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Januar 3. Woche Einüben in die Hoffnung Ein Boot in der Lagune. Ein alter Fischer – er steht am Bug, das Wurfnetz in den Händen. Seit einer halben Stunde sehe ich ihm zu. Er versteht sein Handwerk. In vollendetem Kreis fällt das Netz ins Wasser. Er lässt es sinken. Wartet, bis der bleibeschwerte Rand den Boden berührt. Dann zieht er es hoch, behutsam, mit hoffenden Händen spürend, ob Leben im Netz ist oder ob der Wurf wieder einmal umsonst war. Das Netz ist leer. Er schüttelt es aus, entfernt den Unrat, bereitet sich zum nächsten Wurf. Ich habe die Würfe gezählt: Dreiundzwanzigmal ist das Netz auf das Wasser geklatscht. Jedes Mal zog er es leer heraus. Der alte Fischer weiß: Es gibt Tage, da muss man das Netz werfen wider besseres Wissen: zwanzigmal, fünfzigmal, hundertmal – weil es nötig ist, das Netz zu werfen – als Einübung in die Praxis der Hoffnung – weil nicht werfen aufgeben hieße – und aufgeben hieße, aufhören zu leben. 19. Donnerstag 15. Sonntag 17. Dienstag 18. Mittwoch 20. Freitag 21. Samstag 16. Montag

Willi Hoffsümmer – Geschichtenkalender 2017 · Januar 3. Woche Einüben in die Hoffnung Ein Boot in der Lagune. Ein alter Fischer – er steht am Bug, das Wurfnetz in den Händen

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Page 1: Willi Hoffsümmer – Geschichtenkalender 2017 · Januar 3. Woche Einüben in die Hoffnung Ein Boot in der Lagune. Ein alter Fischer – er steht am Bug, das Wurfnetz in den Händen

Januar 3. Woche

Einüben in die Hoffnung

Ein Boot in der Lagune. Ein alter Fischer – er steht am Bug, das Wurfnetz in den Händen. Seit einer halben Stunde sehe ich ihm zu. Er versteht sein Handwerk.In vollendetem Kreis fällt das Netz ins Wasser. Er lässt es sinken. Wartet, bis der bleibeschwerte Rand den Boden berührt. Dann zieht er es hoch, behutsam, mit hoffenden Händen spürend, ob Leben im Netz ist oder ob der Wurf wieder einmal umsonst war. Das Netz ist leer. Er schüttelt es aus, entfernt den Unrat, bereitet sich zum nächsten Wurf. Ich habe die Würfe gezählt: Dreiundzwanzigmal ist das Netz auf das Wasser geklatscht. Jedes Mal zog er es leer heraus. Der alte Fischer weiß: Es gibt Tage, da muss man das Netz werfen wider besseres Wissen: zwanzigmal, fünfzigmal, hundertmal – weil es nötig ist, das Netz zu werfen – als Einübung in die Praxis der Hoffnung – weil nicht werfen aufgeben hieße – und aufgeben hieße, aufhören zu leben.

19. D o n n e r s t a g15. S o n n t a g 17. D i e n s t a g 18. M i t t w o c h 20. F r e i t a g 21. S a m s t a g16. M o n t a g

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April/Mai 18. Woche

Die Blüte

4. D o n n e r s t a g30. S o n n t a g 2. D i e n s t a g 3. M i t t w o c h 5. F r e i t a g 6. S a m s t a g1. M o n t a g

M a i fe i e r t a g

Ein Gärtner hatte aus der Frucht einer schönen Rose eine neue Pflanze gezogen. Er wartete Jahr um Jahr, dass sie Blüten brächte. Aber der Strauch entwickelte nur Stacheln, zahlreiche harte, schmerzhafte stechende Spitzen. Beim Bearbeiten des Bodens unter der Pflanze bluteten ihm die Hände. Eines Tages beschloss er, den Dorn-strauch auszuhacken und zu verbrennen.Bevor er seine Werkzeuge an die Wurzel anlegte, betrachtete er noch einmal den Busch, um sich dann endgültig von ihm zu trennen. Da entdeck-te er an einem kräftigen Zweig eine Knospe. Nein, dachte er, jetzt will ich ihn nicht fällen. Erst muss ich sehen, was aus dieser Knospe wird.Jeden Tag ging er zu der sich entwickelnden Blüte, gab der Pflanze Nahrung und entfernte mit blutenden Händen wild wachsende Kräuter und Gräser aus ihrem Wurzelbereich. Eines Morgens öffnete sich die fertige Rose, und der Gärtner konnte sich nicht satt sehen an ihrer Schönheit.

Ihr Duft erfüllte den Garten und erfreute ihn. Seine blutenden Hände vergaß er nicht, aber sie fielen nicht mehr ins Gewicht beim Anblick der herrlichen Blüte. Er sah, dass auch andere Zweige Knospen angesetzt hatten, und es wurde ihm bewusst, dass nur dieser Strauch zwischen seinen Stacheln zu seiner Zeit solche Blüten hervorbrin-gen konnte.

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Juni 23. Woche

Am Feuer der Gemeinschaft bleiben

8. D o n n e r s t a g4. S o n n t a g

P f i n g s t e n

6. D i e n s t a g 7. M i t t w o c h 9. F r e i t a g 10. S a m s t a g5. M o n t a g

P f i n g s t m o n t a g

Ein Schüler kam zu Rabbi Pinchas und klagte ihm sein Leid: „Ich habe es satt, Sabbat für Sabbat an den gemeinsamen Gebeten der Gemeinde teilnehmen zu müssen. Meine Gebete kann ich doch genauso gut alleine zu Hause verrichten.“Rabbi Pinchas hörte ihm verständnisvoll zu. Dann ging er zur Feuerstelle, nahm mit einer Zange ein großes Stück glühender Kohle aus dem Gluthaufen, legte es auf den Boden und wartete. „Na, und?“, fragte der Schüler verständnislos.„Na, und?“, stellte der Rabbi die Gegenfrage. „Was wird mit der glühenden Kohle nun sein?“„Sie wird bald ausgehen“, antwortete der Schüler.„Siehst du, genauso wird auch dein Glaube bald erlöschen, wenn du dich von der betenden Gemein-de absonderst.“

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Seine Arbeit fortsetzen

August 34. Woche

24. D o n n e r s t a g20. S o n n t a g 22. D i e n s t a g 23. M i t t w o c h 25. F r e i t a g 26. S a m s t a g21. M o n t a g

Ein junger Mann durchquerte die Wüste und gelangte schließlich zum Kloster von Sketa. Dort bat er, einer Pre-digt des Abtes zuhören zu dürfen, was ihm erlaubt wurde. An jenem Abend sprach der Abt über die Wichtigkeit der Arbeit auf dem Felde. Am Ende der Predigt meinte der junge Mann zu einem der Mönche: „Ich bin sehr verwundert. Ich hatte erwartet, eine erleuchtete Predigt über die Tugenden und über die Sünden zu hören, aber der Abt hat nur über Tomaten, Bewässerung und derlei Dinge gesprochen. Dort, wo ich herkomme, glauben alle, dass Gott Erbarmen ist: Es reicht, zu beten.“Der Mönch lächelte und meinte: „Hier glauben wir, dass Gott seinen Teil schon getan hat und es nun an uns ist, seine Arbeit fortzusetzen.“

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November/Dezember 48. Woche

Vom König, der Gott sehen wollte

30. D o n n e r s t a g26. S o n n t a g

To t e n s o n n t a g

28. D i e n s t a g 29. M i t t w o c h 1. F r e i t a g 2. S a m s t a g27. M o n t a g

In einem fernen Land lebte einmal ein König. Als er alt wurde, sprach er: „Seht, in meinem Leben habe ich alles erlebt, was man erleben kann. Nur Gott habe ich nicht gesehen. Ihn möchte ich noch sehen, bevor ich sterbe.“ Deshalb erließ der König an alle Machthaber, Weisen und Priester den Befehl, ihm Gott zu zeigen. Schwerste Strafen wurden angedroht, wenn es ihnen nicht gelänge. Alle Bewohner des königlichen Palastes bekamen Angst und sie warteten auf ihr bevorstehendes Ende. Da kam ein Hirte vom Feld, der von des Königs Befehl gehört hatte, und sagte: „Erlaube mir, König, deinen Wunsch zu erfüllen!“ Der Hirte führte den König auf einen freien Platz und zeigte ihm die Sonne. „Sieh hin“, sagte er. Sofort senkte der König geblendet den Kopf und rief: „Willst du, dass ich erblinde?“ „Aber König“, sagte der Hirte, „das ist doch nur ein Ding der Schöpfung, ein schwacher Abglanz der Größe Gottes, ein kleines Fünkchen seines flammenden Feuers. Wie willst du mit deinen schwachen Augen Gott sehen? Suche ihn mit anderen Augen!“

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Alle Rechte vorbehalten© 2016 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildernwww.patmos.de

Gestaltung: Finken & Bumiller, StuttgartDruck: Neue Süddeutsche Verlagsdruckerei, UlmHergestellt in DeutschlandISBN 978-3-8436-0757-5

Für die Schwabenverlag AG ist Nachhaltigkeit ein wichtiger Maßstab ihres Handelns. Wir achten daher auf den Einsatz umweltschonender Ressourcen und Materialien.

Januar/Februar 5. Woche

Wunderwelt der Pinguine

Wenn Kälte und Stürme in der Antarktis furchtbar werden, stellen sich die Kaiserpinguine zum Kreis zusammen. Die Jungtiere und Weibchen kommen in die Mitte, außen stehen die Männchen mit dem Gesicht nach innen – wie in einer Wagenburg. Da die Sturmseite auf Dauer nicht zu ertragen ist, dreht sich der Kreis langsam, sodass sie jedes männliche Tier eine Zeit lang aushalten muss, bevor es sich im Windschatten erholen kann. Nur gemeinsam können sie überleben. Und wenn ein Tier unter-wegs erkrankt, legt die gesamte Kolonie eine Rast ein! Eines der vielen Wunder dieser Welt!

2. D o n n e r s t a g29. S o n n t a g 31. D i e n s t a g 1. M i t t w o c h 3. F r e i t a g 4. S a m s t a g30. M o n t a g

Februar 8. Woche

Du hast mich zum Lachen gebracht

23. D o n n e r s t a g19. S o n n t a g 21. D i e n s t a g 22. M i t t w o c h 24. F r e i t a g 25. S a m s t a g20. M o n t a g

Eine Legende erzählt von einem Mann, der wie alle anderen vor den Richter Jesus Christus treten musste. Zu jedem hatte Jesus Freundliches zu sagen: „Ja, ich hatte Hunger, und du hast mir zu essen gegeben. Bravo, ab in den Himmel!“ Oder zu einem Kind: „Keiner wollte etwas mit mir zu tun haben. Du aber hast mich mitspielen lassen. Bravo, ab in den Himmel!“ Der Mann dachte jedes Mal an sein eigenes Verhalten: Er hatte Schwache nicht verteidigt, Kranke nicht besucht … Da war er schon an der Reihe und trat zitternd vor den Herrn. Jesus schaute ihn an und sagte: „Ich war traurig und niedergeschlagen, da hast du mir Witze erzählt und mich zum Lachen gebracht. Ab in den Himmel!“

Dem Baume gleich

Der Mensch gleicht dem Baum: Mit der Erde verwurzelt, steht er aufrecht da. Er streckt seine Äste zum Himmel und bringt eines Tages Früchte. So steht er Jahr für Jahr, bis er abbricht und stirbt.Stell dich nicht vor ihn hin und schau nach, wie viel er gewachsen ist. Vielmehr wehre sei-nen Schädlingen, beschneide, was nach innen wächst, und gib dem jungen Baum einen Stützpfahl. So wird er zu guter Letzt groß wer-den und mit seinen Früchten dich erfreuen.

Oktober 43. Woche

26. D o n n e r s t a g22. S o n n t a g 24. D i e n s t a g 25. M i t t w o c h 27. F r e i t a g 28. S a m s t a g23. M o n t a g 9. D o n n e r s t a g5. S o n n t a g 7. D i e n s t a g 8. M i t t w o c h 10. F r e i t a g 11. S a m s t a g6. M o n t a g

Sing doch!

November 45. Woche

„Sing doch, liebe Nachtigall“, rief ein Schäfer der schweigenden Sängerin an einem lieblichen Sommerabend zu.„Ach“, sagte die Nachtigall, „das Quaken der Frösche ist so laut, dass ich alle Lust am Singen verliere. Hörst du sie nicht?“„Ich höre sie freilich“, versetzte der Schäfer. „Aber dein Schweigen ist schuld, dass ich nur sie vernehme.“

Der Kalender des bekannten Geschichtenerzählers Willi Hoffsümmer lädt zum Lesen und Schauen, zum Nachdenken und manchmal auch zum Schmunzeln ein. 53 Geschichten und stimmungsvolle Fotos schenken Woche für Woche eine Oase des Innehaltens – für ein ganzes Jahr voller inspirierender Momente.

Willi Hoffsümmer ist Pfarrer in Erftstadt-Bliesheim. Bekannt wurde er durch seine kreativen Symbolpredigten und als passionierter Geschichtenerzähler.

www.patmos.deDIESES PRODUKT WURDE IN DEUTSCHL AND HERGESTELLTISBN 978-3-8436-0757-5

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