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1 WOJ 20. JG. - 2/2014 APRIL/MAI/JUNI ISSN 0947-5273 »Joseph Schmidt war ein Superstar seiner Zeit! Er begeisterte mit seiner Stimme Millionen von Menschen vor den heimischen Radios und füllte die Konzertsäle in Berlin, Wien und New York. Die Begeisterung des Publikums hatte fast schon Züge einer Massenhys- terie«, so Carsten Eichenberger vom Haus der Heimat des Landes Baden- Württemberg und Alfred A. Fassbind, Leiter des Joseph Schmidt-Archivs im schweizerischen Oberdürnten ... SEITE 9 AUSSTELLUNG Er war auch ein »1914er« – so wie etwa Hanns Helmut Kirst oder Herbert Czaja. Eine Generation, deren Schick- sal es war, nicht mehr der vermeintlich »guten alten Zeit« vor dem Ersten Weltkrieg angehören zu dürfen, der »Welt von Gestern«, wie Stefan Zweig sie wehmütig genannt hat. Einer Welt, in der es scheinbar noch feste Ordnun- gen und damit Orientierungsmöglich- keiten gab, »Sicherheiten« wenigstens in subjektiver Wahrnehmung ... . SEITE 24 AUSSTELLUNG Kriegswinter 1942. Gefreiter Asch ( Jo- achim Fuchsberger) liegt mit seiner Einheit seit Monaten im zermürben- den Stellungskrieg an der Ostfront. Zu allem Überdruss wird der ehrgeizige Hauptmann Witterer (Rolf Kutsche- ra) zum neuen Batterie-Chef ernannt. Von kameradschaftlicher Führung, wie Oberleutnant Wedelmann (Rainer Penkert) sie pflegt, hält der Menschen- schinder und Karrierist nichts. Stattdes- sen bringt er die Front in Aufruhr ... SEITE 24 KINEMATHEK Eine fruchtbare Beziehung: Literatur und Musik WEST-OST-JOURNAL 2 2014 APRIL MAI JUNI WWW.GERHART-HAUPTMANN-HAUS.DE © JIM RAKETE

West-Ost-Journal 2 2014

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Programmzeitschrift der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus

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Page 1: West-Ost-Journal 2 2014

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»Joseph Schmidt war ein Superstar seiner Zeit! Er begeisterte mit seiner Stimme Millionen von Menschen vor den heimischen Radios und füllte die Konzertsäle in Berlin, Wien und New York. Die Begeisterung des Publikums hatte fast schon Züge einer Massenhys-terie«, so Carsten Eichenberger vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg und Alfred A. Fassbind, Leiter des Joseph Schmidt-Archivs im schweizerischen Oberdürnten ...

Seite 9

Ausstellung

Er war auch ein »1914er« – so wie etwa Hanns Helmut Kirst oder Herbert Czaja. Eine Generation, deren Schick-sal es war, nicht mehr der vermeintlich »guten alten Zeit« vor dem Ersten Weltkrieg angehören zu dürfen, der »Welt von Gestern«, wie Stefan Zweig sie wehmütig genannt hat. Einer Welt, in der es scheinbar noch feste Ordnun-gen und damit Orientierungsmöglich-keiten gab, »Sicherheiten« wenigstens in subjektiver Wahrnehmung ...

. Seite 24

Ausstellung

Kriegswinter 1942. Gefreiter Asch ( Jo-achim Fuchsberger) liegt mit seiner Einheit seit Monaten im zermürben-den Stellungskrieg an der Ostfront. Zu allem Überdruss wird der ehrgeizige Hauptmann Witterer (Rolf Kutsche-ra) zum neuen Batterie-Chef ernannt. Von kameradschaftlicher Führung, wie Oberleutnant Wedelmann (Rainer Penkert) sie pflegt, hält der Menschen-schinder und Karrierist nichts. Stattdes-sen bringt er die Front in Aufruhr ...

Seite 24

KinemAtheK

Eine fruchtbare Beziehung:Literatur und Musik

West-Ost-JOurnAl 2 2014 April MAiJuni

WWW.gerhArt-hAuptMAnn-hAuS.de

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Page 2: West-Ost-Journal 2 2014

Liebe Leserinnenund Leser, liebe Freundedes Gerhart-Hauptmann-Hauses,

2 editOriAl

Inhalt3 »WAch Auf und träuMe«

4 AndreAs hillgruber (1925-1989) – ein deutscher historiker - ZuM 25. todestAg AM 8. MAi 2014

7 Wider den riss durch deutschlAnd – ein schriftstellerleben in ost und West

8 »Als iM gurkenlAnd die häuser Wuchsen«

9 sein lied ging uM die Welt

11 die »AusMerZung des Jüdischen eleMentes« in der deutschen Musik (1933-1945)

12 der filM Zur Ausstellung »ein lied geht uM die Welt«

12 »Alle Welt preist deine herrlichkeit« – die religiösen gesänge Joseph schMidts

kontrApunkt s. 13-16

13 »die spurensuche der enkel hAt begonnen«

15 Abschied in WerschetZ

16 reisenotiZen Aus isrAel

17 dirk urlAnd M.A. (1960-2014)

18 »und dAnn und WAnn ein Weisser elefAnt«

19 ein kinderschicksAl – Aus deM sudetenlAnd nAch hessen

20 »Wer erZählt, erinnert sich«

21 Verleihung des AndreAs gryphius-preises An hAns bergel

21 »europA – nein dAnke?«

22 VertriebenengedenktAg: JA, Aber WAnn?

23 kAiserdäMMerung – der schAttenWurf des JAhres 1914

24 geWorfen ins »ZeitAlter der extreMe«

24 »08/15« – teil 2, gefreiter Asch in russlAnd

25 »Aber in Meiner heiMAt treibt Alles Musik…« – böhMen, dAs konserVAtoriuM europAs

28 neueS AuS der bibliothek

im Jahre 1992 veröffentlichte der amerikanische politikwissenschaftler francis fukuyama ein buch, das ei-niges Aufsehen erregte: »das ende der geschichte«. fukuyama sah da-rin nicht etwa ein apokalyptisches Weltuntergangszenario oder das ende von geschehnissen innerhalb der menschlichen population als be-vorstehend an, sondern vielmehr das »ende der geschichte« im sinne des schwindens großer systemantagonis-men als bewegungsmoment der ge-schichte. kapitalismus und die demo-kratie westlich-liberalen Zuschnitts standen, so meinte fukuyama, nach dem Zusammenbruch des sozialistischen, diktatorisch regierten staatenblocks unter führung der sowjetunion, ohne großen gegenentwurf da, es gab also keine sich unversöhnlich gegenüber-stehenden, weltweit um Vorherrschaft und überwindung der anderen seite ringenden Weltanschauungslager mehr. somit erschien das ende des kalten krieges als das »ende der geschichte«.Vor einem knappen Vierteljahrhundert mochte fukuyamas these nicht we-nigen einleuchtend erscheinen: ende dezember 1991 – einige Monate vor dem erscheinen seines buches – hatte sich die sowjetunion förmlich aufge-löst. die sozialistischen planwirtschaften wurden privatisiert und von staatli-cher gängelung befreit, marktwirtschaftlich umstrukturiert, die herrschaft der kommunistischen funktionärseliten in ost- und ostmitteleuropa wich einem demokratisierungsprozess. scheinbar.dass der siegeszug des kapitalismus gewissermaßen zwangsläufig die de-mokratie westlicher prägung im gepäck hat, denkt wohl heute niemand mehr. dass kapitalismus und autoritäre regierungsformen unschwer kombinierbar zu sein scheinen, dürfte im gegensatz dazu evident zu sein. fukuyama selbst hat inzwischen eingeräumt, dass er die entwicklung des islamismus nicht be-rücksichtigt und dass er die gefahren für die demokratie, die gerade vom »turbo-kapitalismus« ausgehen, unterschätzt hat. so ist die geschichte also keineswegs »zu ende«, auch wenn – bisher – ein »großer« gegenentwurf zum kapitalismus fehlt; als allseits akzeptierte wirtschafts- und gesellschaftspoli-tische »endstufe« erscheint er in seiner gegenwärtigen form wohl nur gewis-sen sehr kleinen kreisen mit der neigung zu spekulativen finanzgeschäften.Wir leben eben nach wie vor nicht in der »einen Welt«, die keine fundamen-talkonflikte und damit keine »geschichte« mehr kennt. unser blick richtet sich derzeit sorgenvoll nach osten, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem ende der sowjetunion, ein Jahrzehnt nach der »osterweiterung« der europäischen uni-on. deutschland liegt, das bedingt nun einmal die europäische geographie, in der Mittlerposition zwischen ost und West. umso wichtiger ist es für die bundesrepublik, deren geschichte und bewusstsein vor 1989/90 vorrangig von der ökonomischen, aber auch mentalen »Westintegration« geprägt wur-den, heute kultur und geschichte ost- und ostmitteleuropas im eigenen be-wusstsein wach zu erhalten. und zwar hauptsächlich aus zwei gründen: Weil sie bis zu einem gewissen grade teil unserer eigenen geschichte sind, und weil die gegenwärtige entwicklung in diesem raum schwerlich verstanden werden kann ohne kenntnis ihrer historischen Voraussetzungen. die Ausei-nandersetzung mit geschichte hält keine patentlösungen für gegenwart und Zukunft parat. Aber sie kann helfen, vorschnelle fehler zu vermeiden, weil sie den blick für komplexe Verhältnisse schult. insofern nehmen wir mit unserem programm eine Aufgabe wahr, die eines ganz gewiss nicht ist: rückwärtsge-wandt. schauen sie mit uns nach vorne.

Page 3: West-Ost-Journal 2 2014

3 lesung

hAnnA schygullAliest Aus ihrer AutobiogrAphie

»Wach auf und träume«

so,22.06. 11 uhr

Hanna Schygulla ist eine Ausnahmeer-scheinung in der europäischen Film- und Theaterlandschaft. Melancholisch, ein wenig entrückt, verführe-risch, unergründlich – so kennt man sie aus den Filmen von Rainer Werner Fassbinder, Jean-Luc Godard, Andrzej Wajda, Fa-tih Akin oder Alexander Soku-rov. Ihre Autobiographie »Wach auf und träume«, die 2013 zu ihrem 70sten Geburtstag erschienen ist, nimmt die Leser mit auf eine Zeitreise durch ihr bewegtes Leben und zeigt die Frau hinter den Filmrollen.Hanna Schygulla wird am 25. Dezem-ber 1943 in der oberschlesischen In-dustriestadt Königshütte geboren. Der Arzt hatte der Mutter, die bereits am 24. Dezember in den Wehen lag, ein We-hen hemmendes Mittel gespritzt, damit er in Ruhe Weihnachten feiern konnte. Die Geburt zieht sich für Mutter und

Tochter qualvoll in die Länge. Kommt daher – so fragt sich die erwachsene Hanna in ihrer Autobiographie – der »Horror vor dem Steckenbleiben«? 1945 flieht die Mutter mit der zwei-jährigen Hanna vor den Russen nach München. Drei Jahre später stößt der Vater Joseph Schygulla, ein Holzarbei-ter, nach seiner Entlassung aus der ame-rikanischen Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie. Seine Heimkehr gehört zu den ersten schmerzhaften Kindheits-erinnerungen. Der Vater ist für sie ein Fremder, der keine Gefühle zeigen, ge-schweige denn seine kleine Tochter in den Arm nehmen kann.In München geht Hanna Schygulla zur Schule und macht das Abitur, dort be-

ginnt sie 1964 Germanistik und Roma-nistik zu studieren. Als sie eines Tages zufällig eine Freundin in deren Schau-

spielschule begleitet, trifft sie dort einen Jungen. Sie denkt: »Der ist besonders begabt, und er mag mich nicht.« Es ist Rainer Werner Fassbinder. Ent-gegen ihrer ersten Vermutung mag Rainer Werner Fassbinder die junge Han-

na Schygulla und er ist es auch, der ihr großes Schauspieltalent erkennt. In seinem Action-The-ater bietet er ihr die erste Theaterrolle – die Antigone – an. Viele weitere Rol-len folgen und auch beim Film erhält sie kleine Engagements. 1969 dreht Fassbinder seinen ersten abendfüllen-den Spielfilm »Liebe ist kälter als der Tod« und gibt darin Hanna Schygulla ihre erste Hauptrolle. Von da an spielt

sie in vielen seiner Filme und Theater-stücke mit. Zu den bekanntesten zäh-len »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« (1972), »Effi Briest« (1974), »Die Ehe der Maria Braun« (1978), »Berlin Alexanderplatz« (1979) und natürlich »Lili Marleen« (1980). Fass-binder macht sie zu einem Star, sie wird seine Muse, aber die Beziehung zu ihm ist nicht ohne Konflikte. Er will bedin-gungslose Liebe und Gefolgschaft in seinem »Clan«, sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Es kommt immer wie-der zu Brüchen, manche dauern Jahre. 1982 stirbt Fassbinder, der »verhexte Hexer«. Da hat sich Hanna Schygulla als Schauspielerin bereits unabhängig von ihm gemacht. Sie dreht mit Jean-

Luc Godard »Passion« (1982) und mit Andrzej Wajda »Eine Liebe in Deutschland« (1983), für ihre Rolle in Marco Ferreris »Storia di Piera« erhält sie 1983 den »Preis für die beste Dar-stellerin« in Cannes. In den 90er Jahren wird Hanna Schygulla zudem auch als Chansonsängerin bekannt. In den letz-ten Jahren arbeitet Schygulla vor allem mit Filmregisseuren der jüngeren Ge-

neration wie mit Till Franzen in »Die blaue Grenze« (2005), Hans Steinbichler in »Win-terreise« (2006) und

mit Fatih Akin in »Auf der anderen Sei-te« (2007).Nun hat Hanna Schygulla ihre Autobio-graphie geschrieben. Ohne ein »zeit-liches Hintereinander« schildert sie in einzelnen Kapiteln Lebensstationen und Lebenssituationen wie ihre kurze Kindheit in der Heimat Schlesien, ihre intensive Zusammenarbeit mit dem Regisseur Fassbinder, ihre dreizehn Jah-re währende Liebe zu dem Schriftstel-ler Jean-Claude Carrière, ihr Leben in Paris, die jahrelange Pflege der beiden Eltern bis zu ihrem Tod, ihre eigene Er-krankung, die sie zeitweise an den Roll-stuhl fesselt, die Pläne für eine Zukunft in Berlin. Es ist keine minutiöse Chro-nik einer Schauspielkarriere, sondern eher eine literarische Zeitreise durch ein intensiv gelebtes Leben. Der Leser begegnet einer lebensklugen, empfind-samen Frau, die nachdenklich und mit sich im Reinen über sich und das eigene Tun schreibt. »Wach auf und träume«, ein Zitat von Henrik Ibsen und der Ti-tel ihrer Autobiographie, gibt wider, was Hanna Schygullas Wesen ausmacht: im Leben und im Spiel mit offenen Augen zu träumen.Im Rahmen der Düsseldorfer Litera-turtage 2014 liest Hanna Schygulla in einer Matinee im Savoy-Theater aus ih-rer Autobiographie. Im Anschluss führt Michael Serrer (Literaturbüro NRW) ein Gespräch mit der Schauspielerin über ihr Leben, ihre Arbeit, über das Wachsein und das Träumen.

MArgArete pOlOk

Eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Literaturbüro NRW und der VHS.Savoy-Theater Düsseldorf, Graf-Adolf-Straße 47, 40210 Düsseldorf, Eintritt: 12,00 € + VVK; Tageskasse 12,00 €, Vorverkauf an allen bekann-ten Vorverkaufsstellen.

hAnnA SchygullA © JiM rAkete

iM rAhMen der düSSeldOrfer

literAturtAge 2014

Page 4: West-Ost-Journal 2 2014

4 VOrtrAg

mi, 14.05. 19.00 uhr

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass Auseinandersetzungen innerhalb der »Zunft« der Historikerinnen und Historiker massenmediale Aufmerk-samkeit auf sich ziehen. Bei den »nor-malen«, unablässig um das eine oder andere Thema kreisenden fach-wissenschaftlichen Debatten mag sich manch ein Beteiligter einiges zugute halten hinsicht-lich seiner »Prominenz« und Meinungsführerschaft inner-halb der Kollegenschaft – was aber noch lange nicht bedeu-tet, dass dergleichen jenseits der Türen von Hörsälen und Konferenzzentren überhaupt registriert wird. Zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlicher Reichweite von auch noch so klug und kompetent begründeten Mei-nungsäußerungen klafft zuweilen eine beträchtliche Lücke. Und wer liest im Abspann der allfälligen »Dokus« und »Histotainment«-Sendungen schon die Namen, die unter »Wissenschaftli-che Beratung« firmieren?Wenn also Namen von »Experten« und Inhalte von »Kontroversen« über die im engeren Sinne fachlichen Kom-munikationskanäle hinaus etwa in der Tagespresse oder gar dem Fernsehen einen gewissen Bekanntheitsgrad er-langen, so ist das durchaus ungewöhn-lich. Bezogen auf die historiographi-schen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland kann dies wohl nur für zwei Fälle festgestellt werden: Zunächst für die sogenannte »Fischer-Kontro-verse«, die – ausgelöst durch den Kieler Historiker Fritz Fischer (1908-1999) – seit Beginn der 1960er Jahre den teils heftigen Streit um die Verteilung der Verantwortlichkeiten für den Aus-bruch des Ersten Weltkrieges in eine breite Öffentlichkeit trug. Insbeson-dere die Frage, ob die »Kriegsschuld« so einseitig dem damaligen Deutschen Reich angelastet werden konnte, wie es der Versailler Vertrag vom Juni 1919 auf Beschluss der Siegermächte tat, war umstritten – und blieb es im gewissen Sinne bis heute. Denn die Erinnerung an den am 01. August 2014 bevorste-henden 100. Jahrestag des Kriegsbe-ginns hat im Grunde lediglich eine neue Runde in der noch immer unab-geschlossenen Debatte eingeläutet. Die Reaktionen auf das neue, in unserem Programm im Herbst des vergangenen Jahres vorgestellte Buch des britischen

Historikers Christopher Clark (Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ers-ten Weltkrieg zog, München 2012) ha-ben dies zur Genüge gezeigt.Ähnlich stark schlug das massenmedi-ale Aufmerksamkeitsbarometer wohl

nur noch bei den Auseinander-setzungen aus, die, seit dem Juni 1986 geführt, unter dem Namen »Historikerstreit« zusammen-gefasst werden. Ausgangspunkt der damaligen, höchst kontro-versen Debatte war ein Beitrag des (West-)Berliner Historikers

Ernst Nolte (geb. 1923) in der »Frank-furter Allgemeinen Zeitung« vom 06. Juni 1986, in welchem Nolte die These vertrat, der Massenmord an den euro-päischen Juden durch das nationalso-zialistische Regime sei erst ermöglicht worden durch die vorausgegangenen Gewaltaktionen des kommunistischen Regimes gegen »bürgerliche« und sonstige »Klassenfeinde« in der Sowjet-union seit 1917. Der Holocaust habe, so Nolte, gewissermaßen »reaktiven« Charakter gehabt, da die NS-Ideologie die Schaffung der kommunistischen Diktatur auf den Trümmern des zusam-mengebrochenen russischen Zarenrei-ches für das Ergebnis einer »jüdisch-bolschewistischen Verschwörung« hielt.Nur wenige Wochen später wurde der Auffassung Noltes scharf widerspro-chen, und zwar durch den Frankfurter Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1929), der seinerseits mit der Wochenzeitung »Die Zeit« ein Pressemedium und kein fachwis-senschaftliches Organ nutzte (»Eine Art Schadensabwicklung. Die apolo-getischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«, in: Die Zeit, Nr. 29 v. 11.07.1986, S. 40). Ha-bermas hielt Noltes Sichtweise für eine unzulässige »Relativierung« des einzig-artigen Charakters des Holocaust und unterstellte ihm zugleich die Absicht einer »Revision« des Geschichtsbildes in der Bundesrepublik Deutschland, in dessen Mittelpunkt (bezogen auf das 20. Jahrhundert) die Verbrechen des NS-Regimes standen. Habermas be-gnügte sich indessen nicht damit, Nolte zu attackieren, sondern griff auch gleich drei weitere Historiker an. Diesen wie-derum unterstellte er, sie würden die Sichtweise Noltes stützen. Habermas nannte Michael Stürmer (geb. 1938)

– damals Universität Erlangen –, Klaus Hildebrand (geb. 1941) – Universität Bonn – und Andreas Hillgruber – Uni-versität Köln.Der sich daraufhin rasch ausweitende Streit hatte von Beginn an einen emi-nent politischen Kontext: Im Oktober 1982 war Helmut Kohl nach dem Aus-stieg der FDP aus der Koalition mit der SPD im Zuge eines konstruktiven Misstrauensvotums als Nachfolger Helmut Schmidts zum Bundeskanzler

gewählt worden. Nach 13 Jahren SPD-geführter Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt war damit erstmals wieder ein CDU-Politi-ker Regierungschef. Bei der von Kohl kurz darauf herbeigeführten Neuwahl des Bundestages am 06. März 1983 wurde die CDU/CSU-FDP-Koalition mit einer sicheren Mehrheit bestätigt. Der neue Kanzler stand auch für den Anspruch einer konservativen »geistig-moralischen Wende«, die vermeintlich eine Abkehr von der vorangehenden sozialliberalen Reformära intendierte. Habermas und andere sahen in dem Vorstoß Ernst Noltes gewissermaßen die geschichtspolitische Dimension dieser »Wende«.Dass Hildebrand, Hillgruber und Stür-mer dabei mit ins Visier von Habermas gerieten, leuchtete auf den ersten Blick eigentlich nur im Falle Stürmers ein, dessen Rolle als Berater Kohls gemein-hin bekannt war. Keiner der drei hatte sich indessen ausdrücklich mit Noltes Sichtweise einverstanden erklärt, alle drei galten jedoch als eher konservative Fachvertreter. Insbesondere für Andre-

VortrAg und diskussion Mit prof. dr. Jost dülffer (uniVersität Zu köln)Andreas Hillgruber (1925-1989) – ein deutscher Historiker Zum 25. Todestag am 8. Mai 2014

AndreAS hillgruber (1925-1989)

Page 5: West-Ost-Journal 2 2014

5 VOrtrAg

as Hillgruber stellten die teilweise bis ins Persönliche reichenden Angriffe, die aus seiner Involvierung in den »Histo-rikerstreit« herrührten, in seiner letzten Lebensphase eine schwere Belastung dar.Hillgrubers Vita als Mensch und mehr noch als Wissenschaftler fällt in man-cher Beziehung aus dem Rahmen. Er wurde am 18. Januar 1925 im ostpreu-ßischen Angerburg in einer Lehrerfami-lie geboren. 1943 legte er an der Staat-lichen Hufenschule in Königsberg das Abitur ab. Danach wurde Hillgruber, wie so viele Altersgenossen, zur Wehr-macht einberufen. Bei Kriegsende 1945 Unteroffizier, war für ihn, als er 1948 aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, an eine Rückkehr in die Heimat natürlich nicht zu denken. Der 23-Jährige entschloss sich, in die väterlichen Fußstapfen zu treten, und nahm noch im gleichen Jahr in Göt-tingen ein Lehramtsstudium in den Fächern Geschichte, Germanistik und Pädagogik auf. Nach dem Staatsexamen 1952 promovierte Hillgruber über die Beziehungen zwischen NS-Deutsch-land und Rumänien bei dem Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm. Seit 1954 war er im Schuldienst tätig – die Wissenschaft ließ ihn indes nicht los. Zeitweilig als Stipendiat der Deut-schen Forschungsgemeinschaft arbei-tete Hillgruber an der voluminösen, in der Druckfassung mehr als 700 Seiten umfassenden Studie »Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941« (München 1965). Darin untersucht er detailliert die langfristigen Absichten, die Hitlers Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion zugrunde lagen – eine militärische Auseinandersetzung, die von den ideologischen Prämissen des NSDAP-Chefs ausgehend dessen »ei-gentlicher« Krieg wurde und von An-fang an beabsichtigt war. Mit dieser Ar-beit, die nach wie vor als Standardwerk gilt, habilitierte sich Hillgruber 1965 bei dem Marburger Osteuropa-Histori-ker Peter Scheibert. Der durchaus unge-wöhnliche Sprung aus dem Schuldienst zurück an die Universität gelang ihm endgültig , als er 1968 auf eine Professur für Neuere Geschichte an der Universi-tät Freiburg i. Br. berufen wurde. Kurz-zeitig war er auch Leitender Historiker des damals in Freiburg befindlichen Militärgeschichtlichen Forschungsam-tes der Bundeswehr. Schon 1972 wech-selte Hillgruber – tatkräftig unterstützt von dem einst an der Königsberger Albertina lehrenden Theodor Schieder (1908-1984) – auf einen historischen Lehrstuhl an der Universität zu Köln.Von Köln aus festigte Hillgruber seinen Ruf als Experte für die Geschichte der

Außenpolitik und der internationalen Stellung Deutschlands vor allem von der Gründung des Kaiserreichs 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine noch immer lesenswerte, ebenso knappe wie pointiert formulierte Syn-these von Hillgrubers Interpretation der deutschen Außenpolitik vom Kai-

serreich bis zum Untergang des NS-Staates erschien zuerst 1980 unter dem Titel »Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871-1945«. Erstmals einer größeren Öffentlichkeit jenseits der Fachwissen-schaft wurde Hillgrubers Name 1983 bekannt. Die Zeitschrift »Stern« brach-te mit großem (Werbe-)Aufwand eine vermeintlich sensationelle Neuigkeit

ans Licht – die angeblich erst unlängst aufgefundenen, bislang unbekannten Tagebücher Adolf Hitlers. Andreas Hill-gruber, als Zeithistoriker mit den Quel-len zur NS-Führung vertraut, war sofort der Auffassung, dass es sich nur um Fäl-schungen handeln könne. Der »Stern« überschüttete Hillgruber daraufhin mit Hohn und Spott – und musste rasch klein beigeben, als kriminaltechnische Untersuchungen Hillgrubers Mutma-ßungen vollauf bestätigten.

Anfang 1986 veröffentlichte Hillgru-ber beim (West-)Berliner Siedlerver-lag das schmale Bändchen »Zweier-lei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums«. Im Jahr zu-vor war in der gleichen »Corso«-Reihe ein Band mit Reden des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weiz-säcker erschienen – darin enthalten war auch Weizsäckers viel diskutierte Ansprache vor dem Deutschen Bun-destag anlässlich des 40. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 08. Mai 1985. Weiz-säcker wertete den 08. Mai 1945 mit Nachdruck als »Tag der Befreiung«, nicht allein für KZ-Häftlinge und an-dere Opfer des NS-Regimes, sondern für alle Deutschen, und löste gerade mit dieser Betonung eine teilweise erregte Diskussion aus. Hillgruber, der gebür-tige Ostpreuße, sah sich – ohne direk-ten Verweis auf die Weizsäcker-Rede – offenbar veranlasst, seine Sicht auf die Bedeutung des Kriegsendes in Europa 1945 explizit zum Ausdruck zu bringen. Ergebnis war der erste in seinem Corso-Band abgedruckte Beitrag unter dem Titel »Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäi-schen Geschichte«. Einerseits betont Hillgruber darin die Bedeutung des Ab-wehrkampfes der Wehrmacht gegen die vordringende Rote Armee 1944/45, da dieser unzähligen Menschen noch die Flucht aus den dann von den sow-jetischen Streitkräften Zug um Zug er-oberten deutschen Ostgebieten ermög-lichte. Angesichts des Ausmaßes der dabei ausgeübten Gewalt gegen zivile »Nicht-Kombattanten« und der lang-fristigen Folgen für die ganze deutsche Nation verwirft er ausdrücklich den Be-griff der Befreiung (S. 24). Gewiss war Hillgrubers Sicht nicht zuletzt von der eigenen familiären Erfahrung geprägt – sein Vater, der 1937 vom NS-Regime zwangspensioniert worden war, kam 1946 in sowjetischer Gefangenschaft um.Mindestens ebenso wichtig wie die Be-wertung des 08. Mai 1945 war Hillgru-ber in dem Essay über den Zusammen-bruch im Osten aber die Darlegung und Begründung einer zentralen These, die er prominent gleich im Vorwort formu-lierte: »Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Zerschlagung des Deutschen Reiches [...] waren nicht nur eine ‚Antwort‘ auf die – im Krieg ja noch gar nicht in vollem Maße bekannt gewordenen – Verbrechen der natio-nalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern entsprachen lange erwogenen

fOrtSetzung Auf Seite 6

ernSt nOlte

Jürgen hAberMAS

Page 6: West-Ost-Journal 2 2014

6 6 VOrtrAg

Zielen der gegnerischen Großmächte, die während des Krieges zum Durch-bruch gelangten.« (S. 9f.)Bei der näheren Entfaltung dieser Sicht hatte für Hillgruber – neben der sow-jetischen – die britische Kriegszielpla-nung besonderen Stellenwert. Deren Entwicklung blieb, darauf verwies Hillgruber mit Entschiedenheit, nicht unbeeinflusst von den Vorstellungen der polnischen und der tschechoslowa-kischen Exilregierung in London hin-sichtlich der Gestaltung der künftigen europäischen Nachkriegsordnung. Die Londoner Verantwortlichen fassten so frühzeitig – nämlich schon 1942 – eine weitreichende ethnische und politi-sche Umgestaltung Ostmitteleuropas ins Auge. Hillgruber wörtlich: »Von diesem Zeitpunkt an hatte die Absicht einer Bevölkerungsverschiebung in Ostmitteleuropa, mittels derer zugleich der aus britischer Sicht harte Kern Deutschlands, nämlich Preußen, gebro-chen werden sollte, einen festen Platz in der britischen Nachkriegsplanung. Das, was im Ersten Weltkrieg an Gedanken einer völkischen Feld- und Flurberei-nigung in Deutschland verbreitet war, was auf deutscher und sowjetischer Sei-te seit Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 praktiziert worden war, war nun […] auch von britischer Seite in die eigene Kriegszielplanung als ein Element eingefügt worden, das eine vermeintlich dauerhafte Sicherung der eigenen Führungsrolle in Europa zu versprechen schien.« (S. 53)Das, was Hillgruber hier verknappt zusammenfasste, basierte nicht zuletzt auf einer erheblich umfangreicheren Studie, die er 1982 veröffentlicht hat-te: »Der Zweite Weltkrieg 1939-1945: Kriegsziele und Strategien der großen Mächte« (Stuttgart u. a. 1982). Das re-nommierte Werk erlebte bis 1996 fünf weitere Auflagen. Womöglich war es kein glücklicher Einfall Hillgrubers, in dem Band »Zweierlei Untergang« zwei ganz unterschiedliche Texte zusam-menzufassen. Der erste Text über den Zusammenbruch im Osten gehörte zu einem Hillgruber sehr geläufigen For-schungskontext. Seine dort entwickelte Sichtweise dürfte heute von kaum je-mandem als rundweg falsch angesehen werden. Hillgruber hatte sich intensiv wissenschaftlich mit der Deutschland-politik Großbritanniens unter dem konservativen Premierminister Win-ston Churchill befasst; er hat die große Reserve, die das von der konservativen Premierministerin Margaret That-cher regierte Großbritannien gegen die Herstellung der deutschen Einheit 1989/90 hegte, nicht mehr miterlebt, denn er starb am 08. Mai 1989. Über-

rascht hätte sie ihn wohl kaum. Denn sie fügt sich gut ins Bild.Der zweite, in dem Corso-Bändchen enthaltene Text »Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung« ist nicht nur erheblich kürzer als der erste, er be-handelt auch einen Gegenstand, näm-lich den Holocaust, über den Hillgruber selbst nicht unmittelbar geforscht hatte. Ursprünglich handelte es sich um das von Hillgruber 1984 in Stuttgart gehal-tene Schlussreferat auf einem Kongress über den Holocaust. Inhaltlich reicht er kaum über die knappe Zusammenfas-sung von landläufig Bekanntem hinaus.Mit der vermeintlichen Verknüpfung der unabhängig voneinander entstan-denen Texte lieferte Hillgruber selbst Habermas die Vorlage, um ihn der »Re-lativierung« des Holocaust zu bezich-tigen, da er diesen ja gewissermaßen im gleichen Atemzug mit der überaus gewaltsamen Eroberung der deutschen Ostgebiete durch die Rote Armee, mit Flucht, Vertreibung und Gewaltverbre-chen gegen die deutsche Zivilbevöl-kerung nannte. Eine wie auch immer geartete Verharmlosung oder ein Auf-wiegen des Holocaust lagen Hillgruber indessen völlig fern.Andreas Hillgruber war 1968 mit seiner Berufung nach Freiburg als Hochschullehrer an die Universität zu einem Zeitpunkt zurückgekehrt, da dort große Unruhe herrschte. Manche »68er« schreckten auch vor persönli-chen Angriffen auf angeblich »reakti-onäre« Professoren nicht zurück. Als Hillgruber 1972 nach Köln wechselte, empfing ihn dort ein eigens geschaffe-nes »Hillgruber-Komitee«, hinter dem der »Marxistische Studentenbund Spartakus« stand, eine DKP- und da-mit SED-nahe Organisation. Hillgru-

fOrtSetzung vOn Seite 5 ber, an dessen Berufung angeblich das »westdeutsche Monopolkapital« be-teiligt gewesen war, wurde als »große Gefahr« betrachtet, gezielte Störungen seiner Lehrveranstaltungen waren kei-ne Seltenheit. So lächerlich dergleichen Anwürfe heute erscheinen mögen: Sie haben Hillgruber das Leben schwer gemacht – und nicht nur das als Hoch-schullehrer. Unter der »Prominenz«, die aus seiner von Jürgen Habermas un-terstellten Rolle im »Historikerstreit« resultierte, hat er wohl eher gelitten. Sein Schaffen als Historiker und sein Leben blieben mit der Geschichte des Deutschen Reiches verwoben. Er wur-de an einem 18. Januar geboren, dem Tag, der eingedenk der Kaiserprokla-mation am 18. Januar 1871 in Versailles als Gründungstag des Deutschen Rei-ches gilt. Er starb ausgerechnet an ei-nem 08. Mai, dem Tag, der gewöhnlich als Datum des Untergangs des Deut-schen Reiches gewertet wird. Zufall? Ja sicher, aber ein merkwürdiger im Leben eines deutschen Historikers.Der Referent des Abends, Prof. Dr. Jost Dülffer, hat seit 1962 an den Uni-versitäten Hamburg und Freiburg i. Br. Geschichte, Politikwissenschaft, So-ziologie und Latein studiert. 1972 pro-movierte er bei Andreas Hillgruber in Köln und war anschließend an dessen Lehrstuhl Wissenschaftlicher Assis-tent. Nach seiner Habilitation (1979) wurde Dülffer 1982 auf eine Professur für Neuere Geschichte an der Univer-sität zu Köln berufen, seit 2008 ist er emeritiert. Zwischenzeitlich war er als Hochschullehrer auch in München, Aa-chen und Washington D.C. tätig. Prof. Dülffer ist nicht zuletzt ein Experte für historische Friedensforschung.

Winfrid hAlder

»25 JAhre uMbruch in OStMitteleurOpA und 10 JAhre eu-MitgliedSchAft der republik pOlen und der

tSchechiSchen republik«

eine podiumsdiskussion in der staatskanzlei des landes nordrhein-Westfalen

diskussionsteilnehmer:JUDr. Rudolf Jindrák, botschafter der tschechischen repu-blik in der bundesrepublik deutschland (angefragt)Markus Meckel, Außenminister a.d.Marek Prawda, botschafter der republik polen bei der europäischen union und von 2006 bis 2012 botschafter der republik polen in deutschland (angefragt)

eine gemeinsame Veranstaltung des polnischen instituts düsseldorf, des tschechischen Zentrums, der staatskanzlei nrW und der stiftung gerhart-hauptmann-haus düsseldorf.

persönliche Anmeldung erforderlich. es ergehen gesonderte einladungen.

iM rAhMen der eurOpA-WOche

mo, 05.05. 19.00 uhr

Page 7: West-Ost-Journal 2 2014

7 VOrtrAg

Im Jahre 1981 veröffentlichte Erich Lo-est seine Autobiographie »Durch die Erde ein Riß« – da war er gerade erst 55 Jahre alt und konnte nicht ahnen, dass ihm weitere 32 Lebensjahre beschie-den sein würden. Genug zu erzählen über sein in mancher Beziehung sehr deutsches Leben hatte Loest allerdings auch schon nach wenig mehr als fünf Jahrzehnten. Und er nutzte die erste sich bietende Gelegenheit, die bereits rund eine Dekade zuvor begonnene Beschreibung der eigenen Vita der Öffentlichkeit bekannt zu machen. 1981 war Erich Loest soeben in der Bun-desrepublik Deutschland ange-kommen – die DDR hatte sich endlich des seit langem Unbequemen entledigt, hatte Loest nach langjähri-ger Haft und noch länger andauern-der Überwachung und Schikanierung durch den Staatssicherheitsdienst in den Westen abgeschoben. Da konnte er sich zu Wolf Biermann, Reiner Kun-ze, Manfred Krug, Katharina Thalbach und etlichen anderen unbotmäßigen Intellektuellen und Künstlern gesel-len, die das SED-Regime unter Erich Honecker loswerden wollte, die aber zu populär waren, um sie wie Tausende an-dere Bürgerinnen und Bürger des »realsozi-alistischen Arbeiter- und Bauernstaates« einfach hinter den Gefängnismauern von Hohenschönhausen, Bautzen, Waldheim oder anderwärts ver-schwinden zu lassen. Die mit der Inhaftie-rung auch im Wes-ten bekannter Per-sonen verbundene »schlechte Presse« scheuten die Macht-haber in Ost-Berlin dann doch, vor allem, seit sie sich mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki im Som-mer 1975 vor der Weltöffentlichkeit zur Wahrung elementarer Menschen- und Bürgerrechte verpflichtet hatten. Hin-aus also auch mit Erich Loest.Unnötig zu sagen, dass »Durch die Erde ein Riß« einstweilen nur dem westdeutschen Publikum bekannt wur-

de. Erich Loest hatte, als er 1972 mit der Niederschrift seines Erinnerungs-buches begann, sicherlich zu keinem Zeitpunkt angenommen, dass er die-ses in der DDR würde veröffentlichen können. Denn weit mehr als die Hälfte der über 400 Seiten des Bandes behan-deln die politische Entwicklung in der vom Alt-Stalinisten Walter Ulbricht geprägten DDR der 1950er und frühen

1960er Jahre, die den zunächst noch fest überzeugten SED-Genossen Loest 1957, da er die »Entstalinisierung« ernster nehmen wollte, als Ulbricht ge-nehm war, zunächst in die Müh-len eines politisch motivierten Strafprozesses und dann für sie-

ben Jahre hinter die Gitter des berüch-tigten »Gelben Elends«, des Zuchthau-ses Bautzen II, brachte. Das Buch endet mit der Entlassung Loests aus Bautzen Ende September 1964. Loest hat dem-nach die folgenden, für ihn auf andere Art quälenden anderthalb Jahrzehnte als DDR-Bürger gar nicht behandelt, als er unter Pseudonym Kriminalro-mane und andere Unterhaltungslite-ratur schrieb, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familie bestreiten

zu können. Als er es dann 1978 wagte, mit »Es geht seinen Gang oder Die Mühen der Ebene« den trüben und engen DDR-All-tag mit hoher atmo-sphärischer Dichte zu beschreiben, war es seitens des Regimes mit der zuvor geübten unwilligen Duldung des Ex-Häftlings vor-bei. Das Buch durfte in der DDR nicht er-scheinen, sein Autor trat aus Protest gegen die Zensur aus dem Schriftsteller verband aus – womit sich jegli-che Perspektive, in der DDR als Schreiben-

der weiter zu existieren, erledigt hatte. Der Gang in den Westen 1981 brachte Loest auch die Chance, vom Schreiben wieder leben zu können – ohne Pseudo-nym und Zensur.Die hat er genutzt: In der verhältnismä-ßig kurzen Zeit bis zur »Wende« von 1989/90 schrieb und publizierte Loest

eine Fülle von Romanen und Erzählun-gen, die Lebenswirklichkeit und Cha-rakter der DDR anschaulich machten. Darunter war etwa der Roman »Völ-kerschlachtdenkmal« (1984), in dem Loest die Geschichte der Sprengung der (kultur-)historisch hochbedeutsa-men Leipziger Universitätskirche (Wei-he 1240) am 30. Mai 1968 verarbeitet, die während des Zweiten Weltkrieges nur leicht beschädigt worden war, die jedoch nach Meinung der SED-Oberen der Stadt nicht mehr in das Konzept des Umbaus der »Karl-Marx-Universität« (gegründet 1409, unter diesem Namen 1953-1991) passte. Zugleich entfaltet Loest darin ein Panorama der sächsisch-preußischen Geschichte, und zwar zu einer Zeit, in der viele Westdeutsche sich herzlich wenig dafür interessierten, was östlich von Elbe und Werra gesche-hen war und geschah. Loests Bestreben war es, den Riss mitten durch Deutsch-land spürbar, wahrnehmbar zu halten – um auch im wohlhabenden Westen das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegen die wachsende Gleichgültigkeit wachzuhalten, die jenseits der feiertägli-chen Lippenbekenntnisse (vorzugswei-se am 17. Juni) überwog.Bequem war Loest damit, dass er aus-dauernd und unverwandt den Finger in die für ihn noch immer offene, von anderen längst verdrängte Wunde der deutschen Teilung legte, auch im Wes-ten nicht. Und zumindest Unbehagen löste er mit »Durch die Erde ein Riß« wohl auch bei vielen Lesern und Kol-legen in der Bundesrepublik aus. Denn

in MeMoriAM … erich loest (1926-2013)VortrAg und diskussion Mit dr. Jörg bilke (coburg)

Wider den Riss durch Deutschland – ein Schriftstellerleben in Ost und West

di, 27.05. 19.00 uhr

erich lOeSt (1926-2013)

© punctuM/peter frAnke

Page 8: West-Ost-Journal 2 2014

8 VOrtrAg & schulprOJeKt

rAdiobeitrAg Mit Jugendlichen Aus der st. benedikt-hAuptschule

»Als im Gurkenland die Häuser wuchsen«

bevor er die Malaise von Prozess und Haft im SED-Staat beschreibt, berich-tet Loest dort über seine Kindheit und Jugend im sächsischen Mittweida, die hauptsächlich geprägt wurde von der anderen deutschen Diktatur, der mör-derischen nationalsozialistischen näm-lich. Der 1926 Geborene verschweigt dabei keineswegs seine bis zum bitte-ren Kriegsende 1945 andauernde Be-geisterung für den »Führer« und den HJ-Dienst. Er versucht vor allem offen-zulegen, was ihn dazu brachte, den NS-Parolen willig Glauben zu schenken. Er will – gewiss auch mit Blick auf jüngere Leser – die Mechanismen von Un-kenntnis und Desinformation, Lockung und Drohung zeigen, die sich nicht nur bei unbedarften Kleinstadtkindern wie dem jungen Erich Loest als wirksam er-wiesen. Das eindrückliche Kapitel »Pis-tole mit Sechzehn« verleugnet auch nicht die Faszination, die er empfand, als er und einige Altersgenossen im Frühjahr 1945 »richtige« Schusswaf-fen erhielten – mit der Maßgabe, diese auch als »Werwölfe« zu benutzen, zu einem Zeitpunkt, da die Wehrmacht längst geschlagen und Deutschland von den Truppen der »Anti-Hitler-Koaliti-on« fast vollständig besetzt war. Loest stand schließlich auch dazu, dass er sich freiwillig zur SS hatte melden wollen, was nur misslang, weil der zuständige Schuldirektor dem Minderjährigen die Erlaubnis dazu verweigerte mit dem Argument, er käme »später schon auch noch rechtzeitig dazu«. Loests Freimut, seine rückhaltlose Selbstbefragung mö-gen manchem westdeutschen Kollegen vergleichbaren Alters – damals selbst noch weit entfernt von dergleichen Be-kenntnisbereitschaft – insgeheim eini-ges Kopfzerbrechen bereitet haben.Die Erinnerung an deutsch-deutsche Verstrickungen und Traumata blieb Loest auch nach Herstellung der deut-schen Einheit wichtig – so zeigt er die nicht selten bis in die einzelnen Fami-lien hineinreichenden Brüche, die sich besonders in der Endphase der DDR zwischen der Treue zum SED-Staat und dem Drang nach Veränderung auftaten, in seinem Roman »Nikolaikirche« (1995, noch im gleichen Jahr verfilmt). Seit längerer Zeit schwer erkrankt, setz-te Erich Loest am 13. September 2013 im Alter von 87 Jahren seinem Leben ein Ende – in Leipzig, der Stadt, die in seinem Leben und Schaffen eine zent-rale Rolle spielte.Der Referent des Abends, Dr. Jörg Bilke, studierter Germanist, war selbst politi-scher Häftling in der DDR und wurde von der Bundesregierung freigekauft. Er kannte Erich Loest persönlich sehr gut.

Winfrid hAlder

»Als im Gurkenland die Häuser wuch-sen« ist der Titel eines Schulprojektes, an dem sich im Schuljahr 2013/14 Ju-gendliche der St. Benedikt-Hauptschu-le Düsseldorf und deren Geschichts-lehrerin Frau Linda Dörken mit dem Gerhart-Hauptmann-Haus beteiligten. Die Schülerin-nen und Schüler beschäftig-ten sich darin mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Düsseldorf, mit den Zerstö-rungen und späteren städte-baulichen Veränderungen, mit der Ge-schichte und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen und Vertriebenen, die in Düsseldorf und NRW ankamen. Schwerpunkt war das Sammeln von Erfahrungen, wie an diese Ereignisse heute in Museen und Medien erinnert und wie Geschichte intensiver erlebbar wird.Das »Gurkenland«, ein Begriff, der aus der Regional-Presse bekannt ist, be-zeichnet das Gebiet rund um den Binge-

ner, Wormser und Offenbacher Weg in Düsseldorf. Manche meinen, wie Um-fragen der Jugendlichen ergaben, dass hier früher Gurken angebaut wurden. Es stimmt, dass sich hier ausgedehnte Ackerflächen befanden. Vor allem gab es hier Schrebergartenkolonien, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrie-ges regulär von den Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen in der stark zerstörten Stadt bewohnt und be-wirtschaftet wurden. Einige Schreber-gärten im »Gurkenland« sind bis heute fester Wohnort inmitten städtischer Nachkriegsbebauung geblieben. Nach und nach gaben aber auch viele ihr ein-faches Häuschen im Schrebergarten als Wohnung auf und zogen in die an-

grenzenden, neu entstandenen komfor-tableren Wohnsiedlungen der 1960er Jahre. Einen Hinweis, dass unter den neuen Bewohnern des Gurkenlandes nach Kriegsende viele Flüchtlinge und Vertriebene aus den historischen deut-

schen Ostgebieten waren, gibt der Bau der katholischen Kirche, die am 19. März 1961 zum Gedenken an Papst Pius X. geweiht wurde. Denn eigentlich war die Pfarrei St. Josef in Oberbilk für die Neuange-kommenen zuständig. Die dortige

Kirche war jedoch weit entfernt und so wurde bereits 1950 ein Bauwagen als Kapelle aufgestellt und 1957 eine Bara-cke als Notkirche errichtet, aus der spä-ter die Kirche St. Pius X. entstand.Viele Informationen zur Stadtgeschich-te bekamen die Jugendlichen im Stadt-museum sowie im Bezirksmuseum »Forum 8« in Schloss Eller, das sich mit der Geschichte und Gegenwart der Stadtteile beschäftigt. Aktiv und mit großem Engagement widmeten sich

die Schülerinnen und Schüler der Z e i t z e u g e n b e -fragung – so z.B. mit Frau Barbara Schoch – und den Befragungen von älteren Stadt-t e i l b e w o h n e r n auf dem Gertru-displatz. In Tonstudio er-arbeiteten und gestalteten die J u g e n d l i c h e n zusammen mit der Medienpäd-

agogin Jessica Straatmann-Behr einen eindrucksvollen Beitrag, den sie selbst moderierten und der am 23.02. um 19:00 Uhr auf Antenne Düsseldorf lief. Alle, die sich die Sendung noch einmal gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern der St. Benedikt-Schule anhö-ren und mit den Jugendlichen über das Projekt sprechen möchten, sind am 27. Juni um 12.30 Uhr zur Projektpräsen-tation im Gerhart-Hauptmann-Haus eingeladen.

kAtJA Schlenker

Ein Projekt gefördert durch das Pro-gramm »Jugend, Kultur und Schule« des Kulturamtes der Landeshaupt-stadt Düsseldorf

Schülerinnen und Schüler der St. benedikt-hAuptSchule

Fr, 27.06. 12.30 uhr

Page 9: West-Ost-Journal 2 2014

9 Ausstellung

»Joseph Schmidt war ein Superstar seiner Zeit! Er begeisterte mit seiner Stimme Millionen von Menschen vor den heimischen Radios und füllte die Konzertsäle in Berlin, Wien und New York. Die Begeisterung des Publikums hatte fast schon Züge einer Massenhys-terie«, so Carsten Eichenberger vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg und Alfred A. Fassbind, Leiter des Joseph Schmidt-Archivs im schweizerischen Oberdürnten, die die einzigartige Ausstellung über das Leben und Schaffen des Weltstars aus Czerno-witz kuratierten. Die Ausstellung blickt zunächst auf Herkunft und religiöse Heimat des Sän-gers – das »jüdische Czernowitz«. Or-thodoxe und chassidische, liberale und zionistische Juden prägten an der Wen-de zum 20. Jahrhundert das Bild der

Stadt mit. Joseph Schmidt lernte alle diese Strömungen kennen. Vater Wolf Schmidt war strenggläubiger Chas-sid, der kleine Joseph gehörte seit der Übersiedlung der Familie von seinem Geburtsort Davideny nach Czerno-witz 1914 einer zionistischen Jugend-organisation an. Später, während des Studiums in Berlin, kam er in Kontakt mit der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, die mit zu den liberalsten über-haupt gehörte.Entdeckt wurde das musikalische und gesangliche Talent des jungen Joseph Schmidt in der Synagoge. Josef Tow-stein, Komponist und Leiter des Cho-

res des »Israelitischen Tempels« in Czernowitz, förderte die gute Gesangs-ausbildung des Jungen. Zehn Jahre spä-ter – aus dem »singenden Wunderkind aus Davideny« war bereits ein gefragter Sänger geworden – wurde Schmidt zum ersten Kantor, zum Vor-beter in der Synagoge, ernannt. Die Ausstellung zeigt erstmals in Deutschland einige Faksimi-les von Bittschriften Schmidts an den Vorstand der Kultusge-meinde. Das Staatliche Gebiets-archiv Tschernivcy in der Ukraine hat sie für die Ausstellung zur Verfügung gestellt.1925 zog Schmidt zu seinem Onkel Leo Engel nach Berlin. Freunde und Förderer ermöglichten ihm ein Studi-um an der Hochschule für Musik und Gesang bei Prof. Hermann Weißen-born, der in späteren Jahren auch Diet-rich Fischer-Dieskau zum erfolgreichen Sänger ausbildete. Auf Empfehlung des Direktors der Musikhochschule durfte Schmidt Anfang Februar 1929 beim Rundfunk vorsingen. Der Leiter der Opernabteilung des Berliner Senders »Funkstunde«, der niederländische Opernsänger Cornelis Bronsgeest, suchte ständig nach neuen Talenten. Schmidt, der mit seiner kleinen Gestalt von nur 1,54 Meter Körpergröße für die Opernbühne ungeeignet schien, konn-te sich mit einer aus-drucksvollen Stimme für den Rundfunk empfehlen. Gleich bei seinem Rund-funkdebüt am 18. April 1929 sang er mit der Rolle des Vasco da Gama in Meyerbeers Oper »Die Afrikanerin« eine der heikelsten Partien, die es in der Opernliteratur für Tenöre gibt. Sein Auftritt war ein Riesenerfolg. Körbe-weise ging die Fanpost beim Berliner Sender ein. Von nun an war »der kleine Mann mit der großen Stimme« jeden Monat, bis 1933 in insgesamt 42 gro-ßen Funkopernproduktionen, live über den Berliner Sender zu hören. Im Herbst 1929 brachte die junge Plat-tenfirma Ultraphon die ersten Schall-platten mit der Stimme Schmidts he-raus: Arien aus Opern und Operetten. Schmidts Platten verkauften sich mit ungeahntem Erfolg und machten den Tenor zum meistgehörten Sänger An-fang der 1930er Jahre. Sein auf Schell-lackplatten verkauftes Repertoire um-

fasst 209 Aufnahmen, darunter allein 41 Opern und 15 Operetten.Die Carl Lindström AG, damals größ-te Plattenfirma Europas mit Stammsitz in Berlin, engagierte im Sommer 1929 Joseph Schmidt und andere talentierte

junge Sänger für Aufnahmen der gesamten musikalischen Liturgie der jüdischen Reform-gemeinde auf über 100 Schall-platten. Damit sollten jüdischen Kultusgemeinden, Altenheimen und Krankenhäusern, die sich

aus finanziellen Gründen keinen Kan-tor leisten konnten, erstklassige musika-lische Darbietungen für Gottesdienste zur Verfügung gestellt werden. Die von Schmidt besungenen Schallplatten, da-runter auch einige in hebräischer und aramäischer Sprache, gehören zu den schönsten der Sammlung, die heute nur noch lückenhaft erhalten ist. Die Mus-terplatte einer Aufnahme von »Preist den Herrn« (Baruch Sche-natan), von Joseph Schmidt in hebräischer Sprache nach der Musik des preußisch-jüdi-schen Komponisten Louis Lewandow-ski (1821-1894) gesungen, ist eines der herausragenden Exponate der Ausstel-lung. Aber schon ab etwa 1933 stellten Kri-tiker immer öfter die Frage, in welches Fach sie den gefeierten Tenor stecken sollten: War er ein ernst zu nehmen-

der Opernsänger, ein Gesangskünstler oder ein auf Breiten-wirkung bedachter singender Filmstar?

Joseph Schmidt war sich dieser Grat-wanderung immer bewusst. Sein Pu-blikum indes stellte sich diese Fragen nicht. Es jubelte ihm in Breslau, Danzig, Czernowitz und Riga zu, er trat beim Südfunk Stuttgart und an der König-lich Flämischen Oper in Antwerpen auf. Er gastierte zu Wohltätigkeits- und Rundfunkkonzerten in Deutschland, England, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Polen, der Schweiz, Finn-land, Österreich, Rumänien, Bulgarien und der Tschechoslowakei. Im Früh-jahr 1934 reiste er für mehrere Wochen nach Palästina, wo er ein halbes Dut-zend ausverkaufter Konzerte vor jüdi-schen Landarbeitern gab. In der Wiener »Stimme« schilderte der Tenor seine besonderen Eindrücke von dieser Rei-se: »Ein unvergessliches Erlebnis…

Sein Lied ging um die Welt

Auf den spuren des tenors Joseph schMidt - eine Ausstellung

der AuS der bukOWinA StAMMende

tenOr JOSeph SchMidt

© JOSeph SchMidt-Archiv

mo, 07.04. 18.00 uhr

fOrtSetzung Auf Seite 10

in kOOperAtiOn Mit deM hAuS der heiMAt

bAden-WürtteMberg

Page 10: West-Ost-Journal 2 2014

10 AusstellungfOrtSetzung vOn Seite 9

Das war kein Konzert mehr. Eins waren ich und das Publikum, vorwiegend Ar-beiter in ihren schmucken Arbeitskit-teln, direkt von der Arbeit kommend… Ich sang hier aus purer Lust am Singen und zugleich mit dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft, und im Gefühle, als ob ich mit ihnen eben von der Feldarbeit heimgekehrt wäre…« Am 9. Mai 1933 umjubelten im einst größten Kino Deutschlands, im Ber-liner Ufa-Palast, 2.200 Zuschauer die Uraufführung des Joseph-Schmidt-Films »Ein Lied geht um die Welt«. Der 29jährige Joseph Schmidt hatte den Höhepunkt, aber auch den Wende-punkt seiner Karriere in Deutschland erreicht. Wenige Monate zuvor waren in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht gekommen. Dem Juden Joseph Schmidt war bereits im Februar 1933 der Zutritt zum Rundfunkhaus verboten worden. Sein erfolgreicher Film durfte noch einige Zeit gezeigt werden und wurde dann verboten. Ab 1936 war auch der Verkauf seiner Schallplatten, wie auch vieler anderer »Judenplatten«, in Deutschland unter-sagt.Joseph Schmidt emigrierte Ende 1933 nach Wien, feierte dort Triumphe wie

schon zuvor in Berlin. In der Donaume-tropole standen ihm alle Türen offen. Er drehte hier weitere erfolgreiche Musik-filme, die jedoch dem deutschen Publi-kum nie gezeigt wurden.Gerade von einer Konzerttournee an der Ostküste der USA nach Wien zu-rückgekehrt, konnte sich Schmidt we-nige Tage vor dem »Anschluss« Öster-reichs an Hitler-Deutschland im März 1938 nach Brüssel absetzen. Hier traf er unverhofft alte Bekannte: Musiker, Komponisten, Sänger und Filmschau-spieler – alle auf der Suche nach einer Zuflucht vor dem Nazi-Regime. Mit

blick in die AuSStellung iM hAuS der heiMAt in StuttgArt

dem Ziel, Europa zu verlassen, reiste Schmidt, wie viele andere Flüchtlinge, 1941 nach Südfrankreich. Er scheiterte mehrere Male bei dem Versuch, auf le-galem Weg in die USA auszureisen. Als gebrochener Mann rechnete er täglich damit, von der Gestapo abgeholt und nach Osten deportiert zu werden. Nur eine Flucht in die Schweiz konnte ihn noch vor der Deportation retten. Doch die Schweizer Behörden verfügten im August 1942 eine totale Grenzsperre für Flüchtlinge. Am 7. Oktober 1942 gelang ihm bei Genf der illegale Grenz-übertritt. Völlig erschöpft wurde er in Zürich, wo er zwei Jahre zuvor noch Konzerte gesungen hatte, aufgegriffen. Die Schweizer Behörden erteilten dem Sänger, der sich mittellos und illegal im Land aufhielt, Auftrittsverbot und wie-sen ihn in das Internierungslager Giren-bad ein. Die damaligen polizeilichen Befragungs- und Vernehmungsproto-kolle waren sieben Jahrzehnte unter Verschluss. Jetzt werden sie in der Aus-stellung der Öffentlichkeit präsentiert.Am 16. November 1942, erst 38 Jahre alt, starb Joseph Schmidt an Herzversa-gen.Die Ausstellung, die 2013 erstmalig im Haus der Heimat in Stuttgart gezeigt wurde, präsentiert rund 150 sorgsam ausgewählte Briefe, Fotos, Konzert-programme, Filmplakate und Filmaus-schnitte, seltene Rundfunk- und Schall-plattenaufnahmen und Exponate aus dem persönlichen Besitz Schmidts, dar-unter zwei Seidenschals, die der Sänger 1932 als Anerkennung für besonders hohen Plattenumsatz von seiner Plat-tenfirma Parlophon bekommen hat-te, sein zerschlissener Toilettenkoffer, der zu seinen wenigen Habseligkeiten im Lager Girenbad zählte sowie ein goldener Crayon (Drehbleistift), ein Geschenk der Stadt Czernowitz für Schmidts Benefizkonzert zugunsten ei-nes Kinderspitalbaues.cArSten eichenberger/kAtJA Schlenker

Ausstellungseröffnung: montag, 07.04. – 18.00 uhrgrußwort: pd dr. Winfrid halder (direktor des gerhart-hauptmann-hauses) einführung in die Ausstellung: Alfred fassbind (Joseph schmidt-Archiv) und carsten eichenberger (haus der heimat, baden-Württemberg) Musikalische begleitung: paul rosner (konzertgeiger und großneffe von Jo-seph schmidt) Laufzeit der Ausstellung: 07.04.-31.05

mi, 23.04. – 15.00 uhr filmvorführung »ein lied geht um die Welt« (1933)Vorab um 14.00 uhr führung durch die Ausstellung mit dr. katja schlenker

mi, 30.04. – 13.00 uhr Zum 85. Jahrestag der tonaufnahme von puccinis oper »tosca« führung durch die Ausstellung mit dr. katja schlenker

mo, 19.05. – 19.00 uhr »Alle Welt preist deine herrlichkeit« – die religiösen gesänge Joseph schmidtscarsten eichenberger im gespräch mit dem tenor Alfred fassbind (schmidt-biograph) und dem konzertgeiger paul rosner (großneffe Joseph schmidts)Veranstaltungsort: Jüdische gemeinde düsseldorf, leo-baeck-saal, Zietenstra-ße 50/paul-spiegel-platz 1

mi, 21.05. – 19.00 uhr Josef schmidt – die »Ausmerzung des jüdischen elementes« in der deutschen Musik (1933-1945)Vortrag von helmut braun mit Musikbeispielen und originaltönen aus reden von Joseph goebbels, hans severus Ziegler und heinrich glasmeier

Weitere führungen durch die Ausstellung auf Anfrage bei dr. katja schlenker: tel.: 0211-16991-23; email: [email protected]öffnungszeiten der Ausstellung vgl. s. 27.

Page 11: West-Ost-Journal 2 2014

11 VOrtrAg

Joseph Schmidt, jüdischer Tenor aus Czernowitz, war im Berlin der 1920er und frühen 1930er Jahre ein gefeierter Star. Der kleingewachsene Mann mit der brillanten Stimme triumphierte mit Opern- und Operettenpartien im noch jungen Rundfunk, besang zahlreiche Schallplatten, gab höchst erfolgreiche Konzerte im In- und Ausland und glänzte in Filmen wie »Heut ist der schönste Tag in meinem Leben« und »Ein Lied geht um die Welt«. Nach der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten Anfang 1933 versuchte Goebbels Jo-seph Schmidt zu schützen; er bot ihm sogar an, ihn zum »Ehrenarier« zu ma-chen. Aber auch Goebbels Vorliebe für ihn konnte Schmidt nicht retten. Der Sänger bekam Auftrittsverbot im Rund-funk und Film, seine Konzerte wurden unterbunden. Er floh nach Wien, 1938 weiter nach Brüssel, 1939 nach Frank-reich. Am 07. Oktober 1942 gelangte er schließlich illegal in die Schweiz, wo er kurz darauf entkräftet und entmutigt durch die jahrelange Flucht, als Simu-lant aus einem Krankenhaus gewiesen, an einer Herzerkrankung starb.Joseph Schmidts Schicksal ist kein Einzelfall. Vielmehr begann 1933 die zuvor schon angekündigte Hetzjagd auf alle »jüdischen Elemente« in der deutschen Musik. Die Verfemung und Ausgrenzung der im Nazijargon »Mu-sikjuden« genannten Künstler und ih-rer Werke erfolgte »legal« auf der Basis von Gesetzen, Erlassen und Verord-nungen. Bereits im April 1933 wird das Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen und da-mit werden alle Nichtarier vom Staats-dienst ausgeschlossen. Sofort entlassen werden alle jüdischen Professoren an den Musikhochschulen, die jüdischen Generalmusikdirektoren, Intendanten, Dirigenten, Dramaturgen und ihre jüdi-schen Mitarbeiter an den Theatern und Opernhäusern. Die jüdischen Musiker in den Staats- und Landesorchestern verlieren umgehend ihre Stellen. Die Flut der einschränkenden, schikanö-sen, später auch tödlichen Gesetze und Verordnungen sind unter dem Begriff »Das Sonderrecht für Juden im SS-Staat« gesammelt und füllen mehrere dickleibige Bände.

1938 ist es »geschafft«: Juden sind aus dem Musikleben verdrängt, sie dürfen

Die »Ausmerzung des jüdischen Elementes« in der deutschen Musik (1933-1945)

Dritten Reich die Glanzlichter im Mu-sikleben setzte. Auch die »leichte Muse« war nicht ausgeklammert. Sehr viele der Kom-ponisten, die Operetten, Revuen und Schlager in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre komponierten und viele der Sängerinnen und Sänger, die sie sangen, waren Juden. Das Ausgren-zungsverdikt traf auch sie, die Unbe-kannten und die Bekannten, wie zum Beispiel die Comedian Harmonists, von denen drei Juden waren. Nach 1945 dauerte es viele Jahre, bis die Musik der Verfemten wieder nach Deutschland zurückkam. Vieles blieb für immer verschollen. Manch einer, der zurückkehrte, war nicht mehr will-kommen. Das deutsche Musikleben hat sich von diesem Aderlass bis heute nicht erholt.Helmut Braun erzählt vom Nieder-gang der Musikkultur und ihren Folgen für die Betroffenen und die Musik in Deutschland. Originaltöne aus Reden von Joseph Goebbels, Hans Severus Ziegler und Heinrich Glasmeier sowie Musikbeispiele ergänzen den Vortrag.

helMut brAun

mi, 21.05. 19.00 uhr

nicht mehr auftreten, die Aufführung der Musik jüdischer Komponisten ist verboten. Juden dürfen nicht einmal öffentliche Konzerte als Zuhörer besu-chen.Eine abschreckende Schau soll die Ausstellung »Entartete Musik« im Mai 1938 in Düsseldorf sein. Staats-

rat Dr. Hans Severus Ziegler, Intendant am Staatstheater in Weimar, überzeugter National-sozialist der ersten Stunde, Hit-lerverehrer auch noch zwanzig Jahre nach dem Ende des Drit-ten Reiches, zeichnet für die Ausstellung verantwortlich. Er

sagt in seiner Eröffnungsrede: »Was in der Ausstellung ‚Entartete Musik‘ zu-sammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbats und des fri-volsten geistig-künstlerischen Kultur-bolschewismus dar und ein Abbild des Triumphes von Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völ-liger geistiger Vertrottelung.« Um ganz sicher zu gehen, dass kein Jude die »Reinheit der deutschen Musik« beschmutzte, wurde das »Lexikon der Juden in der Musik« geschaffen. Jeder Deutsche sollte wissen, dass die dort Aufgeführten aus dem deutschen Mu-sikleben ausgeschlossen waren. Selbst jüdische Klavierlehrerinnen sind auf-geführt und dürfen nicht mehr unter-richten: arisch soll sie sein, die Musiker-ziehung der deutschen Jugend. Häufig führt der Eintrag in dieses Lexikon zur Deportation der Betroffenen.Und dieser Ausschluss betraf nicht nur Juden. Auch die »Niggermusik« – der Jazz – war verfemt. Und zusätzlich auch alles »Undeutsche«, alles, was nicht dem »Germanischen Dreiklang« ent-sprach. Die Komponisten Ernst Kre-nek und Paul Hindemith sind für diese »Kategorie« die wohl bekanntesten Vertreter.Von 1933-1940 emigrieren 262.000 Juden aus Deutschland. Unter ihnen sind auch die »Musikjuden« Otto Klemperer, Bruno Walter, Erich Wolf-gang Korngold, Kurt Weill und Arnold Schönberg, um nur einige der promi-nentesten zu nennen. Ihre Stellen im Musikbetrieb werden frei und schnell besetzt – von Nachrückern, die nun vorrücken und ungehindert Karriere machen. Darunter manch einer, der wie Werner Egk, Carl Orff, Karl Böhm und Herbert von Karajan auch nach dem

der Sänger und SchAuSpieler JOSeph

SchMidt Auf deM höhepunkt Seiner

kArriere

VortrAg Zur Ausstellung über Joseph schMidt

in kOOperAtiOn Mit der geSellSchAft für die chriStlich-JüdiSche

zuSAMMenArbeit düSSeldOrf e.v.

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12 KinemAtheK & VOrtrAg

mi, 23.04. 15.00 uhr

Der Kinofilm »Ein Lied geht um die Welt« markiert den Höhepunkt der fil-mischen Karriere von Joseph Schmidt. Als am 9. Mai 1933 im Berliner Ufa-Palast die glanzvolle Pre-miere stattfindet, feiern über 2000 begeisterte Zuschauer Joseph Schmidt als Hauptdar-steller, unter ihnen auch Joseph Goebbels. Der Film spielt in Venedig. Ri-cardo, dargestellt von Joseph Schmidt, ist ein unbekannter Tenor. Rigo (Viktor de Kowa) arbeitet als Musikclown. Ge-meinsam teilen sie sich eine Wohnung. Der arbeitslose Ricardo ist trotz seiner herrlichen Stimme viel zu klein, um eine Bühnenkarriere zu machen. Mit Hilfe seines Freundes Rigo gelingt es ihm, bis zum Direktor des Rundfunks

vorzudringen und ein Engagement zu ergattern. Er wird ein Rundfunkstar. In einem Schallplattengeschäft lernt

Ricardo die Verkäuferin Nina (Charlotte Ander) kennen, die jedoch nur in seine Stimme ver-liebt ist. Ricardo ist unglücklich verliebt und seine Trauer wird größer, als er feststellen muss, dass Rigo das Herz von Nina gewonnen hat. Die Freund-

schaft der beiden Männer ist auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Joseph Schmidt singt in dem Film die Lieder: »Land so wunderbar«, »Am Brunnen vor dem Tore«, »Santa Lucia«, »Voga, Voga«, »Mal d‘amore«, »Launisches Glück«, »Frag nicht« und »Ein Lied geht um die Welt«.

Mp

Der Film zur Ausstellung»Ein Lied geht um die Welt«

höhepunkt der filMischen kArriereVon Joseph schMidt

biOgrAphie und dvd-kOllektiOneinen umfassenden einblick in das leben und schaffen von Joseph schmidt bietet die 2012 erschienene biographie von Alfred A. fassbind. der leiter des Joseph schmidt-Archivs in dürnten bei Zürich hat aus einer fülle von brie-fen, Zeitzeugenberichten und dokumenten das leben des tenors detailreich nachgezeichnet. ergänzt wird sein buch durch eine beiliegende cd, die eine Auswahl von schmidts tonaufnahmen enthält, darunter auch fünf bisher un-veröffentlichte titel. in einer aufwendig ausgestatteten dVd-kollektion liegen erstmalig auch drei sorgfältig restaurierte originalspielfilme mit Joseph schmidt vor: »ein lied geht um die Welt« (1933), »ein stern fällt vom himmel« (1934) sowie »heut‘ ist der schönste tag in meinem leben« (1936). ergänzt wird die kollektion durch géza von bolvárys film »ein lied geht um die Welt – die Joseph schmidt sto-ry« (1958) und den dokumentarfilm »Joseph schmidt. geschichte eines kurzen lebens« von Mareike schroeder.

Buch und DVD-Kollektion sind in der Bibliothek der Stiftung entleihbar.

»Alle Welt preist Deine Herrlichkeit« Die religiösen Gesänge Joseph Schmidts

mo, 19.05. 19.00 uhr

ein grAMMOphOn AuS der AuSStellung

Joseph Schmidt genießt als Tenor bis heute anhaltende Popularität und das auch bei einer jüngeren Fangemeinde. Sein Repertoire besteht aber nicht nur aus „Ein Lied geht um die Welt“. Als ausgebilde-tem Kantor blieb Schmidt zwar eine Karriere in der Synagoge zu Czernowitz verwehrt, dennoch sind seine Interpretationen li-turgischer Lieder durch Schall-plattenaufnahmen bekannt. In dieser Veranstaltung soll an die exzellenten religiösen Gesänge in deutscher, hebräi-scher und aramäischer Sprache erinnert werden, die in der Interpretation von Joseph Schmidt dem Hörer regelrecht durch Mark und Bein gehen. In den Berliner Studios der Lindström AG, damals des größten Schallplatten-

produzenten Europas, wurden zwi-schen 1928 und 1930 Gesänge der musikalischen Liturgie der jüdischen

Reformgemeinde zu Berlin auf-genommen. Unter Mitwirkung des großen Chors der Gemein-de, zweier Organisten und jun-ger Berliner Solisten, darunter auch des 25-jährigen Joseph Schmidt, entstand eines der letzten musikalischen Zeugnis-

se einer freien deutsch-jüdischen Ge-meinde vor dem Völkermord.

Carsten Eichenberger stellt im Ge-spräch mit Alfred A. Fassbind (Schmidt-Biograph) und dem Konzertgeiger Paul Rosner (Großneffe Joseph Schmidts) diese einmaligen Tonaufnahmen vor.

kAtJA Schlenker

Ort: Leo-Baeck-Saal der Jüdischen Gemeinde, Paul-Spiegel-Platz 1Eintritt frei

Veranstalter: Gerhart-Hauptmann-Haus und B´nai B´rith Franz-Rosen-zweig-Loge Düsseldorf

In Kooperation mit der Jüdischen Ge-meinde Düsseldorf und der Gesell-schaft für Christlich-Jüdische Zusam-menarbeit Düsseldorf.

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13 KOntrApunKt

– Schulen, Presse, Theater – konnte sie weiter aktivieren, wenn auch mit einer überaus dünnen Intellektuellenschicht. Eine Regionalliteratur kann ohne ein solches kulturelles Fundament und Umfeld nicht bestehen. Und es gibt heute junge Autoren, die dort in deut-scher Sprache schreiben. Das heißt, dass heutige und auch künftige Banater deutsche Literatur nicht zwangsläufig »Erinnerungsliteratur« sein muss. Die ausgewanderten Banater und Sieben-bürger Schriftsteller entfernen sich na-turgemäß zunehmend von der Land-schaft ihrer Herkunft und wenden sich auch neuen Themen zu.

Mit dem Exodus der rumäniendeutschen Literaten kam der Begriff von einer An-kunftsliteratur auf, mit der die gesellschaftli-che Schnittstelle bezeichnet wird, die es nach dem Wechsel in den Westen zu überwinden galt. Wieviel an literarischer Heimat konnte dabei bewahrt werden?

Dies ist eine tief greifende Frage, will man sie nicht allein auf die Thematik der Texte beziehen. Sie kann auch nur individuell, für das Werk des einzelnen Schriftstellers beantwortet werden, vielleicht auch bezogen auf eine Au-torengeneration. In meinem Aufsatz »Angekommen – angenommen?«, der im oben erwähnten Buch enthal-ten ist, versuche ich, die Wirkung der neuen Welt auf einige aus dem Banat ausgewanderte Autoren zu erläutern. Literarische Heimat bewahren kann ja nur ein Autor, der seiner Heimat – trotz aller Misshelligkeiten und Drangsa-

benden Autoren heben viel davon auf. Ich denke aber, dass beispielsweise Ri-chard Wagners Roman »Habseligkei-ten« oder Herta Müllers großes Buch »Atemschaukel« über den Begriff Erin-nerungsliteratur hinausgehen, eben ho-hem literarischen Anspruch genügen. Die Frage ist, ob man vom Fortbestand einer deutschen Banater Regionallitera-tur sprechen kann.Der radikale politische Wandel nach 1989 brachte aber auch neue Chancen für die verbliebene kleine deutsche Be-völkerungsgruppe im Banat und in Sie-benbürgen. Ihre kulturelle Infrastruktur

»Sinn der regionalen Geschichtsschrei-bung«, so lesen wir in Ihrem neuen Buch, »ist denn auch, die Eigenart eines literarisch-kulturellen Raums in seinen historischen Entwicklungslinien zu erfas-sen… in organischer Verknüpfung mit den historisch-politischen Entwicklungsbedin-gungen.« Nun ist aber, nach erfolgter und nahezu totaler Abwanderung aus den Sied-lungsgebieten, der historische Raum nicht mehr gegeben. Könnte das dazu führen, dass die Literatur der Rumäniendeutschen künftig nur noch Erinnerungsliteratur sein wird?

Nein, das glaube ich nicht. Die »Erinne-rungsliteratur« – darunter verstehe ich vor allem die Memorialistik, Kindheits- und Jugenderinnerungen, selbstbio-graphische Texte u.Ä. – nimmt gewiss bei den recht schreibfreudigen Banater Schwaben großen Raum ein. Es gilt ja, das Verlorene, das nun zeitlich und räumlich sich Entfernende aus eigenem Erleben festzuhalten. Die Spurensuche der Enkel hat begonnen, die nach den Wurzeln ihrer Herkunft forschen, z.B. in Johann Lippets Roman »Bruchstü-cke aus erster Hand«. Sie finden natür-lich ein anderes Banat vor als das ihrer Eltern und Großeltern. Mit der massiven Aussiedlung im letzten Drittel des ver-gangenen Jahrhunderts ist dort eine Ära des deutschen kulturellen und lite-rarischen Lebens zur Neige gegangen. Die noch aus dieser Erfahrung schrei-

»Die Spurensuche der Enkel hat begonnen«Als Band 11 der Banater Bibliothek sind kürzlich unter dem Ti-tel »Blickpunkt Banat« die gesammelten Beiträge von Dr. Walter Engel zur rumäniendeutschen Literatur und Kultur erschienen. Auf 566 Seiten vermittelt das Buch einen Querschnitt durch ein Schrifttum, das über den Rahmen einer Regionalliteratur hinaus Beachtung verdient und diese, wie u.a. der Nobelpreis für die Ba-nater Schriftstellerin Herta Müller zeigt, auch findet. In seinen Beiträgen fächert der Autor kenntnisreich und sachkritisch vor al-lem die Literatur des Banats auf, wobei er die regionalspezifischen Eigenheiten benennt und zugleich die grenzüberschreitenden As-pekte aufzeigt. Dr. Walter Engel, 1942 im Banat geboren, promo-vierte 1981 in Heidelberg mit dem Thema »Deutsche Literatur im Banat« unter besonderer Bezugnahme auf den Beitrag der Kultur-zeitschriften zur banatschwäbischen literarischen Kultur zwischen 1840 und 1939. Ab 1988 war er 18 Jahre hindurch als Direktor des Gerhart-Hauptmann-Hauses (Haus des Deutschen Ostens) in Düs-seldorf tätig, in dessen Rahmen er in Zusammenarbeit mit Verbän-den, Regionen und den benachbarten ost- und südosteuropäischen Nachbarländern den Kulturaustausch förderte und den Dialog ausbaute. Dr. Walter Engel ist Verfasser und Herausgeber wissen-schaftlicher und kulturhistorischer Werke, vornehmlich zur Kultur und Literatur der Banater Schwaben.

gespräch Mit deM literAturWissenschAftler dr. WAlter engel

fOrtSetzung Auf Seite 14

dr. WAlter engel fOtO: d. göllner

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14 KOntrApunKt

Banater und Siebenbürger Deutsche gleichermaßen arbeiteten: die Zeitung »Neuer Weg«, die Zeitschrift »Neue Literatur«, der »Kriterion Verlag«. Die Temeswarer Leser wussten, was in Hermannstadt geschah, die Sathmarer erfuhren viel über Reschitza. Man saß im gleichen Boot, wenn auch zuweilen in unbequemer Stellung, konnte die Richtung zwar nicht selbst bestimmen, wollte sich aber gemeinsam über Was-ser halten. Eine Art Notgemeinschaft, wenn dies vordergründig auch nicht so empfunden wurde. Hier und heute gibt es all diese Gründe nicht mehr. Der Begriff »rumäniendeutsche Literatur« war sowieso, auf Neudeutsch gesagt, ein Konstrukt. Die sogenannte »fünf-te deutsche Literatur« setzte sich aus zwei Regionalliteraturen, der Banater und der Siebenbürger deutschen Lite-ratur, zusammen. Doch von Separation würde ich nicht sprechen. Ein gewis-ses Zusammengehörigkeitsgefühl und ein anregender Austausch zwischen Schwaben und Sachsen besteht auch in Deutschland fort, auch bei den Litera-ten.

Oft wird das Fehlen eines eigenen Verlags-hauses beklagt, das für die gesamte rumä-niendeutsche oder sogar südostdeutsche Literatur zuständig ist. Obwohl es mehrere Verlage mit südostdeutschem Profil gibt, wissen viele potentielle Leser nicht, was auf dem Buchmarkt aufliegt. Was wäre zu un-ternehmen, um über die übliche, oft recht

lierungen – verbunden war und auch noch ist, daraus einen guten Teil seiner Identität und seines Selbstbewusstseins ableitet, sich dazu bekennt. Er muss des-halb kein Heimatschriftsteller im engen Sinne sein.

Die zwei großen Sprachgruppen – die Ba-nater Schwaben und die Siebenbürger Sach-sen – durchlebten im sozialistischen Rumä-nien eine intensive kulturelle Annäherung , die nun in Deutschland wieder rückläufig geworden ist. Davon betroffen ist auch die jeweilige Literatur, die hier eher getrennt wahrgenommen wird, wenngleich die be-handelte Problematik dieselbe ist. Gemein-same Tagungen überbrücken nur zum Teil die zunehmende Separation.

Für die gegenseitige Annäherung der deutschen Bevölkerungsgruppen Ru-mäniens unter dem Dach des Begriffs »rumäniendeutsch« gab es nach 1945 gute Gründe. Bei allen Unterschieden zwischen den Gruppen war und ist die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur, zur deutschen Sprachgemeinschaft das Gemeinsame und Verbindende. Alle deutschen Bevölkerungsgruppen wa-ren in der Nachkriegszeit den gleichen Repressalien ausgesetzt – man denke an die Russland-Deportation! Schließ-lich hat das radikal zentralistische Sys-tem im sozialistischen Rumänien im Bereich der Kultur dominante zentrale Einrichtungen geschaffen, in denen

fOrtSetzung vOn Seite 13 dürftige Verlagswerbung hinaus, unseren Büchermarkt zu aktivieren?

Die starke heimatliche, also lokale oder regionale Bindung der Aussiedler, wie ja auch im Falle der ostdeutschen Ver-triebenen, hat bekanntlich weder ein gemeinsames Presseorgan noch einen gemeinsamen Verlag zugelassen. Für einen guten Überblick über die Buch-veröffentlichungen deutscher Autoren aus Südosteuropa sorgt die Münchner Literatur- und Kulturzeitschrift »Spie-gelungen«, die vorwiegend von den Li-teraten selbst gelesen wird. Intensivere Werbung könnte von den gruppenori-entierten Zeitungen geleistet werden. Eine konsequente »Buchecke« in der »Siebenbürgischen Zeitung«, die auch relevante Neuerscheinungen von Ba-nater Autoren oder über das Banat ver-zeichnet, wäre ebenso zu begrüßen wie eine ähnliche Rubrik in der »Banater Post«, die auch auf Siebenbürgisches hinweist. Die Bibliotheken der ein-schlägigen Kulturinstitute für die histo-rischen deutschen Ostgebiete und süd-ostdeutschen Siedlungsgebiete haben in diesem Bereich ein weites Aufgaben-feld, das es intensiver zu bestellen gibt. dAS geSpräch führte frAnz heinz

in der Mitte deS 18. JAhrhundertS errichtet, gehört die dOMkirche in teMÊSWAr zu den bedeutendSten bArOcken

SAkrAlbAuten in SüdOSteurOpA

Walter Engel: Blickpunkt Banat. Beiträ-ge zur rumäniendeutschen Literatur und Kultur. 566 Seiten. ISBN 3-922979-67-X

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15 KOntrApunKt

Die Familie des Autors, im Banat ansässig seit 1724, lebt heute vor allem in Deutschland und Ös-terreich. Auf der Marmorplatte des Kriegerdenkmals in seinem Banater Dorf ist auch der Name seines 1915 in russischer Kriegs-gefangenschaft umgekommenen Großvaters eingemeißelt. Für seine Witwe Katharina und die vier unmündigen Kinder konnte nichts mehr sein, wie es einmal war. Der unbewältigt gebliebe-ne Verlust verlagerte sich in den nächsten Krieg. Katharina starb als Flüchtling in einem Dorf am Inn. Ihr Grab ist nicht mehr auffindbar. Für sie hat sich der Autor auf die Reise zu den alten Kriegsschauplätzen aufgemacht. Es sollte eine Spurensuche sein, aber es wurde im Kern eine Be-gegnung mit den Menschen und der Geschichte anderer Landstriche, mit ihren Nöten, Erinnerun-gen und verschütteten Erwartungen. Mit den glei-chen Fragen, auf die überall nur halbe Antworten zulässig sind. Vor diesem Erlebnishintergrund ist der Roman »Kriegerdenkmal« angesiedelt.

Phil verfolgte auf der Karte seinen Reiseweg zurück, der bereits am Anfang von einer Grenze durchkreuzt war, die vorgab, die anliegenden Landstädtchen sauber zwischen Serbien und Ru-mänien aufzuteilen. Werschetz, Weißkirchen, Hatzfeld – Phil gebrauchte für sich die alten deutschen Ortsnamen, obwohl ihm die serbischen, ungarischen und rumänischen geläufig waren und obwohl heute kaum noch Deutsche hier leben. Die Geschichte aber, meinte Phil, ist vielstimmig, und wenn genug Zeit vergangen ist, werden ohnehin die Ansprüche maßvoller und die Eitelkeiten flacher.Man könnte, dachte er, der Ansicht sein, es wäre seit 1918 ge-nug Zeit vergangen, um alles so zu sehen, wie es einmal war und wie es geworden ist, nachdem die Sehnsüchte der Völker ausei-nander liefen. Alle meinten das Gleiche, aber jeder fühlte sich durch den anderen verhindert. Der neuen Zeit vorangegangen war eine andere neue Zeit. Ein Jahrhundert war angebrochen und die Welt gefiel sich, zumindest nach außen hin, so wie sie war. Gerade jetzt zu leben, wurde als Privileg empfunden, da-bei zu sein im großen Aufbruch ins neue Zeitalter als epochales Erlebnis. Alles schien machbar. Europa war darauf aus, sich neu zu definieren mit alten Königshäusern und Kaiserreichen ne-ben Industriebaronen und Bürgersinn. Gott schien entmach-tet, die Kunst erfand sich neu, und in den Geschichtsbüchern häuften sich die Majuskeln. Das macht es nicht leichter. Musst hinhören auf Gesagtes und Verschwiegenes, und das Gesag-te ist noch einmal zu hinterfragen, und das Verschwiegene ist auszuleuchten. Bruchstückhaft bleibt das Nachgeraffte, aber die Wahrheit, heißt es, hinterlässt immer nur Scherben. Und schon immer war sie im Verbergen geübt. Als hätten sie, die Beteiligten, 1914 die Wahrheit gekannt? Die Dabeigewesenen,

Abschied in Werschetz

frAgMent Aus deM roMAn »kriegerdenkMAl. 1914 – hundert JAhre später«

die Davongekommenen und die Hinge-gangenen, die Hinterbliebenen und die Nachgeborenen trugen ihr Schicksal auf die eine oder andere Art, und das war die ganze erfassbare Wahrheit. Und auch sie kann so gewiss nicht sein.In Werschetz, Phil kreuzte es auf der Kar-te an, hatte er seine Reise nach Galizien angetreten. In Vrsac, einer serbischen Kleinstadt mit rund 35.000 Einwohnern, angelehnt an den 680 Meter hohen und weithin sichtbaren Kudritzer Kopf. Ver-waltungsmäßig gehört die Stadt zur au-tonomen Provinz Wojwodina, bis 1918 aber war sie königlich-ungarische Frei-stadt im Komitat Temesch. Knapp 25.000 Einwohner hatte sie schon damals: Deut-sche, Rumänen, Serben, Ungarn.Als die Phylloxera kurz vor der Jahrhun-dertwende auch die Werschetzer Wein-gärten vernichtete, waren alle davon betroffen, die Winzer, die Händler und die Trinker aller Sprachen. Die Reblaus

machte alle gleich, und das in einer Zeit, in der viele meinten, das nicht sein zu müssen oder zu können. Später wollten einige darin einen Fingerzeig des Allmächtigen erkannt haben, mit dem er gleichermaßen an die deutschen, rumänischen, serbi-schen und ungarischen Herzen rühren wollte und die Augen öffnen für das, was zählt. Gott liebte Werschetz wie es war, und es war glücklich ohne es zu wissen.Phil wollte, als er in Werschetz aus dem Zug stieg, Gefühle erst gar nicht aufkommen lassen. Sie versperren den Blick für das Eigentliche, fand er, und doch spürte er schon beim ers-ten Schritt die Geschichte. Sein Großvater Franz Potichen war in den ersten Augusttagen 1914 von einem dieser Bahnsteige mit dem königlich-ungarischen Infanterieregiment 7 nach Galizien verfrachtet worden. Ohne Wiederkehr. In Sarajewo hatte der Student Gavrilo Princip am 28. Juni den habsburgi-schen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie erschossen, und das veränderte für Franz Potichen über Nacht die Welt. Er war Bäckermeister in einem südungarischen Dorf, hatte eine liebenswerte Frau und vier gesunde Kinder, schwitz-te und lachte, zählte abends die Einnahmen und begriff nicht so recht, wieso er nun und gegen wen tapfer sein sollte. Er hatte sich, um ehrlich zu sein, nie besonders viel aus dem Thronfolger gemacht, ja er empfand sogar eine zwar schwer erklärbare, aber dennoch deutlich vorhandene Zurückhaltung gegen ihn, genährt möglicherweise durch seine anerzogene und festgefügte Verehrung für den alten Kaiser Franz Joseph. Dem Bäckermeister Franz Potichen waren patriotische Gefüh-le nicht fremd, österreichische so wenig wie ungarische, aber er hatte Mühe einzusehen, warum er für das, was in Sarajewo vorgefallen war, in Galizien gegen die Russen kämpfen musste.Phils Großmutter hatte es immer wieder erzählt, wie sie mit ihrer damals siebenjährigen Tochter Marischka nach Werschetz gefahren war. An einem Dienstag im August, nach sieben Stunden Fahrt, kamen sie an. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Soldaten, Bräuten und Kindern, es roch nach Bohnensup-pe und stank nach Urin und Schweiß, Kommandos waren zu

fOrtSetzung Auf Seite 16

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16 KOntrApunKt

Phil lief die Bahnsteige ab, hielt an, lotete mit geschlossenen Augen die Stelle aus, auf der 1914, im August, der Abschied stattgefunden haben könnte, rief das Bild in sich wach, aus der Erinnerung weiter gereicht in die übernächste Generation. Ein inneres Beben, meinte er, müsste vom Boden ausgehen und die Stelle wie unter der Wünschelrute markieren. Es kann, redete er sich zu, nicht untergehen, was unverwunden in Erinnerung geblieben ist. Der Bahnhof in Werschetz war ein Eckpunkt sei-ner Familiengeschichte, ein Drehmoment, der die Lebensrich-tung veränderte, denn nie wieder fand die ausgehebelte Welt des Bäckermeisters in den Ruhepol zurück.Vierzig Minuten hatte die Begegnung in Werschetz gedauert. Die Lokomotive stand unter Dampf. Waggons wurden an-gehängt, verlängerten den Zug weit über den Bahnsteig hin-aus, die Signalglocke hämmerte, auf das Frachtgleis umgelei-tete Züge hielten vor den Verladerampen, über die sonst das Schlachtvieh getrieben wurde. Das Bahnpersonal war über-fordert und die Kommandos der Offiziere wurden überhört. Die Soldaten hockten kartenspielend auf ihren Holzkoffern, tranken oder schrieben Briefe und sangen in allen Sprachen der Monarchie, sparten nicht an flotten Bemerkungen, wenn sich ein Weiberrock zeigte, nähten Knöpfe fest und kramten im Tornister nach unauffindbaren Dingen. Franz Potichen hatte seine siebenjährige Tochter Marischka in den Nacken geho-ben und den rechten Arm schützend um seine Frau gelegt, und wusste doch, dass sie hilflos zurückbleiben würden und seine Tapferkeit in Galizien nichts daran ändern wird.

Franz Heinz: Kriegerdenkmal. 1914 – Hundert Jahre später. Roman. Anthea Verlag , Berlin 2014. 179 Seiten. ISBN 978-3-943583-29-8.

hören, Trompeten wurden geblasen, Pärchen umschlangen sich, promenierten zwischen Tornistern und Gewehren. Züge kamen an und fuhren ab, es wurde gesungen und geweint, Ta-schentücher flatterten zum Abschied. – Und Franz war nicht da. Schon seit anderthalb Stunden irrten Mutter und Tochter umher, fragten nach dem königlich-ungarischen Regiment 7 auf dem Bahnsteig draußen, in der Halle und wieder draußen, und die Hoffnung wurde immer kleiner.Marischka hatte ihr schönstes Kleid an, hellblaue Seide mit Spitzenkragen, ein Kleid für besondere Anlässe. Es war heiß, und sie hatte Durst. Ein Limonadenverkäufer füllte zitronen-gelbe und himbeerrote Säfte in hohe Gläser, spülte sie in einem Kübel aus und füllte sie nach. Das Geschäft ging gut an diesem Dienstag auf dem Werschetzer Bahnhof, und es sah so aus, als hätte sich der Krieg schon jetzt für den Limonadenverkäufer gelohnt. »Trink nicht so hastig«, warnte die Mutter, und das Kind fragte gequält: »Wann kommt er endlich!«Er kam, stand in der offenen Tür eines Viehwaggons, aus der ein gutes Dutzend uniformierter Männer heraushingen, blaue Honvéds, einer wie der andere und fremd. Das Kind wich aus, erstarrte auf dem Bahnsteig als ihr Vater – war er’s? – auf sie zugelaufen kam, sie hochhob, herumwirbelte, und dann die wartende Frau in die Arme schloss und festhielt. »Ich dachte nicht mehr an den Krieg, nicht an Sarajewo und nicht an den Kaiser«, erzählte sie später. »Ich vergaß, wo ich stand und wie ich hingekommen war und spürte, dass ich nie mehr so gebor-gen sein werde.«

fOrtSetzung vOn Seite 15

»Von Palmen, Wüsten und Basaren« heißt das neue Buch von Hans Bergel, das in der Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH Berlin erschie-nen ist. Es sind aktuelle Reisenotizen aus Israel, die uns der aus Siebenbür-gen stammende Autor vorlegt, Begeg-nungen und Erkundungen sowie Ge-dankengänge auch und Sequenzen aus vielen Gesprächen mit alten und neuen Freunden. Hans Bergel begegnet dem langjährigen Freund Manfred Winkler, mit dem er 1956 bei einem Schriftstel-lertreffen in Bukarest zum ersten Mal zusammentraf und der nun »im Land der Väter« Heimat gefunden hat. Der Bogen nach Siebenbürgen wird auf dieser Reise häufig geschlagen, und so ist es, bei aller morgenländischen Faszination, nicht zuletzt das Auslo-ten kultureller Interferenzen, was diese Reisenotizen von den sonst gängigen abhebt. Bergel begibt sich diesbezüg-lich nicht auf die Suche – es ist einfach da und kommt auf ihn zu, unabweisbar und mit überzeugender Selbstverständ-lichkeit. Das Land selbst, durchgeistigt und schon immer wie kein zweites auf der Gottsuche, umstritten und missver-standen, legendär und politisch brisant,

redAktiOn der beilAge: frAnz heinz

erlebt er allerdings weit über das Regi-onale hinaus. »Wie soll einer den Sog-kräften dieser historischen und mythi-schen Dichte widerstehen?« fragt der Autor, und findet nur zu einer Antwort: »Ich werde wiederkommen.«

Hans Bergel: Von Palmen, Wüsten und Basaren. Reisenotizen aus Israel. Edition Noack & Block, Berlin 2013. 86 Seiten, illustriert. ISBN 978-3-86813-019-5.

4. Mai, Grabmal Gurion, En Advát

Der kalte Wind, der gestern Abend ein-setzte, pfiff nachts durch die Fensterlu-ken. Nach wie vor wolkenlos. Zwanzig Kilometer nördlich Mizpé Ramóns liegt auf einer Felsterrasse hoch über dem Haupttal mit freiem Blick nach Süden, Osten und Norden am Westrand gran-dios zerklüfteter Wadilandschaften das Ehepaar David Ben und Paula Gurion – zwei Granitkuben im Schatten dreier Akazienbäume. Der Platz wirkt wie em-porgehoben über die aufgebrochenen majestätischen Schluchten, die zu der Morgenstunde, als wir aus den langen Windungen des Zugangs hinaustraten, tief unter uns in allen Wüstenfarben leuchteten. Die Komposition der Grab-stätte mit Stilgefühl aus der Landschaft heraus empfunden – kein Zuviel, kein Zuwenig. Formel bedeutender Wir-kung seit jeher. Die souveräne Einfach-heit erinnerte mich an die Grabstätte Friedrichs des Großen in Sanssouci. Wer sich so beisetzen lässt, hat Format. Die Stunde an dem Ort wird mir un-vergessen bleiben. Wüstenlandschaften tragen durch ihre Zurücknahme auf das Wesentliche die Monumentalität in sich. Ernst Barlachs Kunstverständnis.

(Auszug, Seite 36)

dAS grAbMAl vOn ben guriOn

Reisenotizen aus Israel

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1717 nAchruF

Er war kein Mensch mit dem Drang, sich in den Vordergrund zu stellen. Kein Selbstdarsteller, kein Freund des Lauten, Grellen, in welcher Form auch immer. So ist seine Lebensleistung zu weiten Teilen im gewissen Sinne »un-sichtbar« geblieben – und war zugleich höchst sichtbar und hat die Arbeit un-seres Hauses gerade nach außen hin in besonderer Weise sinnlich wahrnehm-bar gemacht.Mehr als 22 Jahre lang hat Dirk Urland den Arbeitsbereich Ausstellungen der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus betreut. Das bedeutet, dass er im Rah-men seiner Tätigkeit für weit über 200 Ausstellungen von Künstlerinnen und Künstlern und dokumentarischer Art verantwortlich war. Ein enormer »Schauwert« verbirgt sich also hinter diesen Zahlen. Kunstschaffende aus Deutschland und vielen anderen Län-dern mit ihren Werken, Themen unter-schiedlichster Art aus Kultur, Geschich-te und Politik wurden dem Publikum nahegebracht – und die ungezählten Menschen, die all das anschauen konn-ten, haben wohl nur eher selten daran gedacht, wieviel Arbeit, Mühe, manch-mal Probleme und gelegentlich Ärger zu überwinden waren, bis alles »auf dem (richtigen) Nagel hing«, seinen angemessenen Platz gefunden hatte und so wirklich gezeigt werden konnte. Die stets unprätentiöse, zähe Vorbe-reitungsarbeit war Dirk Urlands »Ge-schäft«, das er stets mit großer Ruhe, Umsicht, Gewissenhaftigkeit, Ziel-strebigkeit und – das ist das vielleicht Erstaunlichste – mit unentwegt gleich-bleibender Freundlichkeit betrieb und zum Erfolg führte.Den Ausstellungsbereich habe ich, das darf, das muss ich sagen, solange ich das Haus leiten darf, weitgehend sich selbst – oder vielmehr Dirk Urland überlassen, weil ich sehr schnell einge-sehen habe, das ich das ohne Weiteres tun konnte. In der Gewissheit nämlich, dass er nicht nur das Notwendige, son-dern auch alles Andere vorbereitete und dass ich mir eigentlich nur den Termin der Ausstellungseröffnung no-tieren musste, unbesorgt. Denn der Abend würde »funktionieren«. Wenn ich dann vor dem erwartungsvollen Pu-blikum stand, um Begrüßungsworte zu sprechen, überkam mich zuweilen ein Anflug von schlechtem Gewissen, dass ich »im Vordergrund« stand, derjenige

Dirk Urland M. A. (1960-2014)

in MeMoriAM …

aber, der praktisch alle Vorarbeit geleis-tet hatte, sich in der für ihn typischen Weise ganz hinten, in der letzten oder vorletzten Reihe platziert hatte – auf-merksam und mit dem nicht minder typischen, zuweilen etwas verschmitz-ten Lächeln. Für die ruhige Gewissheit, dass alles wohl vorbereitet war, dass ich mich – wie das Publikum – im Grunde nur auf ’s eigentliche »Anschauen« zu freuen brauchte, bin ich Dirk Urland dankbar.

Dirk Urland wurde am 1. Dezember 1960 in Dortmund geboren. Nach dem Abitur am dortigen Geschwister-Scholl-Gymnasium hat er seit 1981 an der Ruhr-Universität Bochum Neuere und Mittelalterliche Geschichte, Osteu-ropäische Geschichte und Politikwis-senschaft studiert. Als er sein Studium 1989 mit seiner Magisterarbeit über die Russlandpolitik Otto von Bismarcks abschloss, hat er gewiss noch nicht ge-ahnt, dass er bald darauf in der Düssel-dorfer Bismarckstrasse berufstätig sein würde. Er hat aber mit der »Blickrich-tung nach Osten« in seinem Studium und in der Examensarbeit bereits ent-scheidende Voraussetzungen geschaf-fen, die dazu führten, dass er für die Lei-tung der Stiftung im Frühjahr 1991 der gegebene Mann war, um künftig die Ar-beit in Sachen Ausstellungen, aber auch hinsichtlich anderer Veranstaltungen verantwortlich mitzutragen und mitzu-

gestalten. Dies in einer höchst aufregen-den Zeit, als Mittelost- und Osteuropa in einem rapiden Wandlungsprozess begriffen waren, der ohne die Kenntnis der historischen Voraussetzungen die-ses Raumes schlechterdings nicht ver-standen werden konnte. Wie gut, dass nun auch ein Osteuropahistoriker in der Bismarckstrasse arbeitete.Zu dem Aufgabenkreis Dirk Urlands gesellte sich bald auch die Betreuung des »West-Ost-Journals«, der Haus-

zeitschrift der Stiftung. Für das Journal hat er nicht nur selbst ungezähl-te Beiträge geschrieben, sondern er hat auch mit hoher Sprachkompetenz und Akribie die redakti-onelle Arbeit erledigt – ohne über die notorische Überschreitung von Ab-lieferungsterminen und vorgegebenen Artikellän-gen durch andere Mitwir-kende zu klagen, aber da-für Sorge tragend, dass am Schluss ein in jeder Be-ziehung »vorzeigbares« Endprodukt herauskam. Auch in dieser Hinsicht wird er nicht leicht zu er-setzen sein.Dirk Urland war, das merkte man im Gespräch mit ihm rasch, ein »homo politicus«, ein politisch denkender Mensch, da-

bei indessen alles andere als ein sturer »Ideologe«. Fest in seinen Grundüber-zeugen, zugleich aber immer bereit zum Diskurs, wo nötig auch zur kontrover-sen, aber fairen Auseinandersetzung. Die Dortmunder Sozialdemokratie war seine politische Heimat, das hat er na-türlich nie verleugnet, auch wenn ihm die Berufstätigkeit in Düsseldorf weni-ger Zeit und Gelegenheit zum aktiven politischen Engagement ließ als in frü-heren Jahren.Die Nachricht von seinem Tod am 5. Januar 2014 hat uns alle in schreckli-cher Weise überrascht. Niemand von uns – die wir, mit einer Ausnahme, we-niger lange, zum Teil sehr viel weniger lange hier arbeiten – kann sich auf An-hieb das Haus ohne ihn vorstellen. Wir werden das lernen müssen, soviel steht fest. Aber auch dies: Er wird fehlen.

Winfrid hAlder

dirk urlAnd 1960-2014

Page 18: West-Ost-Journal 2 2014

18 musiKAlisch-litererArischer Abend

»Und dann und wann ein weißer Elefant«

tiere in liedern und gedichten Von rilke, brecht und Anderen

Fr, 04.04. 19.00 uhr

Ein Panther, eine Krähe, ein Schwan und andere Tiere bevölkern die Lieder und Texte dieses musikalisch-literari-schen Abends. Nicht nur bei Rainer Maria Rilke, aus dessen Gedicht »Karussell« die titelgebende Zeile stammt, sind Tiere Sinn-bilder. In allen Kulturen haben Tiere – seit Jahrhunderten als Nutztiere ständige Begleiter der Menschen im Alltag oder als Wildtiere deren permanente Bedro-hung – Eingang in Kunst und Literatur gefunden. Schon als Kinder begegnen wir ihnen in Märchen, ob als Bremer Stadtmusikanten oder in Gestalt des gestiefelten Katers. Auch in den Fabeln der Antike bekommen sie menschliche Züge, natürlich mit der Absicht, den Menschen auf diese Weise ihre eigenen Makel vor Augen zu führen. Da gibt es die Fabel über die fleißige Ameise und die allzu vergnügungssüchtige Heu-schrecke. Diese amüsiert sich im Som-mer auf den Feldern, ohne sich um die Wintervorräte zu kümmern. Im Winter muss sie dann die fleißige Ameise, de-ren Vorratskammern voll sind, um ein Almosen bitten. Oder die Fabel über den Fuchs, der die für ihn unerreich-bar hoch hängenden Trauben als allzu sauer bezeichnet. Die Tradition der Fa-bel als literarische Gattung setzen der

Franzose Jean de La Fontaine (1621-1695) und im deutsch-sprachigen Raum der Sachse Gotthold Ephraim Lessing

(1729-1781) fort. Die wohl bekannteste Fa-bel der Moderne ist der Roman »Farm der Tie-re« von George Orwell (1903-1950), die in ih-rem Kern eine Parabel

auf die Geschichte der Sowjet-union ist. Die von den Tieren gemeinsam durchgeführte Re-volution wendet sich allmäh-lich in eine Gewaltherrschaft der Schweine über alle anderen Tiere – so wie auf die vom Volk getragene Oktoberrevolution die Diktatur Stalins folgte. Auch in der Lyrik wenden sich Schriftsteller Tieren zu: so Theodor Storm (1817-1888) in »Die Nachtigall«, Wilhelm Busch (1832-1908) in »Der weise Schuhu«, Christian Mor-genstern (1871-1914) in »Die Mitternachtsmaus« und natür-lich Rainer Maria Rilke (1875-1926) in »Der Panther« oder »Das Karussell«. Bertolt Brecht (1898-1956) verleiht den Tieren in seinen »Tierversen« menschliche Züge. Er tut dies auf seine

(für ihn) typische Art: scharf und mit politischem Biss. Tiere inspirieren nicht nur Schrift-steller. In der klas-sischen Musik wimmelt es nur so von Tieren. Joseph Haydn (1732-1809) kom-poniert »Die Ler-che«, Franz Schu-bert (1797-1828) »Die Forelle«, Peter Tschaikowski (1840-1893) den »Sc hw a n e n s e e «, Camille Saint-Saëns (1835-1921) den »Karneval der Tiere« und Sergej Prokofjew (1891-1953) »Peter und der Wolf«. Der musikalisch-literarische Abend

wirft ein Licht darauf, in welchem gro-ßen Maße Tiere Künstlerinnen und Künstler faszinieren und inspirieren. Der Mensch in Beziehung zum Tier, das Tier als Spiegel menschlicher Emp-findung – zwischen diesen beiden Po-len bewegt sich das neue Programm von Alexandra Lachmann (Gesang), Elke Jahn (Gitarre) und Uli Hoch (Re-zitation). Ihr Programm umfasst u.a. Texte von Rainer Maria Rilke und Ernst Jandl (1925-2000), Vertonungen von Bertolt Brechts »Tierversen« durch Paul Des-sau (1894-1979) und Lieder von Franz Schubert und Carl Maria von Weber (1786-1826). Zum Programm gehören auch »Hark, hark, the ark!« – ein Lie-derzyklus des englischen Komponisten John W. Duarte (1919-2004) nach Tex-ten von Spike Milligan (1918-2002) – sowie Ausschnitte aus »Platero und ich« von Mario Castelnuovo-Tedesco (1895-1968) nach dem gleichnamigen Werk von Juan Ramón Jiménez (1881-1958). Alexandra Lachmann, Elke Jahn und Uli Hoch waren bereits mehrmals Gäste in unserem Haus und auch diesmal erwar-tet die Besucherinnen und Besucher ein abwechslungsreicher Abend mit einem außergewöhnlichen Programm. Mp

elke JAhn (Mit gitArre), AlexAndrA lAchMAnn

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19 buchVOrstellung

do, 15.05. 19.00 uhr

Ein Kinderschicksal – Aus dem Sudetenland nach Hessen

WilhelM böhM liest Aus seineM roMAn »Zu neuen ufern«

Wie erlebt ein Kind, gerade mal 10 Jah-re alt, das Ende des »Dritten Reichs«? Wie die Flucht aus der nordböhmi-schen Heimatstadt Reichenberg, die heimliche Rückkehr mit der Mutter und dann die endgültige Vertreibung? Wie die Ankunft in der neuen Heimat in Hessen? Diesen Fragen ist der Autor Wilhelm Böhm in seiner auto-biographisch gefärbten Roman-Tetralogie nachgegangen. Im Mittelpunkt seiner zwischen 2005 und 2012 entstande-nen Bücher »Auf des Messers Schneide«, »Keine Liebe – kein Erbarmen«, »Zwischen Bangen und Hoffen« und »Zu neuen Ufern« steht der zehnjährige Wilhelm Klinger, der gemeinsam mit seinen Eltern in Reichenberg lebt. Von frühster Kindheit an mit der natio-nalsozialistischen Indoktrination aufge-wachsen, erkennt der Junge zum Ende des Zweiten Weltkrieges, wie hohl die Phrasen der menschenverachtenden Ideologie sind. Aus der Ich-Perspektive schildert er die letzten Kriegstage in Reichenberg und das Erlebnis der be-dingungslosen Ka-pitulation des Deut-schen Reiches. Nach den gerade überleb-ten Schrecken des Kriegsendes bleibt die Familie in ihrer Heimat und ist nun den neuen Bedro-hungen und der Willkür durch die Sieger ausgeliefert. Die guten Tschechi-schkenntnisse der Mutter retten die Familie mehrmals aus gefährlichen Si-tuationen. Dennoch kommt die Familie in ein Sammella-ger für Deutsche in Reichenberg und wird schließlich auf Grundlage der Beneš-Dekrete enteig-net und Richtung Sachsen vertrieben. Völlig ahnungslos, dass die endgültige Vertreibung der Deutschen aus den Su-detengebieten ihr längst beschlossenes Schicksal ist, machen sich Mutter Klin-ger und ihr Sohn Wilhelm aus dem nahe der Grenze gelegenen Aufenthaltsort auf den Weg, um in die alte Heimat

zurückzukehren. Familien-vater Leo will als Demon-tage-Arbeiter der Russen in Neustadt (Sachsen) in einer Art Rückzugsbasis durch-halten, falls das Wagnis von Ehefrau und Sohn, in der Heimat wieder Fuß zu fas-

sen, scheitert. Mit einer zweifelhaften Genehmigung zum Grenzübertritt in die Tschechoslowa-kei ausgestattet, ge-lingt es den beiden Grenzgängern, in

das Sommerhaus der Fami-lie im Elbsandsteingebirge zurückzukehren. Doch die Lebensbedingungen dort machen es unmöglich, langfristig zu bleiben. Die Hoffnung auf einen Neu-beginn der ganzen Familie in der alten Heimat weicht im Fortgang der Ereignis-se der erschütternden Erkenntnis der doppelten Beraubung – durch den ma-

teriellen Verlust an Grund und Gütern und darüber hinaus durch die gewaltsa-me Abtrennung der seelischen Wurzeln. Gemeinsam mit sei-ner Mutter muss der elfjährige Wilhelm unter entwürdigen-den Begleitumstän-den seine Heimat nun endgültig ver-lassen. Not und Be-drängnis bewältigen Mutter und Sohn mit ungebrochenem Lebenswillen. Mit Einfallsreichtum und E n t s c h l o s s e n h e i t gelingen den bei-den nach der langen und abenteuerlichen

Bahnfahrt im Viehwaggon erste Schrit-te beim Aufbau einer neuen Existenz in Hessen. Hier setzt nun die Handlung des vierten Bandes »Zu neuen Ufern« ein, aus dem Wilhelm Böhm lesen und erzählen wird. Der Autor Wilhelm Böhm wurde als Sohn deutscher Eltern 1935 in Prag geboren. Die ersten fünf Lebensjahre

verbrachte er in Brüx (heute Most) und kam mit der Versetzung seines Vaters an das Oberrealgymnasium in Rei-chenberg (heute Liberec) 1940 in die damalige Gauhauptstadt. Hier erleb-te er zusammen mit seinen Eltern das Kriegsende und die dann folgende Ver-treibung in die ehemalige sowjetische Besatzungszone, nach Sachsen. Wie sein Romanheld Wilhelm Klinger kehr-te Böhm mit seiner Mutter zurück in die damalige Tschechoslowakei, wo sie ein weiteres Jahr im dortigen Sommer-haus unter der neuen tschechischen Verwaltung ausharrten. Im August 1946 wurde der Verfasser als Elfjähriger zusammen mit seiner Mutter in einer zweiten Ausweisung in die amerika-nische Zone, nach Hersfeld/Hessen, erneut vertrieben. Nach seinem Abitur studierte Böhm Geschichte, Germanis-tik, Geographie, Englisch und Polito-logie an den Universitäten Heidelberg und Würzburg. Ein Stipendium ermög-lichte ihm ein weiterführendes Studium an der Universität London. Seine Un-terrichtstätigkeit führte ihn schließlich nach Bayern, wo er neben seiner Arbeit an der Schule mit Veröffentlichungen zu aktuellen Fragen, mit Geschichts-vorträgen und Sprachkursen auch in der Erwachsenenbildung tätig war.Heute lebt er mit seiner Familie im bay-erischen Voralpenland. MArgArete pOlOk

WilhelM böhM

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20 lesung

peter härtling liestiM gerhArt-hAuptMAnn-hAus

»Wer erzählt, erinnert sich.«

iM rAhMen der düSSeldOrfer

literAturtAge 2014

mi, 18.06. 19.00 uhr

Peter Härtling zählt zu den bekanntes-ten und beliebtesten deutschen Auto-ren. Den meisten Leserinnen und Le-sern ist er bereits aus ihrer Kinderzeit bekannt, denn als Kinderbuchautor hat er mit »Ben liebt Anna«, »Das war der Hirbel« und »Krücke« Kinderbuch-klassiker geschaffen, die seit Jah-ren zur Schullektüre gehören. Die große Beliebtheit von Peter Härtling unter Kindern lässt sich auch daran ablesen, dass deutschlandweit 16 Schulen sei-nen Namen tragen. Erwachsene Leser schätzen seine klugen Ro-mane und Essays, seine Gedichte und Erzählungen, für die er mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist. Im vergangenen Herbst ist Peter Härt-ling 80 Jahre alt geworden und kann auf ein Leben zurückblicken, das ihn von Chemnitz über Brünn und Ol-mütz nach Zwettl in Österreich und schließlich nach Nürtingen in Baden-Württemberg und Mörfelden-Walldorf in Hessen geführt hat. Seine Lebenssta-tionen bezeichnet er selbst als »Flucht-spur« – das Resultat der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Geboren am 13. November 1933 in Chemnitz verbringt Peter Härtling seine Kindheit in Hartmannsdorf, ei-nem kleinen Örtchen bei Chemnitz. Die Familie reist häufig nach Dresden, in die Heimatstadt der Mutter. Die vä-terliche Seite der Familie stammt aus dem mährischen Brünn, wohin Peter Härtling als Achtjähriger mit seinen Eltern und der jün-geren Schwester Lore 1941 zieht. In Olmütz ist der Vater als Rechts-anwalt tätig. In der Familie wird deutsch und tschechisch gesprochen, da viele Verwandte, Freun-de und Bekannte Tschechen sind. 1945 flüchten die Härtlings ins niederöster-reichische Zwettl, wo der junge Peter den Einmarsch der Roten Armee erlebt. Im Juli des gleichen Jahres stirbt sein Vater im unweit gelegenen russischen Kriegsgefangenenlager Döllersheim – die Familie erfährt erst ein Jahr später davon. Zusammen mit Mutter, Schwes-ter, Großmutter und Tante flüchtet Pe-ter Härtling 1946 weiter nach Westen, bis nach Nürtingen. Dort nimmt sich die Mutter im gleichen Jahr, nach Erhalt

der Nachricht vom Tod des Vaters, das Leben. Die beiden nun eltern-losen Kinder, Peter und Lore, kommen in die Obhut der Großmut-ter. In dem Bildhauer

und Maler Fritz Ruoff findet der junge Peter ei-nen Mentor, der ihm in dieser schwierigen Zeit zur Seite steht. Das Gymnasi-

um verlässt Peter Härt-ling vor dem Abitur, da er die Haltung einiger Altnazi-Lehrer nicht er-trägt. Er wird Bürobote, eine gesicherte Zukunft scheint ungewiss. Wäh-rend eines Zeitungsvolontariats ma-chen sich sein sprachliches Gespür und sein literarisches Talent bemerkbar. Mit erst 20 Jahren wird er Chef des Feuille-tons der Heidenheimer Zeitung. 1967 geht er nach Frankfurt am Main zum renommierten Fischer Verlag als Chef-lektor und ist von 1968 bis 1973 Spre-cher der Geschäftsführung. 1974 wagt er den Sprung in die Selbstständigkeit als freier Schriftsteller.Seit 1959 ist Peter Härtling mit der Psy-chologin Mechthild Maier verheiratet. Gemeinsam hat das Ehepaar, das nun im hessischen Mörfelden-Walldorf lebt, vier heute erwachsene Kinder. Aus diesem großen Erlebnis- und Erfah-

rungsschatz schöpft Peter Härtling die Themen seiner Bücher. Die eigene Biographie findet sich in dem Jugend-

buch »Krücke« (1987) in der Figur des Flüchtlingsjungen Thomas wider, der auf dem Transport aus der ČSSR seine Mutter verliert und ganz auf sich gestellt Hilfe bei dem Kriegsinvaliden »Krücke« findet. Die verstorbene Mut-ter wird in dem Roman »Eine Frau« (1974) porträtiert, den Vater versucht Härtling in »Nachgetragene Liebe« (1980) zu ergründen. Er schreibt aus seiner Erinnerung heraus, der Erinne-rung eines Kindes und Heranwachsenden, Erinnerungen an Begebenheiten, Men-schen, Orte. Indem er erzählt, erinnert er sich. Die Erinnerungen der eigenen

Kindheit und Jugend werden zu einer erzählten Wirklichkeit. Gleichzeitig hat Härtling ein großes Interesse an dem Leben anderer. Seine als Romane angelegten Künstlerbiogra-phien über die Schriftsteller Friedrich Hölderlin (»Hölderlin«, 1976) und Eduard Mörike (»Die dreifache Ma-rie«, 1982) sowie über die Komponis-ten Wolfgang Amadeus Mozart (»Das ausgestellte Kind«, 2007), Robert Schumann (»Schumanns Schatten«, 1996) und Franz Schubert (»Schu-bert«, 1992) zeugen von seiner großen Liebe zu Kunst, Musik und Literatur. Auch in seinem letzten, 2013 erschie-nen Erzählungsband »Tage mit Echo« schildert er in zwei Erzählungen zwei Künstlerleben: das des am Ende seines Lebens stehenden fiktiven Schauspie-lers Robert Brodbeck und das des mit 23 Jahren verstorbenen Malers Carl Philipp Fohr. In beiden geht es um Härtlings Lebensthemen: um Anfänge und Abschiede, ums Jungsein und Alt-werden, um Kunst, Musik, Literatur. Im Rahmen der Düsseldorfer Literatur-tage 2014 liest Peter Härtling aus bei-den Erzählungen und spricht mit Mi-chael Serrer (Literaturbüro NRW) über sein bewegtes Leben und die Themen, die sein literarisches Schaffen prägen.

MArgArete pOlOk

eine geMeinSAMe verAnStAltung Mit deM

literAturbürO nrW

peter härtling © Jürgen bAuer

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21 gryphiuspreis & VOrtrAg

Der Rechtspopulismus scheint in Europa auf dem Vormarsch zu sein. Parteien wie die Wahren Finnen, der französische Front National und Geert Wilders PVV mobilisieren Vorbehal-te und Ängste in der Bevölkerung und konnten sich mit Billigparolen in den letzten Jahren in ihren Ländern als re-levante politische Kraft etablieren. Die

der AutOr der Studie prOf. dr. flOriAn hArtleb

Am 22. November 2013 wurde Hans Bergel mit dem namhaften Andreas Gryphius-Preis ausgezeichnet. Der aus Kronstadt in Siebenbürgen (Rumäni-en) stammende Autor erhielt den Gros-sen Literaturpreis der KünstlerGilde Esslingen in Anerkennung seines um-fangreichen literarischen Schaffens in mehr als 45 Buchveröffentlichungen. Hans Bergel wurde 1925 in Rosenau bei Kronstadt geboren. Nach dem Krieg arbeitete Bergel im kommunistischen Rumänien zunächst als Lehrer. In den 50er Jahren war er als Kulturredakteur

Ende 2013 geschmiedete Allianz der Populistenführer Marine Le Pen und Geert Wilders, der weitere Beitritte fol-gen sollen, ist ein Warnzeichen: Dem nächsten Europäischen Parlament könnten bis zu einem Drittel EU-Gegner angehören. Die Konrad-Adenauer-Stiftung kam in ihrer jüngst erschiene-

nen Studie »Europa – Nein Danke?« zu einem Fazit, das zu-gleich ein Weckruf ist. Die Rechtspopulis-ten sind mittlerweile eine derart wachsen-de Gefahr, dass die etablierten Parteien, besonders die konser-vativen Volksparteien, reagieren müssen.Im Vorfeld der am 25. Mai stattfindenden Wahlen zum Europa-

»Europa – Nein Danke?«

do, 10.04. 19.00 uhr

studie ZuM Aufstieg rechts- und nAtionAlpopulistischer pArteien

Verleihung des Andreas Gryphius-Preises an Hans Bergel

bei der deutschsprachigen »Volks-zeitung« journalistisch tätig. 1959 wurde er verhaftet und im sogenann-ten Kronstädter Schriftstellerprozess, einem Schauprozess gegen die fünf siebenbürgisch-sächsischen Schriftstel-ler Wolf von Aichelburg, Hans Bergel, Andreas Birkner, Georg Scherg und Ha-rald Siegmund, zu 15 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Auf Grundlage einer Generalamnestie für politische Häftlinge wurde er 1964 entlassen und durfte 1968 aus dem kommunistischen Rumänien ausreisen. In der Bundes-

republik arbeitete Bergel als Journalist beim Bayerischen Rundfunk, bei der »Siebenbürgischen Zeitung« sowie als Mitherausgeber der »Südostdeutschen Vierteljahresblätter«. Daneben ist Hans Bergel als freier Autor tätig und hat Romane, Erzählungen sowie Gedichte und Essays verfasst. Aus seinen Wer-ken sind hervorzuheben »Fürst und Lautenschläger« (1957), »Der Tanz in Ketten« (1977), »Wenn die Adler kommen« (1996) und »Wiederkehr der Wölfe« (2006).

hAnS bergel bei Seiner dAnkeSrede

VeRleihUng Des AnDReAs-gRyPhiUs-PReises 2014

Freitag, 13. Juni 2014 | 18 uhr

es ergehen gesonderte einladungen. Aus organisatorischen gründen ist eine formlose persönliche Anmeldung erforderlich (auch telefonisch unter 0211/1699114 – frau bergmann – oder per e-mail [email protected] möglich).

parlament wird der Mitautor der Stu-die, Prof. Dr. Florian Hartleb, seit 2013 als Koordinator für Politikanalysen und

Parteienforschung bei der Kon-rad-Adenauer-Stiftung in Berlin tätig , neben den zentralen Er-gebnissen der Untersuchung die Erfolgsfaktoren von rechts- und nationalpopulistischen Parteien erläutern und Empfehlungen für den Umgang mit solchen

Gruppierungen geben.

Moderation: Matthias Beermann, Rheinische Post Eine gemeinsame Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Düssel-dorfer Appell/Respekt und Mut – Di-akonie Düsseldorf und der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus.

Die Studie steht kostenlos als pdf-Download zur Verfügung: http://www.kas.de/wf/doc/kas_36200-544-1-30.pdf

nAchlese

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mi, 02.04. 19.00 uhr

22 VOrtrAg

»Offizielle Gedenk- und Feiertage ge-hören zu den Symbolen, durch die ein Staat sich öffentlich darstellt. Durch sie werden kollektiv erlebte Schlüsseler-eignisse oder -erfahrungen als für die Gegenwart bedeutsam und erinne-rungswürdig hervorgehoben.« So definiert es das »Protokoll Inland der Bundesregierung«.Dergleichen »besondere Tage« sind folglich ein wichtiger Gegenstand öffentlicher Ge-schichtspolitik. Die regelmäßi-ge »Feier« so festgelegter Er-innerungsdaten soll für die dauerhafte Verankerung bestimmter historischer Bezüge im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein sorgen. Der geschichts-politische »Ritterschlag« besteht ge-wissermaßen in der Erhebung eines Datums zum bundesweit geltenden gesetzlichen Feiertag. Damit sind wir Bundesrepublikaner indessen einiger-maßen zurückhaltend: Es gibt einen einzigen bundesweiten gesetzlichen Feiertag, der auf Bundesrecht beruht, nämlich den 3. Oktober als »Tag der deutschen Einheit«. Dieser wurde durch Art. 2 des »Einigungsvertrages« zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der DDR 1990 festgelegt. Der 3. Oktober 1990 war der Tag, an dem der Beitritt Sachsens, Sachsen-Anhalts, Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpom-merns, Thüringens und der östlichen Bezirke Berlins zum Bundesgebiet for-mal wirksam wurde.Alle acht anderen bundesweit began-genen gesetzlichen Feiertage beruhen auf entsprechenden landesgesetzli-chen Regelungen und haben überwie-gend einen religiösen Ursprung in der christlichen Tradition, so Karfreitag, Ostermontag, Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag sowie 1. und 2. Weih-nachtstag. Ausnahmen bilden lediglich der 1. Januar und der 1. Mai als »Tag der Arbeit«.Die in der Bundesrepublik Deutsch-land geübte Zurückhaltung bei der Festlegung gesetzlicher Feiertage hat natürlich einerseits eine ökonomische Seite. Feiertage als »Nicht-Arbeitsta-ge« sind auch volkswirtschaftlich re-levant. Andererseits ist ihre Festlegung im Regelfall schwierig, da es sich ja um konsensfähige »Erinnerungsorte« (im Sinne der Würdigung bestimmter his-torischer Bezüge) handeln muss. Unterhalb der mithin selten genom-

menen Hürde »bundesweit geltender gesetzlicher Feiertag« gibt es noch die Kategorie der »Gedenktage«, also der förmlich zu offizieller Bedeutung erho-benen Erinnerungsdaten, die – soweit sie auf Werktage fallen – nicht arbeits-

frei sind. »Nationale Gedenk-tage« gibt es in Deutschland derzeit vier: Zunächst den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozi-alismus; er bezieht sich auf den 27. Januar 1945, an dem sow-jetische Truppen das Konzent-

rationslager Auschwitz befreiten. Dann den 17. Juni als Tag des Gedenkens an den Volksaufstand gegen die SED-Diktatur am 17. Juni 1953. Ferner den 20. Juli als Tag des Gedenkens an den Widerstand gegen die nationalsozialis-tische Gewaltherrschaft; er bezieht sich auf den 20. Juli 1944, an dem Oberst Graf Stauffenberg und andere versuch-ten, ein Attentat auf Hitler zu verüben und die NS-Herrschaft zu stürzen. Schließlich ist der Volkstrauertag (je-weils am 2. Sonntag vor dem 1. Advent) zu nennen. Er wurde als Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs bereits durch Reichstagsbeschluss 1926 eingeführt, vom NS-Regime 1934 in »Heldengedenktag« umbenannt und schließlich 1952 in der Bundesrepublik unter der ursprünglichen Bezeichnung zum »Gedenken an die Toten zweier Kriege an den Fronten und in der Hei-mat« förmlich wiedereingeführt. Eine überschaubare Zahl also, bisher. Seit geraumer Zeit gibt es indessen Be-strebungen, einen weiteren nationalen Gedenktag zu schaffen. Im Dezember 2010 stellten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP einen An-trag, wonach die Bundesregierung be-auftragt werden sollte »zu prüfen, wie dem Anliegen […] Rechnung getragen werden kann, den 5. August zum bun-desweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu erheben.« Der 5. Au-gust 1950 war der Tag, an dem in Stutt-gart die »Charta der Heimatvertriebe-nen« von den Vertretern der einzelnen landsmannschaftlichen Organisationen unterzeichnet wurde.Sogleich erhob sich Widerspruch in-nerhalb und außerhalb des Parlaments, und zwar sowohl hinsichtlich der Fra-ge, ob ein solcher auf die deutschen Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkrieges primär bezogener Gedenk-

tag überhaupt eingeführt werden und wenn ja, welches Datum dann gewählt werden solle. Ausdrücklich gegen den 5. August wandte sich sogleich in einem – mehrheitlich abgelehnten – Ände-rungsantrag die Fraktion der Grünen. Der von CDU/CSU und FDP gestellte Antrag wurde mit den Stimmen dieser Fraktionen am 10. Februar 2011 vom Bundestag angenommen.Seither ist die Diskussion über den »Vertriebenengedenktag« und mögli-che Daten nicht abgerissen, ohne dass sich ein Konsens abzeichnet. Beteiligt sind daran auch verschiedene Landes-regierungen, nicht zuletzt die bayeri-sche und die hessische, die in gleich-lautenden »Proklamationen« vom 27. August 2013 den zweiten Sonntag im September zum jährlichen »Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation« erklärten, der erst-mals am 14. September 2014 förmlich begangen werden soll. Aber die Dis-kussion geht dennoch weiter, zumal im am 16. Dezember 2013 unterzeichne-ten Koalitionsvertrag der gegenwär-tigen Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD steht: »Wir halten die mahnende Erinnerung an Flucht und Vertreibung durch einen Gedenktag lebendig […]«. Eine Festlegung auf ein Datum steht indessen aus – und die Meinungen dazu gehen offenbar wei-terhin auseinander.Prof. Dr. Manfred Kittel resümiert in seinem Vortrag den bisherigen Gang der Debatte um die Einführung eines Vertriebenengedenktages, erläutert die unterschiedlichen Positionen und die Begründung der diversen denkbaren Termine für einen solchen Gedenktag. Prof. Kittel ist einer der führenden Ex-perten für die deutsche und interna-tionale Erinnerungskultur bezüglich der Zwangsmigrationen vor allem im 20. Jahrhundert. Nach langjähriger Tätigkeit am renommierten Münch-ner Institut für Zeitgeschichte wurde er im September 2009 zum Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver-söhnung in Berlin bestellt. Seither ist er verantwortlich für den Aufbau der zentralen Erinnerungsstätte an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland. Winfrid hAlder

in zuSAMMenArbeit Mit der Stiftung flucht, ver-treibung, verSöhnung

Vertriebenengedenktag: Ja, aber wann?

VortrAg und diskussion Mit prof. dr. MAnfred kittel (berlin)

Page 23: West-Ost-Journal 2 2014

23 rundgespräch

Kaiserdämmerung – Der Schattenwurf des Jahres 1914

ein rundgespräch über europA Vor und nAch deM »grossen krieg« 1914-1918

Im Gespräch nach der Vorstellung sei-nes aufsehenerregenden Buches »Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ers-ten Weltkrieg zog« (München 2013) in unserem Programm des vergange-nen Jahres meinte der in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark, er habe bereits nach dem Erscheinen der englischen Origi-nalausgabe im Jahr zuvor »etwas beunruhigende« Leserkommen-tare aus Serbien erhalten. Wieviel britisches Understatement dabei auch im Spiel gewesen sein mag – kein Zweifel kann daran bestehen, dass Clarks ausgesprochen kritische Neubewertung der Rolle der serbi-schen Regierung im Zusammenhang mit dem tödlichen Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im damals zur Habsburgermonarchie gehören-den Sarajewo am 28. Juni 1914 zu den spannendsten und am heftigsten dis-kutierten Aspekten des Buches zählt. Der Umstand, dass der von serbischen Attentätern verübte Mordanschlag der unmittelbare Anlass zur Auslösung der »Julikrise« war, die dann binnen wenig mehr als vier Wochen Europa in den Krieg stürzte, ist seit jeher bekannt. Die Hinter-gründe indessen, wer von den Attentatsplänen wann wusste, wer die Vorberei-tungen unterstützt hat, wer glaubte, aus dem Tod des reformorientierten und militärischen »Prob-lemlösungen« gründlich abgeneigten Erzherzogs politischen Nutzen ziehen zu können – all dies ist seit 100 Jahren weit weniger klar und zum Teil immer noch Gegenstand von Spe-kulationen.Christopher Clark hat in seinem Buch nun erheblich detaillierter als in vielen früheren Untersuchungen die Belgra-der Hintermänner der Attentäter von Sarajewo in den Blick genommen und sieht insbesondere den damaligen ser-bischen Geheimdienstchef Dragutin Dimitrijevic (1876-1917) (Deckname »Apis«) in einer Schlüsselrolle. Das ist zwar nicht neu, indessen zeigt Clark ausführlicher als andere die aggressive und expansionsorientierte »großser-bische« Ideologie, der »Apis« und

di, 10.06. 19.00 uhr

auch der damalige serbische Minister-präsident Nikola Pasic (1845-1926) verpflichtet waren. Clark geht davon aus, dass auch Pasic von dem Mord-komplott immerhin wusste, auch wenn er wohl nicht unmittelbar beteiligt war

– und jedenfalls nichts dage-gen unternahm. Und Clark ist entschieden der Auffassung, dass sich die führenden serbi-schen Verantwortlichen nicht nur darüber im Klaren waren – im Einvernehmen mit ih-rem mächtigen Verbündeten

Russland –, dass das Attentat eine akute Kriegsgefahr mit sich bringen würde, sondern dass sie dies bewusst in Kauf nahmen.Die »Süddeutsche Zeitung« hat in ih-rer Ausgabe vom 23. Januar 2014 über die Reaktionen in Serbien auf Christo-pher Clarks Buch berichtet, die allemal »etwas beunruhigend« sind. Nationa-listische Politiker und Historiker spre-chen von einer »brutalen Umschrei-bung der Geschichte« im Rahmen einer »Kampagne des Westens«, von einer »Dämonisierung Serbiens«. Die

führende serbische Tages-zeitung »Politika« sieht – wie andere auch – hinter der von Clark und anderen entwickelten Sicht eine »Verschwörung« der EU, die ihre eigenen Mitglieder gewissermaßen historisch »versöhnen« wolle – auf Kosten der Nicht-Mit-glieder Serbien und Russ-land. Führend bei diesem Komplott kann natürlich nur ein Mitgliedsstaat sein – das »mächtigste euro-päische Land«, nämlich

Deutschland, das – mit Österreich – an der eigenen historischen Reinwa-schung arbeitet.Dergleichen ist gewiss für die meisten geschichtsinteressierten Deutschen schwer nachvollziehbar, die sich den Australier Christopher Clark schwer-lich als gewissermaßen »geschichtspo-litischen Agenten« vorzustellen ver-mögen. Und nur Kopfschütteln können wohl auch die Pläne hervorrufen, dem eigentlichen Mörder Franz Ferdinands, dem bosnischen Serben Gavrilo Prin-cip (1894-1918), an prominenter Stelle in Belgrad (und möglichst auch in Sara-jewo) ein Denkmal zu errichten. Laut

einer Umfrage vom Herbst 2013 sehen 65 % der befragten Serben Princip als »Helden«, nur 7 % als »Terroristen«. Clarks Buch liegt inzwischen auch in Italienisch, Französisch, Spanisch, Por-tugiesisch, Polnisch, Ungarisch, Rumä-nisch und sogar Chinesisch vor. Die serbische Übersetzung steht aus, soll aber Ende Juni 2014 bei einem kleinen Verlag erscheinen, nachdem die großen Belgrader Verlagshäuser offenbar nicht interessiert waren.Wir alle dürfen also auf den Fortgang der Debatte gespannt sein. Serbien be-findet sich auf dem Weg in die Europä-ische Union, am 21. Januar 2014 haben die förmlichen Beitrittsverhandlungen begonnen. Nach der gegenwärtigen Zeitplanung soll es 2020 als 29. Mit-glied aufgenommen werden. Ein sicher-lich in mehrfacher Beziehung weiter Weg liegt noch vor dem Land. Wir be-teiligen uns an der gegenwärtigen Dis-kussion über die Ursachen des Ersten Weltkriegs und zwar gemeinsam mit Frau Dr. Susanne Brandt, die als lang-jährige Wissenschaftliche Mitarbeite-rin am vormaligen Lehrstuhl von Gerd Krumeich an der Heinrich-Heine-Uni-versität Düsseldorf die Forschungsent-wicklung zum Ersten Weltkrieg bestens kennt. Mit ihr diskutiert Prof. Dr. Holm Sundhaussen. Prof. Sundhaussen hatte von 1988 bis zu seiner Emeritierung 2007 den Lehrstuhl für Südosteuropä-ische Geschichte an der Freien Univer-sität Berlin inne. Er gilt als einer der in-ternational führenden Experten für die moderne Geschichte Südosteuropas.

Winfrid hAlder

in kOOperAtiOn Mit deM ASg-bildungSfOruM düSSeldOrf

der AuS bOSnien StAMMende Serbe

gAvrilO princip, der Attentäter vOn

SArAJeWO

Page 24: West-Ost-Journal 2 2014

leutnant Wedelmann (Rainer Penkert) sie pflegt, hält der Men-schenschinder und Karrierist nichts. Stattdessen bringt er die Front in Aufruhr

und das Leben der Truppe in Gefahr, indem er Schießereien und gefährliche Manöver ansetzt. Währenddessen wird Unteroffizier Vierbein (Paul Bösiger) nach Deutschland kommandiert, um Funkgeräte zu besorgen. Das erweist sich als eine schwierige Mission. Nach dem großen Erfolg des ersten Teils von »08/15« (1954) – es war der bis dahin erfolgreichste Film der Nach-kriegszeit – wurde bereits ein Jahr spä-ter der zweite Teil nach der Romanvor-lage von Hans Hellmut Kirst abgedreht. Während der erste Teil 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, en-det, begegnen wir im zweiten Teil den Filmhelden drei Jahre später, mitten im Kriegsgeschehen wieder. Der Krieg mit seinen Grausamkeiten bleibt aller-dings außen vor. Kirst schildert in sei-ner Vorlage den russischen Winterkrieg 1941/42 in einer Kampfpause. Die Schrecken des Krieges ahnt man nur zum Ende des Films, als Panzer über schutzlose Menschenkörper rollen.

24 Ausstellung & KinemAtheK

mi, 07.05. 15.00 uhr

eine Ausstellung ZuM 100. geburtstAg Von ernst oldenburg (1914-1992)

»08/15« – Teil 2Gefreiter Asch in RusslandKriegswinter 1942. Gefreiter Asch ( Jo-achim Fuchsberger) liegt mit seiner Einheit seit Monaten im zermürbenden Stellungskrieg an der Ostfront. Zu allem Überdruss wird der ehrgeizige Haupt-mann Witterer (Rolf Kutschera) zum neuen Batterie-Chef ernannt. Von ka-meradschaftlicher Führung, wie Ober-

JOAchiM fuchSberger AlS gefreiter

herbert ASch

Er war auch ein »1914er« – so wie etwa Hanns Helmut Kirst oder Herbert Czaja. Eine Generation, deren Schick-sal es war, nicht mehr der vermeintlich »guten alten Zeit« vor dem Ersten Weltkrieg angehören zu dürfen, der »Welt von Gestern«, wie Stefan Zweig sie wehmütig ge-nannt hat. Einer Welt, in der es scheinbar noch feste Ordnun-gen und damit Orientierungs-möglichkeiten gab, »Sicherhei-ten« wenigstens in subjektiver Wahrnehmung. Nein, die 1914er wur-den – auch wenn sie wie der am 8. Ja-nuar 1914 in Danzig geborene Ernst Oldenburg nominell noch zur letzten »Vorkriegsgeneration« gehörten – in eine Welt geworfen, deren Signum für mehr als drei Dekaden in erster Linie in der Zerstörung überlieferter Ord-

nungen, dem Verlust von Gewissheiten, dem Schwinden einst für unumstößlich gehaltener Orientierungspunkte be-stand.Mit dem Ersten Weltkrieg brach das

an, was der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) das »Zeitalter der Extreme« genannt hat – das mit dem To-talitarismus Herrschaftsformen hervorbrachte, die die scheinbar selbstverständliche Trennung von »privat« und »öffentlich«

im Leben jedes einzelnen Menschen nicht mehr anzuerkennen bereit wa-ren, ein Zeitalter, das ein Ausmaß von Zwang und Gewalt gebar, welches zu-vor schlechterdings undenkbar gewe-sen war. Dieses Zeitalter bildete den Rahmen des größten Teils von Ernst Oldenburgs Leben und bestimmte es naturgemäß in hohem Maße mit.

Ernst Oldenburgs Vater war eines der ungezählten Opfer des »Zeitalters der Extreme«, er fiel 1915 als Soldat der kaiserlichen Armee, noch bevor sein Sohn das zweite Lebensjahr vollendet hatte. Dieser erste große Krieg im Euro-pa des 20. Jahrhunderts mag sich haupt-sächlich weit weg von Oldenburgs Heimatstadt Danzig abgespielt haben, er griff jedoch auch jenseits des Todes seines Vaters in das Leben des Kindes ein mit Hunger, Angst und Unruhe. Die Verunsicherung der Erwachsenen wird er gespürt haben mit jener besonderen kindlichen Sensibilität für das Geba-ren derer, von denen Kinder nicht zu-letzt erwarten, dass sie ihnen Zutrauen zur Welt vermitteln. Vielleicht wurde schon in dieser unruhigen Kindheit, die mit Krieg, Revolution, Putschver-suchen, wirtschaftlicher Misere und Hochinflation die meisten Erwachse-nen unablässig umtrieb, bei Ernst Ol-denburg ein Grundzug seiner Existenz begründet, nämlich der des Suchens nach Ausdruck für Zeit und Menschen. Klar ist, dass er sehr früh den Wunsch entwickelte, Künstler zu werden, und mit erstaunlicher Zielstrebigkeit bereits als 14-Jähriger an die Erfüllung dieses Wunsches ging. 1928 konnte er errei-chen, dass ihn der Maler Fritz A. Pfuhle in sein Atelier im Fachbereich Archi-tektur an der Technischen Hochschule Danzig aufnahm. Dank der gediegenen Ausbildung hier konnte es der 18-Jähri-ge bereits 1932 wagen, erstmals in einer Ausstellung eigene Werke der Öffent-lichkeit zu präsentieren.

Geworfen ins »Zeitalter der Extreme«

SelbStbildniS, 1989, öl Auf leinWAnd

mo, 16.06. 17.00 uhr

Page 25: West-Ost-Journal 2 2014

2525 Ausstellung & KOnzert

Oldenburg stand folglich noch ganz am Beginn seiner künstle-rischen Entwicklung und Karri-ere, als das NS-Regime errichtet wurde und schnellstmöglich die Freiheiten der demokratisch re-gierten Weimarer Republik zu-nichte machte – auch hinsicht-lich des künstlerischen Schaffens. Zweifellos kam Ernst Oldenburg kaum umhin, als junger Künstler, der 1938 eine Familie gründete, den offenen Konflikt mit dem Regime zu scheuen, einem Re-gime, das sich auch für berech-tigt hielt, rigoros festzulegen, was Kunst, was insbesondere die al-lein zulässige »deutsche Kunst« war. Oldenburg war vor allem in einer gewissen »Nische« tätig , er schuf in Berlin großformatige Wandbilder in den Gebäuden von meist größeren Unterneh-men – also in einer Grauzone zwischen »privat« und »öffent-lich«. Zugleich bemühte er sich auch, durch Reisen (etwa nach Paris) den An-schluss an internationale Tendenzen in der Kunstszene nicht zu verlieren.Hätte ihn das NS-Regime als bedeut-samen »Staatskünstler« betrachtet, so wäre Oldenburg wohl die Einberu-fung 1940 erspart geblieben. So aber war er bis 1945 Soldat und erlebte das Kriegsende als Verwundeter in einem Lazarett im vorpommerschen Stral-sund. Eine Rückkehr nach Danzig war ausgeschlossen, so blieb Oldenburg mit seiner nach Stralsund geflohenen Fami-lie in der traditionsreichen Hansestadt. In der Sowjetischen Besatzungszone und dann der jungen DDR konnte er wieder seine künstlerische Tätigkeit aufnehmen, musste aber – wie so vie-le andere auch – bald feststellen, dass dort von Freiheit gleichwelcher Art kei-ne Rede sein konnte. 1953, kurz nach dem Volksaufstand vom 17. Juni, floh Ernst Oldenburg in die Bundesrepub-lik Deutschland und ließ sich bald da-rauf im westfälischen Marl nieder. Mit der fortschreitenden Etablierung als Künstler in Westdeutschland ging die Möglichkeit einher, wieder Auslands-reisen zu unternehmen. Der wiederauf-genommene Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen in Paris und anderwärts blieb nicht ohne Einfluss auf seine sti-listische Entwicklung. Die Bildhauerei nahm neben der Malerei längst einen bedeutenden Platz in seinem Schaffen ein. Vom wachsenden Publikumsinter-esse an seinen Arbeiten zeugt auch eine Vielzahl von Ausstellungen im In- und Ausland.Mit der Übersiedlung nach Unna-Kes-sebüren, wo Oldenburg sich neuerlich

Christoph Willibald Gluck wurde zwar im oberpfälzischen Erasbach geboren, geprägt hat ihn jedoch – wie er selbst bekundete – Böhmen, wo er seine Kindheit und Ju-gend verbrachte. Als Dreijähriger kam der Sohn ei-nes Försters zu-nächst nach Rei-chenberg, später nach Eisenberg, wo sein Vater in die Dienste des Fürs-ten Lobkowitz trat. Wie für Gluck, der der erste moderne »Starkomponist« wurde und jahrzehntelang die euro-päischen Opernbühnen mit seinem Schaffen beherrschte, war Böhmen der musikalische Urgrund für ungezählte Musiker. Neben Gluck werden in dem Konzert der gebürtige Budweiser Adal-bert Gyrowetz (1763-1850), der aus Welchau stammende Dionys Weber (1766-1842) und andere gewürdigt.Es spielt das unserem Publikum aus di-

konZert Anlässlich des 300. geburtstAges Von christoph WillibAld gluck (1714-1787)

»Aber in meiner Heimat treibt alles Musik…« – Böhmen, das Konservatorium Europas

mi, 11.06. 19.00 uhr

Sich AufbäuMendeS pferd, 1968, öl Auf

leinWAnd

versen stimmungsvollen Konzertaben-den wohlbekannte Malinconia-Ensem-ble Stuttgart unter Leitung von Helmut Scheunchen. Winfrid hAlder

ein Atelier einrichtete, begann 1968 seine letzte Lebens- und Arbeitspha-se. Darin nehmen Darstellungen des menschlichen Körpers einen wichti-gen Raum ein. Wie ungebrochen sein

Schaffensdrang war, davon zeugt der Umstand, dass der 74-Jährige, nach ei-nem Schlaganfall rechtsseitig gelähmt, sich die Fähigkeit abrang, mit der linken Hand zu malen. Mit dem Zusammen-bruch der kommunistischen Regime in Ost- und Ostmitteleuropa und der Ge-winnung der deutschen Einheit durfte der 1914er Ernst Oldenburg noch das Ende des »Zeitalters der Extreme« erleben. Am 9. Januar 1992, einen Tag nach seinem 78. Geburtstag, ist Ernst Oldenburg in Unna gestorben.Anlässlich seines 100. Geburtstages nehmen wir mit einer Werkschau die Gelegenheit wahr, an den bedeutenden, aus Danzig stammenden Künstler Ernst Oldenburg zu erinnern.

Winfrid hAlder

Ausstellungseröffnung: Montag, 16.06. - 17.00 Uhrin Anwesenheit der Tochter des Künst-lers Karola Ramas-Oldenburg

Laufzeit der Ausstellung: 16.06.-25.07.

Öffnungszeiten der Ausstellung vgl. S. 27

chriStOph WillibAld ritter vOn gluck

Page 26: West-Ost-Journal 2 2014

26 chrOnOlOgie

mi jeweils 18.00 bis 20.30 uhrprobe der düsseldorfer chor-gemeinschaft ostpreußen-Westpreußen- sudetenlandleitung: radostina hristova

mi 09.04., 07.05., 04.06., | jeweils 15 uhrostdeutsche stickereimit helga lehmann und christel knackstädtraum 311

do 10.04., 15.05., 12.06. | jeweils 19.30 uhroffenes singenmit barbara schochraum 412

mi 02.04. | 19.00 uhr»vertriebenengedenktag: Ja, aber wann?«vortrag von prof. dr. Manfred kittelkonferenzraum

Fr 04.04. | 19.00 uhr»und dann und wann ein weißer elefant«Musikalisch-literarischer Abend mit Alexandra lachmann, elke Jahn und uli hoch eichendorff-Saal

mo 07.04. | 18.00 uhr Ausstellungseröffnung »Sein lied ging um die Welt. Auf den Spuren des tenors Joseph Schmidt«konferenzraum

do 10.04. | 19.00 uhr»europa - nein danke?«vortrag von prof. dr. florian hartleb konferenzraum

mi 23.04. | 14.00 uhrführung durch die Joseph Schmidt-Ausstellung mit dr. katja Schlenker

mi 23.04. | 15.00 uhr kinemathek»ein lied geht um die

Welt« (1933)eichendorff-Saal

mi 30.04. | 13.00 uhrführung durch die Joseph Schmidt-Ausstellung mit dr. katja Schlenker

mo 05.05. | 19.00 uhr»25 Jahre umbruch in Ostmitteleuropa und 10 Jahre eu-Mitgliedschaft der republik polen und der tschechischen republik«podiumsdiskussion Staatskanzlei nrW

mi 07.05. | 15.00 uhrkinemathek»08/15« - teil 2 (d 1955)eichendorff-Saal

mi 14.05. | 19.00 uhr»Andreas hillgruber (1925-1989) - ein deutscher historiker«vortrag von prof. dr. Jost dülfferkonferenzraum

do 15.05. | 19.00 uhr»zu neuen ufern«lesung mit Wilhelm böhmkonferenzraum

mo 19.05. | 19.00 uhr»Alle Welt preist deine herrlichkeit« - die religiö-sen gesänge Joseph Schmidtsvortrag von carsten eichenberger Jüdische gemeinde düs-seldorf, leo-baeck-Saal, zietenstraße 50

mi 21.05. | 19.00 uhr»Joseph Schmidt - die ‚Ausmerzung des jüdi-schen elementes‘ in der deutschen Musik (1933-1945)«vortrag von helmut braun konferenzraum

di 27.05. | 19.00 uhrin memorian… erich loest

(1926-2013) vortrag und diskussion mit dr. Jörg bilke konferenzraum

di 10.06. | 19.00 uhr »kaiserdämmerung - der Schattenwurf des Jah-res 1914« gespräch mit dr. Susanne brandt und prof. dr. holm Sundhaussen konferenzraum

mi 11.06. | 19.00 »Aber in meiner heimat treibt alles Musik…« - böh-men, das konservatorium europaskonzert anlässlich des 300. geburtstages von christoph Willibald gluck (1714-1787)konzert mit dem Malinco-nia-ensemble Stuttgarteichendorff-Saal

Fr 13.06. | 18.00 uhrverleihung des Andreas gryphius-preisesAusstellungsraum

mo 16.06. | 17.00 uhrAusstellungseröffnunggeneration 1914 - der Maler ernst Oldenburg (1914-1992)Ausstellungsraum

mi 18.06. | 19.00 uhr»Wer erzählt, erinnert sich«lesung mit peter härtlingeichendorff-Saal

so 22.06. | 11.00 uhr»Wach auf und träume«lesung mit hanna SchygullaSavoy-theater

Fr 27.06. | 12.30 uhr »Als im gurkenland die häuser wuchsen« präsentation des Schulpro-jekteseichendorff-Saal

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27

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Zu den höhepunkten der diesjährigen düsseldor-fer literaturtage zählt die lesung der schauspielerin hanna schygulla. in einer Matinee wird sie aus ihrer Autobiographie „Wach auf und träume“ lesen. das titelbild zeigt sie bei der präsentation des 2013 erschienen buches. copyright Jim rakete

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kleine geSchichte der

StAdt. köln, böhlAu, 2014.