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Nur der Wille zählt... ... nach Verkehrsunfall und trotz Multiple Sklerosen-Verdacht

Willen

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Klientengeschichte zum Willen

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Nur der Wille zählt...... nach Verkehrsunfall und trotzMultiple Sklerosen-Verdacht

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1. GlücklicheJugend 4

2. OptimalerStartinsBerufsleben 5

3. EinefolgenschwereSpritztour 6

4. FilmrissnachdemUnfall 8

5. Mit16nochmalsSäugling... 10

6. Rehabilitation 12

7. AufeigenenFüssenstehen 14

8. TestmeinerSelbständigkeit 15

9. ErfüllungmeinesKnabentraumes 16

10. HammermässigerVerdacht:MS 17

11. Ichmussklarkommen... 18

12. Unddawärenochzusagen... 20

13. MultipleSklerose 22

Inhaltsverzeichnis

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Ich durfte eine wunderbare Jugend in liebevoller Umgebung erleben. Kurz nach Weihnachten, am Stefanstag 1967 in Sursee geboren, genoss ich mit meinem älteren Bruder und der 7 Jahre jüngeren Schwester ein intaktes Familienleben, wo auch all meine Lausbubenideen und Flausen Platz hatten. Bald zogen wir nach Amriswil um. Hier erfreuten mich jeweils besonders die Familienaktivitäten, welche unsere Wochenenden belebten. Da ich mich nicht als Stubenhocker bezeichnen kann, der gerne Daumen dreht, leuchteten meine Augen immer freudig, wenn wir zum Beispiel in den Wald zottelten, um dort bei Feuer und Wurst das Robinsongefühl aufleben zu lassen. Ich liebte es auch, im nahen Bodensee zu baden oder im Winter Ski zu fahren. So erinnere ich mich gerne an die Familienskirennen, welche wir mit grossem Eifer und ebensolcher Freude absolvierten. Tja, Sport und Bewegung in der freien Natur bedeuteten mir alles!

Ich kann nicht sagen, dass ich widerwillig zur Schule gegangen wäre. Nur habe ich das Schulzimmer oft von aussen erlebt, weil ich halt bei jedem Lehrerstreich gerne an vorderster Front mit dabei war und deshalb nicht selten die Lektionen vor der Türe verbrachte.

Besonders wichtig war für mich die Clique, mit der immer etwas los war. Ob beim Fussball, Tennisspiel oder im Wald: da lebte ich auf, wenn ich mich an der frischen Luft bewegen und etwas unternehmen konnte. Deshalb gefiel es mir auch in der Jungwachtgruppe ausserordentlich gut, wo wir genau solche Tätigkeiten ausübten.

Zusammenfassend könnte man also sagen: ich war ein normaler Lausbub, der es genoss, seine Umwelt und damit sich selber stets auf Trab zu halten...

Erfüllung

Lieben und geliebt zu werden

ist das höchste Gut auf Erden.

Glückliche Jugend1.

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Ach, wie hatte ich mich schon lange auf meinen letzten Schultag der obligatorischen Schulzeit gefreut! Endlich hiess es, ins Berufs- und damit ins echte Leben einzusteigen. 198�, als ich aus der Schule kam, boomte die Baubranche bekanntlich übermässig und so waren jegliche Berufe dieses Sektors attraktiv. Ich hatte mich voller Freude für den damaligen Modeberuf des Maurers entschieden. Für mich war diese Tätigkeit genau das Richtige. Ich arbeitete gerne im Freien und hatte grossen Stolz, zu sehen, wie etwas Konkretes entsteht, wie zum Beispiel ein Haus. Während der Lehrzeit erkannte ich auch bald klare Aufstiegsmöglichkeiten und damit Zukunftsperspektiven, welche mich faszinierten. So begann ich mir bereits Karrierenpläne zu schmieden und sah mich gedanklich schon als Polier oder Bauführer...

Ich fuhr mit meinem Moped täglich hochmotiviert ins übernächste Dorf, um dort zu arbeiten. Dass mir mein Beruf körperlich einiges abverlangte, war für mich eher Befriedigung als Belastung. Bewegung und aktives Zupacken, mitdenken und in der Erwachsenenwelt meinen Platz haben, das passte mir bestens. Die Zukunft lag mir scheinbar zu Füssen...

Lebensfreude

Ein Lächeln, das du ausgeteilt,

beschwingt rund um die Erde eilt,

bevor es – tausendfach vermehrt –

zu dir zurück nach Hause kehrt.

Optimaler Start ins Berufsleben2.

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Natürlich hatte sich mit Beginn der Lehre auch mein Kollegenkreis verändert. Mir fiel und fällt es recht leicht, immer wieder mit neuen Menschen in Kontakt zu treten. So war ich nach kurzer Zeit an der Gewerbeschule auch wieder in neu gebildeten Cliquen mit dabei und genoss die frisch gewonnenen Kameradschaften. Und weil ich ja nun bereits «zu den Grossen» gehörte, liebte ich es, nach dem Feierabend – vor allem vor dem Wochenende – heimzufahren, zu duschen und dann Kollegen anzurufen, um mit ihnen für den Ausgang abzumachen. Mit unserem jugendli-chen Übermut und dem Töffli «bewaffnet» fuhren wir dann an die Orte der Aktivitäten. Natürlich konnten wir das nur sehr beschränkt, nämlich in der näheren Umgebung, tun.

So auch an jenem Wochenende im Herbst 198�. Wir drei «Töfflibuben» sassen also im Nachbardorf in einer Beiz, tranken ein, zwei Bier und genossen den Abend und die tolle Stimmung.

Und da tat sich für uns plötzlich eine neue Welt auf: Ein etwas älterer Typ, den wir an diesem Abend erst kennen lernten, anerbot sich, uns mit dem Auto in die nahe gelegene Grossstadt mitzunehmen. Wir sollten erleben, wo die Post wirklich abging. Klar, das musste man uns nicht zwei Mal sagen. Wir wären ja blöde gewesen, diese Chance nicht zu packen. So fuhren wir nach St.Gallen und genossen dort einige coole Momente, die das Herz eines jeden Jugendlichen höher schlagen liessen.

Traurigkeit

Die Traurigkeit ist nie so gross,

Dass einzig sie nur tragisch ist.

Weil sie sich oft im tristen Schoss

In aller Stille selbst zerfrisst.

Denn selbst die Träne, die geweint

Aus Trauer oder Bange,

Rinnt aus dem Aug’, wenn sie erscheint,

Und kitzelt dir die Wange!...

Eine folgenschwere Spritztour3.

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Die Zeit verflog wie im Fluge und irgendwann bestiegen wir das Auto für die Heimfahrt.

Was weiter passierte, weiss ich selber nicht mehr. Aus den Berichten, die mir meine Familie, die Polizei und meine Kameraden erzählten, sowie aus Presseberichten kann ich mir heute den Hergang des Unfalls rekonstruieren. Der folgende Pressebericht fasst das Wichtigste zusammen:

Während des Unfalls sass ich im Auto direkt hinter dem Fahrer und wurde deshalb von dem korrekt entgegen kommenden Fahrzeug mit voller Wucht erfasst. Deshalb zog ich mir die schwersten Verletzungen zu. Der Crash war der letzte Augenblick, bei dem ich konkreten Kontakt mit dem Fahrer hatte. Weder direkt nach dem Unfall noch in der langen Zeit bis heute habe ich diesen Mann je wieder gesehen. Wobei ich diesem Unbekannten erstaunlicherweise nie im geringsten Vorwürfe gemacht hatte. Ich bin der Meinung, dass ein solcher Unfall grundsätzlich immer passieren kann und es schlussendlich Schicksal ist, ob man darin verwickelt ist oder nicht. Wir – insbesondere ich – hätten dem Wagen ja nicht zusteigen müssen. Wobei ich im Voraus nie einen Gedanken an die Möglichkeit eines Unglücks verschwendete, obwohl bei uns ja auch Alkohol im Spiel war.

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Ich wurde, wie man mir später sagte, nach dem Unfall ins Spital St.Gallen eingeliefert. Meine Überlebenschancen standen dabei nicht gut. Die Ärzte hatten lange um mein Leben gekämpft. Ich wurde mit angerissener Lunge, einem Schädel-Hirntrauma, einer doppelseitiger Lähmung und vielen äusseren Verletzungen (welche für mich schon unter Peanuts liefen) in der Intensivstation an Apparate, zum Beispiel die Lungenmaschine, gekoppelt. So lag ich vier Wochen und sechs Tage ohne Bewusstsein im Spital. Während dieser Zeit besuchten mich meine Eltern täglich, obwohl ich stets nur reglos da lag. Die Eltern hatten auf Anraten der Ärzte hin immer mit mir gesprochen. Diese Zeit musste für sie unglaublich schwer und belastend gewesen sein, weil sie ja nicht wussten, wann ich wieder erwachen würde. Und vor allem auch wie. Konnte ich überhaupt je wieder ein sogenannt normales Leben führen? Trotz der grossen – vor allem auch psychischen – Belastung hielten sie aber durch, besuchten mich regelmässig und sprachen mit mir.

Und so sind dann auch das Erste, woran ich mich überhaupt erinnern kann, die vertrauten Stimmen. Die Stimmen meiner Eltern. Es holten mich die wohlbekannten Klänge meiner Mutter, beziehungsweise meines Vaters eigent-lich ins Leben zurück. Die rund fünf Wochen Intensivstation stellen für mich selber einen kompletten Filmriss dar. Die Ereignisse dieser Zeitspanne wurden mir einfach im Nachhinein erzählt.

Nach der Intensivstationszeit blieb ich vorerst noch zwei Wochen in St.Gallen auf der Nasen-Ohren-Abteilung, bevor ich auf meinen eigenen Wunsch hin nach Münsterlingen verlegt wurde. Mein grösstes Verlangen war, jetzt endlich nach Hause zu dürfen. So willigte man insofern ein, dass ich nun an den Wochenenden für eine kurze Zeit heim durfte. Nach zwei weiteren Wochen ging mein grosser Traum in Erfüllung: ich sollte meine Rehabilitation bei meiner Familie zu Hause, statt in einer Klinik angehen dürfen.

Filmriss nach dem Unfall4.

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Anschauungssache

Zum Opti- sagt ein Pessimist,

dass alles für die Katze ist.

Da meint der Optimist, der scheue,

dass das die Katze aber freue!

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So begann eine sehr schwere Zeit, die mir zwar wieder die vertraute Umgebung schenkte, mich aber bei allem anderen masslos einschränkte. Jeder Handgriff musste wieder neu erlernt werden. Alle motorischen Fähigkeiten, die ich früher besass, waren wie weggeblasen.

Gelöscht. Delete! Aus!

Wobei ich sagen muss, dass meine Erinnerung, meine geistigen Fähigkeiten, mein ausgeprägtes Mathematikverständnis sowie die Fähigkeit des Redens nicht in Mitleidenschaft gezogen waren. Aber mein gesamter Bewegungsapparat war havariert. Ich musste quasi von einer Sekunde auf die andere wieder von vorne zu Lernen beginnen. Und das im besten Jugendalter! Wie einen Säugling musste ich mich mit pubertären 16 Jahren von meinem Vater herumtragen oder im Rollstuhl herumschieben lassen. Das Anziehen von Kleidungsstücken war mir ohne fremde Hilfe nicht möglich. Wie halte ich die Gabel, wie nehme ich ein Messer in die Hand? ...

Persönlichkeit

Bleib dir, o Mensch, nur selber treu,

im Glück, wie in der Pein,

dann wirst du tief im Herzen frei

von vielen Zwängen sein.

Mit 16 nochmals Säugling...5.

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Momente, mit denen ich kaum klar kam.

Bei allem und jedem auf Andere angewiesen zu sein, bereitete mir anfangs also grosse Mühe! Schwierig war diese Zeit ferner, weil auch das gesamte Umfeld «geschockt» reagierte.

Die Hilfe seitens meiner Familie war glücklicherweise jederzeit gewährleistet und so war ich sehr motiviert, mit kleinen Schritten und unsäg-licher Geduld das neue Leben frisch zu erlernen und als solches anzupacken. Ich feierte für mich selber jeden noch so winzigen Fortschritt als Erfolg. So konnte ich zum Beispiel wieder die Treppe hinuntersteigen, wobei ich das nur in einer Spezialgangart und rückwärts schaffte. Unten musste dann einfach mein «Haus-Ferrari», also mein Rollstuhl stehen, damit ich mich hineinfallen lassen konnte.

Die Anhäufung solch positiver Erlebnisse und mein grundsätzlicher Optimismus halfen mir über schwarze Tage hinweg. So arbeitete ich mit kleinen Schritten und viel, viel Geduld hart an der Vergrösserung meiner Möglichkeiten auf dem Weg zur Selbständigkeit. Denn ich fühlte mich einfach noch zu jung, um nicht an das Zurückgewinnen meiner völligen Selbständigkeit zu glauben.

Und weil ich irgendwann wieder auf eigenen Füssen stehen wollte, trainierte ich täglich pickelhart den Gebrauch meiner Füsse.

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Die beste Medizin ist die vertraute Umgebung. Für mich auf jeden Fall! So wackelte ich bei uns zu Hause schon bald ohne Rollstuhl, mit beiden Händen an jeglichen Wänden abstützend, auf eigenen Füssen durch die Wohnung. Hilfreich war mir ein vierbeiniger Stock, mit dessen Unterstützung ich nach und nach wieder gehen lernte.

In dieser Zeit begann ich, viele Dinge unseres Lebens anders zu sehen oder zu bewerten. Ich schenkte plötzlich dem Alltäglichen eine viel grössere Bedeutung und genoss Dinge, welche für mich früher selbstverständlich waren.

Damit man weiss, was ich meine, nenne ich das Beispiel des Gehens: wir spurten doch, wenn wir gesund sind, durch unser Leben, ohne je anzuhalten. Kleinigkeiten, wie die Blume am Strassenrand bestaunen wir nur selten. Oder wer überlegt sich schon, welches Geschenk es ist, mühelos von A nach B zu kommen? Da ich selber gezwungen wurde, das Leben quasi im Zeitlupentempo zu durchhinken, entdeckte ich zum Teil an unerwarteten Stellen Schönes oder Interessantes.

Ich verbuchte zu Hause also Fortschritte. Ich kämpfte mich durch die Tagestätigkeiten und wollte möglichst alles selber auf die Reihe bringen. Ich nahm in Kauf, dass ich für das Anziehen einer Jeanshose eine halbe Stunde einsetzen musste. Eine solche Alltäglichkeit stellte für mich also eine Riesenherausforderung dar, die ich nur mit grossem Aufwand und eigenen Techniken meisterte. Mir war diese Umständlichkeit aber lieber, als dass ich mir helfen liess und die Tätigkeit in einer Minute erledigt hätte. Denn nur was ich selber tat, brachte mich der ersehnten Selbständigkeit näher.

Hetzen

Zeichen, dass wir selbst beim Sitzen

hastig durch den Alltag flitzen,

ist zum Beispiel generell

unser Satz: «Komm, warte schnell!»

Rehabilitation6.

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Vom Reha-Aufenthalt, von dem früher die Rede war, wurde abge-sehen, weil meine Genesung mit unglaublich grossen Schritten fortschritt. Rückblickend muss sogar gesagt werden, dass dieser Gesundungsprozess wahrscheinlich zu schnell vonstatten ging. Vielleicht wäre eine langsamere Rehabilitation in einer Klinik richtiger gewesen.

Zur weiteren Wiedereingliederungsabklärung wurde ich nun für drei, vier Wochen in die SUVA-Klinik in Bellikon eingewiesen. Hier wurden die Möglichkeiten ausgelotet, zu was ich noch fähig war. Insbesonders im Hinblick auf eine KV-Ausbildung.

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Im Frühjahr 198� stand ich wieder auf meinen eigenen Beinen! Ich wollte aber noch mehr: Meine Zukunft nämlich unter die Füsse nehmen. Deshalb begann ich ein Abklärungsjahr an einer Handelsschule. Dieses sollte zeigen, ob ich den intellektuellen Anforderungen einer solchen Schule gewach-sen wäre. Mit Hirnleistungstest und ebensolchen Trainings wurde ich dann ein Jahr lang auf die Handelsschule vorbereitet. Im Frühling 1986 durfte ich die �-jährige KV-Ausbildung in Romanshorn an der Schule am Schlossberg beginnen.

Einen grossen Meilenstein konnte ich ebenfalls in dieser Ausbildungszeit setzen: Ich erhielt 1986 meine totale Mobilität durch das Erlangen des Führerausweises. So konnte ich nun selber per Auto unterwegs sein, was mich ungemein beflügelte. Es mag erstaunlich klingen, aber ich hatte im Fahrzeug nie ein schlechtes Gefühl in Bezug auf den erlebten Unfall. Wäre ich diesbezüglich nur im Geringsten traumatisiert gewesen, so hätte ich die Fahrprüfung wohl gar nie gemacht. Nun genoss ich es, als junger Mann mobil und somit völlig unabhängig zu sein. So konnte ich im zweiten Ausbildungsjahr problemlos ein Praktikum im Kanton St.Gallen antreten, ohne damit an Grenzen zu stossen.

1988 begann ich das dritte Lehrjahr in Romanshorn. Meine Fremd-sprachkenntnisse genügten aber für den KV-Abschluss nicht. So entschloss ich mich, nach 2 1/2 KV-Lehrjahren, den Abschluss als Büroangestellter zu machen. Diesen Abschluss bestand ich erfolgreich und war damit ausgelernt und somit reif, in die Berufswelt einzusteigen.

Lebe dich zum Glück

Und willst du der sein, der du bist,

das Glück an deiner Seite ist.

Und willst du haben, was du hast,

ist grosser Reichtum stets dein Gast.

Und freust du dich ob jeder Freud,

bist du gewappnet auch für’s Leid.

Auf eigenen Füssen stehen7.

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Nachdem ich nun für zwei Jahre auf der Gemeinde Romanshorn arbei-tete, wollte ich es wissen: durch eine Partnerschaft bedingt bot sich mir die Chance, nach Davos in den Kanton Graubünden zu ziehen. Das war natürlich ein grosser Schritt: alle Banden hier im Unterland lösen und in einer mir völlig unbekannten Gegend neu beginnen. Wie ein Abenteurer stürzte ich mich mutig in diese Herausforderung.

Würde ich es schaffen, einen eigenen Haushalt zu führen? Mein bisher von zu Hause unterstütztes Leben selber in die Hand zu nehmen? Ja, ich wollte mich diesem Test der Selbständigkeit stellen.

So arbeitete ich in einer Bauunternehmung in der Debitoren/ Kreditorenbuchhaltung. Wenn auch auf Umwegen und nicht mehr auf der Baustelle selber; ich war wieder in der Baubranche tätig.

Der Start meiner selbstgewählten Herausforderung verlief recht harzig. Ich war in allem auf mich alleine gestellt. Ich kannte keine Seele und musste mich selber in diese Region integrieren. Da die Bündner doch eher ein eigenes Volk sind, war es für mich nicht einfach, mich in diese Mentalität hineinzuleben. Doch ich liess den Kopf nie hängen und zweifelte auch nicht an mir. So hatte ich nach einem knappen Halbjahr Anschluss gefunden und begann mich wohl zu fühlen. Es tat mir gut, dass ich meinen eigenen Selbständigkeitstest bestanden hatte. Nun konnte wohl kommen, was wollte: ich war gewappnet.

Test meiner Selbständigkeit8.

Selbstvertrauen

Wie öde ist der Lebenslauf,

stehst, Mensch, du morgens nur grad auf.

Du hättest wohl viel mehr vom Leben,

versuchtest du dich zu erheben!

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Gegen den Strom

Und wer dem Strom entgegen schwimmt

erfährt auf seinem Weg bestimmt,

wie Männer, Frauen – selbst mit Kind –

ihm stets entgegenkommend sind ...

Durch die damalige Wirtschaftsrezession und die Umstrukturierung der Firma in Graubünden entschloss ich mich, wieder in die Seeregion zu ziehen. Wiederum wartete Unbekanntes auf mich. Anfangs war ich ein Stellensuchender in Amriswil. Das war aber nicht mein Ding. Ich wollte in der Arbeitswelt abermals Fuss fassen. Die damalige wirtschaftliche Lage liess mich aber keinen Job in der Bürowelt finden. So entschloss ich mich, noch einmal etwas Neues zu wagen und mir einen Knabentraum zu erfüllen. Ich begann mit der Ausbildung zum Chauffeuren. Wenn andere Buben von Berufen wie «Pilot», «Polizist» oder «Lehrer» träumten, so war es für mich immer die «grosse Freiheit auf den schweren Brummern», welche mich faszinierte.

Von 1996 bis 2000 fuhr ich mit meinem Trucker auf den nationalen Strassen. Auch wenn diese Tätigkeit harte Knochenarbeit war, so gefiel sie mir doch sehr gut. Ich genoss vor allem die direkten Kundenkontakte in vollen Zügen. Ich war am Ziel meiner Träume.

Erfüllung meines Knabentraumes9.

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1999 hatte ich beim Fahren plötzlich ein kal-tes Gefühl in meinen Beinen. Auch als ich realisierte, dass mir mein Bein «einschlief», schenkte ich diesem Umstand keine grosse Beachtung. Ich dachte, ich hätte wohl irgendwo einen Nerv eingeklemmt und das würde sich schon wieder geben. Als dieser Zustand nicht mehr abklang, suchte ich einen Arzt auf. Dieser wusste nicht genau, was ich hatte und empfahl mir dieses und jenes Medikament. Mein Befinden änderte sich aber keineswegs. Ich arbeitete weiter, suchte ab und zu den Doktor wieder auf – und kam mir als Simulant vor, weil man nichts fand. Nach einer geraumen Zeit wies mich mein Arzt ins Spital zu einer genaueren Untersuchung ein. Hier wurde ich exakt gecheckt.

Und da wurde die Diagnose «Verdacht auf Multiple Sklerose» ausge-sprochen. Das war im Frühjahr 2000. Ich wurde sofort ausser Gefecht gesetzt und wortwörtlich aus dem Verkehr gezogen. Da brach für mich natürlich schon eine Welt zusammen. Aber wer mich kennt weiss, dass ich postwendend wie-der nach vorne schaute. Was wollte ich machen?

Die Diagnose, die so schwer zu verdauen war, entpuppte sich als Verdacht. Und daran hielt ich mich: ein MS-Verdacht. Das musste nicht Multiple Sklerose selber sein. Also glaubte ich an diesen Verdacht. Und doch fragte ich mich immer wieder: Wenn es nun doch Tatsache und nicht nur Verdacht war? Was dann? Warum gerade ich?

Doch schnell wurde mir klar, dass die Frage «Warum gerade ich?» nichts bringt. Wenn es so sein musste, dann war es auch bestimmt wieder für etwas gut!

Schatten

Und spürst du Schatten im Gesicht,

so dreh dich um und such das Licht!

Hammermässiger Verdacht: MS10.

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Da sass ich also zu Hause, hatte triste Gedanken und den MS-Verdacht mit in der Wohnung. Das konnte es nicht sein. Also strukturierte ich meine Tage weiterhin klar und begann meine Fühler in alle Richtungen auszustrecken.

Ich wusste, dass mir ein PC für die Zukunft hilfreich wäre. Also schaff-te ich mir einen Computer an. Weil ich schon lange nicht mehr auf einem Büro gearbeitet hatte, war ich nicht mehr up to date. Ich tastete mich über Computerspiele an dieses neue Gerät heran. Bald merkte ich, dass man mit der Kiste noch mehr machen konnte, dass noch andere Programme zur Verfügung standen. Auch interessierte mich das ganze Innenleben. So nahm ich eines Tages meinen PC auseinander. Ich arbeitete dann vier Wochen tagtäglich, bis ich ihn wieder so zusammengesetzt hatte, wie ich das wollte. Das war lange – aber ich brachte es ohne fremde Hilfe zustande!

So waren meine Tage gefüllt mit Haushalten, Computertätigkeiten, Einkaufen und der Pflege von sozia-len Kontakten und Freundschaften.

Mein Handicap wuchs in dieser Zeit insofern, dass Treppenlaufen immer schwieriger wurde. Auch weite Strecken oder gar Wanderungen zu bewältigen, war nicht mehr möglich. Durch meinen Gleichgewichtsverlust war und bin ich in vielen Aktivitäten eingeschränkt. Sport, der bei mir immer grossgeschrieben war, konnte ich seit dem

Unfall nicht mehr ausüben. So musste ich auf das Velofahren verzichten und Treppen ohne Geländer stellten für mich ein Problem dar.

Augenblick

Komm, sieh dem Fremden ins Gesicht,

entdecke dort sein Augenlicht –

und du erkennst, wo Wahrheit ruht:

Man sieht nur mit dem Herzen gut!

Ich muss klar kommen...11.

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Über IV-Abklärungen kam ich 2002 ins Brüggli. Zu Beginn mit sehr gemischten Gefühlen. Vielleicht, weil ich diesen Betrieb nicht wirklich, sondern nur vom Hörensagen her kannte. Ich wusste nicht, was mich erwartete, was auf mich zukommen würde.

Ich arbeite heute sehr gerne hier. Mein Tätigkeitsfeld ist der Computer geblieben und ich fühle mich sowohl bei der Arbeit als auch im Umfeld wohl.

Die Krankheit fordert weiterhin täglich ihren Tribut, doch ich bin zuversichtlich. Beruhigt auch deshalb, weil seit 2002 medizinisch keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes mehr gemessen werden konnte. Und so sehe ich eigentlich getrost in die Zukunft und kann weiterhin von mir behaupten: «Ich komme klar!»

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Zur Person Während der Arbeit wirke ich eher ruhig und in mich gekehrt. Doch wehe wenn ich Feierabend habe! Dann kann ich mich um 180 Grad wenden. Und dann werde ich sehr kommunikativ. Ich würde sogar sagen, ich spiele auch mal den Clown in der Freizeit. (Mein wahres Gesicht zeige ich höchst selten bei der Arbeit). Für mich sind Arbeit und Freizeit zwei paar Schuhe. Es passt zu mir auch der Ausspruch «Eine harte Schale aber ein weicher Kern».

Mein Lebensmotto Lasst mich so sein, wie ich bin und zwingt mich nicht, so zu werden, wie ihr mich haben wollt.

Meine Stärke Ausdauer. Ich bin eine Kämpfernatur. Wenn ich überzeugt bin, dass es sich lohnt, dann gebe ich nicht auf. Ich probiere viele Wege. Einer dieser Wege wird mich zum Ziel führen und wenn nicht, gebe ich mich erst geschlagen, wenn das wirklich definitiv ist.

Staunend

Staunend durch die Welt zu gehen,

staunend selbst ob Alltags Plunder,

heisst, die Welt als Welt zu sehen:

ohne Glimmer, doch als Wunder.

Und da wäre noch zu sagen...12.

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Schwächen Durch meine ruhige und in mich gekehrte Art ist auch vermehrt ein strenger Gesichtsausdruck zu sehen. Dieser könnte Unsicherheit ausstrahlen oder auch den Gedanken: «Oh, was hat er denn für eine Laune!»

Besonderes Ich erfreue mich gerne an den kleinen Dingen des Lebens. Ich habe gelernt, die vielen kleinen Wunder dieser Welt zu beachten.

Zum Schluss noch dies Ich habe in dieser Broschüre von meinem Leben erzählt, weil ich weiss, dass es nichts bringt, wenn man den Kopf hängen lässt. Es geht immer wieder vorwärts. Und so möchte ich mit meiner Geschichte anderen Menschen Mut machen. Mut, ihr Leben immer wieder in die Hand zu nehmen und die Zukunft anzupacken. Denn: nur der Wille zählt…

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Multiple Sklerose, auch Enzephalomyelitis disseminata genannt, ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems.

Multiple Sklerose ist die zweithäufigste neurologische Krankheit im frühen und mittleren Erwachsenenalter und die häufigste chronisch- entzündliche Erkrankung.

In der Schweiz leben rund 10 000 Menschen mit MS. Etwa täglich wird eine neue MS-Diagnose gestellt.

Weltweit sind über 2,� Millionen Menschen von MS betroffen.

Link: www.multiplesklerose.ch

Was ist Multiple Sklerose?13.

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Herausgeber, Redaktion & Entstehung Brüggli Produktion und Dienstleistung Hofstrasse � – �, 8�90 Romanshorn

Autor & Verse © by Christoph Sutter Arbonerstrasse 2, 8�90 Romanshorn

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