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Weniger wird mehr Der Postwachstumsatlas

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Weniger wird mehr

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ATLAS DERGLOBALISIERUNG

der

Weniger wird mehr

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Impressum

Infografik: Adolf BuitenhuisRedaktion: Barbara Bauer, Dorothee d’Aprile, Sabine Jainski, Niels Kadritzke, Steffen Liebig, Petra Thorbrietz Übersetzung: Niels Kadritzke, Steffen LiebigKorrektur: Stefan MahlkeMitarbeit: Mathias Halbauer, Simone Hieber, Peter Rabe, Johanna Sittel

Umschlag, Gestaltung und Herstellung: Adolf Buitenhuis

Druck: möller druck, Ahrensfelde

Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique geht auf eine Initiative der taz-Genossenschaft im Jahr 1994 zurück. Mehr über die Genossenschaft erfahren Sie unter: www.taz.de/genossenschaft

©2014 Le Monde diplomatique/taz Verlags- und Vertriebs GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Diensten und Internet und Vervielfältigung auf Datenträgern wie CD-ROM, DVD usw. dürfen nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlages erfolgen.

Printed in Germany

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ie anhaltende globale Wirtschafts- und Finanzkriseböte Grund genug, die allgemeine Wachstums -euphorie in Skepsis umschlagen zu lassen. Doch

auch und gerade in Krisenzeiten gilt die Steigerung des Wirt -schafts wachstums offenbar als Patentrezept für die unter -schiedlichsten gesellschaftlichen Probleme. Von Arbeits -losigkeit und Armut über die Verschuldung von Staaten und Privathaushalten bis hin zum Wandel der Geschlechter-verhältnisse und der Entwicklung neuer Technologien: OhneWachstum lassen sich angeblich auf keinem dieser FelderFortschritte erzielen. In der Wachstumsfrage herrscht eineerstaunlich große, parteien- und länderübergreifende Einig -keit. In Deutschland haben das die Slogans zur Europa wahl imMai 2014 in aller Deutlichkeit gezeigt. Während die CDU mit»Wachstum braucht Weitblick. Und einen stabilen Euro« warb,plädierte die SPD für »Ein Europa des Wachstums. Nicht desStillstands«. Ohne Wachstum herrscht Stillstand – eineHorrorvision, die nicht nur die Sozialdemokratie umtreibt.

Doch ist die ungebrochene Fixierung breiter Mehrheitenauf Wachstum durchaus verständlich. Immerhin scheinenwesentliche Einrichtungen unserer Gesellschaft, etwa derWohlfahrtsstaat mit seinen sozialen Sicherungssystemen, nurunter der Voraussetzung einer wachsenden Wirtschaft zufunktionieren. Staatliche (Sozial-)Politik hängt am Tropf desWachstums, für das auch ein Großteil der Bevölkerung seitlangem ein wohlverstandenes Eigeninteresse entwickelt hat.Schließlich wissen wir alle, dass sich die Institutionen undLebensweisen in modernen Wettbewerbsgesellschaften nurdynamisch, durch permanente Bewegung, stabilisierenlassen: Wer stehen bleibt, fällt zurück. Und damit alles sobleibt, wie es ist, oder zumindest nicht deutlich schlechterwird, ist eben Wachstum erforderlich.

Spätestens die desaströsen Folgen der Krise in Griechen -land, dessen Wirtschaftsleistung seit 2009 um mehr als einViertel geschrumpft ist, haben der Welt vorgeführt, was esheißt, wenn die negative Utopie einer Wachstumsgesellschaft,die nicht mehr wächst, Wirklichkeit wird. Wo alles aufWachstum ausgelegt ist, sprich: im Kapitalismus mit seinenVerwertungs- und Profitabilitätszwängen, führt ein rück -läufiges oder ganz ausbleibendes Wachstum unausweichlichzu ökonomischen Krisen und sozialen Konflikten.

Einerseits. Doch andererseits wird zunehmend offen -sichtlich: Ein bloßes »Weiter so« auf dem Weg des Wachstumskann es nicht mehr lange geben. Die gesellschaftliche undpolitische Fixierung auf immer neue Zuwachsraten blockiertmitunter die Erkenntnis, dass 2 Prozent BIP-Wachstum imJahr 2014 eben nicht gleichbedeutend sind mit 2 ProzentWachstum vor einigen Jahrzehnten, als das globale BIP-Volumen noch einen Bruchteil des heutigen ausmachte. In

absoluten Größen betrachtet, bestehen gewaltige Unter -schiede zwischen den gleichen prozentualen Steigerungsratenvon heute und früher. Nur wenn wir uns diese Entwicklungvergegenwärtigen, können wir ermessen, welch ungeheureMengen an Energie es kostet, wie viele Ressourcen verbrauchtund wie viel Arbeit verrichtet werden muss, um den globalenWachstumsmotor immer weiter in Gang zu halten.

Nicht nur die schwindenden Reserven fossiler Rohstoffeund die Umweltschädlichkeit des herkömmlichen Wirt -schaftens, sondern auch die im Mittel seit Jahrzehntenrückläufigen Wachstumsraten der entwickelten Ökonomienselbst lassen das Ende des Wachstums näher rücken. Hinzukommt, dass es die globalen Ungleichheiten nur nochverschärft hat, aber davon hat sich das Wachstumsregimenoch nie irritieren lassen.

Dieser Problematik begegnet die Postwachstums -bewegung mit dem Grundgedanken: Auf einem begrenztenPlaneten kann es kein unbegrenztes Wachstum geben. Die Frage laute also nicht, ob wir uns vom Wachstum verab -schieden wollen, sondern, wie dieser Abschied vonstatten -gehen soll: geplant oder erzwungen, »by design« oder »bydesaster«. Was heute dringlicher denn je ansteht, ist folglichein grundlegender Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne einer Entkopplung der gesellschaftlichen Wohlfahrtund des sozialen Fortschritts von den Zwängen der Kapital -akkumulation, damit ein selbstbestimmter und demokra -tischer Verzicht auf Wachstum stattfinden kann.

Doch das Gute Leben jenseits des Wachstums und dieGesellschaftsform, die ein solches Leben ermöglicht, müssenerst noch gefunden werden. Die Voraussetzungen für einederart umfassende gesellschaftliche Transformation mögenzurzeit nicht besonders günstig erscheinen. Und doch zeigenviele größere und kleinere, lokale und länderübergreifendeInitiativen, dass sich etwas bewegt. Und diesen Elan wirdnicht zuletzt die »Vierte Internationale Degrowth-Konferenzfür ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit«beflügeln.

Mit dem vorliegenden Auszug aus dem nächsten, imFrühsommer 2015 erscheinenden »Atlas der Globalisierung.Weniger wird mehr« möchten Le Monde diplomatique und das Jenaer Kolleg Postwachstumsgesellschaften einen Beitragzu dieser gesellschaftlichen Bewegung leisten. Präsentiertwerden Schlüsselthemen der aktuellen wachstumskritischenDebatte, von der Analyse des Bestehenden über dieDarstellung wichtiger Einzelaspekte bis hin zum Ausblick auf das Mögliche. Die ausgewählten Artikel geben einenEinblick in die Bandbreite der Diskussion – und liefern einenVorgeschmack auf die deutlich umfangreichere Endfassungdes neuen »Atlas der Globalisierung«.

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Postwachstum

Vorwort

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1950 196010

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35

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1970 1980 1990 2000 2010

* Einkommensverteilung: 0 = volkommen gleich, 100 = maximal ungleich. Angaben für Deutschland: bis 1990 alte Bundesländer.

Gini-Koeffizient*

19500

5 000

10 000

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1960 1970 1980 1990 2000 2010

Bruttoinlandsprodukt (BIP)Pro Kopf, in internationalen Dollar, 1990

SPANIEN

DEUTSCHLAND

SCHWEDEN

ie europäische Nachkriegsgeschichte ist eineGeschichte des Wachstums: Jahrzehnte der mehr oderweniger kontinuierlich zunehmenden wirtschaft -

lichen Wertschöpfung bedeuteten für die Menschen in Europazugleich auch die Erfahrung eines nie dagewesenen, von Jahrzu Jahr steigenden Wohlstands. Dieser Wohlstand des langenNachkriegsbooms war nicht zuletzt deshalb gesellschafts - historisch einmalig, weil breite Mehrheiten in den Genusseiner ungeahnten Verbesserung ihrer Lebensverhältnissekamen. Die Ära der europäischen Wachstumsgesellschaftbedeutete für viele der vielen Millionen Menschen, deren All -tag durch die Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten der Lohn -arbeiterexistenz geprägt war, einen Quantensprung in ihrerLebensqualität und den kollektivbiografischen »Abschied vonder Proletarität«: Längerfristige Einkommens sicherheit,akzeptable Wohnverhältnisse, erweiterte Bildungschancenund umfassende Gesundheitsversorgung ließen aus ArbeiternBürger werden und ermöglichten auch den proletarischenMilieus eine zwar immer noch ungleiche Teilhabe amwachsenden Sozialprodukt, die aber mehr als nur basaleBedürfnisse zufriedenstellte.

Dass es so kam und dem so war, ist maßgeblich derExistenz nationaler Wohlfahrtsstaaten in Europa geschuldet.Denn eine florierende Marktwirtschaft allein gewährleistetnoch keinen breiten gesellschaftlichen Genuss der Früchte

des Wachstums. Die Umverteilung der Wachstumsgewinneauf viele oder jedenfalls deutlich mehr Köpfe – namentlich aufdie von Leuten, deren Arbeit die wirtschaftliche Wachstums-maschine überhaupt erst befeuert und in Gang hält – bedarfder Intervention eines marktexternen Akteurs: des Staats.

Die europäischen Nationalstaaten haben sich im 20. Jahr hundert – und in anderer politischer Verfasst heit auch im staatssozialistischen Osten – zu Wohlfahrtsstaatenentwickelt, zu Staaten also, die sich das Wohl ergehentendenziell der Gesamtbevölkerung zur öffent lichen Aufgabemachen. Durch Arbeitsschutz und Tarifrecht, Sozial -versicherungen und soziale Infrastrukturen, Ausbildungs -förderung und Familienpolitik und vieles andere mehr hat derWohlfahrtsstaat dazu beigetragen, dass die Lebenschancen inder Wachstumsgesellschaft gleichmäßiger verteilt wurden.Nicht dass wohlfahrtsstaatliche Eingriffe und Einrichtungennur den Schlechtestgestellten oder gar allen Leutengleichermaßen zugutegekommen wären: Gerade amdeutschen Beispiel lässt sich ablesen, wie auch die Arbeit -geber seite vom Sozialstaat profitiert (in Form etwa desöffentlichen Bildungswesens), wie viele seiner Programmegerade den Mittelschichten nützen (zum Beispiel bei derEigenheimförderung), wie geschlechterungerecht seineLeistungen verteilt sind (man denke nur an die Altersrenten)und wie konsequent er sich gegen etwaige Ansprüche nicht -

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Ein Rückblick auf den Wachstumsstaat Nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Europa die Ära des Wohlstands

Drei Länder, fünf Wohlfahrtsindikatoren

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in das Sozialsystem in meinem Land.«kein Vertrauen …kaum Vertrauen …

viel Vertrauen …sehr viel Vertrauen …

»Ich habe …

SPANIEN

DEUTSCHLAND

SCHWEDEN

200819991990in Prozent der BevölkerungVertrauen in das Sozialsystem

40,1

41,0

8,48,7

1,4

37,8

41,7

7,511,0

1,6

41,5

40,9

4,210,92,8

1991

2000

2012*

Leistungsfelderin Prozent der Sozialaufwendungen

DEUTSCHLAND Krankheit und Invalidität

Renten und Waisenrenten

Arbeitslosigkeit

Kinder und Ehe

Wohnen und Lebenshilfe*Schätzung

201020001990198019701960

82,279,477,075,472,069,8

201020001990198019701960

80,578,275,372,970,669,1

201020001990198019701960

81,679,777,775,974,873,1

Lebenserwartungbei der Geburt

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 20109,0 9,3 9,6 10,1 10,5 11,0 11,7 12,1 12,7 13,1 13,4

9,6 10,0 10,5 10,9 11,4 11,8 12,0 12,0 12,1 12,1 12,2

4,7 4,8 5,0 5,3 5,7 6,2 6,7 7,4 8,1 9,0 9,4

der volljährigen BevölkerungUnterrichtsjahre

Angaben für Deutschland: bis einschließlich 1985 alte Bundesländer.

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1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

Sozialleistungenin Prozent des BIPs

deutscher Staatsbürgerinnen (mit abgesenkten Mindestleis-tungen für Asylbewerber) abzuschließen weiß. Und dennoch – in Meinungsumfragen erweist sich der Wohlfahrtsstaatimmer wieder als eine äußerst beliebte Einrichtung.

Aus gutem Grund, denn der europäische Wohlfahrtsstaatist im Grunde seines Herzens ein »Wachstumsstaat« – undebendies ist auch die lebensweltliche Erfahrung mehrererGenerationen europäischer Wohlfahrtsstaatsbürgerinnengewesen. Der Wohlfahrtsstaat übersetzt wirtschaftlichesWachstum in gesellschaftliches Wohlergehen – und ist damitzum Bezugspunkt unterschiedlichster Interessen geworden,denen an seiner Aufrechterhaltung gelegen ist, von weit -sichtigen Unternehmern über den durchschnittlichenMittelschichtshaushalt bis hin zu den Beziehern vonSozialhilfeleistungen. Wer daher die mehr oder wenigersegens reichen Effekte des Wohlfahrtsstaats erhalten möchte,der muss – zumindest auf den ersten Blick – zugleich auch an der Fortführung des ihn speisenden (und zugleich von ihm mit ermöglichten) Wachstumsregimes interessiert sein.Wo Wohlfahrt auf Wachstum beruht, da bilden sich wieselbstverständlich breite gesellschaftliche Koalitionen zumErhalt dieses Funktionszusammenhangs.

Eine Gesellschaft, die sich von Wachstumszwängenemanzipieren wollte, müsste daher auch ihre politischenStrukturen grundsätzlich infrage stellen. Dies freilich nicht

im Sinne der hinlänglich bekannten neoliberalen Staats kritik,die radikale soziale Entsicherung gern als individuellenAutonomiegewinn verkauft – und damit gerade diejenigenGruppen zu treffen sucht, die wohlfahrtsstaatlicheUnterstützung am nötigsten haben. Nein, von wohlfahrts-staatlichen Privilegierungen Abschied nehmen müssten die marktökonomisch Bessergestellten – die vermögens -besitzenden, steuerabschreibenden, Höchstrentenbeziehenden Milieus. Eine Postwachstumsgesellschaft wäreeine Gesellschaft der radikalen materiellen Umverteilung, und zwar nicht nur intern, sondern mehr noch nach außen,im globalen Maßstab: nämlich zugunsten all derjenigenMenschen auf der Welt, die jahrzehntelang das wirtschaftlicheWachstum und den Wachstumswohlfahrtsstaat dereuropäischen Wohlstandsgesellschaften überhaupt erstmöglich gemacht haben.

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Postwachstum

Bücher &c.• Andreas Fischer-Lescano, Kolja Möller, Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre

das Gröbste, Berlin (Wagenbach; Lizenzausgabe Bundeszentrale für politische Bildung) 2012.• Stephan Lessenich, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg (Junius) 2012.• Werner Rätz, Horst Lüdtke, Sozialstaat oder: Globale Soziale Rechte?, Hamburg (VSA) 2009.

Stephan Lessenich

Der gefühlte Sozialstaat Sozialleistungen in Deutschland

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2010

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0,001 20%DEUTSCHLAND

zerkleinertes Gestein aus Steinbrüchen

EU, 2011, in ProzentGewinnung und Verwendung von Sand, Kies und Natursteinin mm (logarithmische Skala)

Sand und Kies aus Kiesgruben

recyceltes Bau-, Abbruch- und Aushubmaterial

aus dem Meer oder aus Seen gebaggerte Zuschlagstoffe

gemahlene Hochofenschlacken, Flugasche

Wohngebäude

Gewerbegebäude

öffentliche Gebäude

Infrastruktur (Brücken, Häfen usw.), Stabilisierung von Offshoreanlagen

Straßen, Landebahnen, Eisenbahnen, Wasserwege

Fertigbeton

Fertigbetonteile

SichtbetonSchüttgut (Sand und Kies)

Schienenschotter

Schutt und Blockschutt

Asphaltprodukte

GEW

INNU

NG

HAUP

TBOD

ENAR

TEN

KIES

SAND UND KIES

SCHLUFF

3 000 Mio. Tonnen

VERA

RBEI

TUNG

ENDP

RODU

KT

Äquivalentdurchmesser

Gesamtproduktion von Sand, Kies und Naturstein in der EU (2011):

Die vier Hauptbodenarten Ton, Schluff, Sand und Kies werden nach Korngröße eingeteilt. Die chemische Zusammensetzung spielt keine Rolle. Sand hat eine Korngröße zwischen 0,063 mm und 2 mm, Kies zwischen 2 mm und 63 mm.Als sogenannte Zuschlagstoffe sind Sand und Kies wichtige Rohstoffe für die Herstellung von Beton.

Maßstab Sandkörner 10:1

as ist der meistgebrauchte Rohstoff der Erde? DieAntwort mag überraschen und ist doch nahe -liegend: Sand und Kies. Diese Zuschlagstoffe, wie

sie in der Baubranche genannt werden, haben in punctoRessourcenverbrauch inzwischen sogar das Wasser überholt.Die Menschen denken über Sand nicht viel nach, es sei denn,sie planen gerade ihre nächsten Ferien am Meer. Und doch istdieser Rohstoff so dominant und allgegenwärtig wie keinanderer. Sand wird nicht nur zur Herstellung von Glaswaren,Fensterscheiben und natürlich Beton verwendet, er stecktauch in Zahnpasta und Kreditkarten, in Mobiltelefonen,Computern und anderen Geräten, die unsere hypervernetztenGesellschaften am Laufen halten.

Sand wird auf unterschiedliche Weise gewonnen, je nachVerwendungszweck und abhängig von den Bedingungen amFundort. Erstaunlich ähnlich sind allerdings die Probleme,die der Sandabbau in den entwickelten und den unterent -wickelten Ländern gleichermaßen verursacht. Abgesehen von den wenigen Einheimischen, die vom Sandabbauunmittelbar profitieren, leistet die örtliche Bevölkerung anvielen Stätten der Sandgewinnung Widerstand. In Ländernohne funktionierende Presse- und Meinungsfreiheit wird dielokale Opposition jedoch häufig unterdrückt, und dieRegierungen lassen sich von mächtigen Eliten – Lokalpoliti-kern oder internationalen Großkonzernen – einschüchternund herumkommandieren.

Wie stark die Globalisierung das Leben der Menschen ver -ändert hat, sehen wir nicht nur an der Kleidung, beim Essenund bei der Sprache. Die globale Vereinheitlichung zeigt sichauch in den rasant wachsenden Städten, in denen sich dieWolkenkratzer und Glasfassaden immer mehr ausbreiten,sowie im Ausbau der Infrastruktur, die die Bevölkerungerwartet. So entstehen überall – ohne große Rücksicht auf die geografischen und geologischen Bedingungen – Straßen,Flughäfen, Brücken, Häfen, Park plätze und Golfplätze.

Seit jeher gilt Sand – schon die Römer haben ausgebranntem Kalk, Wasser, Bruchstein und Sand Betonhergestellt, um damit Fundamente, Wasserleitungen undHafenmauern zu bauen – als Symbol für unendliche Mengen(»wie Sand am Meer«). Doch nicht alle Sande sind wirtschaft -lich nutzbar. Die Körnchen des Wüstensands sind zu rund undzu glatt zum Bauen, und der von Meerwasser überspülte Sandmuss erst aufwendig aufbereitet und vollständig entsalztwerden. Da aber der Sand aus Flussbetten und Kiesgrubenallmählich zur Neige geht, deckt die boomende Bauwirtschaftihren Bedarf auch zunehmend mit Meeressand.

Inzwischen ist also ausgerechnet der Sand vielerorts zueinem knappen Gut geworden. Und seine Gewinnung isthäufig umstritten, weil sie soziale und ökologische Problemeverursacht. Ein Beispiel: An den Küsten Marokkos wird vielDünensand gewonnen, der in erster Linie für staatliche Bau-und Entwicklungsprojekte gebraucht wird. Diese ungezügelte

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Sand, ein knappes GutDie Nachfrage aus der Bau-, Mineral- und Frackingindustrie erschöpft die globalen Vorkommen und führt zu irreparablen Umweltschäden

Ohne Sand keine Straßen, Häuser und Büros

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SINGAPUR

INDONESIEN

MALAYSIASingapur ist ein Inselstaat mit einer schnell wachsenden Bevölkerung. Der Raum ist knapp. Seit den 1960er Jahren wird darum durch Aufschüttung im angrenzenden Meer Land hinzugewonnen. Seit 1973 wurde die Landfläche mit 130 Quadratkilometern um mehr als 20 Prozent vergrößert.

Singapur ist mit Abstand der weltweit größte Importeur von Sand: über 517 Millionen Tonnen seit 1989. Der wichtigste Lieferant ist das benachbarte Indonesien. Die Grafik zeigt den großen Unterschied zwischen den offiziellen Handelsstatistiken der beiden Länder: ein deutlicher Hinweis auf illegalen Sandhandel.

Landfläche

1973

1989

2009

2013

5 km

Sandin Mio. Tonnen

Import aus IndonesienExport nach Singapur

0

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1 500

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3 000in Mio. TonnenGewinnung

zerkleinertes GesteinSand und Kies

USA

1903 In Cincinatti, Ohio, wird das Ingalls Building gebaut, der erste Wolkenkratzer aus Stahlbeton.

Sandgewinnung ist jedoch eine ernste Gefahr für diemarokkanische Mittelmeerküste, weil sie den Meeresspiegelansteigen lässt. Manchen Prognosen zufolge wird schon im Jahr 2050 rund die Hälfte aller Sandstrände im Nordostendes Landes überspült sein.

In der Umgebung der zehn Kilometer vom Meer entferntliegenden Stadt Tetuan werden bis dahin – angesichts desökonomischen Entwicklungstempos und des vollständigenVerzichts auf den Schutz von Dünen- und Strandflächen –bereits mehr als 95 Prozent der Küstendünen zerstört sein. In der gesamten marokkanischen Küstenregion wird derDünensand unkontrolliert für den Bau privater Strandvillengenutzt, aber auch kommerziell abgebaut und verkauft. Diedurch den Tourismus angetriebene ökonomischeEntwicklung beschleunigt diesen Prozess: An den Küstenverzehnfacht sich die Bevölkerung im Sommer allein durchden Zustrom von Urlaubern. An vielen Stellen ist dieDünenlandschaft, die als Speicher und Nachfüllreservoir fürdie Sandstrände unentbehrlich ist und diese zugleich wie einPuffer vor Stürmen schützt, bereits unwiederbringlichzerstört.

Trotz massiver Proteste geht nicht nur in Marokko dierücksichtslose Sandgewinnung ungebremst weiter. In anderenRegionen der Welt hat der vom Bauboom angeheizteSandabbau dazu geführt, dass Flussufer erodieren undGrundwasserspiegel sinken, womit die Wasserversorgungbedroht ist. Hinzu kommt, dass die Biodiversität leidet, dassErnten ausfallen und die Fischfangquoten zurückgehen. Undwenn in vormals ruhigen Gegenden der Schwerverkehrzunimmt, weil Lkws massenhaft Sand über kleine Straßentransportieren, gehen Brücken, Abzugskanäle, Dorfstraßenund ältere Gebäude kaputt.

In vielen Ländern ist aufgrund der großen Nachfrage eine»Sandmafia« entstanden. Und die illegale Sandgewinnung hatauch schon Spannungen zwischen Nachbarländern ausgelöst.So arrondiert zum Beispiel Singapur seine Küstenzonemithilfe von Sandmengen, die illegal in benachbarten Staatenabgebaut wurden.

Sand dient auch als Ausgangsstoff für die Gewinnungstrategischer Mineralien, die für unser modernes Lebenunentbehrlich sind. Derivate solcher Mineralstoffe werden zurHerstellung etlicher Produkte sowie in bestimmtentechnischen Fertigungsprozessen gebraucht. Zum Beispielgehören Mineralsande für viele Länder zu den strategischenNaturreserven. In manchen Fällen wird der Sand nach derExtraktion der begehrten Mineralstoffe wieder an denAbbauort zurückgebracht – anders als der Bausand, dervollständig aufgebraucht wird. Aber auch bei Mineralsandenhat schon der Abbau langfristige Folgewirkungen. Sie treffennicht nur die lokale Fauna und Flora, sondern führen auch zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels.

Zu den bekanntesten Abbaustätten gehört StradbrokeIsland im Nordosten Australiens. Die zweitgrößte Sandinselder Welt (die größte ist die nahe gelegene Fraser Island, die

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Postwachstum

Das 20. Jahrhundert: Bauen mit Stahlbeton

Landgewinnung in Singapur

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Ostsee

Nordsee

KoldingOdense

Nyborg

Roskilde MalmöTrelleborg

Rønne

Greifswald

Ribnitz-DamgartenStralsund

Rostock

WismarLübeck

Hamburg

Eckernförde

Kiel

Flensburg

Cuxhaven

BremerhavenWilhelmshavenNorden

Kopenhagen

FYN

ALS

ÆRØ

TASINGELANGELAND

LOLLAND FALSTER

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SJÆLLAND

BORNHOLM

USEDOM WOLLIN

RÜGENFEHMARN

DEUTSCHLAND POLEN

DÄNEMARK

NIEDERLANDE

SCHWEDENDoggerbank

Borkum-Riffgrund

Östliche Deutsche Bucht

Fehmarnbelt

Kadetrinne

Westliche Rönnebank

Adlergrund

Pommersche Bucht

Oderbank

Sylter Außenriff

ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ, 200 Seemeilen)

Küstenmeer (12 Seemeilen)

für Sand- und Kiesgewinnung genehmigt

FFH-Gebiete*

*europäische Schutzgebiete nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie

Adlergrund: Sandbänke, RiffeFehmarnbelt: Schweinswale, Sandbänke, RiffeKadetrinne: RiffeOderbank: Schweinswale, Sandbänke

Borkum-Riffgrund: Sandbänke, RiffeÖstliche Deutsche Bucht: Seetaucherarten, Rastvögel

Doggerbank: Sandbänke

Sylter Außenriff: Schweinswale, Sandbänke, RiffePommersche Bucht: Seetaucherarten, Rastvögel

1995

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1998

1999

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2001

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in Mio. TonnenNachfrage nach Sand und Kies

DEUTSCHLAND

zum Naturwelterbe gehört) liegt nur 40 Kilometer vonBrisbane entfernt und ist ein beliebtes Touristenziel.Stradbroke Island ist großenteils Naturschutzgebiet undbesteht zur Hälfte aus Feuchtgebieten, die eigentlich durchdie Ramsar-Konvention geschützt sind. Hier liegen aber auchdie beiden größten Sandabbaugebiete der Welt, ausgebeutetvon Sibelco, einem belgischen Multi für mineralischeRohstoffe, der im Jahr 2000 seine Tätigkeit in Australien undNeuseeland aufgenommen hat.

Aus dem Sand von Stradbroke Island werden vor allem dieMineralien Rutil, Zirkon und Ilmenit (Titaneisen), aber auchSilika (Siliziumdioxid) gewonnen. Die Minen reichen bis ineinhundert Meter Tiefe und damit weit unter denGrundwasserspiegel, graben also den angrenzenden

Feuchtgebieten buchstäblich das Wasser ab. Die Insel -bewohner beklagen, dass die Regierung von Queensland dieUmweltschutzbestimmungen nie durchgesetzt hat. DieProteste der indigenen Bevölkerung haben in der Gegend einelange Tradition, doch der Druck der Industrie ist stärker.

Des Weiteren ist Sand für das Fracking unerlässlich. Beidieser umstrittenen Methode der Erdgasförderung wird einChemikaliencocktail unter hohem Druck in tiefer liegendeGesteinsschichten gepresst, zusammen mit gigantischenMengen von Sand und Wasserdampf. Dabei hat der Sand dieFunktion, die entstehenden Risse und Fugen auszufüllen,damit die Gesteinsformation nicht zusammenbricht. Durchdie Sandkörner entstehen Abzugskanäle, über die das Gas indie Bohrlöcher geleitet wird, durch die es dann abgesaugtwerden kann. Nur auf diese Weise lassen sich diese »unkon -ventionellen« Erdgasvorkommen kommerziell erschließen.Der dafür eingesetzte Sand muss ganz bestimmte Eigen -schaften haben (Quarzgehalt, Form der Sandkörner), über dieder Sand von Fluss- und Meeresufern allerdings nicht verfügt.

Fracking ist bekanntlich sehr unpopulär: Es kann lokaleErdbeben auslösen, das Grundwasser mit Chemikalienkontaminieren und damit die Lebensgrundlage der länd -lichen Bevölkerung gefährden, aber auch soziale Konflikteauslösen. Ähnliche ökologische und soziale Probleme drohenin den Gegenden, wo der Fracking-Sand abgebaut wird. Etwawenn fruchtbare Bodenschichten abgetragen oder Sandstein -hügel zerstört werden, die als natürlicher Filter für dasGrundwasser dienen oder Wasseradern führen.

Wo das ökologische Gleichgewicht zerstört wird, ist dieArtenvielfalt gefährdet und langfristig sogar die lokaleNahrungsmittelversorgung. Der beim Fracking freigesetzteQuarz staub erhöht das Lungenkrebsrisiko. Zudem müssen dieAnwohner mit einem Wertverlust ihrer Häuser und Grund -stücke rechnen, sie müssen die grelle nächtliche Beleuchtungund die Lärmbelästigung durch Lastwagen und Güterzügeertragen und darauf gefasst sein, dass ihre Häuser durch

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Die Sandgewinnung in der deutschen Nord- und Ostsee findet überwiegend in geschützten Gebiete statt

Rückläufiger Bedarf auf hohem Niveau

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2 km

Explosionen erschüttert werden. Und sobald sie gegen all dasprotestieren, müssen sie sich sagen lassen, dass dieForderungen der Industrie Vorrang haben, weil damit Jobsgeschaffen und die nationale Energieversorgung gesichertwürden. Kein Wunder, dass die Fracking-Branche trotz dergeschilderten Risiken und Nebenwirkungen kontinuierlicheZuwächse verzeichnet. Interessanterweise gehört der obenerwähnten Sibelco Group auch die Unimin Corporation an,eines der Großunternehmen, die in den USA Fracking-Sandabbauen.

Sand entsteht als Resultat natürlicher Prozesse von einigenHunderten oder sogar Millionen Jahren Dauer. Folglich ist erkein erneuerbarer Rohstoff, jedenfalls nicht nach mensch -lichen Zeitdimensionen. Da sowohl für die Bauindustrie alsauch für die Mineraliengewinnung und für das Frackinggigantische Sandmengen gebraucht werden, finden dieAbbau maßnahmen rund um die Uhr und ganzjährig statt. So verschwinden Sanddünen oder Sandsteinhügel, die überdie Jahrtausende entstanden sind, innerhalb von wenigenJahrzehnten.

Sand ist ein »hegemonialer« Rohstoff, zu dem esgegenwärtig praktisch keine Alternativen gibt. Auch fehlen die Anreize zur Entwicklung solcher Alternativen, weilökonomisch nutzbarer Sand nach heutigen Marktpreisenstark unterbewertet ist. Die wichtigsten Kostenfaktoren beider Sandgewinnung betreffen die Maschinen für den Abbau,den Transport, die Löhne sowie Lizenzgebühren undPachtzahlungen für das genutzte Gelände (zumindest im Falllegaler Gewinnung). Der Sand selbst kostet dagegen nichts –er ist ein »high volume – low value«-Rohstoff (»große Menge –geringer Wert«). Wenn er knapp wird, holt man ihn sich ebenwoanders. Das Problem wird lediglich geografischverschoben. So läuft es überall – ob in den USA, Australienoder Indien – ähnlich ab, wenn die lokalen Behörden vonPolitikern und Interessenvertretern derart eingeschüchtertwerden, dass sie am Ende den unbegrenzten Sandabbauzulassen – alles im Interesse von Wirtschaftswachstum,nationaler Sicherheit, Fortschritt oder Arbeitsbeschaffung,versteht sich.

Dabei tritt oft auch eine Art Umwelt-Rassismus zutage,wenn etwa unterdrückte und enteignete Gruppen oderindigene Gemeinschaften hinnehmen müssen, dass dieSandproduzenten ihre Lebensgrundlage vernichten, ihreLebensqualität schädigen und ihr Ökosystem zerstören,während sie selbst Gewinne machen und irgendwann wiederverschwinden, um in einer anderen Gegend mehr und neuenSand abzubauen.

Hier ist allerdings anzumerken, dass nicht alle Sandartenfür alle Nutzungsformen geeignet sind. Denn Sand musshäufig strenge Kriterien erfüllen – und dann wird dasVerhältnis von Angebot und Nachfrage in der Regel sehrvolatil. Insgesamt ist davon auszugehen, dass der Sandbedarfaus den drei Bereichen Bau, Mineralindustrie und Fracking in den nächsten Jahrzehnten stabil bleiben wird. Deshalbwerden derzeit auch vielerorts neue Sandquellen offshore,also auf dem Meeresboden erschlossen. Diese Abbaumethodeist extrem teuer, aber technisch möglich, ihre Auswirkungenauf die Umwelt sind dagegen völlig unerforscht.

Nehmen wir das Beispiel Dubai. Hier sind die Vorkommenan Meeressand erschöpft, das Emirat importiert seinen Bau -

sand derzeit aus Australien. Dabei hat der maßlose Abbau vonMeeressand das maritime Ökosystem stark geschädigt. Dasbeeinträchtigt die Lebensgrundlage der Fischer, weil der Sandam Meeresboden zugleich Substrat und Nährboden für dieMikororganismen ist, von denen sich die größeren Fischeernähren.

Für Sand gilt – wie für alle natürlichen Rohstoffe –, dasswir seinen Wert für den Erhalt des gesamten Ökosystems inBetracht ziehen müssen. Denn Sand erfüllt Funktionen, dienicht ohne weiteres zu ersetzen sind, zum Beispiel für dieNahrungsmittelsicherheit in Regionen, wo er als Pufferzwischen den Landmassen und den Ozeanen dient und soagrarische Anbaugebiete vor Sturmfluten schützt – undangesichts des Klimawandels auch vor einem Ansteigen desMeeresspiegels. In vielen Regionen wirkt der Sand als Filterfür Wasseradern, die für den Erhalt der Artenvielfalt sounentbehrlich sind wie für die Nahrungsketten in derozeanischen und terrestrischen Biosphäre.

Immerhin gibt es schon vereinzelt Alternativen zum Sandals Zuschlagstoff bei der Betonherstellung: etwa Schlacken,die bei der Stahlproduktion anfallen, Flugasche, Steinbruch-staub oder aufbereiteter Bauschutt. Zudem laufenForschungen über Bautechniken, die ganz ohne Betonauskommen. Alternativen gibt es auch für den Sand, der beimFracking zum Einsatz kommt, wie zum Beispiel Keramik -perlen oder Bauxitpulver. Dass diese Stoffe heute noch nichtverwendet werden, liegt allein daran, dass Sand praktischumsonst zu haben ist.

9

Postwachstum

Bücher &c.• »Sand – Die neue Umweltzeitbombe. Der Kampf um eine unterschätzte Ressource«,

Regie: Denis Delestrac, Frankreich 2013.• Michael Welland, Sand: A Journey Through Science and the Imagination, Oxford

(Oxford University Press) 2009.• »Gasland«, Regie: Josh Fox, USA 2010 (Dokumentarfilm über Fracking).

Nutzung nach dem Abbau: In den meisten Baggerseen wird geangelt

Kiran Pereira

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2009 2010 2011 2012

Nach dem Beitritt zur Eurozone kann Griechenland seine Staatsschuldenquote nicht so deutlich reduzieren, wie es die Maastricht-Verträge vorsehen. Seit 2005 stieg die Quote an: von 100 auf 112,9 Prozent des BIPs.

2000–2009

Die neue Regierung Papandreou korrigiert das geschätzte Haushaltsdefizit für 2009 von 6,7 auf 12,8 Prozent des BIPs. Diese Zahl muss später auf 15,6 Prozent heraufgesetzt werden, womit die Staatsschuldenquote Ende 2009 fast die 130-Prozent-Grenze erreicht. Ab Dezember stufen Ratingagenturen die Bewertung griechischer Anleihen radikal zurück, und die Zinsen für griechische Staatsanleihen steigen dramatisch. Oktober 2009

Trotz eines Sparprogramms, das Gehaltskürzungen für Staatsbedienstete und erhöhte Mehrwert-steuern vorsieht, und trotz eines »Rettungsprogramms« der EU in Höhe von 30 Milliarden Euro

kann Griechenland die im Mai fällig werdenden Staatsanleihen nicht mehr bedienen. Papandreou muss den Staat für insolvent erklären. Die Troika aus EU, EZB und IWF schnürt ein zweites »Rettungs-

paket« mit Krediten von 110 Milliarden Euro. Dafür muss der griechische Staat 30 Milliarden Euro einsparen: durch weitere Gehalts- und Pensionskürzungen, Stellenstreichungen im öffentlichen

Sektor, neue Steuererhöhungen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters.Mai 2010

Durch die Sparmaßnahmen verschärft sich die Krise weiter. Sinkende Steuereinnahmen vergrößern das Staatsdefizit, auf das die Troika mit einem dritten »Rettungsprogramm« in Höhe von 109 Milliarden Euro reagiert. Die neuen Kredite (mit niedrigerem Zinssatz und längeren Laufzeiten) werden erstmals über den neu geschaffenen Stabilisierungsmechanismus EFSF abgewickelt. Als »Gegenleistung« muss Athen zusätzliche Sparmaßnahmen akzeptieren.

Juli 2011

Papandreou übersteht ein Vertrauensvotum im Parlament nur, indem er die Bildung eines Technokratenkabinetts unter dem ehemaligen EZB-Vizepräsidenten Papadimos ankündigt. Die neue Regierung wird erstmals von den beiden »Systemparteien« Pasok und ND gemeinsam getragen.

November 2011

Das Kreditpaket der Troika wird auf 130 Milliarden Euro aufgestockt, dafür muss die Regierung Papadimos mit einem vierten Sparprogramm »bezahlen«. Es enthält neben harten Einschnitten im Gesundheits- und Sozialwesen (nun auch beim Arbeitslosengeld) weitere Gehalts- und Renten-kürzungen und erstmals auch radikale Lohneinbußen für den privaten Sektor (stark reduzierte Mindestlöhne). Die Gesamtverschuldung steigt weiter an und erreicht die 150-Prozent-Marke, auch aufgrund der sich vertiefenden Rezession. Der endgültige Staatsbankrott ist nur durch einen Schuldenschnitt abzuwenden. Der »freiwillige« Forderungsverzicht der privaten Gläubiger reduziert die griechische Staatsschuld um 107 Milliarden Euro.

Februar 2012

or der gegenwärtigen Krise erlebte Griechenlandzwischen 1995 und 2008 eine Phase kräftigen Wirt -schafts wachstums. Mit jährlichen Wachstums raten

von 3,7 Prozent, boomenden Finanz-, Dienstleistungs- undImmobilienmärkten sowie einer florierenden Tourismus- und Schifffahrtsindustrie gehörte das Land zu dendynamischeren Volkswirtschaften Europas. Es handelte sichallerdings um ein größtenteils finanzgetriebenes Wachstum.Gemäß den damaligen Leitlinien der EZB gab es aufgrundniedriger Zinsen große Zuflüsse an Geld, das die Unter -nehmen für Investitionen im Importsektor oder in denBilliglohnländern des Balkans nutzten, statt die lokaleProduktion zu fördern. Umgekehrt erhielt die Regierung Geldaus Krediten und EU-Transferleistungen, um die Infra strukturauszubauen und damit ausländische Investitionen anzu -locken oder Großprojekte wie die Olympischen Sommerspiele2004 zu finanzieren, die zur wachsenden öffentlichenVerschuldung beitrugen. Während dieses »griechischenWirtschaftswunders« blieb das Problem chronisch knapperStaatseinnahmen jedoch bestehen und wurde durchSteuervergünstigungen für Unternehmen sowie ein löchrigesSteuererhebungssystem sogar noch verschärft.

Nachdem die US-Finanzkrise im Herbst 2008 ihren Höhe -punkt erreicht hatte, wurden bald auch die Eurozone undGriechenland in einen Abwärtsstrudel gerissen – entgegenallen Versicherungen, dass die griechische Wirtschaft stabilsei, da griechische Banken nur wenig faule Wertpapierehielten. Als dann die neue Regierung 2009 das Haushalts -defizit von 6 auf 12,7 Prozent des BIPs korrigieren musste,schossen die Refinanzierungszinsen für Staatsanleihen in die Höhe und lagen schließlich 8 Prozentpunkte über den

deutschen. Die Herabstufungen der Ratingagenturenmachten es Griechenland zunehmend unmöglich, sich an deninternationalen Finanzmärkten Geld zu leihen. Eine vomMinisterpräsidenten angekündigte Volksabstimmung übereuropäische Finanzhilfen und die Euro-Mitgliedschaft wurdeauf Druck der EU und verschiedener griechischer Parteienabgesagt. Anschließend vereinbarten die griechischeRegierung und Vertreter der Troika aus EU-Kommission, EZBund IWF zwischen 2010 und 2014 mehrere »Rettungspakete« – der Preis dafür war eine drastische Sparpolitik und eineinnere Abwertung.

Es folgte eine Schocktherapie: Löhne, Gehälter und Rentenwurden innerhalb von drei Jahren um 20 Prozent und mehrgesenkt, Tarifverträge teilweise aufgelöst, öffentlicheDienstleistungen abgebaut, Stellen gekürzt, der Kündigungs-schutz gelockert und frei werdende Stellen nicht wiederbesetzt. Außerdem wurden Kommunen zusammengelegt,Universitätsbereiche und weiterführende Schulengeschlossen, Krankenhäuser verkleinert und die Gesundheits-versorgung reduziert, wodurch viele Beschäftigte arbeitslosoder in den vorgezogenen Ruhestand gezwungen wurden.Stadtwerke, Häfen, Schienennetze, Flughäfen und verbliebeneöffentliche Unternehmen wurden zur Privatisierungfreigegeben. Der Mindestlohn wurde um 22 Prozent gesenkt,für unter 25-Jährige sogar um 32 Prozent.

Von 2009 bis 2013 schrumpfte das BIP um mehr als 25 Pro -zent. Der Binnenkonsum nahm dramatisch ab, zehntausendekleine und mittlere Unternehmen gingen insolvent. Im Januar2013 kletterte die Arbeitslosenquote auf 27,1 Prozent, dieJugendarbeitslosigkeit sogar auf 59,1 Prozent. Die Kosten fürHeizöl stiegen um mehr als 35 Prozent, was zur vermehrten

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Der Fall Griechenland Wenn Wachstumgesellschaften nicht mehr wachsen und die Sparpolitik die Probleme nur verschlimmert

Die Etappen des Niedergangs

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2008

7,722,12013

27,358,3

2008

7,510,62013

5,37,9

2008

6,413,32013

27,326,8

2008

6,721,32013

12,240,0

2008

8,520,22013

16,537,72008

11,324,52013

26,155,5

GRIECHENLAND

DEUTSCHLAND

IRLAND

ITALIEN

PORTUGAL

SPANIEN

Jugendarbeitslosigkeit(15–24 Jahre)

Gesamtarbeitslosigkeit

2009 2010 2011 2012 2013-10

-8

-6

-4

-2

0

2

4

6

8

10in Prozent zum Vorjahr/Vorjahrsquartal (Griechenland)Bruttoinlandsprodukt (BIP)

GRIECHENLAND

DEUTSCHLANDIRLANDITALIENPORTUGALSPANIEN

38,3 54,0 45,8 58,5

46,5 51,9 47,7 50,6

35,1 46,2 37,8 44,8

39,6 49,8 43,7 48,7

34,5 48,2 35,9 42,9

45,2 48,3 44,7 44,7

GRIECHENLAND

ITALIEN

SPANIEN

PORTUGAL

IRLAND

DEUTSCHLAND

Staatseinnahmen und Staatsausgabenin Prozent des BIPs

2009

EinnahmenEU-Mitgliedstaat

Überschreitung des im EU-Stabilitätspakt festgelegten Haushaltsdefizits (3 Prozent).

Ausgaben

2013

2013 2014

Der ND-Vorsitzende Samaras bildet eine neue Regierung unter Beteiligung der Pasok und der Dimar (die im Juli 2013 die Koalition verlässt). Obwohl Samaras bis 2011 alle Spar-programme der Troika bekämpft hat, bringt er im November ein fünftes Sparprogramm durchs Parlament, das neue Einsparungen von 13,5 Milliarden Euro vorsieht.

Juni 2012

Um die Freigabe weiterer Tranchen des »Rettungsprogramms« durch die Troika zu erreichen, muss die Regierung Samaras ein sechstes Sparprogramm verabschieden. Es enthält zusätzlich zu weiteren Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst eine neue Grundbesitzsteuer.

April 2013

Die Regierung Samaras verkündet einen Überschuss im Primärhaushalt (ohne Schulden-dienst) und feiert die »Rückkehr« auf die Finanzmärkte, nachdem sie fünfjährige Staatsanleihen zu einem Zinssatz von unter 5 Prozent absetzen konnte. Dieser »Erfolg« steht für die Überzeugung der Anleger, dass Griechenland innerhalb der nächsten fünf Jahre keinen Staatsbankrott zu befürchten hat. Er lässt allerdings die Gesamtverschuldung des Landes weiter ansteigen, die Ende 2014 bei 177 Prozent des BIPs liegen wird. Die Realwirtschaft zeigt noch keine Anzeichen der Erholung.

April 2014

Nutzung von Holz als Brennstoff und damit zu schwerenLuftverschmutzungen führte. Zwischen 2009 und 2011 stiegdie Obdachlosigkeit um 25 Prozent, die Selbstmord rate umtraurige 75 Prozent. Trotz Massenprotesten und General-streiks wurden weitere Sparmaßnahmen beschlossen.Besonders besorgniserregend ist nicht zuletzt das Erstarkender neonazistischen Partei Goldene Morgenröte, die sich bei den Parlamentswahlen im Juni 2012 von zuvor vernach -lässigbaren 0,3 Prozent auf fast 7 Prozent verbessern konnte.

Die gegenwärtige Krise in Griechenland lässt sich somitauf drei miteinander verwobene Ursachen zurückführen:erstens die globale Krisenanfälligkeit des finanzgetriebenenKapitalismus und die US-Finanzkrise 2008; zweitens dieeuropäischen Entscheidungsträger, die Griechenland zu einer restriktiven Sparpolitik zwingen und keine Währungs -abwertungen im Euroraum zulassen; und drittens diehausgemachten Probleme, nämlich zu geringe Staatsein -nahmen, die Steuerhinterziehung vieler Selbstständiger undUnternehmer sowie der Maritim- und Finanzwirtschaft undein verbreiteter Klientelismus, der selektive Vorteilsnahmeermöglichte und erheblichen volkswirtschaftlichen Schadenanrichtete.

Reformen sollen Griechenland aus der Krise manövrieren,doch das Spardiktat der Troika hat nur zu noch mehrArbeitslosigkeit, sozialer Verwundbarkeit und einemmassiven Abbau öffentlicher Leistungen geführt, kurz: zueiner Verstetigung von Rezession und Krise. Eine Rückkehrzum alten Wachstumsmodell erscheint unwahrscheinlich,und so stellt sich die Frage, wie moderne Gesellschaften auchohne hohes Wirtschaftswachstum stabilisiert werden können.Der Fall Griechenland zeigt jedenfalls eindrücklich, welchekatastrophalen Folgen es hat, wenn unter den gegebenenkapitalistischen Bedingungen Wachstum langfristigausbleibt.

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Postwachstum

Bücher &c.• www.nachdenkseiten.de (Beiträge von Niels Kadritzke)• Stephan Kaufmann,»Schummel-Griechen machen unseren Euro kaputt«: Beliebte

Irrtümer in der Schuldenkrise, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe »Luxemburg Argumente«, Nr. 2, Berlin, März 2012, www.rosalux.de/publication/38265.

• Klaus Busch, Christoph Hermann, Karl Hinrichs, Thorsten Schulten, »Eurokrise,Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell: Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht«, in: Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2012, http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/09444.pdf.

Maria Markantonatou

Das größte Defizit

Südeuropas verlorene Generation

Die große Depression

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-1501996 2000 2005 2010 2013

-100

-50

0

50

100

150

200

250

300weltweit, in Mrd. US-DollarAußenhandelsbilanz

DEUTSCHLANDGRIECHENLANDIRLANDITALIENPORTUGALSPANIEN

100

100

100

114

107

98

2000 2012

Produktivität

Tariflöhne

Effektivlöhne

DEUTSCHLAND

ntgegen dem krisenhaften Trend in Europa gilt Deutsch -land als wirtschaftliches Erfolgsmodell – »Nehmt euchan uns ein Beispiel«, scheinen die Bundesregierungen

jeglicher Couleur den anderen zuzurufen. Doch bei denAngesprochenen hält sich die Begeisterung oft in Grenzen.Warum?

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas, undseine wirtschaftliche Entwicklung ist wichtig für die ganzeWährungsunion: Ist sie gut, kommt dies auch anderenLändern zugute. Gibt es aber Probleme, werden diese leichtauch zu Problemen der Nachbarn. Rund 40 Prozent seinesAußenhandels wickelt Deutschland mit den Ländern derEurozone ab. Deshalb ist die gemeinsame Währung auch sowichtig für die deutsche Wirtschaft: Wenn diese 40 Prozentvon Währungsschwankungen befreit sind, gibt das Planungs -sicherheit und mindert für die Exportunternehmen das Risikovon Verlusten durch die Abwertung anderer Währungen.

Dass die deutsche Wirtschaft am Export hängt, ist nichtsNeues. Deutsche Industrieprodukte wie Autos und Maschinensind seit langem weltweit wegen ihrer Qualität gefragt. Dieshat viel mit dem dualen deutschen Berufsbildungssystem zutun, mit dem Selbstbewusstsein qualifizierter Beschäftigterund mit den Mitbestimmungsmöglichkeiten ihrer Interessen -vertretungen. Neu ist etwas anderes: Kurz nach Einführungdes Euro hat die Politik den deutschen Arbeitsmarktumgekrempelt. Die im Zuge von Agenda 2010 und »Hartz-Gesetzen« eingeführten »Arbeitsmarktreformen« öffneten die Schleusen für einen Boom von Leiharbeit und Minijobs,Arbeitssuchende wurden gezwungen, Jobs auch zu sehrschlechten Bedingungen anzunehmen. Seit den 1990er Jahrengehen die Mitgliederzahlen von Arbeitgeberverbänden undGewerkschaften zurück – das dadurch geschwächte Tarif -vertragssystem verlor an Einfluss auf die Entwicklung der

tatsächlichen Einkommen. Es entstand ein großerNiedriglohnsektor, der die durchschnittlichen Löhne nachunten zog. Gleichzeitig wurden die hohen Einkommen undGewinne durch Steuerreformen erheblich entlastet.

So geschah etwas Ungewöhnliches in Deutschland, undzwar nur dort: Bis kurz vor Ausbruch der weltweiten Finanz -krise sanken die durchschnittlichen Erwerbseinkommen,obwohl die Wirtschaft wuchs, während sie im restlichenEuropa stiegen, wie es in Wachstumsphasen üblich ist. InFrankreich zum Beispiel sind die Reallöhne etwa im selbenTempo gestiegen wie die Arbeitsproduktivität, so dass dieVerteilung zwischen Löhnen und Gewinnen gleich blieb.Spiegelbildlich dazu boomten in Deutschland die Gewinne.

Dies hatte zwei für die Europäische Währungsunionverhängnisvolle Folgen. Erstens wurde der Binnenmarkt dergrößten Volkswirtschaft fast in die Stagnation getrieben, sodass er kaum noch zusätzliche Exporte aus anderen Euro -ländern aufnahm – während die deutschen Exporte in dieseLänder weiter kräftig zulegten. Die daraus erwachsendenwirtschaftlichen Ungleichgewichte sind Sprengstoff für eineWährungsunion, deren Konstrukteure keine Ausgleichsme-chanismen, kein gemeinsames Steuer system, keinegemeinsame Wirtschaftspolitik, keine gegenseitige Unter -stützung und auch keine Sozialunion wollen. Zweitens abergab es für die rapide wachsenden Gewinne auf demschwächelnden deutschen Binnenmarkt kaum lukrativeAnlagemöglichkeiten. Stattdessen flossen ungeheureSummen in den boomenden US-Immobilienmarkt, aber auchin die mit Schulden aufgepumpten Immo bilien blasen derEuroländer Irland und Spanien. So gab die Deregulierung desdeutschen Arbeitsmarkts nicht nur im In-, sondern auch imAusland Wachstumsmodellen Auftrieb, die aus ganz unter -schiedlichen Gründen nicht zukunftsfähig waren.

E

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Deutschland – der eingebildete Gesunde Der Exportweltmeister profitiert von Lohndumping und Sozialabbau

Die Überschüsse der Deutschen und die Defizite der anderen Mehr Leistung, weniger Lohn

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-6,22,875,0

-1,88,4

-1,113,4

-22,920,8

-4,15,6

-3,26,4

-6,710,7

-7,0-25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 20 25

DEUTSCHLAND

ESTLAND

FRANKREICH

GRIECHENLAND

IRLAND

ITALIEN

PORTUGAL

SPANIEN

Nominallöhne*in Prozent

2001–2009, 2001 = 100 Prozent

2010–2013, 2010 = 100 Prozent

*deflationiert um den nationalen HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex)

01995 2000 2005 2010 2012

10

20

30

40

0

10

20

30

40

50

60

70

80

71,1

28,9

63,2

36,867,3

32,7

in Prozent des BIPsBruttogewinnquote und Bruttolohnquote

Bruttolohnquote

Bruttogewinnquote

DEUTSCHLAND

-101990 1995 2000 2005 2010 2013

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100in Mrd. EuroAußenhandelsbilanz von Deutschland ( ) mit den Ländern der Europäischen Währungsunion ( )

1. Januar 1999:Euroeinführung

42,3

67,0100,3

75,6

53,3

71,0

56,2

42,4

47,3

88,4

USA

CHINA

NIEDERLANDE

DEUTSCHLAND

POLEN

ÖSTERREICH

ITALIEN

SCHWEIZ

FRANKREICH

GROSSBRITANNIEN

BELGIEN

2013, in Mrd. EuroExporte

Die weltweite Finanzkrise brachte diese fragwürdigeSymbiose zum Einsturz. Seitdem nutzen die deutschenRegierungen ihre Macht in Europa, um vor allem densüdeuropäischen Staaten die eigenen Rezepte aufzuzwingen.Massive Kürzungen der Staatsausgaben, die Deregulierungder Arbeitsmärkte und die Schwächung des öffentlichenSektors nach deutschem Vorbild werden als Medizin verab -reicht, die die Patienten jedoch nur noch kränker macht. Auch wenn die Wirtschaft jetzt teilweise wieder wächst – dieMillionen arbeitsloser und in Armut getriebener Menschenbleiben als Flurschäden dieser Politik zurück. Großen Teilender jungen Generation in den am stärksten von der Krisebetroffenen Ländern wird die Zukunft verdüstert. Und mit der Verschleuderung von staatlichem Eigentum sowie derPrivatisierung öffentlicher Dienstleistungen vor allem imBildungs- und Gesundheitsbereich berauben die Regierungenden Staat der Mittel, die für neue gesellschaftlicheEntwicklungschancen dringend benötigt werden.

Eine Gesundung der Eurozone erfordert radikaleKurskorrekturen bei allen Hauptbeteiligten. Neue sozial -ökologische Entwicklungsmodelle werden nicht nur inSüdeuropa gebraucht, sondern auch in Deutschland.

Der deutsche Arbeitsmarkt muss neu reguliert werden, um die soziale Ungleichheit zurückzudrängen. Die Politik muss die Wirtschaft sowohl zwingen als auch anregen, zum Motor der Energie- und Ressourcenwende zu werden.

Die deutsche Gesellschaft braucht große öffentlicheInvestitionen vor allem im kommunalen Bereich, und siebraucht einen Boom sozialer Dienstleistungen – von Kinder -tagesstätten bis zur Altenpflege. Das ist unabdingbar, nichtzuletzt für die Gleichstellung der Geschlechter und dieBewältigung des demografischen Wandels, aber es geht nichtohne große Steuerreformen, mit denen vor allem Kapital -einkommen und Vermögen gesellschaftlich nutzbar gemachtwerden. Dies käme auch Deutschlands Partnerländern zugute – wie ihnen zuvor durch verfehlte »Reformen« inDeutschland geschadet wurde.

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Postwachstum

Bücher &c.• Thomas Fricke, Wie viel Bank braucht der Mensch?, Frankfurt am Main (Westend) 2013.• Steffen Lehndorff (Hg.), Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen

in Europa – revisited. Zehn Länderstudien, Hamburg (VSA) 2014.• Thomas Sauer und Peter Wahl (Hg.), Welche Zukunft hat die EU? Eine Kontroverse,

Hamburg (VSA) 2013.

Steffen Lehndorff

Einkommensentwicklung vor und in der Krise

Zwischen Euroeinführung und Eurokrise Exporte in alle Welt

Gewinne auf Kosten der Löhne

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Raumwärmebedarf

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pro Kopf in m2

Raumwärmebedarf pro KopfRaumwärmebedarf pro m2 WohnflächeWohnfläche pro Kopf

DEUTSCHLAND

anche hoffen, ein »grünes Wachstum» könneunseren materiellen Wohlstand immer weitermehren und zugleich helfen, wichtige Nachhaltig-

keitsziele zu erreichen und die Ökosysteme zu schützen – durch eine »Effizienzrevolution«. Die Idee: Wenn unsereKraftwerke, Autos, Fernseher und Smartphones viel energie -effizienter laufen, darf das Volkseinkommen durchaus nochweiter wachsen; der Naturverbrauch würde dann vom BIP-Wachstum entkoppelt und in absoluten Zahlen wie auch inder Gesamtbilanz zurückgehen. Doch diese Hoffnung beruhtauf einem Irrtum: Effizienzsteigerungen bedeuten eben nichtautomatisch Einsparungen. Tatsächlich führen sie zuRebound-Effekten, die Produktion und Konsum erhöhen.

Jede Effizienzsteigerung löst Wachstumsimpulse aus,sagen die Ökonomen. Folglich hat die enorm gestiegeneArbeitsproduktivität – vom Ochsenpflug zur Hightech-Land-wirtschaft – in der Entwicklung der kapitalistischen Industrie -gesellschaften nicht zu mehr Freizeit geführt, sondern vorallem zu einem Wachstum der Wirtschaft und damit zu neuenJobs und Bedarfen. Dieser Zusammenhang gilt genauso fürdie Verbesserung der Energieeffizienz. In den USA und sechs

EU-Staaten wurde die Energieeffizienz zwischen 1970 und 1991um rund 30 Prozent gesteigert – und im gleichen Zeitraumwuchs der Energieverbrauch um 20 Prozent.

Zunächst gibt es finanzielle Rebound-Effekte: EffizientereTechnologien sparen häufig Geld ein, das man an andererStelle für Konsum oder Investitionen ausgeben kann. Wenneine Autofahrerin von einem konventionellen Pkw mit einemSpritverbrauch von sechs Liter pro 100 Kilometer auf ein Drei-Liter-Auto umsteigt, zahlt sie fürs Benzin nur noch die Hälfte.Sie kann für das gleiche Geld nun doppelt so weit fahren.Genauso können Unternehmer durch Effizienzersparnissekostenneutral mehr produzieren, ja, oft müssen sie dies sogartun, um sich am Markt behaupten zu können. In beiden Fällenhat die Verbesserung der Energieeffizienz keine Einsparungvon Energie zur Folge: Selbst wenn das Geld in wenigenergieintensive Dienstleistungen investiert wird, etwa inFriseurbesuche oder Volkshochschulkurse, werden immernoch gewisse Rebound-Effekte eintreten. Denn in modernenGesellschaften, die auf Massenproduktion und -konsumbasieren, werden dann die Friseure oder Lehrerinnen mehrkonsumieren.

Zweitens gibt es materielle Rebound-Effekte, da schon dieHerstellung effizienterer Geräte und Maschinen einen Teil des Einsparpotenzials auffrisst. Um die tatsächliche Energie -bilanz eines Elektroautos zu erstellen, reicht es nicht aus,lediglich auf dessen Verbrauch zu schauen. Auch der Energie -aufwand für den Aufbau neuer Produktionsstätten undStromtankstellen wird das Einsparpotenzial jedes einzelnenE-Autos reduzieren. Derzeit entfallen durchschnittlich20 Prozent des Energieverbrauchs eines Autos auf die Pro duk -tion und 80 Prozent auf die Nutzung. Werden mehr Queck -silber oder Leichtbauteile aus Aluminium in hoch effizientenFahrzeugen eingesetzt, wird der produktions bedingteEnergie verbrauch steigen.

Drittens gibt es psychologische Rebound-Effekte:Effizientere Produkte verändern nämlich nicht nur ihretechnischen, sondern auch ihre symbolischen Eigenschaften.Eine Erhebung in Japan hat gezeigt, dass Autofahrer, die sicheinen ihrer Meinung nach ökologischen Pkw zugelegt hatten(zum Beispiel ein Hybridauto), ein Jahr nach dessen Kauf gut1,6-mal mehr Kilometer damit gefahren sind als zuvor mitihrem herkömmlichen Auto. Andere Studien legen nahe, dasssich manche Verbraucher nach dem Konsum »ethischer»Produkte berechtigt fühlen, an anderer Stelle »unethisch» zukonsumieren.

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Umweltfreundlich mehr verbrauchenWer ein Hybridauto hat, fährt mit gutem Gewissen mehr. Das nennt man den Rebound-Effekt

Wärmebedarf

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USA

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Index1960 = 100 Prozent

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GROSSBRITANNIEN

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Bruttoinlandsprodukt (BIP)RohstoffausbeutungBevölkerungMaterialintensität*

* Menge an Rohstoffen und Land, die zur Herstellung einer Ware gebraucht werden; je effizienter die Produktion, desto niedriger der Wert.

Schließlich lösen Energieeffizienzsteigerungen in dergesamten Wirtschaft Wachstumsschübe aus. Die Summe allerRebound-Effekte eines solchen Wachstumsschubs bemisstsich nach dem Verhältnis von Energienachfrage und Output;mit anderen Worten, es hängt davon ab, wie energie- undmaterialintensiv die zusätzlich hergestellten Güter undDienstleistungen sind. Der Summe all dieser Rebound-Effektewird langfristig – das legen etliche Analysen nahe –mindestens 30 bis 50 Prozent des Einsparpotenzials vonEffizienzmaßnahmen aufzehren. Technologie- undInnovationsoffensiven werden also allein nicht ausreichen,um in den Industrieländern bis 2050 die Treibhausgasemissio-nen um 80 bis 90 Prozent zu verringern. Das Konzept des»grünen Wachstums» greift zu kurz.

Deswegen sind aber die technischen und politischenMaßnahmen zur Steigerung der Energie- und Ressourceneffi-zienz nicht alle schlecht. Im Gegenteil. Natürlich muss esdarum gehen, Energie und Materialien möglichst sparsameinzusetzen. Es gibt keinen Grund, statt einer konsequentenDämmung von Häusern und Wohnungen die Wärmeweiterhin aus dem Fenster zu pusten. Aber Rebound-Effektezeigen, als »unerwünschte Nebenwirkungen» der Effizienzre-volution, die Wachstumsgrenzen des Systems auf. Erst wenndie Wirtschaft aufhört zu wachsen, können Effizienzstrate-gien einen uneingeschränkt konstruktiven Beitrag zurNachhaltigkeit leisten.

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Postwachstum

Bücher &c.• Jesse Jenkins, Ted Nordhaus, Michael Shellenberger, Energy Emergence. Rebound & Backfire

as Emergent Phenomena, Oakland (Breakthrough Institute) 2011.• Reinhard Madlener, Blake Alcott, Herausforderungen für eine technisch-ökonomische

Entkoppelung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum unter besondererBerücksichtigung der Systematisierung von Rebound-Effekten und Problemverschiebungen,Berlin 2011.

• Tilman Santarius, Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschtenEnergieeffizienz, Wuppertal 2012. Download: www.santarius.de/967.

Tilman Santarius

Kraftstoffverbrauch

Der Preis des Lichts

Wachstum macht Effizienzgewinne zunichte

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02005 2015 2025 2035

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02005 2015 2025 2035

Modell 1: business as usual Modell 2: ausbleibendes Wachstum

2005 = 100 ProzentIndex

2005 = 100 ProzentIndex

ostwachstum. Degrowth. Décroissance. Das sind dieSchlag worte einer wachsenden europäischen Bewegungvon Aktivisten und Wissenschaftlerinnen, die das

vorherrschende Entwicklungsmodell des kontinuierlichenkapitalistischen Wachstums kritisiert. Gesucht werdenAlternativen – welche unterschiedlichen Ansätze werdendiskutiert?

Die Kritik am Wirtschaftswachstum ist fast so alt wie dasPhänomen selbst. Eine neue Dimension bekam sie durch dieWahrnehmung der Endlichkeit der Ressourcen auf diesemPlaneten. Der erste Bericht im Auftrag des Club of Rome von1972 führte zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussionüber »Die Grenzen des Wachstums«, die bis heute nichtabgerissen ist. Der wichtigste neue Impuls im 21. Jahrhundertkam von der Décroissance- oder Degrowth-Bewegung, die sichin den vergangenen zehn Jahren von Frankreich über Spanienund Italien in den angelsächsischen Raum ausgebreitet hat.Auch in Deutschland wurde sie aufgegriffen. Die Forderungnach »Décroissance«, was so viel heißt wie Ent-Wachstum oderWachstumsrücknahme, richtet sich nicht nur gegen dieUnendlichkeitsvorstellungen der neoklassischen Wachstums -ökonomie. Sie kritisiert auch öko-keynesianischeBestrebungen, die krisengeschüttelten Ökonomien durcheinen Green New Deal wieder auf Wachstumskurs zu bringen.

Kritik an grünem WachstumIm deutschsprachigen Raum entwickelte sich unter demStichwort »Postwachstum« ein vielgestaltiges Feld vonPositionen zur sozialökologischen Transformation.

Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle den Technikoptimismusder 1990er Jahre kritisieren – die Vorstellung, dass durch Ökotechnologien »grüne« Produktion und »grüner« Konsumvom Umweltverbrauch entkoppelt und begrenzt werdenkönnte. Ökologische Gerechtigkeit, so der Schluss, müssedaher ein Ende des Wachstums im globalen Norden bedeuten.

Die zweite wesentliche Gemeinsamkeit liegt in demVersuch, konkrete Utopien als Alternativen zum Wachstums-diktat zu entwerfen und diese mit widerständigen Praktikenzu verbinden. Inspiriert von so unterschiedlichen Quellen wieökologischer Ökonomie, Kritik an Entwicklungspolitik undDiskussionen zum Guten Leben, beschäftigen sich dieunterschiedlichen Ansätze mit der Frage, wie die sozial- ökologische Transformation in den hochindustrialisiertenLändern aussehen könnte.

Dabei geht es ausdrücklich um die hochindustrialisiertenLänder des globalen Nordens, auch wenn soziale Bewegungenaus dem Süden wichtige Bündnispartner sind (Diskussionenzu Buen Vivir und Graswurzel-Umweltbewegung der Armen).Rohstoff-, Ressourcen- und Landschaftsverbrauch sowieAbfallaufkommen und Emissionen der reichen Länder sollenauf ein Niveau gesenkt werden, das langfristig nachhaltig istund den Ländern des Südens gleichberechtigte Entwicklungs-möglichkeiten lässt.

Einfach und pauschal eine Schrumpfung des BIPs zuverordnen, würde ökonomische Krisen auslösen – einenrasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, Schulden, Armut undeinen generellen Rückgang der Lebensqualität. Beim Post -wachstum geht es deshalb um mehr: um eine grundsätzliche

P

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Gutes Leben statt Wachstum Degrowth, Klimagerechtigkeit, Subsistenz – eine Einführung in die Begriffe und Ansätze der Postwachstumsbewegung

Drei Modelle für Kanada

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02005 2015 2025 2035

Modell 3: Degrowth

2005 = 100 ProzentIndex

StaatsverschuldungArbeitslosigkeitArmutTreibhausgasemissionenBIP pro Kopf

Der Ökonom Peter Victor berechnete mögliche Entwicklungswege für die kanadische Wirtschaft. Das Business-as-Usual-Modell prognostiziert einen Anstieg des CO2-Ausstoßes und der Armut. Wegen knapper Ressourcen ist es eher unwahrscheinlich, verdeutlicht aber die negative Entwicklung, falls die Politik nicht steuernd eingreift. Demgegenüber erlaubt das zweite Modell einen Ausblick auf die desaströsen Folgen, falls unter gegebenen Bedingungen kein (starkes) Wachstum generiert werden kann: fast alle übrigen Parameter schießen in die Höhe. Im Degrowth-Modell wird wirtschaftliches Wachstum zugunsten von Gutem Leben und sozialer Gerechtigkeit zurückgenommen, umweltschädliche Emissionen und Verschuldung erreichen ein Minimum.

2010

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Prognose 1 ( ) ist ein Business-as-usual-Modell und basiert auf Angaben der Internationalen Energieagentur (IAE). Die zweite Prognose ( ) stammt vom britischen Tyndall Centre for Climate Change Research und bildet ein Modell mit Emissionsrechten für Treibhausgase ab. Das Ziel ist eine kritische Schwelle von 550 ppm CO2 in der Atmo-sphäre nicht zu überschreiten. Beide Modelle sind mit der Annahme berechnet, dass die soziale Ungleichheit unverändert bleibt.

in Mrd. britischen Pfund, kumulativBruttoinlandsprodukt (BIP)

Umgestaltung der Gesellschaft. Es geht es um konkreteVeränderungsprozesse in Ökonomie und Gesellschaft, diesich an Bedürfnissen, dem Guten Leben und ökologischerNachhaltigkeit orientieren und die im Ergebnis zu einerStabilisierung oder Verringerung des BIPs führen. Dazu gibtes drei Positionen, die sich teilweise überlappen:• A-growth: Einige Wachstumskritikerinnen argumentieren,dass es vollkommen unbedeutend sei, ob das BIP als Ergebnisder notwendigen sozialökologischen Veränderungen weiterwachse, stagniere oder schrumpfe. Um die kulturelle undpolitische Ablehnung jeglicher Orientierung am BIP zubetonen, sprechen sie in Anlehnung an A-theismus vonA-growth (Latouche).• Steady State: Andere betonen, dass sich BIP-Wachstum undRessourcenverbrauch nie ganz entkoppeln ließen, und ziehendaraus den Schluss, dass die Ökonomien des Nordens nichtweiter wachsen dürften, sondern stabilisiert werden müssten,wenn ökologische Ziele eingehalten werden sollen. DieWirtschaft müsse vom Wachstum unabhängig werden.

• Degrowth: Eine dritte Position geht davon aus, dass imglobalen Norden ein zeitlich begrenzter Rückgang derWirtschaftsproduktion als Übergang zu einem niedrigeren,global gerechten und ökologisch nachhaltigen Zustandnotwendig ist.

Da das Wirtschaftswachstum die Schlüsselrolle inkapitalistischen Gesellschaften spielt, geht es in allenVarianten um die Frage, wie die bestehenden ökonomischenund gesellschaftlichen Institutionen davon unabhängigwerden können. Besonders einflussreich sind die Arbeiten desfranzösischen Ökonomen und Philosophen Serge Latouche.Er charakterisiert den Wachstumsglauben als eine Religion,von der es sich durch die »Dekolonialisierung derVorstellungswelt« zu befreien gelte. Im englischsprachigenRaum sind vor allem die Arbeiten von Tim Jackson sehreinflussreich, der erste makroökonomische Überlegungen zueiner Wirtschaftspolitik jenseits des Wachstums angestellthat und darüber hinaus die Unmöglichkeit grünenWachstums und ein neues Verständnis von Wohlergehendiskutiert. Einige Leitgedanken finden sich zudem in derökologischen, globalisierungskritischen und feministischenDiskussion. Hieraus leiten sich Forderungen ab wie»Deglobalisierung« von Produktion und Lebensweise, radikaleArbeitszeitverkürzung sowie eine gerechte Verteilung»produktiver« Arbeit und »reproduktiver« Sorgearbeit, auch zwischen Männern und Frauen, außerdem Grund -einkommen, Maximaleinkommen und gemeingüterbasierteWirtschaftsdemokratie.

Wachstumskritik in Deutschland – ein umkämpftes TerrainIm deutschsprachigen Raum wurde Wachstumskritikbesonders im Kontext der Weltwirtschaftskrise ab 2007 laut.Neben einem zunehmenden Forschungsinteresse anUniversitäten lassen sich dabei fünf Ansätze mit unterschied -licher gesellschaftspolitischer Stoßrichtung unterscheiden: 1. konservative, 2. sozialreformerische, 3. suffizienz -orientierte, 4. kapitalismuskritische und 5. feministischeAnsätze. Auch wenn sie nur teilweise Verbindungen zurDécroissance haben, werden sie hier kurz dargestellt, da siedie aktuellen wachstumskritischen Diskussionen prägen.

Charakteristisch für die Diskussion in Deutschland isterstens der starke Einfluss einer neoliberalen undkonservativen Richtung der Wachstumskritik, die vor allem

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Postwachstum

Zwei Prognosen für Großbritannien

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von dem CDU-Berater und Vordenker der neoliberalenRentenreform, Meinhard Miegel, propagiert wird. In Büchern,Artikeln, Interviews und im Rahmen des von ihm gegründetenThinktanks »Denkwerk Zukunft« argumentiert er, »wir alle«hätten über unsere Verhältnisse gelebt und müssten daherden Gürtel enger schnallen. Die Schrumpfung der Wirtschaftwird als unvermeidliches Schicksal moderner Industrie -gesellschaften gesehen, was Miegel zum einen ökologisch,zum anderen auch mit Wachstumsgrenzen begründet, diedurch den demografischen Wandel, übersättigte Märkte undeinen überbordenden Sozialstaat entstanden sind.Konservative Wachstumskritik plädiert dafür, den Sozialstaatdurch freiwilliges Engagement, eine Kultur der Almosen undvornehmlich weibliche Familienarbeit zu ersetzen.Wachstumskritik wird auf diesem Wege zum Rechtfertigungs-instrument und Hebel von Sozialabbau, Privatisierung, einemRollback der Geschlechterverhältnisse und Sparzwang.

Ein zweiter, den Umweltverbänden nahestehender Ansatzist die sozialreformerische und liberale Wachstumskritik, die vor allem die Ökonominnen Angelika Zahrnt und

Irmi Seidl stark gemacht haben. Er geht davon aus, dass diepolitische Fixierung auf das Wirtschaftswachstum ökologischund moralisch falsch sei. Als wesentliche Triebkräfte fürWirtschaftswachstum werden wachstumsabhängigegesellschaftliche und ökonomische Institutionen sowiepolitische Parteien ausgemacht. Die Ökonominnen fordernein Ende dieser Wachstumspolitik, eine Reduzierung desEnergie- und Ressourcenverbrauchs entsprechend denNachhaltigkeitszielen und – das macht den Kern ihresAnsatzes aus – den Umbau bislang noch wachstums -abhängiger und -treibender Bereiche, Institutionen undStrukturen. Ob das Ergebnis weiteres Wirtschaftswachstumoder eine Abnahme von Produktion und Konsum ist, bleibt offen. Wachstumskritik ist hier strukturkonservativgedacht: Es geht nicht um eine grundlegende Transformation,die umfassend gesellschaftliche Probleme in den Blicknimmt, sondern darum, Institutionen wie Alterssicherungs-systeme, Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Steuern,Finanzmärkte und Staatsfinanzen umzubauen – sofern sie vom Wachstum abhängig sind.

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Konservativ SozialreformerischDiagnose Wachstum kommt an natürliche und soziale Grenzen,

weil Bürger und Staat »über ihre Verhältnisse leben«Auf BIP-Wachstum fixierte Politik führt in die ökologische Krise

Wachstumstreiber Konsum, Sozialstaatsausgaben, Verschuldung, Gier, Dekadenz Alle wachstumsabhängigen Wirtschaftsbereiche, Institutionen und Strukturen

Notwendige Schritte Wertewandel und Verzicht, Entlastung der Sozialsysteme Loslösung der bestehenden Institutionen (soziale Sicherungs -systeme etc.) vom Wachstum, nachhaltiger Liberalismus

Instrumente Abbau des Sozialstaates, mehr »Eigenverantwortung«, Spenden statt Umverteilen, Stärkung von Familie und patriarchaler Arbeitsteilung

Ökosteuer, Suffizienzpolitik, solidarische Bürgerversicherung,nachhaltiger Konsum, Entwicklung alternativer Wohlstands -indikatoren

Ziel Unvermeidliche Schrumpfung A-growth, Befreiung vom Wachstumsdogma

Akteure des Wandels Konsumenten und Politikerinnen Politiker und Zivilgesellschaft

Initiatorinnen Meinhard Miegel, Kurt Biedenkopf, Denkwerk Zukunft Angelika Zahrnt, Irmi Seidl, Umweltverbände, Teile der EKD

Zum Weiterlesen • Meinhard Miegel, Exit: Wohlstand ohne Wachstum,Berlin (List) 2010

• www.denkwerkzukunft.de

• Irmi Seidl, Angelika Zahrnt, Postwachstumsgesellschaft,Marburg (Metropolis) 2010

• Uwe Scheidewind, Angelika Zahrnt, Damit gutes Leben einfacher wird, München (oekom) 2013

• www.postwachstum.de

Postwachstum: Denkschulen und ihre Köpfe

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Da Wachstumskritik hier als nachhaltiger Liberalismusgedacht wird, sind ökologische Steuern (zum Beispiel auf den umweltschädlichen Ressourcenverbrauch) ein wichtiges Veränderungsinstrument. Aufbauend auf diesemAnsatz haben Angelika Zahrnt und der Präsident desWuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, UweSchneidewind, Vorschläge für eine solche »Suffizienzpolitik«gemacht, die weniger verbrauchende Lebensstile erleichternsoll.

Sowohl die konservative Wachstumskritik à la Miegel als auch die sozialreformerischen Ansätze von Seidl ⁄ Zahrntzielen nicht auf einen bewusst herbeigeführten Rückgang der Wirtschaftsaktivität mit dem Ziel des Guten Lebens ab.Während die erste Position Schrumpfung als unvermeidlichesSchicksal sieht, weicht die zweite der Frage aus, ob eineEntkopplung möglich ist.

Globale Gerechtigkeit und SubsistenzZwei weitere Strömungen sehen dies anders: Sie halten einegrundlegende Abkehr vom Wachstum für unumgänglich und

erstrebenswert, wenn ökologische Ziele ernst genommenwerden und globale Klimagerechtigkeit kein Luftschlossbleiben soll. Der Oldenburger Ökonom Niko Paech hat einkonkretes Modell einer Postwachstumsökonomie vorgelegt:Ausgehend von dem Postulat, alle sieben MilliardenMenschen der Erde hätten das gleiche Anrecht aufUmweltraum (das heißt beispielsweise 2,7 Tonnen CO2-Ausstoß pro Person und Jahr), macht Paech zwei Wachstums-treiber aus: auf der individuellen Ebene Konsumentinnen, dieüberproportional viel Umweltraum in Anspruch nehmen (fürWohnen, Essen, Autofahren, technische Geräte et cetera), aufder ökonomischen Ebene die Fremdversorgung undArbeitsteilung in globalisierten Märkten, die über langeWertschöpfungsketten Wachstum erzwingen, oft nochverstärkt durch Zinsen. Darauf aufbauend stützt sich PaechsPostwachstumsökonomie auf zwei Grundpfeiler: eineindividuelle Strategie der Suffizienz, kombiniert mit einemradikalen Rückgang der Fremdversorgung zugunstenregionaler und lokaler Ökonomien, Selbstversorgung undEigenproduktion. Die wichtigsten Akteure des Wandels sind

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Postwachstum

Suffizienzorientiert Kapitalismuskritisch FeministischJegliches Wachstum vernutzt Ressourcen:Entkopplung von Verbrauch und BIP ist unmöglich,Überkonsum im Norden geht zulasten des globalen Südens

Kapitalistisches Wachstum verursacht multiple Krisen, »imperiale Lebensweise« (Brand) im Norden geht zulasten des globalen Südens(Klimaschuld)

Wachstumsökonomie führt zu Ausbeutung und Verelendung der Subsistenz (Hausarbeit, globaler Süden, Natur) und gefährdet die Reproduktion

Konsum, Fixierung auf Fremdversorgung, Zins Das kapitalistische System, seine Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, Privatisierungen

Die kapitalistische Akkumulation, die Trennungzwischen Produktion und unbezahlter, entwerteter,zumeist weiblicher Reproduktion

Suffizienz und Konsumverzicht, wenigerFremdversorgung, mehr lokalisierte (Selbst-)Versorgung

Commons, solidarische Ökonomie, Klima gerechtigkeit, mehr demokratische Elemente in Wirtschaft und Staat

Entkommerzialisierung, Verteidigung der Allmende,Aufbau nichthierarchischer, lokaler Strukturen

Ausbau von Subsistenz- und Regionalwirtschaft,Umverteilung der Arbeitszeit, Geld- und Bodenreform

Modellprojekte, Wirtschaftsdemokratie und Investitionslenkung, Arbeitszeitverkürzung,Grund- und Maximaleinkommen, staatlicheRegulierungen

Wiederaneignung der Allmende, Förderung vonkleinbäuerlicher Landwirtschaft, lokaler Ökonomieund nichtmonetärer Subsistenz

Degrowth Degrowth Degrowth, gendergerecht

Prosumentinnen, alternative Wirtschaftsprojekte wie Transition Towns, Gemeinschaftsgärten etc.

Soziale Bewegungen, Klimacamps, Gewerkschaften, Projekte alternativen Wirtschaftens

Soziale Bewegungen gegen Privatisierung und fürCommons, kleinbäuerliche Subsistenzbetriebe

Niko Paech, VÖÖ, Netzwerk Wachstumswende Attac, Social Innovation, Initiative Ökosozialismus

Bielefelder Schule

• Niko Paech, Befreiung vom Überfluss,München (oekom) 2012

• www.postwachstumsoekonomie.org

• Werner Rätz u. a., Ausgewachsen,Hamburg (VSA) 2010

• Matthias Schmelzer, Alexis Passadakis,Postwachstum, Hamburg (VSA) 2010

• www.postwachstum.net• www.social-innovation.org • www.oekosozialismus.net

• Veronika Bennholdt-Thomsen u. a., Das Subsistenzhandbuch, Wien (Promedia) 1999

• Veronika Bennholdt-Thomsen, Geld oder Leben,München (oekom) 2010

• Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften, Wege Vorsorgenden Wirtschaftens, Marburg(Metropolis) 2012

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KREI

S

REGI

ON

LAND

PRODUKTE

VERTRIEB

DIENSTLEISTUNGEN

PADERBORN

1 250 km2

300 000 Einwohner

Grundnahrungsmittel für den lokalen VerbrauchAgrarprodukte für den ExportWohnungsbauErneuerbare Energie: KleinanlagenEnergieeffizienz, Wohnungssanierung

Frische NahrungsmittelArtikel des täglichen Bedarfs

SchulenHausarztHausinstandhaltungRestaurantsHotelsAbfallrecycling

NORDRHEIN-WESTFALEN

34 000 km2

17,5 Mio. Einwohner

BaustoffeVerarbeitete LebensmittelMöbelWerkzeugeErneuerbare Energie (Wind, Wasser, Sonne)

LebensmittelKleidungAutosHaushaltsgeräteSaatgut

UniversitätenKrankenhäuserÖffentliches GesundheitswesenSicherheitSparkassenBusseTheater, KinoWasserversorgung

DEUTSCHLAND

357 000 km2

81 Mio. Einwohner

Kleidung, TextilienKleingeräte und BauteileElektronische GeräteStahlÖl, Gas, KohleÖffentliches BauwesenFahrräder

Massengüter, z. B. GetreideIndustriemaschinen

VersicherungenEisenbahnMedienTelekommunikationBankenStromversorgung

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350 387

35

11

276

2,75

4 000

15

280

0,1–1

0

-1

290

3,44

415

5

>100

121

8,5–9,5

283

2,90

2 600

11,7

Artensterben

Klimawandel

Belastungsgrenze des Planeten

Aktueller Wert

Vorin

dust

rielle

r Wer

t

Stickstoffkreislauf

Phosphorkreislauf

Verlust der Ozonschicht

Übersäuerung der Meere

Süßwasserverbrauch

Flächenverbrauch

Atmosphärische Aerosole

Verschmutzung durch Chemikalien

Kohlenstoffdioxidkonzentration in der Atmosphäre, in ppm (Teile pro Million)

Anzahl der ausgestorbenen Arten, pro Million und Jahr

Der Atmosphäre entzogene Stickstoffmenge, in Mio. Tonnen pro Jahr

Phosphorzufluss in die Meere, in Mio. Tonnen pro Jahr

Ozonkonzentration, in DB (Dobson-Einheit)

Mittlerer Sättigungsgrad von Aragonit an der Meeresoberfläche, in Prozent

Süßwasserverbrauch der Weltbevölkerung, in km3 pro Jahr

Landwirtschaftliche Flächennutzung, in Prozent der Gesamtfläche

Noch nicht quantifiziert

z. B. durch langlebige organische Schadstoffe, Schwermetalle oder Atommüll,noch nicht quantifiziert

dabei »Prosumentinnen«, also Personen, die nicht nur wenigerkonsumieren, sondern auch gemeinsam zum Beispiel inReparaturwerkstätten die Lebensdauer vorhandener Produkteverlängern, Formen von Eigenproduktion entwickeln (UrbanGardening) und so Lokalisierung und Entkommerzialisierungpraktisch vorantreiben.

Ein vierter Ansatz betont die umfassenden gesellschaft -lichen Veränderungen, die eine sozialökologischeTransformation beinhaltet. Als Ursachen der multiplen Krisen werden kapitalistischer Wachstumszwang und diezunehmende Vermarktung und Privatisierung vonLebensbereichen gesehen. Daher streben sie ein Zurück -

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Produktion und Distribution im Raum: Small is beautiful

Die globalen Indikatoren zeigen: So kann es nicht weitergehen

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KONTINENT

WELT

DIE WELT

149 Mio. km2

7,16 Mrd. Einwohner

MikrochipsArzneimittelGroßflugzeuge

EUROPA

10,2 Mio. km2

740 Mio. Einwohner

FahrzeugeElektronische SystemeKleinflugzeugeSchiffe

Öl, Gas

LuftfahrtSchifffahrt

Der Entwurf der New Economic Foundation (NEF) verdeutlicht, in welchem Maße Güter regional produziert werden können. Obwohl viele Vertreterinnen einer Postwachstumsökonomie noch stärker lokalisieren möchten, ist der Unterschied zur heute vorherrschenden globalisierten Produktionsweise eindrücklich.

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Was meinen Sie, muss die Wirtschaft immer weiter wachsen?

ja

Ost

West

Haupt-/Volksschule

Mittlere Reife

Abitur

Ost

West

nein

weiß nicht/keine Antwort

Glauben Sie, dass ein Verzicht auf Karriere und Konsum Ihr persönliches Glück eher steigern oder eher mindern würde?

DEUTSCHLAND

eher mindern

eher steigern

weiß nicht/keine Antwort

drängen von Marktmechanismen, die Vergesellschaftungzentraler Wirtschaftsbereiche und den Abbau vonMachtverhältnissen an. Betont wird in Abgrenzung zu denvorher genannten Positionen, dass die soziale und dieökologische Frage nicht gegeneinander ausgespielt werdendürfen. Wichtige Bausteine einer solidarischen Postwachs-

tumsökonomie sind Gemeingüter und Commoning, dieStärkung von Projekten der solidarischen Ökonomie, eineradikale Arbeitszeitverkürzung sowie Grund- und Maximal -einkommen. Zentrale Akteure sind soziale Bewegungen undMenschen, die sich in Alternativprojekten engagieren. Mitetwas anderer Stoßrichtung setzen Diskussionen umÖkosozialismus auf die Überwindung von Kapitalismus undIndustriegesellschaft durch planwirtschaftliche Schrumpfungund die Verstaatlichung der Produktionsmittel.

Der fünfte Ansatz ist die feministische Ökonomie,insbesondere die Subsistenzperspektive. Sie wurde zwar nichtexplizit als Beitrag zur Postwachstumsdiskussion konzipiert,ist aber eine wichtige Inspirationsquelle. Die sozialen undökologischen Krisen erklären ihre Vertreter aus derpatriarchalen, kapitalistischen Ausbeutung von (weiblicher)Reproduktionsarbeit, der Natur und den (postkolonialen)Ökonomien des globalen Südens. Vor allem die langeTradition der Kritik am BIP hat deutlich gemacht, wieumfassend das Wachstumsparadigma nichtmarktförmigeArbeit (zum Beispiel Kindererziehung, Pflege) entwertet. ImGegensatz dazu zielen feministische Perspektiven darauf ab,diese Tätigkeiten, die zugleich die Basis für die Gesellschaftund das Leben überhaupt darstellen, in den Mittelpunkt zurücken. Zentrale Prinzipien sind dabei Vorsorge, Kooperationund Orientierung am für das Gute Leben Notwendigen.

Widerstreitende VisionenInternational wurde die Postwachstumsbewegung stark durchdie drei großen Degrowth-Konferenzen 2008 in Paris, 2010 inBarcelona und 2012 in Venedig vorangebracht, auf denenAktivistinnen und Wissenschaftler an der Entwicklunggemeinsamer Positionen gearbeitet haben. Dass dieserkontinuierliche Arbeitsprozess mit der »Vierten Internatio -nalen Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeitund soziale Gerechtigkeit« im September 2014 nach Leipzigkommt, veranschaulicht, dass die Postwachstumsdebatteauch im deutschsprachigen Raum angekommen ist. Dennochbleibt Wachstumskritik ein umkämpftes Terrain mit sich teilsstark widersprechenden Visionen; auch wenn wachstums -kritische Perspektiven von vielen Gruppierungen derdeutschen Umweltbewegung aufgegriffen wurden, ist kaumzu erkennen, welche gesellschaftlichen Akteure eine sogrundsätzliche Veränderung herbeiführen können. Trotzdembilden die dabei entstehenden Praktiken, zusammen mitetablierten Gruppen wie den Transition-Towns, Projekten dersolidarischen Ökonomie und Klimaaktivistinnen einewichtige Grundlage für die Entstehung einer Postwachstums-bewegung. Es bleibt zu hoffen, dass die Postwachstums -perspektiven stärker als bisher an aktuellen Konflikten wieden Flüchtlingskämpfen, Klimaprotesten, Kämpfen um dasRecht auf Stadt oder den Widerstand gegen die neoliberaleTransformation der Europäischen Union anknüpfen.

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Postwachstum

Bücher &c.• Barbara Muraca, Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, Berlin (Wagenbach) 2014.• Frank Adler, Ulrich Schachtschneider, Green New Deal, Suffizienz oder Ökosozialismus?

Konzepte für gesellschaftliche Wege aus der Ökokrise, München (Oekom) 2010.• Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt,

München (Oekom) 2013.

Matthias Schmelzer

Macht Verzicht glücklich?

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ie oft haben Sie heute schon technische Geräte undInfrastrukturen genutzt? Wohl unzählige Male.Technik bestimmt unseren Alltag, zum Guten und

zum Schlechten. Und jetzt stellen Sie sich vor, sie wäre weg:Eine Welt ohne Laubpuster? Fantastisch. Eine Welt ohneTintenstrahldrucker mit eingebautem Verschleißdatum?Durchaus denkbar. Eine Welt ohne Waschmaschine?Schwierig. Eine Welt ohne Internet? Lieber nicht. OhneKanalisation? Ohne befestigte Straßen? Ohne Strom? Nein,nein, nein.

Vordenkerinnen für eine Postwachstumsgesellschafthaben sich seit Jahrzehnten mit der Frage der notwendigenTechnik beschäftigt, viele Grundgedanken stammen aus demKampf gegen zerstörerische Großtechnologien wie Atomkraftoder überdimensionierte Staudämme. Doch das bedeutetnicht, dass Wachstumskritiker technikfeindlich sind. Siearbeiten an einer ganz anderen Technik. Das Konzept der»konvivialen« (»lebensfreundlichen«) Technik, das auf Ivan Illich zurückgeht, berücksichtigt nicht nur – wie die»grüne Technik« – die Ressourcenintensität von Technologien,sondern auch ihre sozialen Auswirkungen. Aktuell lassen sich drei gesellschaftliche Entwicklungen beobachten, in denen mit konvivialer Technik experimentiert wird: das Open Design, die Wieder- und Weiterverwertung sowieder gemeinschaftliche Eigenbau.

Ein Beispiel für den ersten Bereich ist der LifeTrac, einTraktor, der eher wie ein Steckbaukasten für Kinder aussieht:ein rechteckiger Metallkäfig bildet die Grundkonstruktion,

die Fortbewegung erfolgt auf Ketten mit hydraulischemAntrieb, modular können als Werkzeuge Schaufel, Pflug undso weiter eingesetzt werden. Er gehört zum »Global VillageConstruction Set«, einem Baukastensystem für 50 Maschinen,»die man braucht, um eine kleine Zivilisation aufzubauen«,wie es auf der Homepage des Projekts heißt. Der Bauplan undmultimediale Bauanleitungen für diesen Traktor sind OpenSource, das heißt öffentlich einsehbar und nachzubauen.Diese Idee der Quelloffenheit ist bei der Programmierung von Software entstanden und wird seit einigen Jahren alsOpen Design auf den Bereich physischer Güter ausgedehnt.Peer-to-Peer-Produktion nennt sich diese Produktionsweise,die ihre Vertreterinnen als Keimform für eine Neuordnung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsformbetrachten. Patente gibt es nicht mehr, das Prinzip heißtKooperation statt Konkurrenz. Daraus ergeben sich zahlreicheMerkmale des Open-Source-Traktors (die man auch auf anderequelloffene Geräte übertragen kann): Er ist modularaufgebaut, damit Menschen an anderen Orten leichterZusatzteile entwickeln können. Er ist einfach zu bauen und zu reparieren, denn sonst wird er nicht nachgebaut. SeineGröße kann verändert und damit an lokale Verhältnisseangepasst werden. Das Material soll möglichst lokal erzeugtoder wiederverwertet sein.

Damit rückt zweitens eine Utopie in greifbare Nähe:Künftig könnten Menschen die Gegenstände des täglichenGebrauchs in gemeinsam genutzten und verwalteten offenenWerkstätten vor Ort selbst herstellen und reparieren. Noch

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Die bessere Technik für morgen Mit Wiederverwertung, Open Design und gemeinschaftlichem Eigenbau lassen sich zukunftsfähige Produkte entwickeln

Lifetrac, ein Traktor zum Selbstbauen

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Beziehungsfähigkeit AutonomieGerechtigkeit Gesundheit Ressourcenintensität:

fördert und erfordert Konkurrenztrennt Menschenist kapital-, nicht bedarfsorientiertwird »top down« entwickelt und gebautsetzt starke (z. B. staatliche) Hierarchien für die Nutzung voraus

fördert und erfordert Kooperation verbindet Menschen bietet direkte Nutzer-Entwickler-Kommunikationwird innerhalb einer Netzwerk-struktur entwickelt und gebaut lässt sich innerhalb einer flachen Hierarchie betreiben

bietet eine verallgemeinerbareNützungsmöglichkeitist geschlechtergerechtist einfach zu lernensetzt nur frei zugängliches Wissen zur Herstellung oder Nutzung vorauslässt freie Wissensverbreitung zuist günstig

ist effizientverbraucht nachwachsende Materialiennutzt lokale Rohstoffeist recyclebarnutzt örtliche Gegebenheitenbenötigt erneuerbare Energie

erhöht die Bodenfruchtbarkeitverbessert die Wasserqualitätfördert die Reinheit der Lufthilft, Ökosysteme zu erhalten und zu erschaffenhat eine erwiesenermaßen unschädliche Funktionsweise

ist leicht zu warten und zu reparierenist langlebigist anschlussfähig und erweiterbarlässt sich dem lokalen Gebrauch anpassenist für eine lokale Infrastruktur geeignetist zeitsparendkann im Eigenbau hergestellt werden

ist ineffizientverbraucht nichtnachwachsende Materialiennutzt Rohstoffe, die von weit her kommenist nicht recycelbararbeitet gegen natürlich vorkommende Gegebenheitenbenötigt fossile Energieträger

vergiftet oder verarmt den Bodenvergiftet Wasseremittiert schädliche Substanzen in die Atmosphärezerstört Ökosystemebirgt hohe Risiken durch noch unbekannte Schädlichkeit

kann nur von Experten gewartetoder repariert werdenhat eine begrenzte Nutzungsdauerist nicht erweiterbarist nur auf eine Art nutzbarist an eine (überregionale) Infrastruktur gebundenist zeitaufwändigkann nur mit Spezialkenntnissen oder von Spezialmaschinen hergestellt werden

bietet keine verallgemeinbare Nützungsmöglichkeitist nicht geschlechtergerechtist schwierig zu lernensetzt elitäres Wissen zur Herstellungoder Nutzung vorauswird mit schwer zugänglichem, patentiertem oder geheimem Wissen produziertist teuer

Beziehungsfähigkeit AutonomieGerechtigkeit Gesundheit Ressourcenintensität:

manipulative Technik

konviviale Technik

Schanghai

Wuhan

WarschauHamburg

Warschau

Hamburg

Nutzung:60%

230 kg CO2

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Bila

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009–

2014 Einkaufsfahrt:

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Transport:4%

Herstellung:35%

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Dieser Laptop … wurde 2009 in China hergestellt …

in Hamburg verkauft … und 2014 durch einen Rechner mit geringerem Stromverbrauch ersetzt.

Der geringere Stromverbrauch kann das Treibhauspotenzial des neuen Laptops jedoch nicht ausgleichen. Aus ökologischer Sicht hätte sich ein Neukauf wahrscheinlich erst 2042 gelohnt.

Eine bessere Ökobilanz wird eher erreicht durch: eine modulare Bauweise standardisierte Einzelteile die Ermöglichung des Einbaus neuer Hardware eine lange Verfügbarkeit von Ersatzteilen eine recycelbare Konstruktion

1,7 GHz Prozessor, 60 GB Festplatte, 15-Zoll Bildschirm, 3,5/2,8 kg (mit/ohne Verpackung)

Index, 2009 = 100 ProzentEnergieeffizienz

Abschreibungrealistische Energieeffizienzsteigerung

werden in solchen Werkstätten meist massenindustriellerzeugte Dinge repariert oder weiterverwendet, es entstehenErsatzteillager für nicht mehr hergestellte oder defekteGeräte. Während das gegenwärtige Wirtschaftssystem aufdem immer schnelleren Austauschen von Waren beruht – durch geplanten Verschleiß oder modische Neuerungen –,wird die Wieder- und Weiterverwertung von Vorhandenemeine der zentralen Säulen einer Postwachstumsgesellschaftsein. Das ist keine bloße Spielerei, schließlich birgt einesolche Wirtschaftsweise bei Ressourcen und CO2-Emissionenein enormes Einsparpotenzial. Es schont auch Ressourcen,wenn Arbeitsplätze weg von der Neuproduktion hin zumReparieren und Warten verlagert werden.

Drittens bringt der gemeinschaftliche Eigenbau, das Do-it-Together, technische Lösungen hervor, die sich voneinem instrumentellen Naturverständnis verabschieden. So geht es beispielsweise in der Permakultur (englisch:permanent agriculture, eine Form der ökologischen Land -wirtschaft) nicht länger darum, die Natur auszutricksen undzu überwinden, sondern biologische oder geologische Abläufemit möglichst wenig Aufwand für den Menschen nutzbar zumachen. Das Do-it-Together führt zu unkonven tionellen, aber

effektiven Lowtech-Lösungen: die Trocken-Trenn-Toilettekompostiert menschliche Ausscheidungen, mit dem Mikro -vergaser aus alten Konservendosen kann man sowohl Kaffeekochen als auch Holzkohle herstellen, aus alten Fahrradteilenlassen sich Lastenfahrräder zusammen montieren. Einwichtiges Element der Lowtech-Bewegung ist die Weitergabevon technischem Wissen und die Erfahrung, selbst etwasbewirken zu können. Man bleibt also nicht Technik-Konsu-ment, sondern wird selbst Technik-Entwicklerin undbekommt dadurch einen ganz neuen Blick auf die alltäglicheUmgebung. Ein Tetrapack ist dann kein Müll mehr, sondernwertvolles Baumaterial; ein kaputtes Fahrrad und ein paar alteTeile werden zu Rohstoffen für ein neues Rad, die Bauplänedafür stehen Open Source im Netz, und der Bau erfolgtvielleicht in einer kleinen Gruppe in einer offenen Werkstatt.

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Postwachstum

Bücher &c.• LifeTrac auf: www.Opensourceecology.org, mehr zu Peer-Produktion: http://p2pfoundation.net.• Über das ecuadorianische Projekt einer Gesellschaft, die auf offenem Wissen beruht (»Buen Saber«): http://floksociety.org.• Ivan Illich, Selbstbegrenzung, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1973.• Offene Werkstätten: www.offene-werkstaetten.org und www.rusz.at

Andrea Vetter

Leitlinien für eine menschenfreundlichere Technik

Hightech: Lieber länger nutzen als neu kaufen

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• Steffen Lehndorff ist Volkswirt und Arbeitsmarkt forscher am Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen. www.iaq.uni-due.de ⁄ personal ⁄ maseite.php?mid=005

• Stephan Lessenich lehrt Soziologie an der FSU Jena und ist Kodirektor des Kollegs Postwachstumsgesell schaften. www.kolleg-postwachstum.de

• Maria Markantonatou unterrichtet politische Soziologie an der Universität der Ägäis, Lesbos, Griechenland. • Kiran Pereira forscht in den Bereichen Umwelt, Entwicklung und Nachhaltigkeit. Sie hat sich auf die Themen

Wasser und Sand spezialisiert. • Tilman Santarius ist Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet als freier wissenschaftlicher Autor

und promoviert an der Universität und Gesamthochschule Kassel. www.santarius.de • Matthias Schmelzer ist Wirtschaftshistoriker und Politologe und arbeitet am Paul Bairoch Institute of Economic History

an der Universität Genf und in der Vorbereitungs gruppe für die Internationale Degrowth-Konferenz 2014.• Andrea Vetter ist Kulturanthropologin, promoviert an der Humboldt-Universität in Berlin zu konvivialer Technik

und engagiert sich in der Degrowth-Bewegung.

Seite 4/5• Drei Länder, fünf WohlfahrtsindikatorenWorld Income Inequality Database (WIID2c), 2008, http://www.wider.unu.edu/research/Database/en_GB/database/; Eurostat, 2014; J. Bolt und J. L. van Zanden, »The First Updateof the Maddison Project. Re-Estimating Growth Before 1820«, Maddison Project WorkingPaper 4, 2013; OECD, 2014; BBVA, »Educational Attainment in the OECD, 1960–2010«, Working Papers Number 12/20, 2012; OECD Health Statistics, 2013.• Sozialleistungen in DeutschlandBundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget, 2011.• Der gefühlte SozialstaatEuropean Value Survey 2008.Seite 6/7• Ohne Sand keine Straßen, Häuser und BürosEuropean Aggregrates Association (UEPG), Annual Review 2012–2013; Bundesanstalt fürGeowissenschaften und Rohstoffe, Steine- und Erden-Rohstoffe in der BundesrepublikDeutschland, Geologisches Jahrbuch, Sonderheft 10, 2012.• Landgewinnung in SingapurUNEP/GRID-Geneva; UN Comtrade, 2014.• Das 20. Jahrhundert: Bauen mit StahlbetonU.S. Geological Survey, Data Series 140.Seite 8/9• Rückläufiger Bedarf auf hohem NiveauFritz Schwarzkopp und Jochen Drescher, Die Nachfrage nach Primar- und Sekundär -rohstoffen der Steine-und-Erden-Industrie bis 2030 in Deutschland, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), 2013.• Die Sandgewinnung in der deutschen Nord- und Ostsee findet überwiegend ingeschützten Gebiete stattBundesamt für Naturschutz (BfN).• Nutzung nach dem Abbau: In den meisten Baggerseen wird geangeltBund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), »Baggerseen, Ersatzlebensraumoder Wunden in den Flusstalern?«, BUNDBerichte 17, 2000.Seite 10/11• Die Etappen des NiedergangsLe Monde diplomatique, Berlin.• Südeuropas verlorene GenerationEurostat, 2014.• Die große DepressionEurostat, 2014. Hellenic Statistical Authority, 2014, www.statistics.gr.• Das größte DefizitEurostat, 2014.Seite 12/13• Die Überschüsse der Deutschen und die Defizite der anderenOECD, Economic Outlook Nº 95, 2014. • Mehr Leistung, weniger LohnVGR, WSI-Tarifarchiv, Berechnung durch Steffen Lehndorff.• Zwischen Euroeinführung und EurokriseDeutsche Bundesbank, 2014.• Exporte in alle WeltStatistisches Bundesamt, Außenhandel, Rangfolge der Handelspartner im Ausland, 2013.• Einkommensentwicklung vor und in der KriseAMECO-Datenbank, Berechnungen durch das WSI.

• Gewinne auf Kosten der LöhneStatistisches Bundesamt 2012, zit. nach und Berechnungen durch Claus Schäfer, WSI-Mitteilungen 8, 2012. Seite 14/15• WärmebedarfJohannes Venjakob und Thomas Hanke, 2006, zit. nach: BUND Hamburg, Diakonie Hamburgund Zukunftsrat Hamburg (Hg.), Zukunftsfähiges Hamburg. Zeit zum Handeln, 2010.• KraftstoffverbrauchResearch and Innovative Technology Administration (RITA), 2014, http://www.rita.dot.gov.• Der Preis des LichtsRoger Fouquet und Peter J.G. Pearson, »Seven Centuries of Energy Services: The Price andUse of Light in the United Kingdom (1300–2000)«, The Energy Journal, Vol. 27, No. 1, 2006.• Wachstum macht Effizienzgewinne zunichteUNEP, Towards a Green Economy: Pathways to Sustainable Development and Poverty Eradication, 2011, www.unep.org/greeneconomy.Seite 16/17• Drei Modelle für KanadaP. A. Victor, »Growth, degrowth and climate change: A scenario analysis«,Ecological Economics 84, 2012.• Zwei Prognosen für GroßbritannienNew Economics Foundation (NEF), The Great Transition, 2010.Seite 18/19• Postwachstum: Denkschulen und ihre KöpfeMatthias SchmelzerSeite 20/21• Die globalen Indikatoren zeigen: So kann es nicht weitergehenJohan Rockström u. a., »A safe operating space for humanity«, Nature Vol. 461, 2009; Johan Rockström u. a., Supplementary Information, http://www.stockholmresilience.org/. • Produktion und Distribution im Raum: Small is beautifulNew Economics Foundation (NEF), The Great Transition, 2010.• Macht Verzicht glücklich?TNS Forschung, 2014 (n=900), zit. nach Spiegel 14, 2014. Seite 22/23• Lifetrac, ein Traktor zum Selbstbauenhttp://opensourceecology.org.• Hightech: Lieber länger nutzen als neu kaufenPrakash Siddharth u. a., »Zeitlich optimierter Ersatz eines Notebooks unter ökologischenGesichtspunkten«, Umweltbundesamt, 2012, http://www.oeko.de/oekodoc/1583/2012-439-de.pdf.• Leitlinien für eine menschenfreundlichere TechnikAndrea Vetter

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AutorInnen

Quellen

atlas_prerelease_v15.qxp_prerelease-atlas-2015 14/08/18 17:06 Page 24

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monde-diplomatique.de

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