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WEN DIE GÖTTER LIEBEN Ulrich Remanofsky Schicksale von elf Extrembergsteigern Alpinverlag Jentzsch-Rabl

Wen die Götter lieben - Schicksale von elf Extrembergsteigern

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Elf Bergsteiger, die Marksteine in der Alpingeschichte setzten: Hans Dülfer, Paul Preuß, Willo Welzenbach, Louis Lachenal, Diether Marchart, Toni Kinshofer, Günther Messner, Heini Holzer, Xaver Bongard, Alison Hargreaves und Marco Siffredi. In Wort und Bild, darunter viele Originalfotos, wird ihr Lebensweg nachgezeichnet; im Mittelpunkt stehen dabei die Schilderung ihrer größten Touren und die Umstände ihres Todes.

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Ulrich Remanofsky

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Hans Dülfer, Paul Preuß, Willo Welzenbach, Louis Lachenal, Diether Marchart, Toni Kinshofer, Günther Messner, Heini Holzer, Xaver Bongard, Alison Hargreaves und Marco Siffredi

Schicksale von elf Extrembergsteigern ISBN: 978-3-902656-09-4 www.alpinverlag.at

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Wen die Götter lieben– Schicksale von elf ExtrembergsteigernElf Bergsteiger, die Marksteine in der Alpingeschichte setzten: Hans Dülfer und Paul Preuß, trotz ihres frühen Todes die größ-ten Pioniere des Felskletterns; Willo Welzenbach, Intellektuel-ler und Wegbereiter des modernen Eiskletterns; Louis Lachenal, der „Sprinter“ am Berg und eine alle Normen sprengende Persön-lichkeit; Diether Marchart, dem mit 19 Jahren die erste Solo-durchsteigung der Matterhorn-Nordwand gelang; Toni Kinshofer, der trotz seiner Amputationen mit seinem überragenden Können im Fels wie im Eis verblüffte; Günther Messner, der versuch-te, aus dem Schatten des großen Bruders, Reinhold, zu treten; Heini Holzer, klein an Gestalt, in den Bergen aber ein ganz Gro-ßer; Xaver Bongard mit seinen technischen Solos und den ersten Basejumps; Alison Hargreaves, die sich verzweifelt bemühte, ihre Aufgaben als Mutter von zwei kleinen Kindern mit ihrem Drang nach Extremtouren zu vereinbaren und schließlich der „Paradiesvo-gel“ Marco Siffredi, der mit dem Snowboard Achttausender und 60° steile Eiswände im Montblanc-Gebiet befuhr: Sie alle hatten den Alpinismus geprägt, ehe sie – viel zu früh – den Tod fanden. In Wort und Bild, darunter viele Originalfotos, wird ihr Lebensweg nachgezeichnet; im Mittelpunkt stehen dabei die Schilderung ihrer größten Touren und die Umstände ihres Todes.

Der Autor

Ulrich Remanofsky, Jahrgang 1943, dreißig Jahre lang als leitender Mitar-beiter im Goethe-Institut Lyon tätig, als junger Mann Allroundbergsteiger mit einer Vorliebe für Eiswände in den West- und Ostalpen, heute leidenschaftli-cher Klettersteiggeher, Bergwanderer und Skitourengeher:

„Ich habe zwei Bergunfälle nur mit sehr viel Glück überlebt. Seitdem stelle ich mir immer wieder die Frage, was letzten Endes unser aller Schicksal bestimmt. Wieso kam beispielsweise der eher für seine Vorsicht bekannte Willo Welzen-bach in den Bergen um und wie war es möglich, dass Eugen Guido Lammer, der den Tod unzählige Male herausgefordert hatte, als 81-Jähriger friedlich in seinem Bett starb? Dieser Frage wollte ich auch in diesem Buch nachgehen, wohl wissend, dass eine endgültige Antwort darauf nie möglich sein wird.“ Alpinverlag

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Zum Titel des Buches: „Wen die Götter lieben, der stirbt jung“, so lautet ein Spruch des griechischen Dichters Menander (342 oder 341 v. Chr. – 291 v. Chr.).

Er war wohl als Trost für die Angehörigen von jungen Menschen gedacht, die in der Blüte ihrer Jahre gestorben oder auf dem Schlachtfeld gefallen waren.

VORWORT„Wie kann man die Risiken, die man beim Extrembergsteigen eingeht, mit der Ver-antwortung gegenüber der Familie vereinbaren?“ Diese oder ähnliche Fragen werden mir oft nach meinen Vorträgen gestellt. Es gibt wohl keine leichte Antwort darauf. Und es gibt vor allem keine Möglichkeit, alle anderen von der Richtigkeit meines Tuns zu überzeugen. Aber ich kann zumindest versuchen, ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen.

Alexander Huber free solo in der Südwand der Dent du Géant

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Wen die Götter lieben Vorwort A. Huber

Als Bergsteiger und Kletterer bin ich kein waghalsiger Hasardeur, der sein Leben leichtfertig und gedankenlos aufs Spiel setzt. Wenn ich free solo durch eine Wand wie die Nordwand der Großen Zinne klettere, dann ist das das Resultat einer gründlichen Vorbereitung. Durch intensives Training, durch langsames Herantasten an das Ziel erarbeite ich mir eine Kompetenz, die mich in die Lage versetzt, die Risiken richtig einzuschätzen. Und selbstverständlich hole ich vor jeder Tour ein Höchstmaß an In-formationen ein – ich überlasse also nichts dem Zufall.

Dennoch will ich nicht den Eindruck vermitteln, als wäre das Risiko bis zur letzten Konsequenz kontrollierbar. Wie bei jedem einigermaßen komplexen Vorgang gibt es auch beim Free-Solo-Klettern kein Nullrisiko. Beim Bergsteigen wird immer ein Rest-risiko mit dabei sein. Und am Ende muss ich dann einfach nur wissen, ob es wert ist, dieses Restrisiko in Kauf zu nehmen. Ich gehe dieses Restrisiko nur ein, wenn ich das Gefühl habe, dass das, was am Ende des Tages herauskommt, etwas Besonderes, etwas Einzigartiges ist. Und ja, es ist ein intensives Erlebnis, das ich nach einer Free-Solo-Begehung am Ende des Tages mit nach Hause bringe. Etwas, an das ich mich auch in vielen Jahren noch minutiös erinnern werde. Das sind die Bilder im Buch meiner Erinnerungen, die mein Leben so reich machen.

In diesem Zusammenhang ist dann Risiko nichts Negatives, sondern ein Mittel zur Selbstverwirklichung. Je näher ich an die Grenzen meiner physischen und psychi-schen Kräfte gehe, desto größer ist das Glücksgefühl, das ich empfinde. Für mich gilt: Je höher der Einsatz, umso höher auch der Gewinn. Ohne Wagnis bleibt das Leben grau und ich als Bergsteiger würde blass werden wie eine Blume ohne Wasser und Licht.

Natürlich muss jeder Extrembergsteiger wie auch jeder Bergwanderer innerhalb sei-nes Leistungsbereichs bleiben und objektive Risiken wie Steinschlag oder das Wet-tergeschehen in seine Tourenplanung einbeziehen. Haben die in diesem Buch port-rätierten Bergsteiger ihre Leistungsfähigkeit oder objektive Gefahren eventuell falsch eingeschätzt? Bei einigen mag dies zutreffen, bei anderen war ihr Tod ganz einfach Schicksal, das Zusammentreffen ungünstiger Umstände oder wie immer man das auch nennen mag. Alle haben sie nach Grenzerfahrungen, nach immer neuen Heraus-forderungen gesucht, sei es als Alleingänger in den schwierigsten Alpenwänden oder in der großen Höhe im Himalaya. Ihren Pioniergeist haben sie mit dem Leben bezahlt – so wie viele andere Pioniere, die mit der Absicht ausgezogen waren, die letzten noch unbekannten Gebiete unserer Erde zu erforschen. Man mag ihr Tun sehr kritisch seh-en, Tatsache aber bleibt, dass eine Gesellschaft sich nur weiterentwickeln kann, wenn sie den Mut zum Risiko besitzt.

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Inhalt

Vorwort von Alexander Huber .......................................................................................................... 5

Inhalt ........................................................................................................................................................ 7

Hans Dülfer und Paul Preuß .............................................................................................................. 9

Willo Welzenbach ................................................................................................................................. 27

Louis Lachenal ....................................................................................................................................... 55

Diether Marchart .................................................................................................................................. 85

Toni Kinshofer ..................................................................................................................................... 111

Günther Messner ............................................................................................................................... 137

Heini Holzer ......................................................................................................................................... 161

Alison Hargreaves ............................................................................................................................. 185

Xaver Bongard .................................................................................................................................... 209

Marco Siffredi ...................................................................................................................................... 237

Anhang:

Glossar ................................................................................................................................................... 265

Hinweise zu Schwierigkeitsbewertungen ............................................................................... 267

Literaturhinweis ................................................................................................................................. 269

Dank ................................................................................................................................................... 271

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Louis Lachenal(17.7.1921 – 25.11.1955)

„Louis Lachenal war einer der größten Alpinisten aller Zeiten. Sein Können in Fels und Eis überstieg beinahe die Vorstellungskraft; bisweilen hatte ich den Eindruck, als würden die Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht gelten. Er schien den Fels kaum zu berühren und tänzelte in atemberaubender Geschwindigkeit auch über schwierigste Passagen hinweg. Ich habe keinen anderen Bergsteiger kennengelernt, der so voller Tatkraft, Enthusiasmus und Leidenschaft war. Und sein Temperament war oft derart überbordend, dass ihn viele für einen Exzentriker hielten.“ (Lionel Terray in einem Nachruf auf seinen Freund Louis Lachenal)

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etwas Vorsprung gewinnen, brüllen sie Schmährufe zu den anderen hinunter: „Na, ihr lahmen Enten, braucht ihr Hilfe?“ oder „Da ist ja meine Oma schneller!“

Auf halber Pfeilerhöhe bekommt Lionel Hunger. Alle, die je mit Lionel auf großer Tour waren, wissen, was das bedeutet. Fast eine halbe Stunde verbringt er jetzt damit, Unmengen an Brot, Wurst, Speck, Käse und Obst in sich hineinzustopfen. Endlich geht es weiter, aber Contamine und Leroux haben inzwischen einen fast uneinholba-ren Vorsprung. Aber Louis und Lionel geben so schnell nicht auf. Einen 40-Meter-Kamin steigen sie gleichzeitig im Fahrstuhltempo empor. Weiter oben kommen sie in kombiniertes Gelände. Eigentlich müssten sie jetzt die Steigeisen anlegen, aber das würde zuviel Zeit kosten. Aus dem Eis ragen in ein bis zwei Meter Abstand immer wie-der Granitblöcke hervor. Wie Gämsen springen Louis und Lionel von Block zu Block, spornen sich dabei gegenseitig an, geben sich Fauststöße in die Rippen: „Schneller! Schneller!“ „Jetzt mach doch schon!“ „Hopp! Hopp!“ Bald haben sie Contamine und Leroux wieder eingeholt und stürmen die letzten Meter zum Gipfel hinauf. Contamine und Leroux, die unter Bergführerkollegen für ihre Schnelligkeit bekannt sind, müssen sich knapp geschlagen geben. Nur achteinhalb Stunden haben die vier für den 1200 Meter hohen Pfeiler benötigt; die Erstbegeher hatten zweimal biwakieren müssen!

Die vierte Begehung des WalkerpfeilersAm gleichen Tag, an dem Louis und Lionel am Nordostpfeiler der Droites unterwegs sind, steigen vier Pariser Bergsteiger unter Führung von Pierre Allain in den Walker-pfeiler ein. Wie die Erst- und Zweitbegeher benötigen auch sie drei Tage. Nach ihrer Rückkehr erkundigen sich Louis und Lionel bei den vieren nach den Verhältnissen am Pfeiler und gewinnen die Überzeugung, dass eine Begehung in zwei Tagen möglich sein muss.

Am 8. August steigen Louis und Lionel zur Leschaux-Hütte auf. An den Füßen tra-gen sie neue Bergschuhe mit Profilgummisohlen, die der handwerklich ungemein geschickte Louis selbst gefertigt hat. Zwar gibt es bereits seit einiger Zeit von dem italienischen Bergsteiger Vitale Bramani entwickelte Profilgummisohlen (Vibram), in Frankreich aber sind sie noch nicht erhältlich. Außerdem verdienen Louis und Lionel so wenig, dass sie sich diese Sohlen ohnehin nicht hätten leisten können. Louis hat das Rohmaterial den Seitenwänden von alten Lastwagenreifen entnommen und das Profil mit einem Messer in den Gummi geschnitten.

Während des Aufstiegs zur Hütte halten die beiden häufig an, um den Pfeiler zu be-wundern, der ihnen an diesem Tag verlockender denn je erscheint. Gegen Abend zie-hen Wolken auf, aber das ist in den Tagen zuvor so oft passiert, dass sie sich keine großen Gedanken darüber machen. Dennoch schlafen sie schlecht, und als sie um ein

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Uhr früh nach dem Wetter schauen, ist der Himmel schwarz wie Tinte. Aber noch ge-ben sie die Hoffnung nicht auf; sie haben es in der Vergangenheit schon oft erlebt, dass sich das Wetter in den frühen Morgenstunden bessert. Aber um halb drei Uhr ist der Himmel noch immer bedeckt und sie machen ihrem Ärger mit saftigen Kraftausdrü-cken Luft. Aber als kurz nach drei die Wolkendecke allmählich aufreißt, entschließen sie sich zum Aufbruch.

Der Walkerpfeiler mit der Variante und dem Biwakplatz von Louis und Lionel

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Als der neue Tag beginnt, sind sie am Wandfuß. Im Norden und im Westen ist der Himmel herrlich blau, der Gipfel der Grandes Jorasses aber steckt in den Wolken. Was tun? Nach kurzer Beratung beschließen sie, wenigstens bis zum Pendelquergang aufzusteigen. Von dort ist ein Rückzug immer noch möglich. Rasch erreichen sie die 30-Meter-Verschneidung. Noch sind die Muskeln kalt und Lionel, der den gesamten Pfeiler führen wird, kommt nur äußerst langsam voran. Krämpfe in Waden und Ar-men machen ihm zu schaffen. Eineinhalb Stunden braucht er für die dreißig Meter. Völlig entmutigt und außer Atem sagt er zu Louis: „Es hat keinen Zweck. Wir sind nicht gut genug. Allain hat nur eine halbe Stunde gebraucht. Komm, steigen wir ab!“ Aber so schnell gibt sich Louis nicht geschlagen: „Lionel, die Verschneidung ist die schwierigste Stelle der ganzen Tour und außerdem hast du dich noch nicht warmge-klettert. Komm, machen wir weiter!“ Und Lionel lässt sich überreden. Bald steilt sich über ihnen die zweite Schwierigkeit auf, die 90-Meter-Verschneidung. Lionel findet sie viel weniger abweisend als die Verschneidung vorher und legt schnell die ersten dreißig Meter zurück. Louis folgt rasch nach. In weniger als einer Stunde liegen die neunzig Meter hinter ihnen. „Mensch, nur eine knappe Stunde! Komm, schnell wei-ter! Vielleicht schaffen wir es heute noch bis zum Gipfel!“, schreit Louis mit seinem unbändigen Temperament. Wilde Entschlossenheit liegt auf seinem Gesicht.

Um elf Uhr sind sie am Pendelquergang. Die Hälfte des Pfeilers liegt hinter ihnen. Das Wetter ist zwar immer noch recht unsicher, aber sie ziehen das Seil ab und setzen den Aufstieg fort. Jetzt wäre ein Rückzug äußerst problematisch - dessen sind sie sich voll bewusst.

Um die Mittagszeit erreichen sie den ersten Biwakplatz von Frendo und Rébuffat. Da-mit liegen sie so gut in der Zeit, dass ihnen der Ausstieg noch am selben Tag realistisch erscheint, ja Louis ist fest davon überzeugt: „Klar schaffen wir das! Mensch, sind wir schnell!“, schreit er euphorisch.

Kurz darauf erwartet sie eine weitere Schlüsselstelle, die achtzig Meter hohen schwar-zen Platten. Alle Griffe und Tritte sind hier winzig klein, keine Schwachstelle ist zu er-kennen. Dazu sind die Sicherungsmöglichkeiten schlecht, nur selten lässt sich ein Ha-ken eintreiben. Aber die beiden sind in hervorragender Form. Lionel schreibt: „Keine Furcht ist mehr da, keine Müdigkeit. Ich scheine zu schweben. Ich bin unbesiegbar. Nichts vermag mich aufzuhalten.“

Bereits um fünfzehn Uhr erreichen sie den Biwakplatz der Pariser Seilschaft. Wie-der kommt ein euphorischer Ausruf von Louis: „Mensch, du wirst sehen, heute Nacht schlafen wir in der Cabane des Grandes Jorasses!“ Lionel ist da aber eher skeptisch, zumal sie jetzt in dichtem Nebel stecken, was die Orientierung ungemein erschwert. In der Routen-Skizze, die sie von der Pariser Seilschaft erhalten haben, finden sie: „Leicht nach rechts über geborstene Platten ansteigen.“ Zwei heikle Seillängen nach rechts bringen sie in ein Risssystem. Die Risse verlangen Lionel alles ab, obwohl er

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großartig in Form ist. Solche Schwierigkeiten hatte Pierre Allain nicht erwähnt. Lou-is und Lionel müssen also von der richtigen Route abgekommen sein. Aber all ihre Versuche, wieder nach links auf die Route der Erstbegeher zu gelangen, scheitern am extrem glatten, senkrechten Fels.

Plötzlich reißt der Nebel auf und sie sehen zu ihrer Rechten ein Couloir, das ihnen gang-bar erscheint. Es erweist sich aber als schwieriger, als es den Anschein hatte; der Fels ist abwärts geschichtet und äußerst brüchig. Dazu lassen sich kaum Sicherungshaken anbringen. Langsam beginnt es zu dämmern, aber nirgends sehen sie einen geeigneten Biwakplatz; kein Absatz, nicht einmal ein schmales Band, überall nur steiler, brüchi-ger Fels. Allen Gesetzen der Vorsicht zum Trotz klettern sie in hohem Tempo weiter. Inzwischen ist es dunkel geworden und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich notdürftig auf einem steilen Firngrat zum Biwakieren einzurichten. Sie graben eine kleine Plattform in den Firn und legen einen ca. 40 x 30 cm großen, flachen Stein auf die Schneeunterlage. Das muss für beide als Sitzplatz genügen. Nach langem Suchen finden sie einen kleinen Spalt, in den sie einen Sicherungshaken eintreiben können.

Sie ziehen ihre Daunenjacken an und streifen die wasserdichten Anoraks über. Über ihre Schuhe ziehen sie Wollsocken und stecken die Füße in ihre Rucksäcke. Kaum sind sie damit fertig, bricht ein heftiges Gewitter über sie herein. Große Hagelkörner prasseln herab und sie müssen ihre Köpfe mit den Händen schützen. Zu beiden Seiten des Firngrates fließen ganze Ströme von Hagelkörnern die Wand hinunter und reißen ständig Steine mit, die oft nur zwei oder drei Meter an ihnen vorbeischwirren. Immer wieder zucken Blitze und der ohrenbetäubende Donner lässt sie jedes Mal hochfahren. In ihrem Rücken stauen sich die Hagelkörner und sie rutschen oft von ihrem schma-len Sitzplatz.

Als das Unwetter etwas nachlässt, stürzt sich Lionel auf seinen Proviant und ver-schlingt alles, was er nur finden kann. Louis dagegen hat keinen Hunger und muss sich zum Essen zwingen. Die Stunden verstreichen nur quälend langsam und allmäh-lich dringt die Kälte durch die Daunenkleidung. Von Zeit zu Zeit singen sie ein paar Schlager oder erzählen sich Begebenheiten aus ihrer Jugend.

Als es zu dämmern beginnt, lässt der heftige Wind nach, der die ganze Nacht über angedauert hatte und sie nicken ab und zu ein. Gegen sechs Uhr morgens machen sie sich zum Weitergehen fertig. Als der Nebel kurz aufreißt und den Blick auf die Felsen über ihnen freigibt, erschrecken sie: Alles ist mit einem dicken Eispanzer überzogen. Keiner sagt ein Wort, Entsetzen macht sich auf ihren Gesichtern breit. Später werden sie sich eingestehen, dass beide einen kurzen Moment denselben Gedanken hatten: „Jetzt ist es aus!“ Aber so schnell geben sie sich nicht geschlagen. Mit entschlossenem Gesicht legt Lionel die Steigeisen an, die er auf den Rat von Pierre Allain mitgenom-men hat. Nur auf den Vorderzacken der Steigeisen balancierend und ständig mit dem Gleichgewicht kämpfend, tastet er sich vorsichtig höher. Nach dreißig Metern findet

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er eine schmale Leiste und lässt Louis nachkommen. Louis hat keine Steigeisen und nur seiner überaus großen Geschicklichkeit ist es zu verdanken, dass er nicht stürzt.

Lionel muss jeden Griff unter einer zentimeterdicken Eisschicht freilegen. Bald sind seine Hände so gefühllos, dass er sie immer wieder gegen seine Schenkel schlagen muss, um die Durchblutung anzuregen. Die Haken, die er anbringt, dringen kaum tiefer als einen Zentimeter in den Fels und Louis hat keinerlei Mühe, sie mit bloßen Händen zu entfernen. Lionel versucht, nach links zu queren, um wieder die Origi-nalroute zu erreichen, aber ständig drängen ihn die glatten, senkrechten Felsen nach rechts in ein sehr steiles Eisfeld, in das er an die hundert kleine Stufen schlagen muss, damit Louis, der ja keine Steigeisen hat, nachfolgen kann. Wieder in den Felsen klet-tert Lionel mit höchster Konzentration weiter, nimmt Stellen in Angriff, die er nor-malerweise für unbezwingbar halten würde. Er erinnert sich dabei an eine Situation, in der er von einer Lawine erfasst worden war und verzweifelt Schwimmbewegungen gemacht hatte, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dieselbe Energie verzehn-facht jetzt seine Kräfte.

Über ihnen baut sich eine von einem weiten Kamin durchzogene Wandstufe auf. Der Fels ist ungemein brüchig und trotz aller Vorsicht tritt Lionel immer wieder Steine los, die Louis oft nur knapp verfehlen. Auf einmal aber schreit Louis auf: Ein Stein hat ihn am Kopf getroffen und er hängt wie leblos in seiner Selbstsicherung. Angst ergreift Lionel und er bereitet ein Abseilmanöver vor. Da ruft plötzlich Louis zu ihm herauf: „Alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen groggy.“

Louis erholt sich so schnell wieder von seinem k.o., dass er Lionel jetzt sogar ständig anfeuert: „Ja, ja, weiter so!“ „Das schaffst du!“ Dabei muss Louis manchmal bis zu einer halben Stunde in der eisigen Kälte auf seinem Standplatz ausharren. Der Fels ist oft so griff- und trittarm, dass Lionel nur mit zeitraubender künstlicher Kletterei weiterkommt. Mehrfach schreit Louis zu ihm herauf: „Wenn wir wieder in Chamonix sind, dann leisten wir uns ein Festessen, ein Festessen mit allen Schikanen!“ Es tut Li-onel gut, einen Gefährten zu haben, der nie seinen Optimismus verliert und immer ein aufmunterndes Wort parat hat. Aber dennoch, auf ihnen lastet eine große Ungewiss-heit: Wartet weiter oben nicht vielleicht doch noch ein unüberwindliches Hindernis auf sie? Oder setzt Schneefall ein, was die Kletterschwierigkeiten dramatisch erhö-hen würde. Schon jetzt haben sie mehrere kritische Situationen durchlebt: Zuerst der Stein, der Louis am Kopf trifft, dann ein Felszacken, der unter Lionels Fuß wegbricht und schließlich ein 3-Meter-Sturz von Lionel, der glücklicherweise glimpflich ausgeht. Dazu kommen bei beiden schreckliche Krämpfe in den Waden und Armen und ihre Füße sind schon seit langem gefühllos.

Plötzlich lichtet sich der Nebel. Zwanzig oder dreißig Meter höher sieht Lionel Wol-kenfetzen, die über einen Schneegrat jagen. „Das ist die Rettung!“, durchzuckt es ihn. „Wir sind oben!“, brüllt er zu Louis hinunter. Louis antwortet mit einem Indianerge-

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heul. Lionel aber versagen nun seine so lange angespannten Nerven. Mit einem Mal überfällt ihn die grässliche Angst, es könnte in letzter Sekunde noch etwas passieren. Obwohl die letzten Meter nicht schwierig sind, muss er mehrere Haken schlagen, so unsicher fühlt er sich. Oben, auf dem Grat, lässt er sich in den Schnee fallen und bleibt eine Weile so liegen. Nach Monaten der Vorbereitung, der ständigen Beschäftigung mit „ihrem“ Pfeiler, sind sie nun endlich am Ziel ihrer Träume. Aber als auch Lou-is gegen 17 Uhr oben ist, reichen sie sich nur stumm die Hände. Keinerlei Euphorie durchströmt sie, kein tiefes Glücksgefühl, sie sind nur froh, der Wand entronnen zu sein. Später fällt Lionel ein Satz aus seiner Schulzeit ein: „Wahres Glück liegt im Be-gehren und nicht im Besitz.“

Erst nach ihrem Erfolg am Walkerpfeiler werden sich Louis und Lionel voll bewusst, welches Potential in ihrer Seilschaft steckt. Obwohl sie die richtige Route verfehlt und am zweiten Tag mit schwierigsten Bedingungen zu kämpfen hatten, ist ihnen der Pfei-ler in nur zwei Tagen gelungen. Auch wenn sie aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung im extremen Fels wohl nicht die Virtuosität mancher „Sestogradisten“ der Dolomi-ten oder Ostalpen erreichen, so sind sie doch im Eis und im kombinierten Gelände unübertroffen. Außerdem ergänzen sie sich ideal. Lionel schreibt: „Lachenal besaß eine ganz außergewöhnliche Geschicklichkeit, die Vitalität eines wilden Tieres und einen an Besinnungslosigkeit grenzenden Mut. In heiklem und brüchigem Gelände war er bei weitem der schnellste und glänzendste Kletterer, den ich je kennengelernt habe. […] Ich war in allen Bereichen weniger begabt als Lachenal, jedoch kräftiger und ausdauernder, willensstärker und umsichtiger. So war ich in unserer Seilschaft das mäßigende Element, das ihr – wie mir scheint – die für große Unternehmungen unerlässliche Stabilität und Konstanz verlieh.“

Nach dem Walkerpfeiler widmen sich Louis und Lionel wieder ganz ihrem Beruf und ihrer Familie. Inzwischen ist Louis` zweiter Sohn, Christian, geboren. Gern würden die Lachenals in eine größere Wohnung umziehen, aber dazu verdient Louis nicht ge-nügend und so müssen sie auch weiterhin mit einer Einzimmerwohnung ohne flie-ßendes Wasser vorliebnehmen. Louis aber verspricht seiner Frau: „Du wirst sehen, in spätestens zwei Jahren wohnen wir in unserem eigenen Haus.“

Anfang Oktober beschließen Louis und Lionel, das schöne Wetter auszunutzen und ein paar Touren in der Schweiz zu unternehmen. Nach einer sehr schwierigen Klet-tertour im Massif de l`Argentine besteigen sie das Bietschhorn (3934 m) über den Südostgrat. Wieder einmal sind sie in bestechender Form und benötigen nur die Hälf-te der Zeit, die eine gute Seilschaft normalerweise braucht. Im Abstieg folgen sie zu-nächst dem Nordgrat, kürzen dann aber über die ca. 50° geneigte Ostflanke ab. Die Flanke weist idealen, leicht aufgeweichten Firnschnee auf und sie stürmen gleichzeitig abwärts. Plötzlich ruft Louis seinem Freund zu: „Mensch, fahren wir den Hang doch einfach ab. Armand Charlet hat das auch mal im Whymper-Couloir an der Aiguille

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Verte gemacht.“ Ohne die Antwort von Lionel abzuwarten, wirft sich Louis mit eini-gen kräftigen Gleitschritten in den Hang. Da sie angeseilt sind, bleibt Lionel nichts anderes übrig, als nun seinerseits mit den Steigeisen an den Füßen abzufahren; den Pickel benutzen sie dabei als Stütze. Ohne ein einziges Mal anzuhalten, sausen sie den Steilhang hinunter und sind eine Minute später bereits 300 Höhenmeter tiefer. Auf den jetzt flacheren Hängen setzen sie ihren Abstieg zur Hütte fort.

Es wird berichtet, dass der berühmte Bergführer Alexander Graven in der Hütte am Fuße des Bietschhorns ausgerufen haben soll: „In weniger als fünf Stunden aufs Bietschhorn! Das sind Lügner, ganz unverschämte Lügner!“ Als er aber am Tag da-rauf die Abfahrtsspuren von Louis und Lionel in der Ostflanke sah, soll er nur noch gemurmelt haben: „Ja, wenn sie so etwas machen können, ist natürlich alles möglich.“

Anschließend besteigen sie noch das Matterhorn über den schwierigen Furggengrat. In seinen Erinnerungen schreibt Lionel dazu: „Ohne uns anzuseilen, waren wir fast im Dauerlauf am Carrel-Überhang angelangt, wo der Berg wieder Größe und Kühn-heit gewinnt. Doch wie unzuverlässig ist dieser Fels! Nie zuvor hatte ich eine derart brüchige Wand durchklettert. Ich war gelähmt vor Angst, doch Lachenal, der Seil-tänzer der Berge, kümmerte sich nicht um die unsicheren Griffe und Tritte. Unter Freudengeschrei, in einer Sintflut von Steinen, bewältigte er diese 80 Meter fast ohne Haken!“

Zum ersten Mal bei ihren gemeinsamen Touren übernimmt hier Louis auf Wunsch von Lionel die Führung. Das ist für ihn das schönste Kompliment, ein viel schöneres als alle Zeitungsartikel und Interviews in Fachzeitschriften oder im Radio.

Die zweite Durchsteigung der Eiger-NordwandNach dem Nordpfeiler der Grandes Jorasses haben Louis und Lionel bereits ein wei-teres großes Ziel im Visier: die Eiger-Nordwand, deren dramatische Durchsteigungs-geschichte sie in allen Einzelheiten kennen. Seit der Erstbegehung im Jahre 1938 durch die deutsch-österreichische Seilschaft Heckmair, Vörg, Kasparek und Harrer ist die Wand nicht wiederholt worden. „Es ist höchste Zeit für die Zweitbegehung!“, ruft Louis bei fast jedem seiner Treffen mit Lionel aus. Doch im November 1946 wird alles in Frage gestellt. Bei einem Unfall durchtrennt sich Lionel die Beugesehne des rechten Zeigefingers. Dazu gesellt sich eine schwere Infektion und die Ärzte ziehen in Erwägung, eventuell die ganze Hand zu amputieren. Dazu kommt es glücklicherweise nicht, doch Lionel muss fast zwei Monate im Krankenhaus verbringen. Nach seiner Entlassung fragt er sich, ob er jemals wieder seinen Beruf als Bergführer wird ausüben können. Um nicht ständig Trübsal zu blasen, stürzt er sich in den Bau eines Chalets, wobei er den größten Teil der Arbeit selbst leistet.

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Heini Holzer(7.4.1945 – 4.7.1977)

Meine Spur, mein leben

Meine Spur ziehe ich am liebsten,wohin keine andere führt.Ich kann zurückblicken und sie beurteilen,was ich sonst nicht könnte,weil ich sie durch die vielen anderen verlieren würde.

Auch mein Leben will ich unter Kontrolle haben.Darum gehe ich einen eigenen Weg,dem nicht jeder folgt.

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Erstbegehung in der Civetta-NW-WandEin Jahr später sind Heini und Reinhold wieder in der Civetta, diesmal zusammen mit Sepp Mayerl, dem bekannten Kirchturmrestaurator aus Osttirol und Renato Reali, einem Spitzenkletterer aus Meran. Als sie die Coldai-Hütte am Fuß der Civetta-Nord-westwand betreten, treffen sie auf Heinz Steinkötter, dessen Gesicht sich bei ihrem Anblick sofort verfinstert. Auch seine Begleiter, Dietrich Hasse, Jörg Lehne und Hans Heinrich, sonst eher umgängliche Zeitgenossen, sehen nicht gerade erfreut aus. Bald ist Heini und seinen Freunden klar: Die anderen, die zu den bekanntesten Extremklet-terern der 60er Jahre gehören, sind hier, um sich die Erstbegehung der Direttissima der Civetta-Nordwestwand zu holen und jetzt befürchten sie, Rivalen bekommen zu haben. Die Möglichkeiten, in den 60er Jahren noch Erstbegehungen in den Alpen zu finden, sind spärlich geworden. Und der Konkurrenzkampf unter den Extremen ist groß. Eifersüchtig wacht jeder Einzelne über seine Idee zu einer neuen Route. Und wenn ihm ein anderer zuvorkommt, ist das fast ein Drama.

Was Steinkötter und seine Gefährten nicht wissen: Heini und seine Freunde sind gar nicht in die Civetta-Gruppe gekommen, um die Erstbegehung der Direttissima zu versuchen. Aber jetzt sind sie auf den Geschmack gekommen und Sepp und Renato steigen zum Auto ab, um Proviant und zusätzliche Ausrüstung zu holen. Die nette Hüttenwirtin hilft ihnen mit weiteren Ausrüstungsgegenständen, darunter ein altes Hanfseil, das sie zum Aufziehen der Rucksäcke verwenden wollen.

In finsterer Nacht ziehen sie schwerbepackt zum Einstieg. Von Heinz Steinkötter und seinen Begleitern ist nichts zu sehen – sie verzichten wohl. Vielleicht haben sie ja auch nicht genügend Material dabei. Heini und Renato bilden die erste Seilschaft, Reinhold und Sepp übernehmen als zweite Seilschaft den Transport der umfangrei-chen Ausrüstung. Der vorauskletternde Heini findet plötzlich in einem Kamin zwei Seile. Sie gehören einer Seilschaft aus Triest, die am Vortag wegen Schlechtwetters wieder abgestiegen war und jetzt am Wandfuß zum erneuten Aufstieg rüstet. Als sie aber die vier in der Wand über sich sehen, geben sie enttäuscht auf, überlassen jedoch großzügig Heini und seinen Freunden eines ihrer Seile, das die vier gut ge-brauchen können.

Reinhold Messner war schon eine Woche zuvor am Wandfuß gewesen, hatte die Wand ausgiebig mit dem Fernglas studiert und so kommen sie gut voran. Über feine kleingriffige Rinnen und senkrechte Rippen aus kleinsplittrigem Gestein steigt Re-nato elegant höher. Er ist in blendender Form und die anderen schauen ihm bewun-dernd zu.

Dieses Gelände kommt auch Heini sehr entgegen, der immer dann die Führung über-nimmt, wenn es Risse zu bewältigen gilt. Weiter unten steht Reinhold in einem Schlin-genstand und sichert Sepp nach.

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Reinhold erzählt: „Ein einziger Haken steckte im Quergang zwischen ihm und mir. Kurz bevor er diesen erreichte, brach plötzlich eine Schuppe aus, an der er sich mit beiden Händen festgehalten hatte. Sepp verlor das Gleichgewicht. Einen Augenblick noch hielt er die Schuppe, die vielleicht einen halben Quadratmeter groß war, fest, hob sie über den Kopf, warf sie hinter sich und stieß sich mit den Füßen von der Wand ab. Dann stürzte er. Der Ruck kam, bevor ich ihn erwartet hatte. Der stürzende Körper riss mir einige Meter Seil durch die Hände, dann konnte ich ihn halten. Die Stein-platte, die Sepp geistesgegenwärtig hinter sich geworfen hatte, hätte die Seile wohl abgeschlagen.“

Der Sturz geht glücklicherweise glimpflich aus und bleibt der einzige ernsthafte Zwi-schenfall an diesem ersten Tag. Am späten Nachmittag erreichen sie nach insgesamt 21 Seillängen einen Pfeilerkopf, auf dem sie ihr Biwak einrichten. Über ihnen wölbt sich ein stark überhängendes Verschneidungssystem, das sehr brüchig aussieht. Dazu tropft noch viel Wasser herunter. Nein, hier direkt aufzusteigen, das wäre eine Mate-rialschlacht mit vielen, vielen Haken. Keiner der vier ist ein Freund von Hakenrou-

Die Nordwestwand der Civetta mit dem„Weg der Freunde“

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ten und während Heini und Renato den Biwakplatz vorbereiten, quert Sepp ein Stück nach rechts und schaut um die Kante. „Es geht – und sogar frei!“, ruft er nach einer Weile.

Heini, der Genießer, flicht sich auch hier wieder eine Hängematte und beginnt dann auf seiner Mundharmonika zu spielen. Die anderen summen leise mit. Die Nacht ist lang. Sie dösen vor sich hin, schrecken manchmal auf, wenn Steine an ihnen vorbei-schwirren und weiter unten krachend aufschlagen. Nur Heini in seinem „Himmelbett“ scheint gut zu schlafen.

Als es zu dämmern beginnt, bereiten sie das Frühstück vor, packen dann ihr Material zusammen, seilen sich an – es kann losgehen. Heute klettern Reinhold und Sepp an der Spitze. Über brüchige Risse, glatte Platten und einen weiteren sehr schwierigen Riss kämpft sich Sepp höher. Es folgt noch ein Überhang, den Sepp teils technisch, teils frei nimmt, dann liegen die größten Schwierigkeiten hinter ihnen. Nach einigen Seillängen stoßen sie auf die Solleder-Führe, in die ihre direkte Route 200 Meter un-ter dem Gipfel mündet. Nun geht es in freier Kletterei zum Gipfel, den sie am späten Nachmittag erreichen. Sie taufen ihre Führe „Weg der Freunde“.

Extremtouren am laufenden BandDas Jahr 1967 ist Heinis erfolgreichstes Kletterjahr. Außer der Erstbegehung in der Ci-vetta-NW-Wand glücken ihm, oft in Begleitung von Reinhold Messner, weitere Neu-touren und Zweit- oder Drittbegehungen. Bei der Erstbegehung der Nordostwand des Monte Agnér in der Pala-Gruppe kommt es fast wieder zu einem Konkurrenzkampf mit anderen Extremkletterern. Nach einigen Seillängen stoßen sie auf Ausrüstungs-gegenstände wie Kocher, Proviant und Biwakzeug. Von den Besitzern aber ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich sind sie wegen des unsicheren Wetters wieder abgestiegen. Heini, Reinhold und Günther Messner aber entscheiden sich für den weiteren Aufstieg - und geraten in einen schlimmen Wettersturz. Der Regen geht bald in Hagel über, ständig schwirren Steine herab und schlagen links und rechts von ihnen berstend auf. „Wir verließen fluchtartig unser mit Mühe geschaffenes Plätzchen. In der Dunkelheit tasteten wir uns den Kamin abwärts. Unter einem Klemmblock blieben wir stehen – zusammengekauert, zitternd, ängstlich. Woran wir dachten? An den Rückzug.“ (R. Messner)

Doch in der Dunkelheit wäre ein Rückzug viel zu heikel und so richten sie sich zum Biwak ein, dem ungemütlichsten, das sie bisher erlebt haben: Nässe, Kälte, Wind, kein richtiger Sitzplatz. Als es zu dämmern beginnt, klettern sie weiter – nach oben. Nach 13 Seillängen mit viel schwieriger Freikletterei erreichen sie am frühen Nachmittag den Gipfel. Voller Stolz berichtet Heini: „Wandhöhe 1400 m, davon 1000 m III – IV,

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Rest V – VI, eine Seillänge A². Reinhold war narrisch in Form und machte Freiklet-terstellen, die kaum wiederholt werden dürften. Die A-Seillänge führt durch einen Wasserfall und die Führung traf mich. Zweieinhalb Stunden Arbeit mit schlechten Haken im Wasser. Nichts war mehr trocken. [...] Von 21 Zwischenhaken und 4 Keilen auf 1400 m stecken noch 5 Haken und 3 Keile. 14 Stunden Kletterzeit. Die Nächsten werden sich freuen.“ Später erfahren sie, dass es Armando Aste war, dem sie am Mon-te Agnér zuvorgekommen sind.

An der Südwand der Marmolada d`Ombretta jedoch ist Aste schneller als sie und so bleibt ihnen nur die Zweitbegehung. „Es handelt sich wahrscheinlich um die schwie-rigste und gefährlichste Felsfahrt der ganzen Alpen“, so hatte Aste seine „Via Ideale“ an der Marmolada d`Ombretta beschrieben und damit eine Zeitlang mögliche Wie-derholer abgeschreckt.

„Passt auf das Wasser auf!“, warnt der Hüttenwirt Heini und seine Freunde Reinhold Messner, Heindl Messner und Sepp Mayerl. Gleich zu Beginn erwartet sie schwie-rigste Freikletterei: Kamine, Platten, glattgeschliffene Risse. Die Stunden vergehen und im Eifer des Gefechts bemerken sie nicht, dass das Wetter sich verschlechtert hat. Erste Tropfen fallen. Über eine kurze Bohrhakenleiter erreichen sie am Beginn des letzten Wanddrittels eine geräumige Höhle, in der sie biwakieren. In der Nacht leuchten sie mit der Taschenlampe ab und zu ins Freie. Es gießt in Strömen und vor ihrer Höhle springt ein Wasserfall über die Wand. Am Morgen brauchen sie Stunden, ehe sie sich zum Aufbruch entscheiden können. Aus der Gipfelschlucht schießen Was-serfälle herab. Eisbrocken und Steine springen in weiten Sätzen über die Wand. Da sie bei einem Rückzug voll dem Steinhagel ausgesetzt wären, entschließen sie sich zum weiteren Aufstieg.

„Den einzigen Durchschlupf bot ein Riss, in dem sich alles Wasser sammelte. Hinein und hinauf! Ein schrecklicher Gedanke. Aber ein Rückzug war unvorstellbar. ‚Vor-sicht, Sepp!‘, rief ich schnell und schon stand ich unter der eisigen Dusche. Sie raubte mir den Atem. Mehr um Luft ringend als mit den Schwierigkeiten gewann ich einige Meter. Im Riss verklemmt, gelang es mir sogar, einen Haken zu schlagen. Das Wasser rann mir in den Hals hinein und über den ganzen Körper. Die Schuhe liefen über. Endlich konnte ich die Griffe wieder sehen, mein Kopf war über Wasser. Wenig später stand ich triefend nass und schlotternd vor Kälte am Standplatz und sicherte Sepp.“ (R. Messner)

Noch an diesem Tag müssen sie den Gipfel erreichen, wenn sie heil hier herauskom-men wollen. Die Nässe ist furchtbar und das Warten auf den Standplätzen fast uner-träglich. Eine Biwaknacht in diesem Zustand würden sie nicht überstehen.

„Rechts der Aste-Solina-Route fand Sepp einen einigermaßen trockenen Riss. [...] Der Riss ging in eine Eisrinne über. Sie war voller Dreck. Wir merkten es kaum. Über-

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Die letzte AbfahrtIm April 1977 bringt Heini seine hundertste Steilabfahrt hinter sich, die Nordrinne des Peitlerkofels in den Dolomiten. Freunden gegenüber kündigt er an, „nur noch ein paar Steilabfahrten“ machen zu wollen. Eine Qualitätssteigerung scheint nicht mehr möglich: Oft genug hat er 55° steile Wände befahren, manchmal auch kurze Teilstücke von über 60°. Doch noch stehen einige Steilabfahrten auf seinem Programm: die Nor-drinne am Monte Christallo, die direkte Nordwand des Monte Zebrù, vor allem aber die Nordostwand des Piz Rosegg in der Bernina-Gruppe.

Zunächst aber muss er ein schwerwiegendes Ausrüstungsproblem lösen. Der Skibin-dungshersteller Marker beendet die Zusammenarbeit mit Heini – aus wohl verständ-lichen Gründen. Schließlich muss sich eine „Sicherheits“-Bindung im Bedarfsfall öff-nen, um Verletzungen zu vermeiden. Die kleine Gruppe der Steilwandfahrer aber, bei denen sich die Bindung auf keinen Fall öffnen darf, ist für einen Bindungshersteller uninteressant. Zwar könnte Heini auch weiterhin mit der Marker-Bindung fahren, nur müsste er sie aus eigener Tasche bezahlen. Das aber verbietet ihm sein Stolz. Und so greift er auf das Modell eines anderen Bindungsherstellers zurück, das sich aber bei den Tests, die Heini durchführt, ab und zu öffnet – und das selbst bei härtester Einstellung. Dennoch aber beschließt er, bei diesem Modell zu bleiben, eine vielleicht verhängnisvolle Entscheidung.

Im Juni fährt er mehrmals in die Bernina, um die Nordostwand des Piz Rosegg zu versuchen. Aber die Verhältnisse sind so ungünstig, dass er jedesmal unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren muss. Anfang Juli aber scheint er mehr Glück zu ha-ben. Mit Sieglinde Walzl und seinem Freund Helmut Vitroler steigt er am 3. Juli zum Gipfel des Piz Rosegg auf. Nur Heini hat seine Skier dabei; seinen Gefährten hat er von der Abfahrt abgeraten, das Abseilmanöver in den Felsen unterhalb der Wandmitte erscheint ihm zu heikel.

Von Helmut Vitroler gesichert, probiert Heini ein paar Schwünge direkt unterhalb des Gipfels, um die Schneeverhältnisse zu testen. Dabei löst er größere Schneerutsche aus, die eine gerade im Aufstieg befindliche Seilschaft gefährden. Abwarten, bis die Seil-schaft am Gipfel angelangt ist, kann er aber nicht, denn die heiße Julisonne würde bis dahin den Schnee zu sehr aufweichen. Also bleibt ein weiteres Mal nur der Verzicht. Aber noch während er mit seinen Freunden über den Normalweg absteigt, hat er es sich anders überlegt. Er will es am kommenden Tag noch einmal versuchen. Sieglinde und Helmut aber fahren nach Hause, weil sie am kommenden Tag arbeiten müssen.

Am Montag, den 4. Juli, verlässt er zusammen mit zwei anderen Seilschaften gegen drei Uhr die Hütte und steht schon vier Stunden später auf dem Gipfel. Hier unterhält er sich kurz mit einem Bergführer, der über den Normalweg aufgestiegen ist. Es sollte sein letztes Gespräch sein.

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Inzwischen sind auch die beiden anderen Seilschaften aus der Wand ausgestiegen. Es herrschen gute Verhältnisse, der Schnee scheint ideal hart zu sein. Heini ruft den an-deren noch zu:„Wir sehen uns auf der Hütte wieder“, und fährt in den Hang ein. Nach wenigen Schwüngen bricht er plötzlich mit einem Skistock ein, gerät in Rückenlage und stürzt. Aber er hat ähnliche Stürze so oft im Training simuliert, dass er blitz-schnell wieder auf den Beinen steht und sofort weiterfährt. Noch mehrere sehr sicher gesetzte Schwünge können die anderen vom Gipfel aus verfolgen, dann entschwindet Heini in der nun steiler werdenden Wand ihren Blicken.

Der Wirt der Tschierva-Hütte aber verfolgt Heinis weitere Abfahrt mit dem Fern-glas. Heini hat jetzt das obere steile Drittel der Wand hinter sich, als er plötzlich ins Schwanken gerät und um das Gleichgewicht kämpft. Fünfzehn oder zwanzig Meter dauert der Kampf, dann stürzt er. Immer schneller werdend rutscht er auf den Fels-riegel zu, schlägt auf und stürzt ins Bodenlose.

Wenig später wird Heini Holzer tot am Wandfuß geborgen. Was letzten Endes zu sei-nem Sturz geführt hat, bleibt unklar. Hatte sich seine Bindung geöffnet? Wurde er von plötzlich wechselnden Schneeverhältnissen überrascht? Oder war er einen Sekunden-bruchteil unaufmerksam?

Die in über 100 Steilwandabfahrten gelebten Momente, „wo der Tod zum Leben, die Angst zur Freude wird“ (H. Holzer) finden in der Nordostwand des Piz Rosegg ein abruptes Ende.

Piz Rosegg-Nordostwand: Sturz nach wenigen Schwüngen

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„Die Kunst bei einer extremen Steilwandabfahrt ist es, unten lebend anzukommen. Viele Male geht alles gut, aber eines Tages hast du dein Glück auf- gebraucht und kommst nicht mehr zurück.“(M. Siffredi)

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Abfahrt vom EverestTingri, Tibet, 1.4.2001

„Mensch, so ein Mist! Da oben liegt ja fast kein Schnee! Jetzt kann ich die Abfahrt durchs Hornbein vergessen!“, ruft Marco aus, als er endlich freie Sicht auf die Nord-flanke des Mount Everest hat. Grenzenlose Enttäuschung macht sich auf seinem Ge-sicht breit. Mit dem Ziel, als erster das Hornbein-Couloir mit seinem Snowboard zu befahren, war er ja hierher gekommen, davon hatte er ja seit Jahren geträumt. Russell Brice, der Expeditionsleiter, gibt ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schul-ter: „Ich versteh` natürlich, dass du enttäuscht bist, aber schau dir mal das Norton-Couloir an, das müsste eigentlich gehen.“ Marco zwingt sich zu einem Lächeln: „Das Hornbein will ich mit dem Board abfahren, nicht das Norton. Na ja, aber ehe ich gleich wieder nach Hause fahr`... ich überleg`s mir noch mal.“ Jetzt muss er sich aber erst einmal abreagieren, seine Enttäuschung verarbeiten. Er nimmt sein Skateboard und fährt auf den Straßen von Tingri hin und her; die Einheimischen schauen ihm mit großen Augen zu.

Am Abend, nach dem gemeinsamen Abendessen, sagt er zu Russell: „Ich hab`s mir überlegt, ich mach` das Norton.“ Aber später, als er in seinem Bett liegt, kommen ihm doch wieder Zweifel. Er denkt an die langwierige Vorbereitung der Expedition, an all die Verhandlungen mit Sponsoren, an die Gespräche mit unzähligen Leuten, bis er endlich die 100 000 € zusammen hatte, die ihn die Expedition kostet. Und dann hatte sein Freund Bertrand Delapierre in letzter Minute abgesagt - mit Bertrand zusammen wollte er ja die Abfahrt machen und Bertrand sollte alles filmen.

Am nächsten Tag aber sieht die Welt schon wieder anders aus, Marco ist ein viel zu großer Optimist, als dass er jetzt dem Hornbein-Couloir noch lange nachtrauern würde.

Zwei Tage später fährt er mit den übrigen Expeditionsmitgliedern mit dem Jeep ins Basislager und am 9. April steigen sie ins vorgeschobene Basislager auf. Hier blei-ben sie fünf Tage, um sich besser zu akklimatisieren. Anschließend steigt Marco zum Nordsattel auf 7000 Meter Höhe auf. Während des Aufstiegs sieht er immer wieder ins Norton-Couloir hinüber und was er sieht, ist alles andere als erfreulich. Mit dem Satellitentelefon ruft er einen Freund in Chamonix an: „Sieht nicht gut aus, gar nicht gut, alles Eis, richtiger Beton!“

Die Sherpas haben inzwischen Lager I und II errichtet und am 29. April verbringt Marco seine erste Nacht in Lager I auf dem Nordsattel. Er ist in hervorragender Form und geht das Tempo der Sherpas problemlos mit. Am nächsten Tag steigt er ins Lager II auf 7500 Meter, fährt aber nach kurzer Rast gleich wieder mit dem Snowboard bis weit unter den Nordsattel ab. Den Rest des Weges zum vorgeschobenen Basislager legt er dann zu Fuß zurück.

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Die Akklimatisationsphase ist nunmehr so gut wie abgeschlossen. Jetzt muss nur noch eine für mehrere Tage stabile Wetterperiode abgewartet werden, um zum Gipfel aufsteigen zu können. Im Moment aber schneit es und darüber ist Marco alles andere als unglücklich, hofft er doch, dass sich damit die Verhältnisse im Couloir bessern werden, denn auf Blankeis abzufahren, das ist nun wirklich nicht sein Traum.

Die Wartezeit auf besseres Wetter zieht sich hin. Jeden Tag telefoniert Marco mit sei-ner Freundin Stéphanie, die in Chamonix geblieben ist. Am Ende der Expedition be-läuft sich seine Telefonrechnung auf mehr als 600 €.

Nach wochenlangem Warten ist es am 19. Mai endlich soweit! Marco steigt mit seinem Sherpa Lopsang Temba ins Lager I auf. Am 22. Mai, dem Tag seines zweiundzwanzigs-ten Geburtstags, treffen sie dann im Lager III auf 8300 Meter Höhe ein. Eine Geburts-tagstorte erwartet ihn hier allerdings nicht, dafür aber große Kälte und starker Wind.

Marco nimmt zwei Schlaftabletten und setzt die Sauerstoffmaske auf. Kurz vor dem Einschlafen ruft er sich noch einmal ins Gedächtnis zurück, was Russel Brice ihm während der Vorbereitung der Expedition in Chamonix gesagt hatte: „Ich rate dir, ab Lager III unbedingt künstlichen Sauerstoff zu verwenden. Du brauchst all deine Kräfte und höchste Konzentration für die Abfahrt!“

Gegen Mitternacht wacht er auf, knapp sechs Stunden hat er geschlafen. Um 2 Uhr morgens brechen Marco und Lopsang Temba auf. Es ist beißend kalt, minus 30 Grad. Marco ist in sehr guter Verfassung und kann Lopsang leicht folgen. Die erste Schwie-rigkeit, eine diagonal verlaufende Verschneidung, überwinden sie mit Jumar-Steig-klemmen. Dann folgen noch einige kurze Kamine und bald stehen sie auf dem endlos erscheinenden Gipfelgrat. Drei Aufschwünge sind hier zu überwinden. Am Fuße des ersten Aufschwungs liegt der Körper eines indischen Bergsteigers, der hier schon vor Jahren an Erschöpfung gestorben ist. „Nur jetzt konzentriert bleiben“, sagt sich Mar-co, „nicht nachdenken!“ Der ca. 20 Meter hohe zweite Aufschwung wird über eine Leiter erklettert, die eine chinesische Expedition 1975 hier angebracht hat.

Langsam steigt der neue Tag herauf. Ein gelbroter Schimmer legt sich über die Gip-felpyramide. Der Aufstieg verläuft fast ständig leicht unterhalb des Grates. An einigen besonders ausgesetzten Stellen haben die Sherpas Fixseile angebracht. Vom Wind freigeblasene felsige Passagen wechseln ab mit langen von tiefem Schnee bedeckten Gratabschnitten.

Kurz nach 6 Uhr stehen sie auf dem höchsten Punkt, nur etwas mehr als vier Stun-den haben sie gebraucht. Lange genießt Marco die prachtvolle Aussicht auf unzähli-ge Bergketten, Gletscher und Täler. Dann bereitet er sich sorgfältig auf die Abfahrt vor, legt Sauerstoffmaske und Sauerstoffgerät ab und überprüft sein Sprechfunkge-rät, das ihn mit Russell verbindet. Russell hat auf dem Nordsattel hinter einem stark

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vergrößernden Fernrohr Stellung bezogen und wird Marco per Sprechfunk durch die Felsabbrüche im oberen Drittel des Couloirs leiten. Zwar könnte sich Marco seine Ab-fahrtsroute auch allein suchen, er würde dann aber in diesem Felsenlabyrinth aller Wahrscheinlichkeit nach abseilen müssen, und er will ja nicht abseilen, sondern ab-fahren!

Die tief verschneite Mount Everest-Nordflanke; im Mai 2001 war sie weitgehend aper. Links (im Schatten) das Norton-Couloir, rechts das Hornbein-Couloir.

Noch ein „Good luck“ von Lopsang Temba, dann geht es los. Zunächst folgt er den Spuren in Gratnähe, vorbei an mehreren Bergsteigern, die sich noch im Aufstieg zum Gipfel befinden. Dann verlässt er die Aufstiegsspuren und zieht seine ersten vorsichti-gen Schwünge in Richtung Norton-Couloir. Gerade setzt er im 45-50° steilen Hang zu einem weiteren Schwung an, da spürt er plötzlich, dass sein rechter Schuh fast keinen Halt mehr in der Bindung hat. Sofort hält er mitten im Steilhang an, sieht nach: Eine Schnalle ist gebrochen! Gott sei Dank ist das noch hier oben in Gratnähe passiert. Weiter unten, in den Felsabbrüchen, hätte das den fast sicheren Absturz bedeutet.

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Mit seinen beiden Eispickeln zieht er sich mühsam, ständig nach Luft ringend, in Richtung Aufstiegsgrat. Lopsang Temba hat alles vom Grat aus beobachtet und quert nun seinerseits in den Steilhang. Es gelingt ihm, die Bindung mit einem Stück Draht zu reparieren. „Das müsste bis unten halten“, sagt Marco zu Lopsang Temba, „dann bis später!“

Marco quert wieder zurück und erreicht bald den oberen Rand eines gelben Felsban-des, wo er weiter nach links quert. Endlich öffnet sich die riesige weiße Schlucht des Norton-Couloirs unter ihm; der Blick auf den stark zerklüfteten Rongbuk-Gletscher, 2000 Meter tiefer, ist schwindelerregend. Der Hang ist anfangs 50° steil, die Schnee-beschaffenheit wechselt zwischen Pulverschnee auf Blankeisunterlage und beinhar-tem Firn. Aufs Äußerste konzentriert setzt er 3 oder 4 Schwünge, stützt sich dann auf seine Eispickel, um auszuruhen und den rasenden Atem zu beruhigen. Er hat zwar noch eine kleine Flasche Sauerstoff in seinem Rucksack, aber die ist nur für einen Notfall vorgesehen.

Also weiter! Wieder 3 oder 4 Schwünge. Wieder 30 Sekunden Rast. Der Rachenraum und die Bronchien schmerzen, brennen wie Feuer. Es dauert immer eine Weile, bis er sich zu einer neuen Schwungserie entschließen kann – auch das Denken geht in dieser Höhe langsamer. Dann wieder rasten. Den rasenden Puls beruhigen. Nur einatmen und ausatmen. Die Beine werden schwer, der ganze Körper leidet unter dem Sauer-stoffmangel. „Konzentriert bleiben, konzentriert bleiben!“, sagt er sich immer wieder. Eine weitere Schwungserie. Wie jedes Mal hält er dabei den Atem an. Nur so kann er die Schwünge präzis steuern.

Auf 8300 Meter Höhe kommt er an eine Felsbarriere, die er sich vom Nordsattel aus immer wieder angeschaut hatte. Wie soll er hier durchkommen, ohne abzuseilen? Ru-ssell meldet sich per Sprechfunk, er versucht, Marco so gut wie möglich einzuweisen.

Marco quert vorsichtig auf schmalen, mit Schnee bedeckten Felsbändern, rutscht ein kurzes Stück kontrolliert ab, dann ein weiteres Felsband, wieder eine Querung - knapp über dem Abgrund. Ständig setzt er seine Eispickel ein. Er stützt sich damit ab, zieht sich querend weiter. Gerade entlastet er einen der beiden Pickel, da gleitet er ihm aus der Hand, saust, immer mehr Fahrt aufnehmend, den Steilhang hinunter. „Sch ...!“ Aber Marco lässt sich nicht aus der Fassung bringen, es muss auch so gehen!

Noch langsamer, noch vorsichtiger quert er jetzt. Da, ein schmaler firnbedeckter Durchschlupf zwischen steilen Felswänden. Das ist die Lösung, aus diesem Labyrinth herauszukommen. Etwa 10 Meter rutscht er mit äußerster Vorsicht seitlich ab, immer darauf bedacht, nicht gegen die Felsen zu stoßen. Dann öffnet sich das Couloir wie-der, zwischen 50 und 100 Metern ist es hier breit. Auf den 1000 Höhenmetern, die jetzt noch vor ihm liegen, kann er keine größeren Hindernisse mehr ausmachen. Die Hangneigung nimmt langsam ab, aber noch immer ist der Firn sehr hart. „Aufpassen,

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aufpassen!“, sagt er sich immer wieder. Er braucht nur gegen einen im Schnee verbor-genen Felsbrocken zu stoßen und es wäre das Ende. Jetzt, auf ungefähr 7500 Meter Höhe, schafft er immer 5 oder 6 Schwünge, ehe er anhalten muss, um die jagenden Lungen zu beruhigen.

Nach einem letzten Hindernis, mehreren Séracs, die er vorsichtig umfährt, kann er endlich aufatmen – die großen Schwierigkeiten liegen hinter ihm. Etwas mehr als zwei Stunden hat er für die 1800 Höhenmeter gebraucht. Jetzt beginnt eine lange Querung über unzählige Rinnen und Rippen Richtung Nordsattel. Russell kommt ihm entge-gen; er weiß, wie erschöpft Marco sein muss. Sie fallen sich in die Arme. „Ich bin fix und fertig“, keucht Marco. Eine Stunde ruht er sich auf dem Nordsattel aus, findet dann aber doch die Kraft, zum vorgeschobenen Basislager abzufahren.

Trotz seiner Erschöpfung ist er viel zu aufgeregt, um einschlafen zu können. Er ruft mit dem Satellitentelefon seine Eltern an, seine Freundin, seine Schwestern und mehrere Freunde; sein Redefluss ist kaum zu stoppen. Dann fällt er endlich in einen zwölfstündigen Tiefschlaf.

Am nächsten Tag wird der Erfolg des gesamten Teams gefeiert, auch die meisten an-deren Teilnehmer waren auf dem Gipfel. Aber groß fällt die Feier nicht aus, alle haben es jetzt eilig, nach Hause zu kommen, auch Marco. Am 4. Juni 2001 ist er wieder in Chamonix zurück, da, wo vor zweiundzwanzig Jahren alles begonnen hatte.

Seine ersten LebensjahreMarco kommt am 22. Mai 1979 in Chamonix zur Welt. Seine Eltern, Philippe und Michèle, haben noch drei weitere Kinder, Pierre, Anne und Valéry. Alle drei sind mehr als 10 Jahre älter als Marco, dem als Nesthäkchen die Zuneigung der ganzen Familie gehört. Tagsüber, wenn die Eltern in ihrem Friseursalon beschäftigt sind, kümmern sich die beiden Schwestern um ihn, spielen mit ihm und nehmen ihn oft auf lange Spaziergänge mit.

Marco ist knapp zwei Jahre alt, als die Familie am 8. März 1981 vom ersten großen Schicksalsschlag getroffen wird. Gegen 14 Uhr erhält Philippe Siffredi einen Anruf der Gendarmerie: „Bonjour, Philippe, wir haben keine gute Nachricht für dich, Pierre ist von einer Lawine verschüttet worden.“ „Ist er ... tot?“, fragt Philippe mit tonloser Stimme. „Wir wissen es noch nicht, wir haben ihn noch nicht gefunden, aber wir rech-nen mit dem Schlimmsten.“

Erst einen Tag später findet man Pierre im meterhohen Lawinenkegel. Für seine El-tern bricht eine Welt zusammen. Tagelang, wochenlang machen sie sich Vorwürfe: „Wir hätten ihn zurückhalten müssen, wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen!“ Aber

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Hans Dülfer, Paul Preuß, Willo Welzenbach, Louis Lachenal, Diether Marchart, Toni Kinshofer, Günther Messner, Heini Holzer, Xaver Bongard, Alison Hargreaves und Marco Siffredi

Schicksale von elf Extrembergsteigern ISBN: 978-3-902656-09-4 www.alpinverlag.at

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Wen die Götter lieben– Schicksale von elf ExtrembergsteigernElf Bergsteiger, die Marksteine in der Alpingeschichte setzten: Hans Dülfer und Paul Preuß, trotz ihres frühen Todes die größ-ten Pioniere des Felskletterns; Willo Welzenbach, Intellektuel-ler und Wegbereiter des modernen Eiskletterns; Louis Lachenal, der „Sprinter“ am Berg und eine alle Normen sprengende Persön-lichkeit; Diether Marchart, dem mit 19 Jahren die erste Solo-durchsteigung der Matterhorn-Nordwand gelang; Toni Kinshofer, der trotz seiner Amputationen mit seinem überragenden Können im Fels wie im Eis verblüffte; Günther Messner, der versuch-te, aus dem Schatten des großen Bruders, Reinhold, zu treten; Heini Holzer, klein an Gestalt, in den Bergen aber ein ganz Gro-ßer; Xaver Bongard mit seinen technischen Solos und den ersten Basejumps; Alison Hargreaves, die sich verzweifelt bemühte, ihre Aufgaben als Mutter von zwei kleinen Kindern mit ihrem Drang nach Extremtouren zu vereinbaren und schließlich der „Paradiesvo-gel“ Marco Siffredi, der mit dem Snowboard Achttausender und 60° steile Eiswände im Montblanc-Gebiet befuhr: Sie alle hatten den Alpinismus geprägt, ehe sie – viel zu früh – den Tod fanden. In Wort und Bild, darunter viele Originalfotos, wird ihr Lebensweg nachgezeichnet; im Mittelpunkt stehen dabei die Schilderung ihrer größten Touren und die Umstände ihres Todes.

Der Autor

Ulrich Remanofsky, Jahrgang 1943, dreißig Jahre lang als leitender Mitar-beiter im Goethe-Institut Lyon tätig, als junger Mann Allroundbergsteiger mit einer Vorliebe für Eiswände in den West- und Ostalpen, heute leidenschaftli-cher Klettersteiggeher, Bergwanderer und Skitourengeher:

„Ich habe zwei Bergunfälle nur mit sehr viel Glück überlebt. Seitdem stelle ich mir immer wieder die Frage, was letzten Endes unser aller Schicksal bestimmt. Wieso kam beispielsweise der eher für seine Vorsicht bekannte Willo Welzen-bach in den Bergen um und wie war es möglich, dass Eugen Guido Lammer, der den Tod unzählige Male herausgefordert hatte, als 81-Jähriger friedlich in seinem Bett starb? Dieser Frage wollte ich auch in diesem Buch nachgehen, wohl wissend, dass eine endgültige Antwort darauf nie möglich sein wird.“ Alpinverlag

J e n t z s c h - R a b l