in der Paläo-Ozeanographie eröffnet. Hier sind in Zu-
kunft grosse Fortschritte in unserem Verständnis der
Kopplung Ozean-Kontinent zu erwarten. Damit wird
ferner die Datenbasis für die Beurteilung des Einflusses
der Klimavariabilität auf den menschlichen Lebensraum
grundlegend erweitert, auch im Hinblick auf archäologi-
sche und anthropologische Fragen.
Um der besonderen steuernden Rolle der Polarregio-
nen im Klimasystem gerecht zu werden, müssen die po-
laren Ozeane stärker als bisher beprobt und untersucht
werden. Beispielhaft hierfür sind das Nansen Arctic
Drilling Programm oder die Programme für die Laptev-
und die Kara-See zu nennen. Letztere wenden sich auch
der Frage nach dem Einfluss der zeitlichen Variabilität
der großen kontinentalen Stromsysteme zu, die in den
arktischen Ozean entwässern. Hierfür müssen neue
Proxies und chrono-stratigraphische Methoden ent-
wickelt werden, da der Einsatz von gängigen Analysen-
methoden im polaren Umfeld limitiert ist.
SeesedimenteSedimente großer und kleiner Seen haben sich als
ideale Klima- und Umweltanzeiger auf den Kontinenten
erwiesen, da sie mit Jahres- oder sogar saisonaler Auflö-
sung eine Vielzahl von Klimaparametern, vulkanische
Aktivitäten wie auch geomagnetische Feldvariationen
aufzeichnen. Im Unterschied zu anderen terrestrischen
Paläoklima-Archiven sind Seesedimente weltweit in al-
len Klimazonen vorhanden und bieten zudem die einma-
lige Chance, über ausgewählte Proxies (Sediment-akku-
mulationsraten, palynologische Kulturzeiger, Holzkohle,
DNA-Analysen) anthropogene Aktivitäten festzustellen,
zu quantifizieren und mit archäologischen und histori-
schen Befunden zu korrelieren.
Aufgrund unterschiedlicher Bildungsmechanismen und
Sedimentationsraten großer und kleiner Seen dokumentie-
ren die Sequenzen Zeiträume in der Größenordnung von
10.000 Jahren bis zu mehreren Millionen Jahren.
Die Sedimentfolgen sind abhängig von der jeweiligen
Landschaftsgeschichte, so findet man in Europa in den
Seen der Vereisungsgebiete nur Ablagerungen des Spät-
glazials und Holozäns, während zum Beispiel Seen in
Periglazialräumen mehrere glaziale Zyklen überdauer-
ten. Entsprechend konnten in Maar- beziehungsweise
Kraterseen Mitteleuropas Warvenchronologien erstellt
werden, die bis 23.000 Jahre vor heute, in Süditalien
aber bis 100.000 Jahre vor heute zurückreichen. Damit
ist zugleich die Datierung von in den Sequenzen enthal-
tenen Tephrahorizonten möglich, die eine einzigartige,
jahrgenaue Korrelation zwischen terrestrischen und ma-
rinen Profilen erlauben.
Die Auflösung dieser Profile auf Jahresbasis und
zum Teil auf Jahreszeiten ermöglicht die zeitliche Ein-
grenzung von natürlichen Klimavariationen, die Datie-
rung und Häufigkeitsanalyse von Extremereignissen
(zum Beispiel Erdbeben) und die Analyse eines breiten
Spektrums klimasteuernder Periodizitäten (NAO, SOI,
solare Periodizitäten, Milankovitch-Zyklen). So kann
man zum Beispiel den Kälterückschlag in die Jüngere
Dryas in Mitteleuropa auf 25 – 30 Jahre beziffern. An-
fang und Ende dieser Periode sind genau in Warven-
jahren anzugeben, die Dauer belief sich in Mitteleuro-
pa auf 1070 Jahre.
Die Warvenchronologien wurden zugleich durch
AMS14C-Daten kontrolliert, wobei sich herausstellte,
dass die „Eifel“-Chronologie exzellent mit dem Profil
des Suigetsu-Sees in Japan, aber auch mit den marinen
Sequenzen des Cariaco-Beckens und den Korallen von
Barbados sowie der deutschen Dendrochronologie über-
einstimmt.
Den auf Jahresbasis bestehenden Profilen des letzten
Glazials stehen die Untersuchungen von Sedimentabfol-
gen in großen Seen gegenüber, die mehrere Glazial-In-
terglazial-Zyklen umfassen und zum Beispiel im Baikal-
see im Miozän beginnen. Der Vorteil dieser Sequenzen
mit geringerer Auflösung liegt in der Analyse längerfri-
120
stiger, großräumiger und auch weit zurückliegender Kli-
maschwankungen.
Zukünftige Schwerpunktthemen sind:
• Erfassung der Dauer und Amplitude von markan-
ten Klimawechseln und extremen Klimaereignis-
sen auf den Kontinenten,
• Untersuchung der Wechselwirkungen von Klima-
variabilität, Besiedlungsgeschichte und Land-
schaftsentwicklung für ausgewählte Brennpunkte
der Zivilisationsgeschichte.
Dafür ist notwendig:
• Erstellung absoluter Chronologien (Warvenchro-
nologien) für die letzten 130.000 Jahre in ausge-
wählten Seen,
• Kalibrierung der 14C-Datierung an der Warven-
chronologie über 11.000 Jahre hinaus,
• Multiparameternetzwerke und Ableitung von Kli-
mazustandsgrößen für die jeweiligen Lokalitäten,
• Verbesserung lokaler und regionaler Magnetostra-
tigraphien und Altersmodelle mit dem Ziel der
überregionalen Korrelation.
ErdsystemmodellierungErdsystemmodelle ermöglichen es, die physikalischen
Mechanismen der rekonstruierten Klimavariabilität zu
untersuchen, die aus Wechselwirkungen zwischen den
Komponenten des Erdsystems resultieren. Diese umfas-
sen Atmosphäre, Ozean, Meer- und Inlandeis, marine
und terrestrische Biosphäre sowie die feste Erde (zum
Beispiel Sedimenttransport, Subduktionszonen). Die
verbindenden Elemente sind die Stoff-, Impuls- und En-
ergieflüsse. Stoffflüsse können die Konzentration klima-
relevanter Spurenstoffe (zum Beispiel Kohlendioxidge-
halt der Atmosphäre) verändern; sie können auch eine
Umverteilung von Nährstoffen (zum Beispiel Stickstoff)
bewirken und damit die Biosphäre beeinflussen.
Ziel der Erdsystemmodellierung ist es hier, die Ursa-
chen natürlicher Klimavariationen zu verstehen, Rück-
kopplungsmechanismen im Erdsystem zu identifizieren,
sowie daraus Aussagen über die Stabilität des Klimasys-
tems zu unterschiedlichen geologischen Zeiten abzulei-
ten. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden dazu bei-
tragen, die möglichen anthropogenen Einflüsse auf das
Klimageschehen vorherzusagen und von natürlichen
Klimavariationen zu unterscheiden.
Mit Erdsystemmodellen meint man heute zumeist
komplexe Computerprogramme, die die Dynamik von
Atmosphäre, Ozean, Meereis und so weiter, sowie die
Wechselwirkung zwischen diesen Komponenten be-
schreiben. Die Spannbreite der Modelle reicht von mög-
lichst detaillierten, realitätsnahen Modellen über solche
mit reduzierter Komplexität bis hin zu konzeptionellen
Modellen die, auf die wesentlichen Elemente der Dyna-
mik reduziert, ein tieferes Verständnis des Klimasystems
erlauben. Bereits heute erlauben Erdsystemmodelle
mittlerer Komplexität Rechenzeiten von einigen zehn-
tausend Jahren, so dass klimarelevante Prozesse auf geo-
logischen Zeitskalen erstmals in großem Detail unter-
sucht werden können.
Die Entwicklung und Kopplung von Modellkompo-
121
Abb. 54: Der Einfluss des Klimas auf die klassischeMaya-Kultur (anhand von geochemischen Untersu-chungen an laminierten Sedimenten des CariacoBeckens vor der Küste Venezuelas).
nenten für Atmosphäre, Ozean und Meereis ist weiter
fortgeschritten als die Behandlung der Biosphäre, der
geochemischen Reservoire und der festen Erde. Insbe-
sondere die Wechselwirkungen zwischen Biosphäre,
Geochemie und Klima basieren zurzeit noch auf empiri-
schen Befunden und nicht auf einem tieferen Prozess-
verständnis. Gerade die biogeochemischen und sedi-
mentmechanischen Modellkomponenten bergen aber die
Möglichkeit, biologische und sedimentologische Proxy-
daten, auf denen die Klimarekonstruktionen beruhen, di-
rekt zu berechnen.
Paläoklima-Proxydaten und Ergebnisse aus Erdsys-
temmodellen haben in der Vergangenheit meist eine
mehr getrennte Bearbeitung erfahren. Zwar wurden Da-
ten zum Antrieb von Modellen verwendet; gleichzeitig
sank dadurch jedoch die Zahl der verfügbaren, unabhän-
gigen Daten zur Modellvalidierung. Zudem wirkte sich
bei Modell-Daten-Vergleichen nachteilig aus, dass die
Modelle nur sehr selten die geologisch rekonstruierten
Größen direkt berechneten. Stattdessen wurden die mo-
dellierten Größen oftmals auf der Basis von Annahmen
mit Paläoklimadaten verglichen (zum Beispiel Ozean-
temperaturen mit Sauerstoffisotopenwerten). Die sich ab-
zeichnende Weiterentwicklung biologischer, geochemi-
scher und sedimentmechanischer Modellkomponenten
sowie die Einbettung regionaler in globale Modelle wird
dazu führen, dass Erdsystemmodelle in einigen Jahren de-
tailliert die Verteilung entsprechender Proxydaten auf ge-
ologischen Zeitenräumen berechnen können.
Da die aktuellen, gekoppelten Erdsystemmodelle zu
ihrem Antrieb nur ein Minimum an rekonstruierten In-
formationen benötigen, werden zukünftig somit deutlich
mehr Proxydaten zur Modellvalidierung zur Verfügung
stehen. Es ist ebenfalls zu erwarten, dass zur Validierung
nicht länger nur mittlere Zustände des Erdsystems ver-
wendet werden, sondern auch deren zeitliche Variatio-
nen. Die Übereinstimmung zwischen modellierter und
rekonstruierter Vergangenheit wird durch den Einsatz
von Monte-Carlo Simulationen besser quantifizierbar
sein. Für geologische Zeitabschnitte, für die Daten in
hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung vorliegen,
lässt sich durch Datenassimilation ein raum-zeitlich
vollständiges, dynamisch konsistentes Bild ableiten.
Auf diese Weise können vergangene Klimazustände
besser dargestellt und in ihrer zeitlichen Entwicklung
verstanden werden.
Voraussichtliche Meilensteine auf dem Weg der Erd-
systemmodellierung werden in der kommenden Dekade
die erfolgreiche Simulation (i) der natürlichen Klimava-
riabilität im Holozän auf Zeitskalen von Dekaden bis zu
Jahrtausenden, (ii) des letzten Eiszeitzyklusses, inklusive
Heinrich- und Dansgaard-Oeschger Ereignissen sowie der
Jüngeren Dryas, und (iii) von wesentlichen Schritten der
känozoischen Abkühlungsgeschichte der Erde sein. Diese
Entwicklung verlangt den Einschluss von Modellen der
Eisschilde, von geochemischen Stoffkreisläufen, der ma-
rinen und terrestrischen Biosphäre und die Berücksichti-
gung variabler Ozeanvolumina. Sie verlangt auch die
enge Kooperation von Fachgebieten, die traditionell über-
wiegend unabhängig gearbeitet haben.
Perspektiven
Für eine Verbesserung der Vergleichbarkeit von Kli-
masignalen aus den verschiedenen Archiven ist eine ver-
lässliche Datierung mit bestmöglicher Präzision von
größter Bedeutung, das heißt die Informationen, die Da-
tenträger (Baumringe, Korallen oder jahreszeitlich ge-
schichtete Sedimente) enthalten, sollten mit jährlicher
Auflösung vorliegen. Gut datierte Markerhorizonte, wie
vulkanische Aschelagen, aber auch das statistische An-
passen von gemeinsamen klimatischen Oszillationen
undatierter Klimakurven an datierte Profile, wie zum
Beispiel an die grönländischen Eiskerne, bieten zu-
sätzliche Möglichkeiten. Nur durch optimale Korrelati-
on und Datierung lassen sich Ursachen und Folgen von
Klimavariationen unterscheiden beziehungsweise gleich-
zeitige Klimasignale bestätigen.
Aus geo- und biowissenschaftlichen Archiven sind
nur Messdaten (=Näherungswerte über meteorologische
und ozeanographische Parameter) verfügbar. Es müssen
dafür laufend neue Transferfunktionen entwickelt und
verbessert werden, die es erlauben, die ursprünglichen
Proxydaten in Klimavariable zu überführen. Beispiele
sind die Rekonstruktion der atmosphärischen Zusam-
mensetzung aus den im Eis eingeschlossenen Luftblasen
oder die Rekonstruktion von Temperatur- und Nieder-
schlagswerten über die mit Pollen und pflanzlichen Ma-
kroresten rekonstruierte Vegetationsbedeckung. Dabei
ist gerade in Europa die Beziehung zwischen natürlicher
Klimavariabilität und anthropogener Beeinflussung der
Vegetation von Bedeutung. Auf einem Kontinent, auf
dem anthropogene Landnutzung seit über 7.000 Jahren
nachweisbar ist, tritt zusätzlich das Problem auf, die
„natürliche“ Vegetation zu definieren. Hierfür sind
flachmarine Archive ideal, die sich durch hohe Sedi-
mentationsraten oder eine laminierten Sedimentations-
abfolge auszeichnen.
Auf den langen und ultralangen Zeitskalen sind vor
allem die klimatischen Extremzustände von Interesse.
Entscheidend ist dabei nicht nur die Funktionsweise von
Extremklimaten wie etwa von ausgeprägten Treibhaussi-
tuationen zu verstehen, sondern auch das Systemverhal-
ten in der Zeit und die Schwellenwerte für Übergänge
zwischen Systemzuständen zu charakterisieren. Von ei-
ner derartigen Klimasystemforschung ist unter anderem
Aufschluss über die Klimawirksamkeit von atmosphäri-
schem Kohlendioxid unter ganz verschiedenen Umwelt-
bedingungen zu erwarten.
Die Rolle des Ozeans für Klimawechsel ist auf ver-
schiedenen Zeitskalen noch genauer zu untersuchen. Ur-
sachen, Dauer und Wechselwirkungen von Klima-
schwankungen auf die thermohaline ozeanische Zirkula-
tion, insbesondere für die sehr raschen Umschlagszeiten
zwischen den einzelnen Zirkulationsphasen, sind von
größter Bedeutung für das Verständnis des globalen Kli-
masystems. Die Klimasignale aller Archive müssen un-
tereinander verknüpft und harmonisiert werden, denn die
Relevanz der lokal gewonnenen Informationen kann
global sein. Dies muß jedoch in Form einer integrierten
122
Interpretation der Auswirkungen von Klimaschwankun-
gen auf die einzelnen Archive getestet werden. Insbe-
sondere sind Rückkopplungsprozesse und Verstärkungs-
effekte, wie zum Beispiel die Wechselwirkungen zwi-
schen Vegetation, Böden und Klima, ohne die das humi-
de Klima in der Sahara während des mittleren Holozäns
vor etwa 9.000 bis 6.000 Jahren und die damit einherge-
hende Ausbreitung subtropischer Flora und Fauna in die
rezent hyperaride Klimazone nicht zu erklären ist, zu
identifizieren und zu quantifizieren.
Der Aufbau langer und zugleich zeitlich hochauflö-
sender Zeitreihen von klimarelevanten Daten ist neben
der Beschreibung einzelner Zeitfenster eine wichtige
Voraussetzung für Test und Anwendung von Erdsystem-
modellen. Erdsystemmodellierung ist bereits ein wichti-
ger Bestandteil der Forschung. Es müssen jedoch in ver-
stärktem Umfang die Neo- und Paläoklimatologie ver-
bunden werden und die bestehenden Modelle für die An-
forderungen der Modellierung vieler Jahrtausende aus-
gebaut werden. Dafür ist es einerseits unerlässlich, die
Messdaten aus den verschiedenen Geoarchiven in quan-
titative Klimaproxywerte, wie zum Beispiel Temperatur,
Salinität oder CO2-Gehalt, zu überführen und anderer-
seits, die bestehenden Computer-Modelle und -Techni-
ken, die besonders für das Forschungsgebiet „Globale
Erwärmung“ entwickelt wurden, auch für paläoklimato-
logische Rekonstruktionen einzusetzen. Daten dienen
dabei der Validierung von Modellen und Modelle ande-
rerseits der Interpretation von Daten, denn nur mit Hilfe
von physikalischen Modellen lässt sich die beobachtete
Variabilität des Klimas als Prozess im Sinne einer Ursa-
che-Wirkungsrelation im Klimasystem erklären oder als
chaotisches Verhalten interpretieren. Erst wenn Modelle
die Beobachtungen realistisch wiedergeben, ist eine ver-
trauenswürdige Abschätzung künftiger Klimaentwick-
lungen möglich.
Integrierte Klimasystem-Analyse
Das Ziel, globale Klimaschwankungen, ihre Ursachen
und Auswirkungen zu verstehen und zu modellieren, soll
mit einer integrierten Klimasystem-Analyse angegangen
werden. Grundsätzlich sind dazu die folgenden For-
schungsaufgaben durchzuführen:
(a) Gewinnung und Aufbereitung von Daten mit• der Erstellung einer gemeinsamen konsistenten
Zeitskala für alle Archive,
• der Strukturierung von Multi-Parameter-Netz-
werken (lokal-regional-global) und
• der Entwicklung von Transferfunktionen und Ablei-
tung von Klimavariablen (Temperatur, Niederschlag,
Windgeschwindigkeit et cetera) aus Proxywerten.
123
Abb. 55: 5 Millionen Jahre Fieberkurve des Erdklimas.
(b) Modellentwicklung mit• der Berechnung der Variabilität von Klima-Proxy-
Daten und meteorologischen Messwerten,
• der iterativen Entwicklung und Validierung der
Klimamodelle mit Hilfe der aus Proxies abgeleite-
ten Klimavariablen sowie
• der Anwendung der aus der Kombination von neo-
klimatischen Messwerten und paläoklimatischen
Proxy-Daten verbesserten Klimamodelle zur Kli-
maprognose.
Im einzelnen sind in den nächsten Jahren folgendeForschungsfragen anzugehen:
• Quantifizierung der natürlichen Klimavariabilität
auf Zeitskalen von wenigen menschlichen Genera-
tionen
• Identifikation von Lokationen, die besonders sen-
sitiv auf eine mögliche anthropogene Klimasteu-
erung reagieren
• Analyse der Kopplung zwischen mariner und ter-
restrischer Klimavariabilität unter besonderer
Berücksichtgung des Einflusses der Klimaschwan-
kungen auf den Lebensraum des Menschen
• Analyse der Entwicklung der grossen ozean-at-
mosphären Oszillationen der letzten Jahrtausende
unter besonderer Berücksichtigung der rapiden
Klimaerwärmung durch anthropogene Effekte
• Analyse und Vorhersage von Klimaschwellenwer-
ten im Rahmen der anthropogenen Erwärmung und
der dafür notwendigen Studie vergangener wärme-
rer Klimate bei grundsätzlichen vergleichbaren tek-
tonischen Rahmenbedigungen (Pliozäne Warmzeit
als Analog einer unipolar vereisten Welt mit eventu-
ell „permanenten“ El Nino Bedingungen)
• Klärung des CO2-Kreislaufs unter Berücksichti-
gung aller Quellen und Senken (Ozean, Vegetation,
Böden, industrielle Nutzung von Rohstoffen).
• Analyse des Zusammenhangs zwischen atmos-
phärischer CO2-Konzentration und Klima, auch
über längere erdgeschichtliche Zeiträume.
Dafür ist notwendig:• Verstärkte interdisziplinäre Analyse von Klimaar-
chiven mit hoher zeitlicher (möglichst jährlicher)
Auflösung
• Verfeinerung beziehungsweise Nutzung bislang
nicht oder nur selten eingesetzter analytischer Me-
thoden (δ 13C, 14C, Pollen aus Eis, δ 18O an biogener
Kieselsäure terrestrischer Sedimente, molekulare
Biomarker)
• Regionalisierung und Erweiterung der Datenbasis
mit bestmöglicher zeitlicher Einordnung und Kor-
relation der verschiedenen Archive untereinander
auf der Basis einer gemeinsamen hochaufgelösten
Chronologie
• Transferfunktionen und Kalibrationen zur Ableitung
quantitativer Klima-Proxywerte aus Messdaten
• Anwendung „harter“ statistischer Methoden (mit
Signifikanztests) auf alle Daten zur Erfassung von
Trends und zyklischen Variationen
• Ausdehnung der multiplen und vergleichenden
Signalanalysen unter Berücksichtigung der Ab-
schätzung von Ungenauigkeiten
• Einbeziehung der Wechselwirkungen zwischen
Daten und Modellen und Entwicklung eines itera-
tiven Prozesses zur Modellvalidierung und Ent-
wicklung
• Aufbau eines Daten-Managementsystems, um In-
formationen und Daten für die verschiedenen Ar-
beitsgruppen verfügbar zu machen und für zukünf-
tige Aufgabenstellungen zu dokumentieren und zu
archivieren
• Aufbau einer Modellhierarchie von globalen, aber
in langen Zeitschritten rechnenden Erdsystemmo-
dellen bis hin zu räumlich und zeitlich detaillierter
rechnenden Regionalklimamodellen. Diese Mo-
delle liegen teilweise bereits vor, müssen jedoch
aufeinander abgestimmt und verknüpft werden
124
125
Liste der Autoren
W. Andres, Frankfurt †
U. Bayer, Potsdam
U. Becker, Münster
J.D. Becker-Platen, Hannover
U. Berner, Hannover
R. Bill, Rostock
G. Borm, Potsdam
D. Bosbach, Münster
U. Christensen, Kaltenburg-Lindau
B. Cramer, Hannover
G. Dresen, Potsdam
H. Duddeck, Braunschweig
W.C. Dullo, Kiel
R. Emmermann, Potsdam
J. Erzinger, Potsdam
E. Flügel, Erlangen
F. Fürsich, Würzburg
R. Gaupp, Jena
K.H. Glaßmeier, Braunschweig
G. Greiner, Potsdam
U. Hansen, Münster
T. Hantschel, Jülich
H.P. Harjes, Bochum
G. Haug, Potsdam
K. Hinz, Hannover
A. Hollerbach, Hannover
H. Hubberten, Potsdam
H. Keppler, Bayreuth
R. Kind, Potsdam
F. Kockel, Hannover
J. Lauterjung, Potsdam
R. Leinfelder, München
D. Leythaeuser, Köln
R. Littke, Aachen
S. Mackwell, Bayreuth
B. Merz, Potsdam
J. Mienert, Tromsø
H. Miller, Bremerhaven
D. Morgenstern, Bonn
V. Mosbrugger, Tübingen
J. Negendank, Potsdam
M. Nußbaumer, Stuttgart
O. Oncken, Potsdam
W. Oschmann, Frankfurt
E. Plate, Karlsruhe
H. Poelchau, Jülich
A. Putnis, Münster
C. Reigber, Potsdam
J. Reitner, Göttingen
R. Rummel, München
M. Sarntheim, Kiel
K. Schetelig, Aachen
E. Seibold, Freiburg
F. Seifert, Bayreuth
A. Siehl, Bonn
H. Soffel, München
V. Stein, Hannover
G. v. Storch, Geesthacht
W. Stahl, Hannover
L. Stempniewski, Karlsruhe
H. Strauss, Münster
U. Streit, Münster
B. Stribny, Freiburg/Br.
L. Stroink, Potsdam
E. Suess, Kiel
J. Thiede, Bremerhaven
J. Veizer, Bochum
J. Wächter, Potsdam
M. Wallner, Hannover
F.-W. Wellmer, Hannover
D.H. Welte, Jülich
F. Wenzel, Karlsruhe
T. Wippermann, Hannover
J. Zschau, Potsdam
126
AD Anno Domini
AES Auger Electron Spectroscopy
AFM Atomic Force Microscope
AMS Accelerator Mass Spectrometry
ANCORP ANdean COntinental REsearch PRogram to image an active Subduction
(Nordchile)
AOM Anaerobic Oxidation of Methane
AWI Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
BGR Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
BIOGEST Biogas Transfer in Estuaries
BIRD Bi-spectral Infra-Red Detection
BKG Bundesamt für Kartographie
BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung
BP Before Present
BSR Bottom Simulating Reflector
CAD Computer Aided Design
CDP Common Depth Point
CINCA Crustal Investigations off- and onshore Nazca/Central Andes
CHAMP Challenging Microsatellite Payload for Geophysical Research and Application
CONDOR Study of the Nazca Plate and adjacent Andean margin off Valparaiso, Chile
CONGO Das Gashydratsystem in hemipelagischen Sedimenten (Westafrika)
DEGAS 3-D-seismische Detailstudie eines Gashydratvorkommens am
konvergenten Kontinentalrand vor Costa Rica
DEKORP Deutsches Reflexionsseismisches Programm
DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft
DGFI Deutsches Geodätisches Forschungsinstitut
DGMK Deutsche Wissenschaftliche Gesellschaft für Erdöl, Erdgas und Kohle e. V.
DGPS Differential GPS
DKRZ Deutsches Klima-Rechenzentrum
DLR Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt
DORIS Doppler Orbitography and Radiolocation Integrated by Satellite
D-PAF Deutsches Prozessierungs- und Archivierungszentrum
DSDP Deep Sea Drilling Project
DTPA Diethylentriaminpentaessigsäure
EARTHSCOPE US-Amerikanisches Langzeit-Programm zum Verständnis der Bildung,
Struktur und Entwicklung des Nordamerikanischen Kontinents
EDTA Ethylendiamintetraessigsäure
EDV Elektronische Datenverarbeitung
EEZ Exclusive Economic Zone
ELDP European Lake Drilling Program
ELOISE European Land-Ocean Interaction Studies
ENSO El-Niño/Southern Oscillation
Verzeichnis der Abkürzungen
127
ENVISAT Environmental Satellite
EPICA European Project for Ice Coring in Antarctica
ERS European Remote Sensing Satellite
ESF European Science Foundation
EU European Union
EUROPROBE Tectonic Evolution of Europe from the Ural Mountains to the Atlantic
EXAFS Extended X-ray Absorption Fine Structure
FCKW Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe
FESG Forschungseinrichtung Satellitengeodäsie (TU München)
FOCUS Intelligentes Infrarot Sensor-System für die Internationalen Raumstation (ISS),
zur Beobachtung von Waldbänden aus dem Weltall
FS Forschungsschiff
FU Freie Universität
FZJ Forschungszentrum Jülich
GASSTAB Hangstabilität und Rutschungen in der Tiefsee- Einflussparameter Gashydrate
GCM General-Circulation-Modelling
GEIXS Geological Electronic Information Exchange System
GEOMAR Forschungszentrum für Marine Geowissenschaften
GEOPECO Geophysical Experiments along the Peruvian Continental Margin –
Investigations of Tectonics, Mechanics, Gashydrates and Fluid Transport
GFZ GeoForschungsZentrum Potsdam
GGA Geowissenschaftliche Gemeinschaftsaufgaben
GH Gesamthochschule
GHOSTDABS Gas Hydrates: Occurence, Stability, Transformation, Dynamic and
Biology in the Black Sea
GIS Geo-Informations-System
GNSS Global Navigation Satellite System
GOCE Global Ocean and Continent Experiment
GPa Giga-Pascal
GPS Global Positioning System
GRACE Gravity Recovery and Climate Experiment
GWC Gas Water Contact
HAIRS High Accuracy Inter-satellite Ranging System
HEDP Hydroxylethyl-diphosphat
HPLC High Pressure Liquid Chromatography
HSZ Hydrat-Stabilitäts-Zone
HVZ Hochwasservorhersagezentrale
IAG International Association of Geodesy
ICDP International Continental Scientific Drilling Program
ICP-MS Ion-Coupled-Plasma Mass Spectrometery
ICSU International Council of Scientific Unions
IERS International Earth Rotation Service
IDNDR International Decade of Natural Disaster Reduction
IES Integrated Exporation Systems
IGBP International Geosphere Biosphere Programme
IGCP International Geoscientific Correlation Program
IGGM Integriertes Geodätisch-Geodynamisches Monitoringsystem
IGGOS Integrated Global Geodetic Observing System
IGOS Integrated Global Observing Strategy
IGS International GPS Service
128
ILP International Lithosphere Program
INGGAS Integrierte geophysikalische Charakterisierung und Quantifizierung
von Gashydraten
INSAR Interferometric Synthetic Aperture Radar
IODP International Ocean Drilling Project
ISDC Information System and Data Centre
ISS International Space Station
IUGG International Union of Geodesy and Geophysics
IUGS International Union of Geological Sciences
JAGO bemanntes Forschungstauchboot des Max-Planck-Instituts für Verhaltens-
physiologie, Seewiesen
KTB Kontinentales Tiefbohrprogramm der Bundesrepublik Deutschland
KW Kohlenwasserstoff
LEED Low Energy Electron Diffraction
LITASEIS Seismisches Experiment Litauen
LGM Letztes Glaziales Maximum
LGRB Landesamt für Geologie und Rohstoffe Brandenburg
LLR Lunar Laser Ranging
LOICZ Land Ocean Interaction in the Coastal Zone
LOTUS Long-term observatory for the study of control mechanisms for the
Formation and destabilisation of gas hydrates
LPTM Late Paleocene Thermal Maximum
MAC Multi Autoclav Cover
MARGASCH Marine Gashydrate im Schwarzen Meer
MAST Marine Science and Technology Program
MAX80 Multi-Anvil High Pressure Apparatus for X-ray Diffraction, 1980
MERAPI Mechanism Evaluation, Risk Assessment and Prediction Improvement
MUMM Methan in marinen gashydrathaltigen Sedimenten – Umsatz und
Mikroorganismen
NAO North Atlantic Oscillation
NASA National Aeronautics and Space Administration
NBL Neue Bundesländer
OAE Oceanic Anoxic Events
OBH Ocean Bottom Hydrophon
ODP Ocean Drilling Program
OECD Organization for Economic Co-Operation and Development
OMEGA Oberflächennahe marine Gashydrate
OSPARCOM Oslo-Paris-Commission
OTEGA Expedition SONNE – 165 zum Hydratrücken vor der Küste Oregons
PACOMAR Pacific-Costa Rica-Margin
PAGANINI PAnama basin and Galapagos plume – New Investigations of
Intraplate magmatism
PANGAEA Network for Geological and Environmental Data
PIXE Particle Induced X-Ray Emission
PRARE Precise Range and Range Rate Equipment
RKM Rasterkraftmikroskop
ROV Remotely Operated Vehicle
RTM Rastertunnelmikroskopie
SAGA South America GPS Array
SAR Synthetic Aperture Radar
SFB Sonderforschungsbereich der DFG
SKS-Methode Analyse der Aufspaltung seismischer Sekundärwellen-Typen, die den Erdkern
durchlaufen, zum Nachweis von Anisotropien im Untergrund
SLR Satellite Laser Ranging
SPP Schwerpunktprogramm der DFG
SOI Southern Oscillation Index
SST Satellite-to-Satellite Tracking
STM Scanning Tunnel Microscope
TBSP Tiefe Biosphäre
TEM Transmissions-Elektronenmikroskop
TERI Terrestrial Ecosystems Research Initiative
TICOSET Trans Isthmus Costa Rica Scientific Exploration of a Crustal Transect
TIGO Transportable Integrated Geodynamic Observatory
T/P TOPEX/Poseidon – Ocean Topography Experiment
TOF-SIMS Time-of-Flight Secondary Ion Mass Spectrometry (Flugzeit-Sekundärionen-
massenspektroskopie)
TRANSALP The East-Alpine Reflection Seismic Traverse (D-A-I)
TU Technische Universität
UFZ Umweltforschungszentrum Leipzig/Halle
UHV Ultra-Hochvakuum
UMP Upper Mantle Project
UN United Nations
UPS Ultraviolett Photoelektronen Spektroskopie
VLBI Very Long Baseline Interferometry
VPF Vital-Physiologisches Fenster
WWW World Wide Web
XANES X-ray Absorption Near Edge Spectroscopy
XPS X-ray Photo Emmission Spectroscopy
129
Das System Erde:Vom Prozessverständnis zum Management
EIN GEOWISSENSCHAFTLICHES FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSPROGRAMM VON
GEOTECHNOLOGIEN
Bildnachweis
Sofern nicht anders vermerkt, wurden alle Abbildungen
durch die Autoren der Beiträge geliefert.
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Seismic Reservoir Monitoring on
Gulflakes, Leading Edge 1997
Seite 56 oben: MUMM, MPI Bremen
Seite 56 unten: GOSTDABS, Universität Hamburg
Seite 58: Universität Göttingen
Seite 86: gmp Architekten, Berlin
Seite 87 oben: FOCUS Bildagentur, Hamburg
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Impressum:
Layout: Otto Grabe, Grit Schwalbe
3. veränderte Auflage
Potsdam, August 2003