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DIETERR. BAUER-l\1ATTHIAS BECHER (Hg.) WelfIV. - Schlüsselfigur einer Wendezeit Regionale und europäische Perspektiven unter Mitarbeit von Alheydis Plassmann 2004 Verlag C. H. Beck München

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DIETERR. BAUER-l\1ATTHIAS BECHER (Hg.)

WelfIV. -Schlüsselfigur einer Wendezeit

Regionale und europäische Perspektiven

unter Mitarbeit von Alheydis Plassmann

2004Verlag C. H. Beck

München

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Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis

WERNER HECHBERGER

Als Welf Ill. im Jahr 1055 während eines Aufenthaltes in der Burg Bod-man ernsthaft erkrankte, traf er Verfügungen über sein Erbe, die zu Ir-ritationen führen sollten. Mit knappen Worten schildert der Verfasserder Historia Welforum mehr als hundert Jahre später den Übergang derwelfischen Herrschaft von Welf Ill. auf Welf IV. Da Welf Ill. keinenErben hatte, schenkte er seinen Besitz samt den dazugehörigen Dienst-mannen dem Kloster Altdorf. Die Ausführung dieses Vermächtnissesübertrug er zwei seiner Großen. Als diese allerdings nach Welfs Todund Beisetzung die Schenkung vollziehen wollten, trafen sie auf Wider-stand. Welfs Mutter Imiza ließ ihren Enkel Welf, den Sohn ihrer Toch-ter Kuniza und des Markgrafen Azzo aus der Familie der Otbertiner,durch Boten aus Italien holen. Als Welf IV. eintraf, untersagte er denVollzug der Verfügung seines Oheims und erklärte sich zum unzweifel-haften und wahren Erben'.

Aufgeworfen werden soll an dieser Stelle weniger die Problematikder tatsächlichen Geschehnisse in den Jahren um 1055; gefragt werdensoll, welche Bedeutung dieses Ereignis für die Welfen des hohen Mittel-alters hatte und welche Rolle es für das sogenannte welfische Selbstver-ständnis spielte. Die heutige Einschätzung wirft wenig Schwierigkeitenauf. Wie Bemd Schneidmüller treffend bemerkt hat, sicherte Imiza .,aus

I Hie deniqllt Gwe!f. .. , (1/111 esset in castt» Botamo, momo complllr est; videnrque ribi i11lmin-err mor/em omnepatrimonillm fIlIIm (1/111 minirterialibllr, qllia he"dem non habllit per re, ad roe-nobil1mAltorjenst sancto Marlino in perpetuam pOffesrionem donavit et hocpeifidmdum duobllrde maioribllr rlliI ••. jükliuime commitit... Mox expleta rejJllltllra, qllibur inillnelllm flIeratdonationem peificm, valente!prohibiti IIInl. Maler mim ipIillr, sdens re hemlem habm ex ftlia,mitri! in Italiam legalis illllit ellm addud. Et venimr donalionem pmitllI inferdixil el re (erlllmel verum herrdem esse proelamavil (Erich KÖNIG [Bearb.], Historia Wdforum[Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1], 21978, c. 12, 18). Zur Sache vg!. Hans-martin SCHWARZMAlER,Königtum, Adel und Klöster im Gebiet zwischen obererIller und Lech (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwabens 7).1961,74-79.

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130 Die Erbfolge ton 1055 und das welfischeSelbslllerständnis

späterer Rückschau" den Fortbestand des Welfengeschlechts2• Nichtzuletzt wegen dieser Ereignisse erscheint Welf IV. heute als eine Schlüs-selfigur auch in dynastischer Perspektive. Seinem entschlossenen Han-deln und der Initiative seiner Großmutter sei es zu verdanken, daß dasGeschlecht der Welfen nicht ausgestorben ist. Zu fragen bleibt, wie dieWelfen des hohen Mittelalters dies selbst gesehen haben.

Die Kategorie des adligen Selbstverständnisses verweist schon seitlängerer Zeit auf eine zentrale Problematik der Erforschungdes hoch-mittelalterlichen Adels. Eingeführt worden ist sie von Kar! Schmid, dermit seinem umfassenden Oeuvre die Untersuchung früh- und hochmit-telalterlicher Adelsfamilien bis heute geprägt ha2. Die Bedeutung, die

2 Vg!. Bemd SCHNEIDMÜll.ER, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung. 819-1252,2000,128. Vg!. dazu auch Hansmartin SCHWARZMAIER,Die Welfen und derschwäbische Adel im 11. und 12. Jahrhundert in ihren Beziehungen zumVinschgau, in: Rainer LoOSE (Hg.), Der Vinschgau und seine Nachbarräume, 1993,83-98, hier 87; Wilhelm STÖRMER, Die süddeutschen Welfen unter besonderer Be-rücksichtigung ihrer Herrschaftspolitik im bayerisch-schwäbischen Grenzraum, in:Karl-Ludwig AY u.a. (Hg.), Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herr-schaft (Forum Suevicum 2), 1998, 57-96, hier 77 ff.; Thomas ZOTZ, Die frühenWelfen. Familienformation und Herrschaftsaufbau, in: Rainer LoOSE - SönkeLORENZ (Hg.), König, Kirche, Adel. Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraumund angrenzenden Gebieten (6.-13. Jahrhundert), 1999, 189-205, hier 199. ZurÜberlegung von Hansmartin SCHWARZMAlER,Dominus totius domnus comitiss«Ma/hil-dis. Die Welfen und Italien im 12. Jahrhundert, in: Karl Rudolf SCHNITH - RolandPAULER (Hg.), Festschrift Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, 1993,283-306,hier 285, der Sohn Azzos und Kunizas könnte ursprünglich einen anderen Namengetragen haben, vg!. Katrin BAAKEN, Elisina (Ums nobilissima. Welfischer Besitz inder Markgrafschaft Verona und die Datierung der Historia We1forum, in: Deut-sches Archiv für Erforschung des Mittelalters (künftig: DA) 55 (1999) 63-93, hier75Anm.70.3 Vgl. Karl SCHMID, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen

zum Verständnis des Adels im Mittelalter, aus dem Nachlaß hg. und eingeleitet vonDieter MERTENS - Thomas ZOTZ (Vorträge und Forschungen 44), 1998; DERS.,Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträ-ge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag, 1983; darin bes.: Programmatischeszur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen, 3-17 (erst-mals 1974); Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dyna-stie beim mittelalterlichen Adel, 183-244 (erstmals 1957); Über die Struktur desAdels im früheren Mittelalter, 245-267 (erstmals 1959); Über das Verhältnis von

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die Beschäftigung mit dem Selbstverständnis adliger Familien gewann,erklärt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines Perspektivenwech-sels der Adelsforschung in der Mediävistik: Insbesondere die Arbeitenvon Gerd TeIlenbach initiierten denÜbergang von einer ~echtshisto-risch geprägten Ständegeschichte zur Personengeschichte und Prosopo-graphie4• Damit verbunden war auch der Übergang zur Untersuchungkonkreter Formen menschlicher Gemeinschaften. "Adel" wurde in die-ser Perspektive nicht mehr primär als Rechtsstand verstanden, sondernals eine Eigenschaft von Familien. Der "Adel" verwirkliche sich als adli-ges Geschlecht, d. h. in den "Gemeinschaften adeliger Familien undSippen'". Die Erforschung des mittelalterlichen Adels sei demnachAufgabe einer "historischen Geschlechterkunde'",

Für Karl Schmid war das adlige Selbstverständnis von so zentralerBedeutung, weil dieser Begriff verwendet werden konnte, um die Aus-wirkungen eines fundamentalen Wandels der Struktur adliger Familienim Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter zu beschreiben". Kenn-zeichnend für das frühe Mittelalter war demnach ein zeitlich wenig sta-biles Familienbewußtsein. Es umfaßte in erster Linie die Gruppe dergleichzeitig lebenden Verwandten, die sich um bedeutende Familienan-gehörige sammelten; die Vorfahren waren in diesem Kontext noch we-niger bedeutsam. Karl Schmid sprach von "Sippen", verstand darunteraber keineswegs einen Rechtsbegriff. Wegen ihrer zeitlichen Instabilität

Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, 363-387 (erstmals 1967); Heirat,Farnilienfolge, Geschlechterbewußtsein, 388-423 (erstmals 1977). Zum Werk Kar!Schmids vg!. Otto Gerhard OEXLE, Gruppen in der Gesellschaft. Das wissen-schaftliche Oeuvre von Karl Schmid, in: Frühmittelalterliche Studien (künftig:FmSt) 28 (1994) 410-423. " ;,4 Vg!. v.a. Gerd TELLENBACH,Zur Bedeutung der Personenforschung für dieErkenntnis des früheren Mittelalters, in: DERS.,Ausgewählte Abhandlungen undAufsätze Bd. 3,1988,943-962 (erstmals 1957); DERS.,Zur Erforschung des mittel-alterlichen Adels (9.-12. Jahrhundert), ebd., 869-888 (erstmals 1965). Zum WerkGerd TeIlenbachs vg!. Hagen KELLER,Das Werk Gerd TeIlenbachs in der Ge-schichtswissenschaft unseres Jahrhunderts, in: FmSt 28 (1994) 374-397.5 SCHMID,Verhältnis (wieAnm. 3) 386.6 SCHMID,Problematik (wieAnm. 3) 239. ,7 Vg!. SCHMID,Programmatisches (wieAnm. 3) 12.

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f32 Die Erbfol,gevon f055 lind das welfischeSelbstverständnis

könne man diese Verwandtschaftsgruppen auch räumlich nur eher vagelokalisieren. Im Zeitraum zwischen dem ausgehenden 9. und dem 12.Jahrhundert habe sich dies geändert. Schmid nennt als Ursache dafür diezunehmende Erblichkeit von Ämtern und Lehen. In dieser Zeit sei esder Aristokratie gelungen, regionale und lokale Wurzeln zu schlagen. Ei-genständige Herrschaftsbereiche wurden aufgebaut und vererbt. Einörtliches Zentrum kristallisierte sich als besonders wichtig heraus: dersogenannte Stammsitz, oft verbunden mit einem Hauskloster als Grab-lege. Damit hatte eine Familie dauerhaft Wurzeln geschlagen, und ihreAngehörigen wurden nach dem Stammsitz benannt.

Die Folge war, daß die Bedeutung der Vorfahren im Denken derAdligen zunahm, insbesondere die Bedeutung der Vorfahren der väter-lichen Seite, da man von diesen im Normalfall ja den besagten Stamm-sitz mit der dazugehörenden Herrschaft geerbt hatte. Auf lange Sichtführte diese Entwicklung dazu, daß die Vater-Sohn-Folgen konstitutivfür ein Geschlecht wurden und die Verwendung eines ortsbezogenenBeinamens auch dann beibehalten wurde, wenn der ursprünglich na-mengebende Sitz verlorenging. Die locker gefügten und zeitlich instabi-len Adelsfamilien älterer Zeit hatten sich damit zum "dynastischenAdelshaus" entwickelt.

, Zwei Faktoren waren für Karl Schmid entscheidend dafür, daß manvon einem Adelsgeschlecht ,;m historischen Sinn"s sprechen könne:Neben der räumlichen Fixierung sei dies - vor allem - jener Momentgewesen, in dem sich das Adelshaus seiner Geschichtlichkeit bewußtwurde und ein Verständnis seiner selbst mit einer historischenTiefen-dimension entwickelte. Erst als sich Adlige als letztes Glied einer langenKette von Vorfahren sahen, könne man von einer adligen Dynastie alshistorisches Phänomen sprechen. Daraus zog Schmid einen weitrei-chenden Schluß: "Daher ist das Selbstverständnis eines Geschlechts dieeinzige Quelle, um es in seinem Dasein überhaupt begreifen zu kön-nen.""

8 Zum Problem vgl. SCHMID, Problematik (wieAnm. 3) 197.9 SCHMID, Problematik (wieAnm. 3) 239.

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Nicht alle Bestandteile dieser sogenannten "Schmid-These" sindohne Kritik geblieben. Weiterführend für die hier verfolgte Fragestel-lung dürften zwei Einwände sein. Gerd Althoff hat schon vor einigerZeit darauf hingewiesen, daß die Verfasser jener Quellen, die gewöhn-lich als Ausdruck des adligen Selbstverständnisses gelten, zumeist natür-lich Angehörige geistlicher Gemeinschaften gewesen sind'", Ihr Anlie-gen und ihre Perspektive mußten nicht unbedingt identisch sein mit derSicht der Familie selbst. Daher müsse man im Hinblick auf die schriftli-che Fixierung solcher Quellen auch die Frage nach dem Anlaß für eineNiederschrift stellen. Konkrete Anlässe seien vor allem Krisen. Diesegebe es etwa, wenn die Entwicklung der adligen Familie nicht so verlau-fen sei, wie es im Normalfall zu erwarten gewesen wäre, wenn also Erb-schafts- und Nachfolgeprobleme auftauchten, die zu Ungewißheit überdie Zukunft führten.

In jüngerer Zeit hat Michael Borgolte bezweifelt, daß man dem"Selbstverständnis" adliger Familien tatsächlich gleichsam Quellencha-rakter zuerkennen könne!'. Borgolte schlug vor, stärker zwischen dem"Selbstbewußtsein" als Ergebnis eines reflektierenden Aktes und dem"Selbstverständnis" als präreflexives Phänomen zu unterscheiden. JederVersuch, das Selbstverständnis adliger Familien zu rekonstruieren, seiimmer eine hypothetische Konstruktion von Historikern. Daraus folge,daß man auch die Frage stellen müsse, ob denn dieses "Selbstverständ-nis" so kohärent und so organisch gewachsen sei, wie dies zumindest inden theoretischen Ausführungen Karl Schmids bisweilen den Anscheinhabe. Schmid spricht für das Beispiel der Welfen tatsächlich von einerJahrhunderte dauernden "Sammlung" und von einer "Vergegenwärti-

10 Vgl. Gerd ALrnoFF, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstver-ständnisses, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins (künftig: ZGO) 134(1986) 34-46.11 Vgl. Michael BORGOLTE, "Selbstverständnis" und "Mentalitäten". Mittelalterli-che Menschen im Verständnis moderner Historiker, in: Archiv für Kulturge-schichte (künftig: AKG) 79 (1997) 189-210, hier 203 ff.

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gung" der eigenen Existenz: Aus der "locker gefügten Welfensippe" seiso das "fest verankerte Welfenhaus" geworden'f,

Man wird beide Ausführungen wohl kaum als fundamentale Kritikam Konzept von Karl Schmid verstehen können. Weit eher sind sie alswichtige Ergänzungen aufzufassen, als Hinweise darauf, was tunliehstauch beachtet werden sollte, wenn man sich mit dem Selbstverständniseiner adligen Familie beschäftigt und mit jenen Quellen, in denen eszum Ausdruck kommt.

Dies gilt nun auch für die eingangs zitierte Historia Welforum. Die-se Quelle galt schon früh als ein (vielleicht sogar als das) Musterbeispielfür die schriftliche Fixierung adligen Selbstverständnisses. Gerade amBeispiel der Welfen hat Schmid auch seine Thesen an einem konkretenFall umgesetzt'i'.

Bei der Beschäftigung mit dieser Quelle sind allerdings gerade injüngerer Zeit einige Probleme aufgetaucht. Die neuere Forschung istsich nicht mehr darüber einig, wer der Auftraggeber der Historia Welfo-rum war'"; desgleichen ist nach einem grundlegenden Aufsatz von Ka-trin Baaken auch die Frage nach der Abfassungszeit neu zu stellenl'',Letztlich aber haben die neueren Arbeiten zur Historia Welforum einenwichtigen Punkt sehr viel schärfer hervortreten lassen, über den viel-leicht ein allgemeiner Konsens hergestellt werden könnte: die Fragenach dem Anlaß und nach dem Zweck. Die Historia Welforum entstandoffensichtlich angesichts eines ganz konkreten Problems: des zu erwar-tenden söhnelosen Todes Welfs VI. Dieses Problem warf die Fragenach dem Schicksal des süddeutschen Welfenbesitzes auf, und dies wie-

12 Karl SCHMID,Welfisches Selbstverständnis, in: DERS., Gebetsgedenken (wieAnm. 3) 424-453, hier 441 (erstmals 1968); DERS.,Geblüt (wieAnm. 3) 130.t3 SCHMID,Welfisches Selbstverständnis (wieAnm. 12) 424-453 ..'t4 Vg!.Matthias BECHER,WelfVI., Heinrich der Löwe und der Verfasser der Hi-storia Welforum, in: Ay, Welfen (wie Anm. 2) 151-172; Werner HECHBERGER,Graphische Darstellungen des Welfenstammbaums. Zum "welfischen Selbstver-ständnis" im 12.Jahrhundert, in: AKG 79 (1997) 269-297, hier 280-283.tS BAAKEN,Welfischer Besitz (wieAnm. 2) 63-94.

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derum legt die Annahme nahe, daß die Historia Welforum mitdemBlick auf den zukünftigen Erben Welfs VI. verfaßt worden ist".

Es spricht einiges dafür, daß Heinrich der Löwe der Adressat wart7•Jedenfalls·aber handelt es sich bei dieser Quelle nicht nur um die Ge-schichte eines adligen Geschlechts, die allein deshalb niedergeschriebenworden wäre, um Rang und Würde einer Familie zu demonstrieren. Tat-sächlich ist die Historia Welforum ja .auch nicht nur eine Geschichtevon Abstammung, Herkunft und Familie im Sinn einer modernen ge-nealogischen Abhandlung.

Das zeigt zum einen schon der Titel, der im Original sehr wahr-scheinlich nicht Historia Welforum lautete, sondern Chronic a Altder-fensium'", Schon im Titel findet man also den Bezug auf einen Ort, derMittelpunkt einer adligen Herrschaft war. Jene nostri, von denen derAutor erzählt", diese "Unsrigen" sind zunächst einmal die Altdorfer'",Ihre Geschichte beginnt im ersten Kapitel mit der Lösung von denFranken im Zuge der Ansiedlung in jener Gegend, in der sich diese"Unsrigen" auch in der Gegenwart des Verfassers noch befinden. Es

16 Vg!. Peter JOHANEK,"Historia Welforum", in: Kurt RUHu. a; (Hg.), Die deut-sche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 4, 21983, 61-65; WernerHECHBERGER,Staufer und Welfen 1125-1190. Zur Verwendung von Theorien inder Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10), 1996, 117 mitAnm. 50; BECHER,WelfVI. (wieAnm. 14) 172; HECHBERGER;Darstellungen (wieAnm. 14) 280-283. .17 Die Argumentation von BAAKEN,Welfischer Besitz (wieAnm. 2) 91 f., schließtdiese Annahme nicht aus, doch geht Baaken eher davon aus, daß die Historia Wel-forum nach der Kündigung des Erbvertrags zwischen Welf VI. und Heinrich denLöwen verfaßt worden ist. . .' .'18 Vgl. dazu bereits Wilhelm von GIESEBRECHT,Beiträge zur Genealogie desbayerischen Adels im 11., 12. und 13. Jahrhundert, in: Sitzungsberichte der könig-lich-bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 1870 Bd. 1, 1870,549-587, hier 556; Helene WIERUSZOWSKI,Neues zu den sogenannten WeingartenerQuellen der Welfengeschichte, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deut-sche Geschichtskunde 49 (1932) 56-85, hier 65.19 Vgl, Historia Welforum (wieAnm. 1) c. 1,4; c.12, 20. ' .20 Vg!. Peter SEILER,Welfischer oder königlicher furor? Zur Interpretation desBraunschweiger Burglöwen, in:Xenja v. ERTZDORFF(Hg.), Die Romane vondemRitter mit dem Löwen (Chloe 20),1994,135-183, hier 161; HECHBERGER,Stauferund Welfen (wieAnm. 16) 115 ff.

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handelt sich also um die Geschichte einer Familie, die (natürlich aus derRückschau des 12. Jahrhunderts) mit einer "Landnahme" begonnen ha-ben soll. Thema der Historia We1forum ist nicht zuletzt die Geschichteder Erweiterung, der Verwaltung, der Umgestaltung und der Vererbungdes Familienbesitzes. Ausführlich schildert der Verfasser etwa die Artund Weise, wie die Verwaltung der welfischen domus organisiert gewesensein S01l21, die Geschichte der Lehnsnahme Heinrichs, die auf den Wi-derstand des Vaters Eticho traF, die Errichtung von Klösternf oderetwa die Tatsache, daß Welf IV. als erster seines Geschlechts Kirchen-lehen genommen har",

In diesem Zusammenhang ist auch die Darstellung der Ereignisseum das Jahr 1055 zu verstehen. Erzählt wird von einer Erbschaftsange-legenheit. Diese brachte durchaus eine Anomalie mit sich. Aber - unddas ist entscheidend - diese Anomalie wird nicht als ein dynastischesProblem geschildert.

Dieser Befund wird durch weitere Quellen bestätigt, die mit der Hi-storia Welforum in Verbindung stehen: den Welfenstammbäumen des12. und 13. Jahrhunderts. Schon die Überlieferungssituation legt dieAnnahme nahe, daß das Original der Historia Welforum mit einemStammbaum endete, den man wohl als eine Art graphischer Zusammen-fassung der Familiengeschichte betrachten darfs.

Die größte Beachtung hat natürlich der berühmte Welfenstamm-baum auf dem letzten Blatt des Weingartener Nekrologs im Codex D 11der Hessisch~n Landesbibliothek Fulda gefunden. Die Seite wird voneinem nach links geneigten Baum beherrscht, der kolorierte Brustbilderder Welfen in Arkaden enthälr6• Schon längst ist der Forschung aufge-

.21 Vg!. Historia Welforum (wieAnm. 1) c. 1,4.22 Vg!. Historia We1forum (wieAnm. 1) c. 4, 8.23 Vg!. Historia Welforum (wieAnm. 1) c. 4, 8f.; c. 10, 14; c. 13,20.24 Vg!.Historia Welforum (wieAnm. 1) c. 13,20.25 Vg!. HECHBERGER.Darstellungen (wieAnm. 14) 276,279.26 Vg!. Otto Gerhard OEXLE, Historia Welforum und Stammbaum der Welfenaus Kloster Weingarten, in: Jochen LuCKHARDT - Franz NIEHOFF (Hg.), Heinrichder Löwe und seine Zeit Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235.Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 1, 1995, 67-70 (Abbildung 64).

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Wemer Hechberger 137

fallen, daß der Zeichner bei der Anordnung Azzos "von Este" und Ku-nizas von seiner üblichen Darstellungsweise abwich. Im WeingartenerWelfenstammbaum sind die Männer zunächst immer in der rechtenAchse des Stammes aufgeführt. Dies ist nur in der Generation Azzosund Kunizas anders: Der Mann steht links, die Frau rechts. Seit Kar!Schmid hat man dies als einen darstellungstechnischen Trick des Zeich-ners betrachtet. Obwohl die männliche Linie der Welfen erloschen sei,habe der Zeichner doch den Anschein der Normalität aufrechterhaltenwollen. Auf den ersten Blick sei keineswegs ein Bruch erkennbar, erstbei näherem Hinsehen erkenne man das Problem, das durch den Sei-tenwechse1 von Mann und Frau zumindest angedeutet sei. WährendArmin Wolf dies sogar als Teil eines Bildprogramms betrachtete, das inmanipulativer Absicht Erbansprüche legitimieren sollte27, hat KarlSchmid diese Verfahrensweise so interpretiert: ,Ja, die Welfenherr-schaft, um deren Fortführung willen der Sohn Azzos von Este und derWelfentochter Kuniza aus Italien in das Welfenhaus nach Oberschwa-ben herbeigerufen wurde, überwand sogar den Bruch in der agnatischenFolge des Geschlechts. Er ist auch im bildliehen Stammbaum insofernüberwunden, als Azzo von Este, der italienische Adlige, in der Sukzes-sion der Welfen geführt wird. ,,28

Schmid und die ihm folgende Forschung berief sich ausdrücklichauf diesen Stammbaum, der auch der weitaus bekannteste der Welfen-stammbäume ist. Indessen bleibt zu berücksichtigen, daß diese Wein':gartener Zeichnung, wenn man Otto Gerhard Oexle folgt, offenbar inerster Linie der liturgischen Memoria diente29• Von jenem Stammbaum,

Zur Beschreibung vgl. Christine JAKOBI-MIRWAlD(Bearb.), Die illuminiertenHandschriften der Hessischen Landesbibliothek Fulda Teil 1 Handschriften des 6.bis 13.Jahrhunderts. Textband, 1993,96-101.27 Vgl. Armin WOLF,WelfVI. - Letzter der schwäbischen Welfen oder Stamm-vater der Könige?, in: Rainer JEHL (Hg.), Welf VI. Wissenschaftliches Kolloquiumzum 800. Todesjahr (Irseer Schriften 3),1995,43-58, hier 52.28 ScHMID,Welfisches Selbstverständnis (wieAnm. 12) 449.29 Otto Gerhard OEXLE, Welfische und staufisehe Hausüberlieferung in derHandschrift Fulda D 11 aus Weingarten, in: Arthur BRAU (Hg.), Von der Kloster-bibliothek zur Landesbibliothek. Beiträge zum zweihundertjährigen Bestehen der

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138 Die Erbfolgevon 10SS und daswelfischeSelbstverständnis

der das Original der Historia Welforum abschloß, dürfte er sich nichtunerheblich unterschieden haben .

.Die ursprüngliche Form dieses Stammbaums läßt sich durch denVergleich mehrerer Zeichnungen erschließen, die zumeist in Zusam-menhang mit Abschriften der Historia Welforum überliefert sind30• Sieunterscheiden sich von der Weingartener Version'? vor allem dadurch,daß die Namen der Ehefrauen nicht aufgenommen worden sind. Diesist nur in einem Fall anders: In der Generation Azzos und Kunizas fehltder Name des Mannes; Kuniza ist an dieser Stelle die im Zentrum ste-hende Figur. Ihr Bruder Welf Ill. ist zwar ebenfalls verzeichnet, wirdaber außerhalb der zentralen Linie angeordnet. Die Erklärung liegt aufder Hand: Aus der Rückschau war Kuniza die entscheidende Person,weil in ihrer Generation die Altdorfer Herrschaft über sie weitervererbtworden war. Von einer besonders "findigen"32 oder gar manipulativenArbeitsweise kann also im Hinblick auf die ursprüngliche Form desStammbaums keine Rede sein. Klar und deutlich wird der tatsächlicheErbgang optisch dargestellt.

Erkennbar ist an diesem Beispiel, daß die Memoria eine konkretematerielle Basis hatte: die adlige Herrschaft. Kar! Schmid hat, in Anleh-nung an Rolf Sprandel, von einem "objektiven Substrat" gesprochen,das für die Entstehung einer Dynastie unabdingbar gewesen sei33. Imvorliegenden Fall handelt es sich um die Herrschaft Altdorf/Ravens-burg". Das "Geschlecht", dessen Geschichte die Historia Welforum er-zählt und das in den Stammbäumen graphisch dargestellt wird, ist nichtetwa nach agnatischen Kriterien konstruiert. Die Abstammung zum ei-

Hessischen Landesbibliothek Fulda (Bibliothek des Buchwesens 6), 1978,203-231,hier 218.30 Vg!. HECHBERGER,Darstellungen (wieAnm. 14) bes. 271-279.31 Die Darstellungsweise des ersten Weingartener Welfenstammbaums findet sichin graphisch anderer Form auch in einer weiteren in Weingarten angefertigtenZeichnung, die heute allerdings verschollen ist. Vg!. OEXLE, Historia Welforum(wieAnm. 26) 66; HECHBERGER,Darstellungen (wieAnm. 14) 271.32 SCHMID,Welfisches Selbstverständnis (wieAnm. 12) 449.33 SCHMID,Über die Struktur (wieAnm. 3) 257 mit Anm. 35.34 Vg!. SCHMiD,Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 12) 448; DERS.,Geblüt(wieAnm. 3) 133.

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nen, aber eben auch die Besitzgeschichte zum anderen verbindet die inden Stammbäumen abgebildeten Personen". Die Historia Welforum er-zählt demnach nicht einfach nur die Geschichte eines Adelsgeschlechts.Sie erzählt auch die Geschichte der Vererbung einer adligen Herrschaftund - in Verbindung damit - eine Geschichte jener Personen, durch dieder Besitz weitervererbt worden war.

Dies erklärt nun auch die Art, wie die Rolle -Welfs IV. im Jahre1055 geschildert wird. Nicht nur erzählt, sondern auch optisch darge-stellt wird ein Erbgang. Man wird von einer Anomalie sprechen dürfen,vielleicht noch nicht einmal von einer Krise. In jedem Fall aber sollteman festhalten, daß in Süddeutschland Welf IV. sogar aus der Rück-schau der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts keineswegs als Retter desGeschlechts in die Familiengeschichte eingeführt wurde'", Dies war of-fensichtlich nicht das zentrale Problem",

Wenn man die Hypothese akzeptiert, daß die Historia Welforum ineiner Situation entstand, in der Heinrich der Löwe als der zukünftigeHerr des süddeutschen Welfenbesitzes galt, stellt sich die Frage: Mußtedenn dem Herzog die Geschichte der süddeutschen Welfen nahege-bracht werden? Dies wirft wiederum das Problemauf, inwieweit sichHeinrich als Welfe oder als Altdorfer betrachtete. Im Zusammenhangdamit steht die im Hinblick auf das Thema dieser Untersuchung bedeut-same Frage, welche Rolle Welf IV. für Heinrich den Löwen spielte.

Die Memoria Heinrichs des Löwen kann als umfassend untersuchtgelten. Nicht einig ist sich die neuere Forschung aber in einem nicht un-bedeutenden Punkt. Wenn man Kar! Schmid folgt, wird man von einer

35 Vg!. SCH~nD,Welfisches Selbswerständnis (wie Anm. 12) 441 f.: "Nun erweistsich im Falle der welfischen Hausüberlieferung die Herrschaftskontinuität für dieBildung der Tradition des Geschlechts zunächst offenbar als ausschlaggebend". .36 In den erhaltenen Urkunden Welfs VI. wurde Welf IV. nie erwähnt; vg!. KarinFELDr.lANN,Herzog WelfVI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfen-hauses (mit Regesten), Diss. masch. 1971. )37 Vg!. andersnoch Columban BUHL, Weingarten-Altdorf. Die Anfänge, in:Weingarten 1056-1956. Festschrift zur 900-Jahr-Feier des Klosters Weingarten,1956,12-30. Buhl meinte über die Maßnahmen Imizas und Welfs IV.: " ... es ging jaum den Fortbestand des alten, ruhmreichen Welfengeschlechtes in Deutschland"(27).

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140 Die Erbfolgevon 1055 linddaswelfiIcheSelbstverständniI

schrittweisen Veränderung des Selbstverständnisses Heinrichs sprechen.Allmählich habe sich der Herzog aus den süddeutsch-welfischen Bezie-hungen gelöst und sei in ganz neue Dimensionen vorgestoßen. Erklärthat man dies vor allem mit politischen Ereignissen. Genannt werden diepolitischen Ambitionen des Herzogs, für die der süddeutsche Rahmenzu eng geworden sei, oder etwa auch sein Sturz und der Verlust dessüddeutschen Besitzes, der Heinrich in eine andere Richtung verwiesenhaben so1l38.

Indessen sind die Anzeichen dafür, daß sich Heinrich zunächst densüddeutschen Traditionen verpflichtet sah, eher dürftig. Genannt wirdals Beleg dafür gewöhnlich die Errichtung des Löwendenkmals inDankwarderode, das den Welfennamen symbolisiert haben soll. Geradebei diesem zentralen Punkt sind in der neueren Forschung allerdingssehr unterschiedliche Thesen vertreten worden. Umstritten ist vor allemdas Problem, ob die Verknüpfung der Namen Welf/Catulus mit demBeinamen "der Löwe" von den Zeitgenossen bewußt vorgenommenworden ist, ob also mit dem Denkmal ganz bewußt an die welfischenTraditionen angeknüpft werden sollte39..

Schon aus methodischen Gründen läßt sich diese Frage wohl kaumsicher beantworten. Vielleicht greift hier eher der Einwand von MichaelBorgolte. Wenn man die Frage stellt, ob denn "das Selbstverständnis"schon im 12. Jahrhundert als ein kohärentes Sinndeutungsmuster ver-standen werden kann, das für alle Angehörigen eines Geschlechts zu-mindest a priori verbindlich gewesen ist, dann wird man in diesem Fallvorsichtig sein. Von Beginn an überwiegen in den Urkunden Heinrichsdes Löwen die Berufungen auf sächsische Vorfahren, wobei natürlichbesonders der kaiserliche Großvater, Lothar IlL, eine zentrale. Rolle

38 VgLSCHMID,Welfisches Selbstverständnis (wieAnm. 12) 448-453; DERS.,Ge-blüt (wie Anm. 3) 137; Otto Gerhard OEXLE,Die Memoria Heinrichs des Löwen,in: Dieter GEUENICH- Otto Gerhard OEXLE(Hg.), Memoria in der Gesellschaftdes Mittelalters (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111),1994,128-177.39 Vgl. dazu zuletzt die unterschiedlichen Ansichten von SEILER,Welfischer oderköniglicher furor (wie Anm. 20) 135-183, und OEXLE,Memoria Heinrichs des Lö-wen (wieAnm. 38) 135-146.

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Wemer Hechberger 141

spielte'", Das ist auch keineswegs überraschend. Heinrich war am ehe-maligen Kaiserhof aufgewachsen, drei seiner vier Großeltern stammtenaus dem hohen sächsischen Adel", Sie waren nicht nur für seinen Besitzund seine Herrschaft bedeutender als die süddeutschen Vorfahren, son-dern überragten diese an Ansehen zum Teil beträchtlich.

Gerade für die Frage, welche Rolle Welf IV. für Heinrich den Lö-wen spielte, gibt es ein aufschlußreiches Dokument. Die Erwähnungvon beispielgebenden patentes und progenitores in allen Urkunden des Her-zogs bezieht sich stets auf sächsische Ahnen42• Das ist nur in einem ein-zigen Fall anders. 1174 bestätigte Heinrich dem Kloster Kremsmünsterdie Schenkungen seiner Vorfahrenv, Neben Heinrichs Vater wurdeauch Welf IV. erwähnt. Es handelt sich dabei überhaupt um die einzigeerhaltene Urkunde Heinrichs des Löwen, in der ein süddeutscher Welfenamentlich genannt wurde. Besonders bemerkenswert ist, daß Welf IV.als atsa bezeichnet wird. Das ist falsch: Welf IV. war der Urgroßvaterdes Herzogs, nicht der Großvater.

Die Angelegenheit hatte ein Nachspiel. Nach dem Sturz Heinrichsdes Löwen war die Urkunde wertlos geworden, und so trat man inKremsmünster an den Kaiser selbst heran. 1181 wurde nach dem Vor-bild der Urkunde des Herzogs ein Diplom ausgestellt, in dem die zen-tralen Passagen übernommen worden sind, darunter gerade auch dieAusführungen über die Vorfahren". Welf IV. erscheint in der Urkundedes Kaisers allerdings richtig als proavlls nosier: Offenbar wußte man amHofe Barbarossas sogar besser Bescheid über die welfischen Vorfahrenals in der Kanzlei Heinrichs des Löwen.

40 Vgl. HECHBERGER,Staufer und Welfen (wieAnm. 16) 120-134.41 Zu den sächsischen Vorfahren Heinrichs vgl, Gudrun PISCHKE,Die Welfen-Vom süddeutschen Geschlecht zu norddeutschen Landesherren, in: Ay, Welfen(wieAnm. 2) 197-222, hier 200.42 Vgl, HECHBERGER,Staufer und Welfen (wieAnm. 16) 132 mit Anm. 136.43 Kar! JORDAN (Bearb.), Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sach-sen und Bayern (Monumenta Germaniae Historica (künftig: MGH] Laienfürsten-und Dynastenurkunden der Kaiserzeit 1), 1941-1949 (Nachdruck 1957-1960), Nr.lOO, 1St.44 Heinrich ApPELT(Bearb.), Die Urkunden Friedrichs I.Bd. 4 (MGH Diplomataregum et imperatorum Germaniae X/4), 1990, Nr. 803, 1f.

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142 Die Erbfolgevon 1055 lind daswelfischeSelbstverständnis

Komplementär zu diesem Befund ist zu beobachten, daß sich diesächsische Geschichtsschreibung so gut wie gar nicht für die welfisch-süddeutsche Herkunft Heinrichs des Löwen interessierte. Der Herzogwurde als Nachkomme der Billunger, der Brunonen, der Liudolfingeroder einfach als Enkel Kaiser Lothars berrachter". Die süddeutschenVorfahren Heinrichs des Löwen waren in Sachsen nicht in Vergessen-heit geraten, spielten allerdings immer schon eine untergeordnete Rolle.Erkennbar wird dies auch in der Memorialüberlieferung, etwa in demaus dem 13. Jahrhundert stammenden Nekrolog des Klosters Sankt Mi-chael in Lüneburg, wo man noch die besten Kenntnisse von den süd-deutschen Welfen hatte. In diesem Nekrolog finden sich neben zahlrei-chen sächsischen Vorfahren der norddeutschen Welfen auch Heinrichder Schwarze und Heinrich der Stolze'", Sie wurden wohl vor allem des-halb aufgenommen, da sie sächsische Ehefrauen hatten (die sie, wirdman im Hinblick auf Welf IV. wohl hinzufügen müssen, nicht verstoßenhatten). WelfIV. wird nicht verzeichnet.

Aus diesen Ergebnissen lassen sich zwei Folgerungen ziehen. Zumeinen war WelfIV. für Heinrich den Löwen offenkundig kein besondersbedeutender Vorfahre. Zwar zeigt schon allein Heinrichs Interesse anden otbertinischen Gütern um Este47, daß man sich an diesen Ahnendurchaus noch erinnern konnte, doch schrieb man ihm keineswegs dieRettung des eigenen Geschlechts zu. Zum anderen scheint es nicht un-problematisch zu sein, aus mehreren sehr unterschiedlichen Quellen ein

45 Vg!. HECHBERGER,Staufer und Welfen (wieAnm. 16) 120-128. _46 Vg!.A. C.WEDEKIND(Bearb.), Nekrologium monasterii s. Michaelis, in: DERS.,Noten zu einigen Geschichtsschreibern des Deutschen Mittelalters Bd. 3, 1836, 1-98, hier 78 (Heinrich der Stolze, zu Oktober 20), 94 (Heinrich der Schwarze, zuDezember 12 [richtig: Dezember 13]). Zur Sache vg!. Bernd SCHNEIDMüLLER,Bil-'lunger - Welfen - Askanier. Eine genealogische Bildtafel aus dem BraunschweigerBlasius-Stift und das hochadlige Familienbewußtsein in Sachsen um 1300, in: AKG69 (1987) 30-61; DERS,Landesherrschaft, welfische Identität und sächsische Ge-schichte, in: Peter MORAW(Hg.), Regionale Identität und soziale Gruppen im deut-schen Mittelalter (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 14), 1992,65-101.47 Vg!. Katrin BAAKEN,Zwischen Augsburg und Venedig. Versuche der Welfenzur Sicherung von Herrschaft und Profit, in: LoOSE - LoRENZ, König, Kirche,Adel (wieAnm. 2) 207-228.

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Wemer Hechberger 143

kohärentes Selbstverständnis für hochmittelalterliche Adelsgeschlechterim heutigen Sinn zu konstruieren und dann davon auszugehen, daß diesfür alle Mitglieder dieser Familie zunächst einmal verbindlich gewesenwäre. Bei den Welfen des 12. Jahrhunderts läßt sich nicht feststellen, daßes ein generationsübergreifendes, zeitlich stabiles Selbstverständnis ge-geben hätte, das den einzelnen Welfen in die Wiege gelegt und dannstetig weiterentwickelt oder modifiziert worden wäre.

Dies ist auch keineswegs erstaunlich. Das Gegenteil wäre außerge-wöhnlich. Für die These, Adelsgeschlechter hätten schon im 12. Jahr-hundert ein so kohärentes Selbstverständnis entwickelt, läßt sich tat-sächlich kein weiteres Beispiel anführen", Erst in jüngerer Zeit hat Karl-Heinz Spieß darauf hingewiesen, daß das Wissen um die Vorfahren beispätmittelalterlichen Hochadelsgeschlechtern noch erstaunlich geringgewesen ist49• Noch mehr gilt das natürlich für den niederen Adel, wodas Denken in agnatisch verfaßten Geschlechtern auch im späten Mit-telalter noch nicht überall der Normalfall gewesen sein dürfte'",

48 Vg!. zu diesem Problem Steffen KRIEB,Erinnerungskultur und adliges Selbst-verständnis im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Württembergische Landesge-schichte 60 (2001) 59-75, hier 60. Für den Fall der Welfen vg!. auch die Zweifelvon SEILER,Furor (wieAnm. 20) 143 f. .49 Vg!. Karl-Heinz SPIESS,Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadeldes Spätmittelalters (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bei-heft 111), 1993,494-531; DERS.,Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsenta-tion im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters, in: Werner RÖSENER(Hg.),Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der FrühenNeuzeit (Formen der Erinnerung 8), 2000, 97-123. Vg!. dazu auch RogerSABLONIER,Die Grafen von Rapperswil, in: Der Geschichtsfreund 147 (1994) S-44.50 Vg!. v.a. Tilman MITIELSTRASS,Die Ritter und Edelknechte von Hettingen,Hainstadt, Buchen und Dürn. Niederadelige Personengruppen in Bauland undKraichgau (Zwischen Neckar und Main 26), 1991; KRIEB,Erinnerungskultur (wieAnm. 48) 59-75;Joseph MORSEL,Geschlecht und Repräsentation. Beobachtungenzur Verwandtschaftskonstruktion im fränkischen Adel des späten Mittelalters, in:Otto Gerhard OEXLE- Andrea von HÜLSEN-EsCH(Hg.), Die Repräsentation derGruppen. Texte - Bilder - Objekte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutsfü~Geschichte 141), 1998, 259-325. Zum politischen und sozialen Kontext vgl.DERS.,La noblesse contre le prince. L'espace social des Thüngen a la fin du moyenage (Franconie, v. 1250-1525) (Beihefte der Francia 49), 2000,bes. 72-118 ...

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144 Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis

Die Tatsache, daß das welfische Selbstverständnis offenbar nichtkontinuierlich gepflegt und ausgebaut worden ist, hängt damit zusam-men, daß Geschlechter selbst natürlich auch nicht sofort stabile Phä-nomene sind. Diese Überlegungen führen zu den Fragen, was denn ein"Adelsgeschlecht" im historischen Sinn eigentlich ist und wie es ent-steht. Gerade die Forschungen von Karl Schmid haben gezeigt, daßman sich davor hüten sollte, im Frühmittelalter mit anachronistischenKriterien zu operieren und genealogischen Tabellen gewissermaßen ausder Rückschau Leben einzuhauchen. Wenn man eine treffende Definiti-on von Otto Gerhard Oexle akzeptiert, dann sind Adelsgeschlechter"mentale Phänomene"!'. Menschen ordnen sich gedanklich einerGruppe zu, die aus Lebenden und Toten besteht. Ihre Angehörigen sinddurch Verwandtschaft und Abstammung verbunden. Ein Adelsge-schlecht als gedankliches Phänomen entsteht demnach durch Erinne-rung. Daraus ergibt sich eine ebenso triviale wie bedeutsame Folgerung:Vor diesem Akt der Erinnerung existiert das Geschlecht im historischenSinn nicht.

Aus der sogenannten sächsischen Welfenquelle, die wohl um dasJahr 1134 in St. Michael in Lüneburg verfaßt wurde, geht hervor, daßsich Heinrich der Schwarze für seine Vorfahren interessierte und Nach-forschungen über sie anstellte52• Anlaß dürfte die von der Konstanzer

51 Otto Gerhard OEXLE,Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mitdem liturgischen Gedenken - das Beispiel der Welfen, in: ZGO 134 (1986) 47-75,hier 47.52 Qui Heinncus a fongevis audiens ea que superius dicta sunt de Elhicone prima, veniens ad 10-ca montana, in quiblls a filio seadens habilaverat, ubi qlloque sepll!lus flIerat, tausa experienle,jllssil sepll!crum jllills el eorum qlli cum eo tumulati fuerant aperiri; veraque esse conprobans, eele-siam in eodem loco suptr ossa ilforum fabricari iussit: Ipso etiam pmente, &opus iam dicti sanaiConradi de tllmllfo hon0rifia uvalllm est, q"em tunc et prius DellS per mlllla miracula gforificav-trat; pro CU;IISamort et honort jdem d/IX p!lIrima donaria in prtdiis et IItrillsqlle sexus familiaConstantiensi ecksie ipso die &ontraditlit, et hoc pignort se nepotem tanti viri evidenter ostmtlit.(Georg WAITZ(Bearb.), Annalista Saxo, in: MGH Scriptores [künftig: MGH SS] 6,1844 [Nachdruck 1925], ad a. 1126, 764f.). Vgl. ähnlich die übersetzte Version: DeHeinric We~es broder ... , de horde van alde« tiden van deme ersten Ethikm ... ; und« IIJOIde dewarbeit bevinden ... (Ludwig WEILAND[Bearb.], Sächsische Weltchronik, in: MGHDeutsche Chroniken 2, 1877 [Nachdruck 1989], 1-279, hier 276). Zur Quelle vgl.Otto Gerhard OEXLE,Die "sächsische Welfenquelle" als Zeugnis der welfischen

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UYernerlS{echbe~er 145

Kirche betriebene Heiligsprechung des Bischofs Konrad von Konstanzgewesen sein. Dieser Prozeß begann mit der ersten Erhebung der Ge-beine Konrads durch Bischof Gebhard Ill. von Konstanz, die wohl imJahr 1089 stattfand53• Es ist nicht ersichtlich, daß die Welfen schon indiesem Stadium involviert gewesen wären, obwohl sich ansonsten dasenge Zusammenwirken zwischen Gebhard und Welf IV. über einen län-geren Zeitraum belegen läßf4• Im März 1123 wurde Konrad schließlichkanonisiert; an der Feier der Erhebung des Heiligen, die im Herbst des-selben Jahres in Konstanz stattfand, hat Heinrich der Schwarze teilge-nommenv,

Wahrscheinlich durch diesen Anlaß angeregt, ließ der Herzog fest-stellen, wie er mit dem Heiligen verwandt wa~6. Durch den Bau einerGrabeskirche für seinen Ahnen Eticho, den er als Großvater Konrads

Hausüberlieferung, in: DA 24 (1968) 435-497. Zu den Einwänden von GerdALTHOFF, Heinrich der Löwe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilungdes ,,Annalisto Saxo", in: DA 41 (1985) 66-100, vg!. OEXLE,Memoria Heinrichsdes Löwen (wieAnm. 38) 142 Anm. 73.53 VgL Renate NEUMÜLLERS-KLAUSER,Zur Kanonisierung Bischof Konrads, in:Helmut MAURERu. a. (Hg.), Der heilige Konrad - Bischof von Konstanz (Freibur-ger Diözesanarchiv 95), 1975, 73-78; Otto Gerhard OEXLE,Bischof Konrad vonKonstanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferungwährend des 12.Jahrhunderts, ebd., 14-22.54 VgL Helmut MAURERin diesem Band. Otto Gerhard Oexle nimmt an, daßWelf IV. möglicherweise schon in die erste Erhebung der Gebeine Konrads invol-viert war (OEXLE,Bischof Konrad [wie Anm. 53]15, 20 Anm. 48). Diese Auffas-sung ist zweifellos plausibel, allerdings nicht weiter belegbar. Entscheidend für dieFrage nach dem welfischen Selbstverständnis aber erscheint. daß eine solche An-teilnahme jedenfalls nicht in die schriftliche Fixierung des Erinnerungswissens auf-genommen worden ist, mithin also für Welf IV. offensichtlich nicht zum Anlaß ge-worden ist, sich öffentlich und demonstrativals Verwandten des Heiligen darzu-stellen und die Art der Verwandtschaft feststellen und festhalten zu lassen. -ss VgLOEXLE,Bischof Konrad (wieAnm. 53) 15 f.56 VgL OEXLE,Bischof Konrad (wie Anm. 53) 19f. mit Anm. 44; SCHNEIDMÜL-LER, Welfen (wieAnm. 2) 110,164. Oexle schreibt die noch stärkere Hervorhebungder Rolle Heinrichs bei der Erhebung Konrads in der niederdeutschen Fassung der"sächsischen Welfenquelle" (he It! oe den liehamen bisthop Conrades upnemm; SächsischeWeltchronik [wieAnm. 52] c. 4, 276) dem Übersetzer zu; vg!. auch DERS.,Welfen-quelle (wieAnm. 52) 474Anm. 143.

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146 Die Erbfolgevon 1055 und daswelfischeSelbstverständnis

betrachtete'", stellte sich Heinrich der Schwarze bewußt in die Traditiondieser Vorfahren. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß sich Hein-rich nicht damit begnügte, sich nur als Verwandten des Heiligen darzu-stellen; ihm ging es offensichtlich gerade auch darum, die Art der Ver-wandtschaft, die Geschlechterfolge, feststellen zu lassen. Der Akzentseiner Nachforschungen liegt deshalb nicht einmal primär auf Konrad,sondern auf Eticho. Dieser war der gemeinsame Vorfahre sowohl desneuen Heiligen als auch Heinrichs des Schwarzen. Noch zu Lebzeitendes Herzogs wurden die Ergebnisse der Ahnenforschungen schriftlichfixiert",

Wenn Geschlechter "mentale Konstrukte" sind, so war Heinrichder Schwarze der erste "Konstrukteur" der Welfen oder, präziser for-muliert, der Altdorfer. Im historischen Sinn entstand erst jetzt, in der er':'sten Hälfte des 12. Jahrhunderts, dieses Geschlecht. Am Anfang war ei-ne Tat: die gezielte und zweckgerichtete historische Forschung Hein-richs des Schwarzen anläßlich eines konkreten Ereignisses. Aus der va-gen Erinnerung an einen längst verstorbenen Verwandten, der nun un-ter die Heiligen aufgenommen wurde, entwickelte sich offensichtlich indieser Situation die Vorstellung, Mitglied einer Personengemeinschaftzu sein, die mit dem Großvater dieses Heiligen begann. Wenn man demWortlaut der sogenannten sächsischen Welfenquelle folgt, dann "hörte"Heinrich der Schwarze von diesen Vorfahren". Es ist nicht die Rededavon, daß er diese schon etwa ganz selbstverständlich gekannt hätte.Dieter von der Nahmer hat daraus sogar den Schluß gezogen, Heinrichder Schwarze habe erst am Ende seines Lebens im Zusammenhang mit

57 Vgl. dazu SCHNEIDMÜll.ER, Welfen (wieAnm. 2) 109; zum Problem vgl. 112.58 Georg WAlTZ (Bearb.), Genealogia Welforum, in: MGH SS 13, 1881 (Nach-druck 1943), 733f. Trotz der Einwände von ALTHOFF, Heinrich der Löwe (wieAnm. 52) 99 Anm. 120, hält der größte Teil der Forschung daran fest, daß dieQuelle wohl kurz vor 1126 verfaßt worden ist; vgl. etwa BECHER, Welf VI. (wieAnm. 14) 153 mit Anm. 6; SCHNEIDMÜll.ER, Welfen (wieAnm. 2) 112.59 Vgl. Anm. 52.

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Werner Hechber;ger 147

der Heiligsprechung Konrads von Konstanz überhaupt von seinemVorfahren Eticho und dessen Sohn Heinrich erfahren'",

Auch die Viten des Heiligen könnten zeigen, daß der Herzog damiteine neue Sichtweise einführte. Als uml122 Udalschalk von St. Ulrichund Afra die erste Lebensbeschreibung für das Kanonisationsverfahrenverfaßte, ging er nicht darauf ein, daß der Bischof - nach heutiger Auf-fassung - ein Welfe war. Udalschalk berichtet nur, daß Konrad aus einernobilis stirps .Alamannorum stammte?'. Dies ist eine typisch frühmittelalter-liche Terminologie und entspricht einer ebenso typischen frühmittelal-terlichen Sichtweise. Erst der Autor der zweiten Vita, der gegen Mittedes 12. Jahrhunderts die ursprüngliche Fassung ergänzte; hob die Ver-wandtschaft des Heiligen mit den Altdorfern hervor: Cuius patentes in locoqui Vetusta-villa cognominatur summa dignitate jlomemnl'2. Der Bischof war inden Augen Heinrichs des Schwarzen und seiner Nachkommen zum"Altdorfer" geworden, weil man die Vergangenheit mit einer neuenSichtweise untersuchte. Dadurch wurde das Geschlecht als historischesPhänomen überhaupt erst konstituiert.

Dies hat eine wichtige Folge für die Einschätzung der Ereignissevon 1055. Zugespitzt könnte man formulieren: 1055 hätten die Welfennoch nicht aussterben können, weil es sie als historisches Phänomennoch gar nichtgegeben hat. Nimmt man einmal an, der ErbschaftsplanWelfs Ill. wäre realisiert worden: Würde es für die moderne Forschungdann überhaupt "frühmitte1alterliche Welfen" geben? Karl Schmid hat

60 Vg!. Dieter von der NAHMER,Heinrich der Löwe, die Inschrift auf dem Lö-wenstein und die geschichtliche Überlieferung der Welfenfamilie im12.Jahrhundert, in: Der Braunschweiger Burglöwe. Bericht über ein wissenschaftli-ches Symposion in Braunschweig vom 12.10. bis 15.10.1983 (Schriftenreihe derKommission für Niedersächsische Bau- und Kunstgeschichte 2), 1985, 201-219,hier 202-204, 209; ebenso SEILER,Furor (wieAnm. 20) 144.61 Vg!. Georg Heinrich PERTZ(Bearb.), Vita Chounradi Constantiensis episcopi.Vita prior auctore Oudalscalcho, in: MGH SS 4, 1841 (Nachdruck 1925), c. 1,431.62 Vg!. Vita Chounradi (wieAnm. 61) c. 1,437. Vg!. auch die ähnliche Darstellungbei Berthold von Zwiefalten vom Ende der dreißiger Jahre des 12. Jahrhunderts(Luitpold WAll.ACH [Bearb.], Bertholdi Zwifaltensis liber de constructione mo-nasterii Zwivildensis, in: Traditio 13 [1957] c. 31,215): Hie nobilissimoAlamannof'llmsanguine apud Altorf estprocreatus.

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148 Die Erbfolgevon 1055 und daswelfischeSelbstverständnis

mit Recht darauf hingewiesen, daß man in diesem Fall nicht wenigertreffend von "Rudolfingem" oder "Konradinem" sprechen könnte'",

In dieser Perspektive bietet sich nun auch ein Lösungsvorschlag fürein Problem an, das die Forschung schon seit langer Zeit beschäftigthat64• Man wird auf der Basis allgemeiner Überlegungen über menschli-ches Verhalten vermuten dürfen, daß Welf Ill. zumindest bedauerte,keinen Sohn und damit keinen Erben zu haben'", Aber sollte er wirklichvergessen haben, daß noch ein Neffe lebte, der das Geschlecht hättefortsetzen können? Die Antwort auf diese Frage dürfte schlicht lauten:WelfIlI. hat dieses Problem nicht gesehen. Er wußte nicht, daß mit sei-nem Tod die Existenz eines Adelsgeschlechts auf dem Spiel stand, weilman 1055 noch nicht in diesen Kategorien dachte. Welfs Handlungoder, besser gesagt, sein Plan war keineswegs ungewöhnlich. Kar! Ley-ser hat hervorgehoben, daß in bestimmten Fällen die Vater-Sohn-Folgeschon im 11. Jahrhundert bedeutsam sein konnte. Wenn der einzigeSohn starb, dann habe man lieber ein Kloster gegründet, dem der eigeneBesitz übertragen wurde, oder den Besitz an kirchliche Institutionen ge-schenkt. An Seitenverwandte dachte man in einer solchen Situation ehernicht'",

Tatsächlich eingetreten ist 1055 allerdings dann ein Fall, der eben-falls nicht unüblich war: Ein Seitenverwandter kam ins Spiel. Unüblichwar indessen, daß er erst ins Spiel gebracht werden mußte; unüblich warder Widerstand Imizas, über deren Motive man wohl nur Spekulationen

63 SCHMID,Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 12) 438; DERS.,Geblüt (wieAnm.3) 133.64 Vg!. dazu z.B. SCHWARZMAlER,Welfen (wieAnm. 2) 87; DERS.,Dominus (wieAnm. 2) 285.65 Indizien weisen immerhin darauf hin, daß Welf Ill. nicht unvermählt starb; vg!.Hans PÖRNBACHER,Die Welfengenealogie in Steingaden, in: JEHL,Welf VI. (wieAnm. 27) 119 f. Ill,S; III,6.66 Vg!. Kar! J. LEYSER,The German Aristocracy from the Ninth to the EarlyTwelfth Century. A Historical and Cultural Sketch, in: DERS.,Medieval Germanyand its Neighbours, 900-1250 (History Series 13), 1982, 161-189, hier 170 (erst-mals 1968). Als Beispiel vg!. die Besitzübertragung des 1020 gestorbenen GrafenDodiko an die Paderbomer Kirche (Franz IRSIGLER,Bischof Meinwerk, Graf Do-diko und Warburg, in: Westfälische Zeitschrift 126/127 [1976/77] 181-200).

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Werner Hechberger 149

anstellen kann. Die Konfliktlinie lief in analogen Fällen nämlich ge-wöhnlich anders. Kirchliche Institutionen unterstützten Witwen gegendie Ansprüche von Seitenverwandten'",

Im Hinblick auf die Ereignisse von lOSS kann man jedenfalls demWortlaut der Quellen, die gewöhnlich als schriftlicher Niederschlag deswelfischen Selbstverständnisses gelten, durchaus Glauben schenken. Be-reits die Genealogia Welforum schildert den Sachverhalt als eine Erb-schaftsangelegenheit, bei der Welf Ill. nicht einmal namentlich genanntwurde: Als Kunizas Vater ohne einen Sohn-als Erben starb und die gan-ze Erbschaft an den heiligen Martin in Weingarten fallen sollte, eilteWelf IV. herbei und erlangte die Erbschafr'f, Noch knapper wird diesesEreignis in der sogenannten sächsischen Welfenquelle geschildert. Hierwird allein eine Abstammungsfolge aufgelistet: Rodo!fus genuit Welphum(omi/em, We!fusgenuit Cunizam, Cuniza nupsit Azoni marchionide Langobardiade castris Calun et Estin, que in Langebardia sita sunt, genui/que ei We!fum se-niorunl9•

Gerade in jenen Quellen, die die frühesten verschriftlichten For-men des "Erinnerungswissens" (Bernd Schneidmüller") der Welfen re-präsentieren, wird das Problem des erbenlosen Todes Welfs Ill. also nur

. gestreift oder nicht einmal erwähnet, Obwohl dieser Welf immerhin dererste Herzog seines Geschlechts gewesen war, fand er keine Beachtung.

67 Vgl. zu diesem Problem Janet L. NELSON, The wary widow, in: Wendy DAVIES- Paul FOURACRE (Hg.), Property and power in the early Middle Ages, 1995,82-113. .

68 Hie (Welf II.) genuif filiam Cunizam, quam m~rrhio Etius cum curfe Elisina accepif1IX0rem, el genuit ex ea Gwelfonem; et, patre sine filio herede defuncto, cum tota heredilas adsanctum Martinum Wtngarfen met destinata, suptnleniens hereditatem obtinuil (GenealogiaWe1forum [wie Anm. 58]c. 8, 734).69 Annalista Saxo ad a. 1126 (wie Anm. 52) 764. Die Sächsische Weltchronik (wieAnm. 52) c. 3, 275, bietet die wörtlich fast identische deutsche Fassung: Rodo!! gewangreven WePt, greve Weq, gewan C,mizam. Cuniza ward gegeven marcgrrven Azoni van Lan!;barden van den bllrgen Calim unde Esten. Du gewan eme Weq,en den alden, de nam to wive deshertogen Harordi wedewenJuchtam van Engelant.70 SCHNEIDMÜllER, Welfen (wie Anm. 2) 110-113 ..71 Diese Verfahrensweise war nicht einzigartig. Auch in der Genealogia Wettinen- .sis stellte das Fehlen eines legitimen männlichen Erbens aus der Rückschau keinProblem dar; vgl. Harald WINKEL, Die Genealogia Wettinensis. Ein Zeugnis dyna-

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150 Die Erbfolg,evon 1055 und daswelfischeSelbstverständnis

Für den Verfasser der Historia Welforum dagegen war Welf Ill. ei-ne Figur, mit deren Hilfe sich die angeblichen Eigenheiten der Mitglie-der des Geschlechts durch die Erzählung von zwei Anekdoten plastischdarstellen ließ. Bei der Schilderung der Ereignisse 1055 sah er sich of-fensichtlich dazu veranlaßt, das Geschehen etwas ausführlicher zu be":schreiben. Die Angaben sind präzise und nüchtern: Welf Ill. hatte kei-nen Erben (heredem non habuit per se), lmiza dagegen hat einen (saens se he-redem habere exft/iar. Von dynastischen Überlegungen ist auch in dieserQuelle, die mehr als hundert Jahre nach den Ereignissen verfaßt wordenist, keine Rede. Man wird wohl ausschließen dürfen, daß lmiza um denFortbestand eines Adelsgeschlechts bangte, als sie ihren Enkel aus Itali-en rier3•

Diese Hypothese findet einen weiteren Rückhalt, wenn man be-rücksichtigt, daß mehr als hundert Jahre später die Welfen vor einemzumindest ähnlichen Problem standen. Als WelfVIl. 1167 vor Rom ge-storben war und sein Vater WelfVI. nicht mehr auf einen Erben hoffenkonnte, stellte sich die Frage nach dem Schicksal der süddeutschen Wel-fenherrschaft emeut'". Auch in diesem Fall ist nicht festzustellen, daß"dynastische" Motive für das Handeln Welfs VI. sonderlich relevant

stischen und monastischen Selbstverständnisses im Hochmittelalter, in: Neues Ar-chiv für sächsische Geschichte 70 (1999) 1-31, hier 8 f.72 Historia Welforum (wieAnm. 1) c. 10, 16;c. 12,18 .:73 Als Erbschaftsangelegenheit werdendie Ereignisse von 1055 sogar noch inspäteren Quellen geschildert; vgl, Franz Ludwig BAUMANN(Bearb.), NecrologiumWeingartense, in: MGH Necrologia Germaniae 1, 1888,230 (um 1200); ChristophFriedrich v. STÄUN (Bearb.), Der sog. Codex maior traditionum Weingartensium,in: Wirtembergisches Urkundenbuch Bd. 4, 1883 (Nachdruck als Württembergi-sches Urkundenbuch, 1974) Anhang, VIf. (13. ]h:, mit besonderer Betonung derAnsprüche der Mutter, ad quam totahereditas iuregentium pertinuil); später noch GeorgWAlTZ (Bearb.), De translatione sanguinis Christi, in: MGH SS 15/1, 1887(Nachdruck 1963),923; Gerhard HESS (Bearb.), Summula de Guelfis (14. Jh.), in:DERS. (Bearh.), Monumenterum Guelficorum pars historica seu scriptores rerumGuelficarum, 1784, 123 f. (mit falschen Einzelheiten).74 Vg!. Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 32, 68; Ludwig WEILAND(Bearb.),Continuatio Steingademensis, in: MGH SS 21, 1869 (Nachdruck 1963),471; AdolfHOFMEISTER(Bearb.), Ottonis de sancto Blasio chronica (MGH SS rerum Germa-nicarum [47]), 1912, c. 21, 28 f.

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Wemer Hechberger 151

gewesen wären. Im Unterschied zur Situation des Jahres 1055 zeigtendie beiden Neffen Welfs, Heinrich der Löwe und Friedrich Barbarossa,von sich aus Interesse für die Erbschaft. Heinrich der Löwe, den Welfzunächst als Erben akzeptierte, rückte keineswegs formlos und ohneProbleme in diese Position ein: Um ihn zum Erben zu machen, bedurftees offenkundig eines formalen Aktes 75. Zudem mußte Heinrich die nichtunbeträchtlichen finanziellen Forderungen seines Oheims akzeptieren.Bekanntlich hat sich der Herzog von Sachsen und Bayern nicht an dieAbmachungen gehalten, und so setzte Welf seinen zweiten Neffen,Friedrich Barbarossa, samt dessen Söhnen als Erben ein. Besondersbemerkenswert dabei ist, daß noch nicht einmal am Ende des 12. Jahr-hunderts die Zeitgenossen einer Meinung im Hinblick auf die Frage wa-ren, welche dynastischen Folgen der Anfall des welfischen Erbes hatte?",Neben der erst im 13. Jahrhundert geäußerten Ansicht, daß Otto dasKind, der Enkel Heinrichs des Löwen, das Geschlecht der Altdorferfortsetze", gab es nach der Änderung des Erbvertrags auch die Auffas-sung, diese Rolle komme dem Kaiser und dessen Söhnen zu78• Danebenwurde nach Welfs VI. Tod allerdings sogar das Aussterben der Altdorferoder der Welfen betrauert'". ..

Die Vorstellung, daß die Vater-Sohn-Folge (und nur diese!) kon-stitutiv für ein Geschlecht ist, findet man für den Fall der Welfen erstspäter. Dies führte zu markanten Änderungen bei der Konstruktion desWelfenstammbaums. Als Veit Arnpeck 1493/95 seine Chronik der Bay-ern schrieb, schilderte er auch in knapper Form die Geschichte der We1-

7S Vg!. HECHBERGER, Staufer und Welfen (wie Anm. 16) 290 mit Anm. 101.76 Vgl. dazu HECHBERGER, Darstellungen (wie Anm. 14) 290--293.

77 Iste predictus Otto filius Willehelmi, solus SlIperstes illius nobilissime generation;s, que de.Altborp et Ravenesbu'l, nomina/ur, duxil Meg/hildem .•. (Ludwig WEILAND [Bearb.],Chronicon s. Michaelis Luneburgensis, in: MGH SS 23, 1874 [Nachdruck 1925],397) ..78 Diese Sicht prägt die Konzeption des Weingartener Welfenstammbaums. Vg!.OEXLE, Selbstverständnis (wie Anm. 51) 55, 74.79 ... We§'ö nobilis Altorftnsis ... came so"~tus migravit Q seado, In quo nobilitas Altorfen-sium non mediomter compJetadesiit••• DiffUSQ late Welfonum nobilitate, Nomine posmmus obitet virtute supremus ..• (Ludwig WEILAND [Bearb.], E continuatione Chronici Hugonisa sancto Victore, in: MGH SS 21, 1869 [Nachdruck 1963], 471).· '

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152 Die Erbfolge von 1055 lind das welfische Selbstverständnis

fen. Seine Quellen waren die Historia Welforum und Burchard vonUrsberg, und demnach bietet Arnpeck inhaltlich auch nichts Neues.Sein Stammbaum der Welfen allerdings zeigt eine andere Grundkon-zeption'", Schon rein optisch bricht die Linie der Welfen mit Welf Ill.ab. Die Bedeutung Kunizas ist bei Arnpeck sichtlich gering; sie ist zurRandfigur degradiert worden - ganz im Gegensatz zur ursprünglichenKonzeption in der Historia Welforum. Der Bruch in Arnpecks Zeich-nung ist eine Folge der Ansicht, daß allein die Vater-Sohn-Folgen einGeschlecht konstituieren. Arnpeck hat diese Lücke mit einer vonBurchard von Ursberg übernommenen Textpassage überbrückt, in derausgesprochen wird, daß Welf IV. zumindest besitzgeschichtlich einGeschlecht fortsetzte. Imiza habe den Sohn Azzos aus Italien geholtund zum Erben des Besitzes eiusdem generis eingesetzt",

Die Folgen diese Sichtweise liegen auf der Hand: Azzo gewann anBedeutung. Der zweite Teil des Stammbaums beginnt konsequenterwei-se mit ihm, der im ursprünglichen Stammbaum fehlte. Inhaltlich kannArnpeck, wie erwähnt, keine neuen Informationen bieten. Seine Dar-stellung zeigt aber deutlich, daß sich die Vorstellung über den Charaktervon Geschlechtern geändert hatten82•

80 Georg LEIDINGER (Bearb.), Veit Arnpeck, Chronica Baioariorum, in: DERS.(Bearb.), Veit Arnpeck, Sämtliche Chroniken (Quellen und Erörterungen zur baye-rischen und deutschen Geschichte Neue Folge 3), 1915 (Nachdruck 1969), c: 57,1'72-175.81 LEIDINGER, Arnpeck, Chronica Baioariorum (wie Anm. 80) c. 57, 173 f. Vgl. dieChronik des Propstes Burchard von Ursberg: Oswald HOIDER-EGGER - Bernhardv. SIMSON (Bearb.), Burchardi praepositi Urspergensis chronicon (MGH SS rerumGermanicarum [16]),21916,10: WelfIII. sei ohne Erben (sine heredt) gestorben. Sei-ne Mutter holte aus Italien den Sohn Azzos, nepotem suam, Welfonem qllartllm, tllmqllthen/km omnillm posses!ionllm eiusdtm generis institllit.82 Vgl. dazu auch den ähnlichen Stammbaum bei Aventin:Johannes Turmair's ge-nannt Aventinus Sämmtliche Werke Bd. 1, 1881, 133 f., sowie Aventins Darstellungder Geschichte der Welfen in der Bayerischen Chronik (ebd. Bd. 5, Buch VI): Her-zog Welph ails Kernten ist on leibserben abgestorben. (c. 1, 310). Diesem folgte HerzogWelph der erst, von dtr mile/er (wie m/ anzaigt) vom geschlecht der Welphen derfonft graf dimnamens von der Amper, von dem valer ein Wakh lind marchgraf von Ast ... (c. 2, 310 f.).Aventins Sichtweise übernahm die ihm folgende bayerische Landesgeschichte; vg!.Alois SCHMID, Die Herkunft der Welfen in der bayerischen Landeshistoriographie

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Wemer Hechberger 153

Indessen war auch damit noch keine allgemeingültige Sichtweiseformuliert, der man sich später einfach nur angeschlossen hätte. Zwarmarkiert Arnpeck zweifellos eine weitere Stufe einer allgemeinen Ent-wicklung, doch läßt sich für den konkreten Fall der Welfen keineswegsbehaupten, daß diese stetig verlaufen wäre. Als man im 17. Jahrhundertbegann, sich wissenschaftlich mit der Geschichte der Welfen zu be-schäftigten, ging es nicht etwa darum, vorhandenes Traditionsgut gewis-sermaßen mit Fußnoten und Quellenangaben zu unterfüttern. Erneutwaren Nachforschungen nötig. Die Situation von Leibniz war nicht un-ähnlich jener, in der sich seinerzeit der Verfasser der Historia Welforurnbefunden hatte. Alte Urkunden und Chroniken mußten durchgesehenwerden83; die Geschichte des Geschlechts mußte gewissermaßen erstwieder entdeckt werden oder, besser gesagt, neu konstruiert werden'".Dabei war man sich zunächst keineswegs darüber einig, welches Ge-schlecht man eigentlich untersuchte. Muratori und Leibniz,die sich inder Erkenntnis trafen, daß Azzo "von Este" die Schlüsselfigur der Con-nexion desMaisans de Brunsoic et d'Este war, kamen von verschiedenen Sei-ten. Für Muratori, den Bibliothekar und Archivar Rinaldos I. d'Este in

des 17. Jahrhunderts und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Herbert BREGER-Friedrich NIEWÖHNER(Hg.), Leibniz und Niedersachsen. Tagung anläßlich des350. Geburtstages von G.W. Leibniz (Studia Leibnitiana, Sonderheft 28), 1996,1999,127-131, bes. S. 128ff.83 Vg!. Historia Welforum (wie Arun. 1) c. 1,2.84 Vgl. dazu nur Georg Heinrich PERTZ,Vorrede, in: DERS. (Bearb.), GottfriedWilhelm Leibniz, Annales imperii occidentis Brunsvicenses (Gesammelte Werke1/1), 1843 (Nachdruck 1966), XI; Werner CONZE,Leibniz als Historiker (Leibnizzu seinem 300. Geburtstag 6), 1951, 11£f.; Arrnin REESE,Die Rolle der HistoriebeimAufstieg des Welfenhauses 1680-1714 (Quellen und Darstellungen zur Ge-schichte Niedersachsens 71), 1967,46-73; Horst ECKERT,Gottfried Wilhelm Leib-niz' "Scriptores rerum Brunsvicensium". Entstehung und historiographische Be-deutung (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 3), 1971, 12-15; BerndSCHNEIDMÜllER,Mittelalterliche Reduktion - neuzeitlicher Aufbruch. Die Territo-rialisierung welfischen Adelsbewußtseins im 13. Jahrhundert und seine Europäisie-rung durch Leibniz, in: BREGER- NIEWÖHNER,Leibniz und Niedersachsen (wieArun. 82) 87-105, bes. 87 f., 104; SCHMID,Herkunft (wie Anm. 82) 126-147.

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154 Die Erbfolge von 1055 und das wrl[ischeSelbstverständnis·

Modena, waren die Welfen der deutsche Zweig dieses Hauses85• DieseEinschätzung ist heute unüblich; falsch ist sie indessen natürlich nicht.Leibniz dagegen untersuchte den Ursprung des Hauses Braunschweig-Lüneburg und unterschied zwischen den "alten" und den "neuen" Gu-elfen, von denen "die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg unstreitighehrstammen't'", Diese Herzöge selbst als Welfen zu bezeichnen, wurdeerst seit dieser Zeit üblich", Die bis heute verwendete Sichtweise, in derdezidiert zwischen älteren und jüngeren Welfen unterschieden wird, fin-det sich in ihrer heutigen Form dann in den Origines Guelficae'", diemaßgeblich die wissenschaftliche Beschäftigung mit den mittelalterli-chen Welfen beeinflußt haben und, im Hinblick auf die verwendeteTerminologie und die damit verbundene Perspektive, auch heute nochzumindest indirekt beeinflussen. Dies wird nicht zuletzt an den Stamm-bäumen deutlich, die sich in ihrer Grundkonzeption nicht sonderlichvon heutigen Darstellungen unterscheiden", So enthalten die OriginesGuelficae erstrrials auch ein Stemma Gue!ftcorum Veterum Bauaro-Suevicorum.Es endet mit Welf Ill.und mit Kuniza, die in den Origines Guelficae alsstirpis sua ultima & heres bezeichnet wird. Erst in dieser Perspektive avan-cierte dann Welf IV. zum Retter des welfischen Geschlechts. Welf IV.erklärte sich laut der Darstellung der Origines Guelficae nicht etwa nur

85 Vg!. Lodovico Antonio MURATORI, Delle Antichitä Estensi ed ltaliane Teil1,1717 (Nachdruck 1984), 8f., passim; vg!. auch Tavola II-VII. Zum Streit zwischenMuratori und Leibniz über die "Nationszugehörigkeit" der Vorfahren Azzos - Mu-ratori betonte die lombardische, Leibniz dagegen die bairische Abkunft - vg!.CONZE, Leibniz (wie Anm. 84) 19 f. mit Anm. 70. Zum Problem vg!. auchSCHWARZMAlER,Dominus (wie Anm. 2) 285 f.86 Georg Heinrich PERlZ (Beacb.), Gottfried Wilhelm Leibniz, Bericht über di~ Er-folge der Reise nach Süddeutschland und Italien für die Welfische Geschichte, in: DERS.(Beacb.), Gottfried Wllhelm Leibniz, Gesammelte Werke 1/4: Geschichtliche Aufsätzeund Gedichte, 1847 (Nachdruck 1966), 256; vg!. DERS., Brevis Synopsis Historiae Guel-ficae, ebd., 230; DERS., Entwurf der Welfischen Geschichte, ebd., 244,248.87 Vg!. Hermann GRaTE, Geschichte der Welfischen Stammwappen, 1863, 13.88 Christian Ludwig SCHEIDlUS (Bearh.), Origines Guelficae, ex illustrium virorumGodofredi Guilielmi LEIBNml, loh. Georgii ECCARDl, et loh. Danielis GRUBERIschedis manuscriptis editum, bes. Bd. 2, 1751.89 Origines Guelficae (wie Anm. 88) Bd. 2, üb. V, Tab. 11 zu 234. Abgesehen seian dieser Stelle von der Darstellung der welfischen Frühgeschichte.

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zum Erben. Er soll behauptet haben, daß er der letzte Welfe sei: Gue!ft-cam gentem recentiorem propagaviPo.

Aus späterer Rückschau retteten lmiza und WelfIV. die Welfen fürdie Geschichte - aber eben nur aus' der Rückschau. Tatsächlich waren esnicht etwa eine besondere Lebenskraft oder die Familientradition, dieden Bruch in der welfischen Ahnenreihe überwanden. Diese Sicht istnicht zeitgenössisch; die Vorstellung vom genealogischen "Bruch" ent-spricht nicht zeitgenössischem Denken, da sie allein auf der Vorstellungberuht, die männliche Sukzession definiere ein Adelsgeschlecht. Offen-bar haben die Welfen des 12. Jahrhunderts noch nicht in diesen Katego-rien gedacht. Ihr "Selbstverständnis" war heterogen und läßt sich kaumals Weiterentwicklung einer einheitlichen Grundidee verstehen, die füralle Angehörigen dieses Geschlechts selbstverständlich gewesen wäre.

Es ist demnach bestimmt nicht falsch, wenn man Welf IV. auch indynastischer Hinsicht als eine Schlüsselfigur bezeichnet. Doch sollteman nicht vergessen, daß dies die heutige Sicht ist, die auf Definitions-kriterien beruht, die sich erst allmählich herausgebildet haben. Die Wel-fen des 12. Jahrhunderts haben dies offensichtlich noch anders gesehen:Eine Schlüsselfigur oder gar der Retter des Geschlechts war Welf IV.für sie nicht.

90 Origines Guelficae (wie Anm. 88) Bd. 2, Lib. VI, 264.